Über T. Gilliams ‚Brothers Grimm‘

Besprochenvon Leif Allendorf

  • Brothers Grimm (The Brothers Grimm), Regie: Terry Gilliam, Produktion: Großbritannien, Tschechien 2005, Laufzeit: 119 Minuten.

Die Gebrüder Grimm gehören zu den erstaunlichsten Personen der Geistesgeschichte. Das von ihnen erstellte Wörterbuch kann sich in seiner Wirkung auf die deutsche Sprache mit Luthers Bibelübersetzung messen. Bekannt sind jedem Kind – nicht nur in Deutschland – die Märchen, die von den Brüdern gesammelt und damit gerettet wurden. Was wäre diese Welt ohne die Geschichten von Rotkäppchen, Dornröschen und Schneewittchen?

Wenn ein Filmemacher wie Terry Gilliam, den man in seiner Heimatsprache als „sophisticated“ bezeichnen könnte, die Geschichte dieser Brüder thematisiert, muss er damit rechnen, dass die Erwartungen hoch sind. Ob ihm dies bewusst war oder nicht: „Brothers Grimm“ – bezeichnenderweise wagte der Verleih es nicht, das Werk auf deutsch als „Gebrüder Grimm“ zu verkaufen – gelingt es, jede Erwartung zu enttäuschen. Als Komödie ist der Film nicht witzig genug, für ein Märchen besitzt er nicht genug Seele, die Action ist mäßig, nur die Kulissen sind eindrucksvoll. Leider hat man diesen Hexenwald bei „Sleepy Hollow“ von Tim Burton schon gesehen.

Perfide: Frankreich als repressive Unterdrückungsmacht

Besonders ärgerlich aber ist die einzige Aussage, zu der sich „Brothers Grimm“ dann doch entschließen kann: die historische. Zwar ist das Thema sozialgeschichtlich weitgehend entkernt. Die übrig bleibende Botschaft lautet: Deutschland ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein von der französischen Besatzungsmacht geknechtetes Land. Illustriert wird diese perfide Darstellung von der Knattercharge General Delatombe (Jonathan Pryce), einem willigen italienischen Handlanger des fremden Regimes. Keine Rede davon, dass die napoleonischen Truppen den Code Civil, also erstmals so etwas wie einen Kanon unveräußerlicher Menschenrechte, nach Deutschland brachte. Man stelle sich vor, im 22. Jahrhundert wird ein Film gedreht, der Deutschland nach Kriegsende 1945 als unschuldiges, von tyrannischen US-Besatzern unterdrücktes Volk zeigt.

Kasperletheater statt gelungener Genrefilm

Die Märchen von Prinzen und Bettlermädchen, von Knechten und Königstöchtern sind unter anderem Ausdruck des jahrhundertealten Traumes kleiner Leute, aus ihrem Elend herauszukommen. Doch Gilliam interessiert das nicht. Er wärmt stattdessen die Geschichte von den Budenzauberern auf, die unverhofft mit wirklicher Magie konfrontiert werden. Auch das haben wir in „Sleepy Hollow“ schon gesehen – mit dem Unterschied, dass Johnny Depp ein besserer Schauspieler ist als Matt Damon und Heath Ledger in diesem Film, und Tim Burton seine Genrefilme souveräner inszeniert als Terry Gilliam.

Was bleibt ist das Spiel von Monica Belucci, die von je her den Flair einer Schaufensterpuppe ausstrahlt. Verschenkt wird bei diesem „Spieglein, Spieglein an der Wand“ auch das Talent von Lena Headey, die immerhin einen guten weiblichen Robin Hood a lá Keira Knightley abgibt.
Ärgerlich an dieser uninspirierten Plünderung archaischer Motive ist ihre Oberflächlichkeit. jeder US-amerikanische Halloween-Kürbiskopf-Massaker-Film besitzt mehr Tiefe als das Kasperletheater von „Brothers Grimm“.

Gegen Handy-Debile und Walkman-Terroristen. Über ‚Stille in Montparnasse‘

Besprochenvon Leif Allendorf

  • DENIS, Ariel: Stille in Montparnasse. Ein Romanbericht. Mit Musik-CD von Hermann Prey. Atrium-Verlag, Zürich 2007. ISBN 978-3-85535-981-3.

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ Dieses Nietzsche-Zitat gibt das Leitmotiv des kurzen Romans „Stille in Montparnasse“ an. Ein namenloser Ich-Erzähler – ein Mann im so genannten besten Alter – wird durch den Tod seines besten Freundes der eigenen Sterblichkeit bewusst und rätselt über den Sinn unserer vergänglichen Existenz.

Ihn, den Franzosen, und seinen Schweizer Freund Berger verband die gemeinsame Liebe zu Schubert-Liedern, natürlich nur von Hermann Prey interpretiert und ausschließlich auf der besten Stereo-Anlage zu hören, die zur Zeit zu kaufen ist. Alles andere wäre Banausentum. Diese kleine Insel der Schönheit gilt es zu verteidigen: gegen das Terrorregime der „Diskothekenmusik“, gegen das Handy-Gequatsche auf der Straße, das Walkman-Gedudel in der Bahn und das geistige Analphabetentum unserer Zeit.

Ariel Denis, Jahrgang 1945 und Professor für Kulturwissenschaften, gibt in diesem romanhaften Pamphlet den Kulturpessimisten – aber nicht den reaktionären, rechten Demagogen, nicht den sexuell frustrierten Einzelgänger à la Michel Houellebecq. Seine Haltung lehnt sich eher an das Elitäre von Nietzsche an. Dieser nahm für sich nicht aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Rasse für sich in Anspruch, etwas Besonderes zu sein. Er erhob sich über die Mehrheit, den Massenmenschen, jener „Ausschussware der Natur“, weil er klüger war als sie. Denis würde seinen Helden wohl etwas bescheidener sagen lassen: Etwas weniger dumm als die anderen. Seine Prosa erinnert in ihrer Sprach- und Zorngewalt an die Tiraden Thomas Bernhards, der die ganze Menschheit unter seinem Schmäh zu begraben pflegte.

„…Ruhe, ihr Mikrofonlutscher, Heulbojen aus den Tonstudios, ihr faden Wisperer, Playbacksänger, ihr Bercy-Großkonzertpilger, ihr Kreativ-DJs für hippe Analphabeten und abgedrehte Snobs durchgemachter Nächte, ihr (…) Fummler und Zapper, ihr Wanderer ohne Wanderung und ihr Spaziergänger auf Rollen, ihr Musikjogger und Läufer im Lärm, Träger von Handys mit der Kleinen Nachtmusik oder den ersten Takten der Fünften Symphonie, taube Ohren, schreiende Münder, Radio-Fernsehen, Musik für Moneten, Kaufhaushintergrundmusik und die von Flughäfen und von überall, es reicht, zu viele Töne, zu viele Trommeln, zu viel Zeugs aller Art, es reicht, seid endlich ruhig, basta la musica, Stille, nichts als Stille und nur Stille – der Vorhang öffne sich, das Klavier präludiere, und Hermann Prey beginne zu singen…“

So weit eine Probe des von Regine Herrmannsdörfer wundervoll ins Deutsche übersetzten Textes.

Gleichzeitig ist das schmale, aber gewichtige Bändchen eine Liebeserklärung an die Schönheit der Musik, ein melancholischer Abgesang auf den verblichenen Freund, dessen Weg man selbst in absehbarer Zeit folgen wird. Wozu dieses rasend schnell vergehende Leben? Eigentlich alles ein Irrtum: Wäre da nicht die Musik…

 

Schneekönigin trifft Aschenputtel: Der britische Independent-Film “My summer of love” zwischen Liebesdrama und Sozialstudie

Besprochen von Leif Allendorf

  • My Summer of Love, Regie: Pawel Pawlikowski, Produktion: Großbritannien 2004, Laufzeit: 89 Min.

Zwei Mädchen flüstern sich im Dunkeln Schwüre zu: “Wenn du mich verlässt, werde ich dich töten!”, verspricht die eine. “Und wenn du mich verlässt, dann töte ich dich!”, bestätigt die andere. Aber es wird anders kommen. Die eine wird die andere verlassen. Und die andere wird die Treulose nicht töten. Obwohl es zunächst danach aussieht.

Der britische Streifen “My summer of love” wurde mit Preisen überhäuft. Er erhielt 2005 die Auszeichnungen “Bester Britischer Film”, den “London Critics Circle Award”, den “Evening Standard British Film Award” und wurde beim “Edinburgh I)nternational Film Festival” ebenso prämiert wie vom “Directors Guild of Great Britain”. Viel Lob für einen Streifen, der sehr unspektakulär das Leben in den elenden einstöckigen Arbeiterhäuschen auf dem englischen Land schildert.

Schneekönigin liest Aschenputtel von der Straße auf

Die aus einem reichen, wohlbehüteten Hause stammende Tamsin (Emily Blunt) liest die naive Mona (Natalie Press) buchstäblich auf der Straße auf. Die Bildsprache ist eindeutig: Tamsin sitzt hoch zu Ross ihres Pferdeschimmels, Mona liegt neben ihrem kaputten Mofa auf der Landstraße, als sie einander begegnen. Aber die eiskalte berechnende Schneekönigin Tamsin und das mit ihrem christlich bekehrten Bruder in einem heruntergekommenen Pub lebende Aschenputtel Mona freunden sich an und verlieben sich schließlich.

Sie haben eine Gemeinsamkeit: sie sind einsam. Mona ist Waise und Tamsin hat sich von ihrem Vater völlig entfremdet. Und so werden die folgenden Wochen für die zwei Königskinder ein Sommer der Liebe. Ob sie sich gemeinsam in der fast leer stehenden Prachtvilla von Tamsins Eltern aufhalten oder Monas Bruder zuschauen, der aus seiner ehemaligen Kneipe eine christliche Begegnungsstätte macht: die Unterschiede in Temperament und sozialer Herkunft scheinen sie einander eher näher zu bringen als zu trennen.

Bis dann eben der Verrat kommt. Tamsins tränenreicher Bericht über den Verlust ihrer Schwester ist gelogen. Alles scheint rückblickend ein Betrug gewesen zu sein – selbst die Liebe, die diesem Sommer seine Einzigartigkeit verliehen hat.

Eine Milieustudie oder der Bericht einer lesbischen Amour fou?

Der Regisseur findet beeindruckende Bilder. Die Tristesse der gottverlassenen englischen Siedlung auf dem Land wird mit wunderschönen Landschaftsbildern konterkariert. Der religiöse Wahn des ehemals gewalttätigen Bruders wird kritisch gezeigt, ohne den Menschen zu denunzieren.

Allerdings fragt sich der Zuschauer am Ende, welche Geschichte hier erzählt werden sollte. Die Geschichte einer lesbischen Liebe oder eine Mileustudie aus dem Landleben?

Die hervorragenden Darsteller machen einiges wieder gut. Ärgerlich bleibt, dass der Grund für Tamsins Liebesverrat völlig im Dunkeln bleibt. In dieser Hinsicht bleibt der ansonsten so präzise Film hinter seinem Anspruch zurück.


Über „Der Felsen“ von Dominik Graf

Besprochen von Leif Allendorf

  • Der Felsen, Regie: Dominik Graf, Produktion: Deutschland 2002, Laufzeit: 122 Minuten.

Etwas ratlos reagierte die Filmkritik auf Dominik Grafs Kinofilm, in der eine deutsche Urlauberin sich auf eine verhängnisvolle Liebesgeschichte mit einen jungendlichen Kriminellen auf Korsika einlässt. Über die Professionalität des Werkes war man sich einig. Aber irgendwie wurden die Rezensenten mit dem Streifen nicht so recht warm. Die bei Eurovideo erschienene DVD gibt Gelegenheit, sich den Kinofilm noch einmal in Ruhe anzusehen. Die Geschichte lebt zweifellos von der Hauptdarstellerin Karoline Eichhorn, die mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die manchmal grausam scharfen, manchmal nächtlich verwischten Bildern der Digitalkamera durch die Ereignisse taumelt.

Filmkunst oder Manierismus?

In einer Online-Ausgabe des Film-Magazins Der Schnitt konnten sich selbst die Kritiker der gleichen Redaktion nicht einigen. „Der Felsen ist eine Initiation, glasklar, radikal, die härteste, die es gab im Kino der letzten zwanzig Jahre”, schwärmt Fritz Göttler. “Karoline Eichhorn, sie ist so unglaublich in diesem Film, wie Karina es war bei Godard und Deneuve bei Truffaut.” Der Verweis auf filmische Meilensteine wie Godards Alphaville verdeutlicht, wie hoch die Filmkunst von Dominik Graf sich von der all seiner deutschen Kollegen unterscheidet. Ist da schon zuviel Kunst? “Zweifellos, Der Felsen ist Kunst, doch sei gefragt, ob er außerhalb seines Korsetts von Kunstbegriffen, bei aller Kodierung noch lesbar ist,” kritisiert Maqtthias Grimm in der gleichen Ausgabe. “Die Strenge, mit der Graf sein Werk in jedem Aspekt als Kunst denotiert, versetzt es in eine Abhängigkeit zu seinen Mitteln, die nicht zwangsweise Sinn macht und den Intellektualismus bisweilen ebenso übertreibt wie diese Filmkritik.”

Alles ist gleich scharf

Kameramann Benedict Neuenfels schildert in einem Interview gegenüber dem Schnitt, welche Probleme die Verwendung der Digitalkamera mit sich brachte: “Alles ist scharf!” Wo der Effekt der Tiefenschärfe nicht mehr greift, ist alles gleich deutlich, Vordergrund wie Hintergrund, Hauptdarsteller und Komparsen. Dieser Realismus wird durch die in Alltagsgestammel formulierten Dialoge unterstrichen. Gleichzeitig ist das Werk hochartifiziell: Zwei Stimmen aus dem Off, eine männliche und eine weibliche, kommentieren die Ereignisse, ohne zur Klärung beizutragen. Dies in Verbindung mit der hypnotischen Musik von Dieter Schleip erzeugt einen hypnotischen Sog.

Der Kreis schließt sich nicht

Allerdings zeigt sich beim nüchternen Betrachten auf dem heimischen Bildschirm, dass nicht alles so glatt aufgeht, wie die Anfangsmetapher es nahelegt. Zu Beginn berichtet ein Afrikaner auf Korsika den Touristen von dem Spiel, in dem aus einer Reihe beliebiger Gegenstände eine Geschichte gesponnen wird. Jeder in der Runde fügt einen Gegenstand hinzu und spinnt den Faden weiter. Dem letzten Redner obliegt es dann, die Geschichte vom letzten Gegenstand mit dem ersten zu verknüpfen. Und dies will im Felsen nicht so recht gelingen. Doch selbst das wird anscheinend autopoetisch thematisiert, durch den deutschen Korsikareisenden, der dem Afrikaner zuraunt: “Na, schwindelst du wieder den Touristen etwas vor?”

Was bleibt ist dennoch filmisches Erzählen von höchstem Rang, für jeden, den es bei deutschen Filmen nach mehr verlangt als platten Komödien oder Hollywood a la Bavaria aus dem Hause Eichinger.

 

 


„Alexander“: Oliver Stone erliegt dem Heldenkitsch

Besprochen von Leif Allendorf

  • Alexander, Regie: Oliver Stone, Produktion: USA, Großbritannien, Deutschland, Niederlande 2004, Laufzeit: 175 Min.

Herodot, der „Vater der Geschichtsschreibung“, ist gleichzeitig der Begründer der abendländischen Sicht auf den Konflikt zwischen dem antiken Griechenland und Persien. Während die zerstrittenen hellenischen Kleinstaaten in Wirklichkeit dem persischen Weltreich niemals gefährlich wurden, so baute Herodot in den Historien die Geschichte der Perserkriege so auf, dass die Schlacht bei Salamis als vernichtende Niederlage des orientalischen Imperiums erschien. Bereits fünfzig Jahre nach dem Etappensieg waren Athener und Spartaner nämlich bereits wieder damit beschäftigt, sich gegenseitig zu zerfleischen – mit Unterstützung des persischen Herrschers. Erst hundert Jahre darauf gelang es dem Makedonier Alexander, das Weltreich in die Knie zu zwingen.

Natürlich gehört Alexander der Große zu einer der beliebtesten Ikonen der abendländischen Geschichtsschreibung, die persische Siege verschweigt, persische Niederlagen dagegen ausführlich würdigt. Dabei hatte gerade Alexander die Vision, den Widerstreit zwischen Orient und Okzident zu beenden und beide miteinander zu verschmelzen. Was ihm auf politischer Ebene nicht gelang – die bis heute gepflegte Feindschaft zwischen Griechen und Türken bis zum heutigen Tage belegen dies traurig – das glückte ihm in anderer Hinsicht: Von Ägypten bis an den Indus wirbelte die Kultur des Hellenismus unterschiedlichste Traditionen durcheinander und sorgte für eine der schönsten Blütezeiten der Antike.

Oliver Stone: Griechen in mongolischen Jurten

Nun hat sich der US-Amerikaner Oliver Stone an diesen Stoff herangetraut. Zumindest hatte er bessere historische Berater als Wolfgang Petersen. Hatten Brad Pitt und die übrigen griechischen Krieger in dem Troja-Film bizarrerweise in mongolischen Jurten gehaust, stimmen bei Alexander die Details.

Männerfreundschaften

Was aber noch wichtiger ist: Männliche Homosexualität – bei Troja opportunistisch verschwiegen – wird nicht nur als allgegenwärtig dargestellt. Es gelingt dem Film überdies, zu beschreiben, wie diese Homosexualität in die Gesellschaft einer kriegsführenden Nation eingebettet ist. Von frühester Jugend an bilden sich Männerbünde. Die Jungs balgen sich unter der strengen Aufsicht der Ausbilder. Männerfreundschaften werden geschlossen, Männerfeindschaften gepflegt, männliche Tugenden gepredigt: Tapferkeit, Treue, Kampfesmut. Eben all jene Eigenschaften, die man braucht, um seine Leute fern der Heimat in der Schlacht bei der Stange zu halten. Und selbst die Liebe wird zur reinen Männersache. Die Beziehung von Achilles und Patroklos in der Ilias dient Alexander und seinem Partner als Vorbild. Dass es sich bei diesen Liebschaften tatsächlich um eheähnliche Verhältnisse handelt, beschreibt Gustave Flaubert in seinem Karthago-Roman Salammbo:

“Die Lebensgemeinschaft hatte manche Freundschaft zwischen ihnen geweckt. Das Lager ersetzte den meisten die Heimat. Da sie ohne Familie lebten, übertrugen sie ihr Liebesbedürfnis auf einen Waffengefährten und schliefen Seite an Seite unter demselben Mantel im Sternenlicht. Auch waren bei dem beständigen Umherschweifen durch alle möglichen Länder, den Kämpfen und Abenteuern, seltsame Liebesverhältnisse entstanden – Verbindungen, die nicht der Moral entsprachen, aber ebenso ernsthaft waren wie Ehen, – wo der Stärkere den Jüngeren im Mordgewühl verteidigte, ihm beim Überspringen von Abgründen half, ihm den Fieberschweiß von der Stirn trocknete und Nahrung für ihn stahl; während der andere, der am Straßenrand aufgelesene Knabe, der Söldner geworden war, ihm diese Hingebung mit tausend zarten Aufmerksamkeiten und den Gefälligkeiten einer Gattin vergalt.” (Flaubert 1862, 134)

In dieser Männerwelt sind Frauen entbehrlich, abgesehen von der Eigenschaft, weitere Krieger in die Welt zu setzen.

Hollywoodsche Küchenpsychologie

In krassem Gegensatz zum analytischen Scharfblick der Gesellschaftsanalyse steht die biedere Charakteristik der Hauptfiguren im Film. Es sei Oliver Stone verziehen, dass er in Hollywoodscher Küchenpsychologie die dominante Mutter für alles verantwortlich macht. Vor dieser – so suggeriert der Film – rettet nur die Flucht in die Eroberung der Welt. Angelina Jolies Darstellung des diabolischen, schönen Muttertiers ist die schauspielerische Glanzleistung in diesem Film, der letzlich scheitert. Das liegt nicht allein an der Blässe des Alexander-Darstellers Colin Farrell. Schuld ist der Regisseur, der nicht die Disziplin hat, sich die schwülstigen Monologe seiner Hauptpersonen zu schenken, die den Film auf insgesamt drei Stunden aufblasen. Dabei fehlt auch nicht der röhrende Hirsch unter den Kriegsfilmszenen, die Durchhalterede des Feldherrn. Geradezu erschreckend, mit welcher Unbefangenheit Stone zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einem Helden- und Führerkitsch frönt. Dahinter steht offenbar Stones Auffassung, die Weltgeschichte sei die Geschichte großer Männer vom Schlage Cäsar, Wallenstein und Napoleon. Und das ist für einen vorgeblich linken Provokateur wie Stone reichlich reaktionär.

Quellenangaben:

Flaubert, Gustave: Salammbo. Stuttgart 1995 (frz. Originalausgabe 1862)

Michael Moore zum Dritten. Kay Sokolowsky wird dem Filmemacher, Volksheld und Staatsfeind gerecht

Besprochenvon Leif Allendorf

Die Schilderung von Michael Moores Weg vom „Profischnorrer“ zum Weltstar ist so kurzweilig wie die Filme Michael Moores. Allerdings wird nicht verschwiegen, wie der Dokumentarstreifen „Roger & Me“ die Fakten auch mal zurechtbog. So wird der Niedergang von Moores Heimatkaff namens Flint auf drei Jahre reduziert, wo es sich in Wirklichkeit um eine Entwicklung über mindestens zehn Jahre handelte. Künstlerische Freiheit? Nun, da der Untergang von Flint direkt in Verbindung einer Massenentlassung von General Motors gebracht wird, macht Moore sich mit solchen Mogeleien unnötig angreifbar.

 

Sokolowsky stutzt den „letzten Linken“ auf einen „nordamerikanischen Norbert Blüm“ mit einer „Lightversion von Kapitalismuskritik“ zurecht – ohne ihn allerdings zu denunzieren, wie es der Spiegel plötzlich tat. Das so genannte Nachrichtenmagazin rümpfte auf einmal die Nase darüber, dass Michael Moore seit seinem Welterfolg reich ist. Es handelt sich um die gleiche Masche, die vom bürgerlichen Mainstram gegen Leute wie Lafontaine ins Feld geführt wird. Dem sozial engagierten wird sein Wohlstand als Doppelmoral vorgehalten. Darf ein reicher Mann sich nicht sozial engagieren? Warum kritisieren diese Kritiker nicht lieber die Reichen, denen soziale Probleme egal sind?

Bedenklicher ist wohl Moores Israelfeindlichkeit. Aber Kay Sokolowsky kann plausibel machen, dass es sich dabei nicht um Antisemitismus sondern um jene – in der Linken ja weit verbreitete – Palästinernser-Tuch-Romantik handelt, die in dem mörderischen Bürgerkrieg die eine Seite nur als Opfer sieht.

„Wäre Michael Moore bei seiner Eroberung Deutschlands von der Unterstützung der hiesigen Medien abhängig gewesen, er hätte bei seinen Auftritten keine Uni-Buchhandlung gefüllt“, resümiert Sokolowsky die Titelzeilen von FAZ und Spiegel. Dort versuchte man ihn lange als Politclown und Windbeutel abzutun, wie der Autor belegt. Die Presse sei dem Ruhm, zu dem sie nicht beigetragen hatte, „nachgegeifert“.

Im Moment ist es still geworden um den Berufsquerulanten. Aber dabei bleibt es bestimmt nicht. Immerhin ist Moores Erzfeind George W. Bush noch im Amt und begeht einen Fehler nach dem anderen. Auf Moores Webseite verspricht man, ihn nicht davonkommen zu lassen: „Wir werden nicht aufgeben, und wir wissen, dass ihr es auch nicht tut.“

 

 

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Allendorf, Leif: Neoliberalismuskritik, 10.10.06

In jüngster Zeit regt sich Unmut über den real existierenden Kapitalismus, und zwar auch in Kreisen, wo man dies nicht gewohnt ist. So forderte NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers kürzlich dazu auf, sich von der „Lebenslüge“ zu verabschieden, Steuersenkungen würden für mehr Arbeitsplätze sorgen. Sein Parteifreund, der Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus, brachte stattdessen die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ins Gespräch. 800 Euro des auch als Bürgergeld bezeichneten Unterhalts sollen das kostspielige Sozialsystem ersetzen. Was noch vor wenigen Monaten unmöglich schien: So verschiedene Parteien wie CDU und Grüne, Linkspartei und sogar die marktliberale FDP entwickeln derzeit alternative Konzepte. Mit prinzipieller Ablehnung reagiert allein die SPD.
Die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14. März 2003, in der das Staatsoberhaupt ankündigte, statt der Arbeitslosigkeit künftig die Arbeitslosen zu bekämpfen, nimmt der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach zum Ausgangspunkt seiner Abrechnung Das Reformspektakel : warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient.. “Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen.” Zum Thema der Rentenanpassung heißt es: “Was unter Bundeskanzler Kohl als Kahlschlag gebrandmarkt wurde, gilt inzwischen als Reformprojekt.” Das allgemeine wirtschaftsliberale Denken ist gegen Kritik resistent: “Es ließ sich vom Widerspruch empirischer Konjunkturanalysen, Kreislaufdiagnosen, nachfrageorientierter Szenarien sowie vom Nachweis tatsächlicher Wechselwirkungen der monetären und realwirtschaftlichen Sphäre nicht beeindrucken.

Schöne Aussichten: Revolution von oben 2006

Als ein tief in der christlichen Soziallehre verwurzelter Mensch formuliert Hengsbach zwei Forderungen: “Die am Rand stehen, sollen nicht den Preis dafür zahlen, dass es den Höherverdienenden besser geht. Und den Wohlhabenden darf es besser gehen, solange die Lebensqualität der Benachteiligten nicht sinkt.”

Albrecht Müller (siehe Foto links), bis 1994 für die SPD im Bundestag, bezeichnet die mantrahaft in Funk und Fernsehen wiederholten Glaubenssätze des Neoliberalismus als “Denkfehler, Mythen und Legenden”, so unter anderem : “Steuersenkungen schaffen Arbeitsplätze.” Ausgerechnet Rot-Grün habe sich als “Rammbock der neoliberalen Revolution” betätigt, mit desaströsen Folgen für das eigene Lager: “SPD und Grüne haben den Konservativen mit ihrer Politik und mit ihren programmatischen Erklärungen den Weg dafür bereitet, nach einer Machtübernahme spätestens im Jahre 2006 ungestört und ohne Widerstand von politischer Seite die Revolution von oben durchzuführen und den Abbau sozialstaatlicher Regelungen zu realisieren.”

Das Steuerwunder auf den Cayman Islands

Der Journalist und Autor Harald Schumann beschreibt in seinem Buch Die Globalisierungsfalle: Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand das „Cayman-Wunder“. Die Cayman-Islands sind eine Inselgruppe in der Karibik südlich von Kuba, britisches Territorium mit Steuersouveränität. Die Hauptinsel ist 14 Quadratkilometer klein, hat 15.000 Einwohner – aber 500 Banken. Es gibt kein deutsches Kreditinstitut, das es seinen Kunden nicht anbieten würde, irgendeine Art von Steuerflucht auf die Cayman-Islands zu begehen. Neben Cayman gibt es 50 vergleichbare Steuerfluchtorte. Schätzungen des US-Finanzministeriums zufolge werden in diesen Steueroasen Jahr für Jahr etwa fünf Billionen US-Dollar der Besteuerung der Länder, in denen die erbracht werden, entzogen. Als Folge würden allein in Deutschland nach Schätzungen des Bundesamtes für Finanzen über die organisierte Steuerflucht an solche Orte Summen, die etwa der Größenordnung der jährlichen Neuverschuldung entsprechen, verloren gehen.

Damit geht einher ein „jobless growth“, Wachstum ohne Arbeit. Der Siemenskonzern hat zwischen 1992 und 1996 seinen weltweiten Gewinn um 15 Prozent gesteigert – und gleichzeitig 20 Prozent seiner Stellen abgebaut, 50.000 Mitarbeiter. In der Produktion der so genannten Handys, oder, in Schumanns Worten, der „kleinen Terrorgeräte“, wo bei Siemens Zuwachsraten von 25-30 Prozent pro Jahr zu verzeichnen waren, gab es fast keine zusätzlichen Jobs, weil die Produktivität pro Kopf in der gleichen Größenordnung zugelegt hat. Airbus plant im deutschen Bereich die Verdoppelung der Produktion und wird voraussichtlich dennoch keine neuen Leute einstellen und wenn, dann lediglich als Zeitarbeiter, vermittelt über Zeitarbeitsfirmen.
Viele, die ihre sicheren Jobs verlieren, sind nach Schumanns Einschätzung nicht zu lebenslanger Arbeitslosigkeit, sondern einfach nur zu schlechteren Jobs verdammt. Insgesamt seien inzwischen ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse Nicht-Norm-Arbeitsverhältnisse. Noch 1980 machten solche Arbeitsverhältnisse weniger als 20 Prozent aus.

Wirtschaftet die Wirtschaft uns also arm? Von dem einst selbstverständlichen Ziel, Wohlstand für alle zu schaffen, ist schon lange nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Wo immer über dringend nötige Reformen diskutiert wird, heißt es: Löhne senken, Wachstum steigern, Beseitigung aller Handelshemmnisse und Entlastung der „eigentlichen Leistungsträger“, der Unternehmen, von Steuern und Abgaben. Obwohl Wirtschaftsexperten wie Joseph Stiglitz oder George Soros längst die verheerenden Folgen einer ungehemmten Liberalisierungspolitik für Wirtschaft wie Gesellschaft beschrieben haben, werden diese Patentrezepte unverdrossen angeboten. Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Afheldt unterzieht in seinem Buch Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft die „harten Fakten“ aus 25 Jahren Wirtschaftsliberalismus einer schneidenden Analyse. Sie zeigt, dass vom wachsenden „Sozial-Produkt“ immer weniger bei den Bürgern ankommt, dass die derzeitige Wirtschaftsordnung zu einer gespaltenen Gesellschaft führt – und damit für alle zunehmend unwirtschaftlich wird.

Attac & Co.

Was ist gegen die Fehlentwicklung der Globalisierung zu tun? Seit einigen Jahren macht das Aktivisten-Netzwerk Attac auf sich aufmerksam. Das Autorentrio Christiane Grefe, Matthias Greffrath und Harald Schumann wagen in attac. Was wollen die Globalisierungskritiker? eine Bestandsaufnahme dieser Bewegung. Christina Janssen im Deutschlandfunk lobt: “Die mitunter diffuse Argumentation der Globalisierungskritiker, ihre teils radikal-ideologischen Verbalattacken gegen Weltbank, Internationalen Währungsfonds und Welthandelsorganisation versuchen Grefe, Greffrath und Schumann mit Fakten zu untermauern. Wer wissen möchte, wie die Politik von Weltbank, IWF und Co. in der Praxis aussehen, findet hier eine plastische, teils erschreckende, teils natürlich auch zugespitzte Schilderung. So dient der schmale Band nicht zuletzt all jenen als Argumentationshilfe, die mit Attac sympathisieren.”

Die Arbeitsideologie hinterfragt

Der Sozialwissenschaftler Manfred Füllsack wagt es, die Arbeitsideologie in Frage zu stellen. In seinem Buch Leben ohne zu arbeiten. Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens stellt er die Trennung von Arbeit und Einkommen zur Diskussion. Im Gegensatz zur Debatte um ein „Ende der Arbeit“ geht Füllsack davon aus, dass die menschliche Arbeit künftig nicht weniger wird, sich sogar vermehrt. Es sei aber notwendig, diese Arbeit mithilfe eines garantierten Grundeinkommens vom Lebensunterhalt zu entkoppeln, „auf dass damit auch die Arbeit schließlich so frei werde, wie dies die Wissenschaft schon lange für sich proklamiert.“ Die „arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer arbeitskreise“ (agspak.de) lobt: “Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung, unter dem Blickwinkel der stets wachsenden Produktivität der Arbeit auf Grund einer ständig weiter akkumulierten Problemlösungskapazität, ist spannend zu lesen. (…), wobei der Autor nicht den Eindruck zu erwecken versucht, dass damit schon alle Probleme der Arbeit gelöst wären.” Das österreichische Portal sozialliberale.net sieht das Problem allerdings ganz woanders. Danach nennt Füllsack “treffend den Grund, warum sich keine der ‘traditionellen Parteien’ für ein Grundeinkommen einsetzt: Die Idee des Grundeinkommens wurde im Laufe der Zeit sowohl von eher ‘linken’ als auch von eher ‘wirtschaftsliberalen’ Bewegungen vertreten und auch angegriffen und lässt sich daher auch nicht einfach in ein Links-Rechts-Schema einfügen, weil sie „zu sehr an das Gedankengut [des politischen Mitbewerbers] erinnert”. Das Fazit: “Auch wenn viele Fragen wie die nach der Finanzierung eines Grundeinkommens oder die nach dem zu erwarteten Verhalten von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern noch einer weiterführenden Diskussion bedürfen (…). Die Grundeinkommensidee ist weniger eine Frage der Finanzierung als vielmehr eine Frage des politischen Willens.”

Prognose: Der Kapitalismus ist nicht mehr zu retten

Ganz radikal ist der Nürnberger Soziologe Robert Kurz, der bereits 1994 mit Der Kollaps der Modernisierung mit der Ideologie der freien Marktwirtschaft aufräumte. Sein Schwarzbuch Kapitalismus vertritt die Ansicht, dass es nur noch ein Abenteuer geben kann: die Überwindung der Marktwirtschaft jenseits der alten staatssozialistischen Ideen. Danach mag eine andere Geschichte beginnen. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsgruppen sinkt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweist sich als Illusion. Die Marktwirtschaft wird mit ihren Produktivitätssprüngen – Automation und Globalisierung – nicht mehr fertig. In einer Analyse der drei großen industriellen Revolutionen zeigt Robert Kurz, weshalb das bisherige System von Arbeit, Geldeinkommen und Warenkonsum nicht mehr zu retten ist. Robert Kurz seziert die Marktwirtschaft, zeichnet die drei industriellen Revolutionen nach und belegt, wie der Kapitalismus aus weitverzweigten Wurzeln und vielen Quellen im Laufe der Geschichte Varianten seiner inneren Widersprüchlichkeit hervorgetrieben hat: Liberalismus und Sozialdemokratie, den Staatssozialismus als Form nachholender Modernisierung, aber auch immer wieder Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Kurz beschreibt, wie die bisherigen Gegenentwürfe das Wesen der kapitalistischen Geldmaschine unangetastet ließen und selber Trendsetter der permanenten Modernisierung waren. „Aber ausgerechnet in demselben Maße, wie er von allen Parteien zum alternativlosen Schicksal der Menschheit erklärt wird, treibt der Kapitalismus heute auf eine ausweglose Situation zu.“

Literaturhinweise

Über K. Sokolowskys ‚Michael Moore‘

Besprochen von Leif Allendorf

  • SOKOLOWSKY, Kay: Michael Moore. Filmemacher, Volksheld, Staatsfeind. Konkret Literatur-Verlag, Hamburg 2005. ISBN 3-89458-238-3.

Die Schilderung von Michael Moores Weg vom „Profischnorrer“ zum Weltstar ist so kurzweilig wie die Filme Michael Moores. Allerdings wird nicht verschwiegen, wie der Dokumentarstreifen „Roger & Me“ die Fakten auch mal zurechtbog. So wird der Niedergang von Moores Heimatkaff namens Flint auf drei Jahre reduziert, wo es sich in Wirklichkeit um eine Entwicklung über mindestens zehn Jahre handelte. Künstlerische Freiheit? Nun, da der Untergang von Flint direkt in Verbindung einer Massenentlassung von General Motors gebracht wird, macht Moore sich mit solchen Mogeleien unnötig angreifbar.

Sokolowsky stutzt den „letzten Linken“ auf einen „nordamerikanischen Norbert Blüm“ mit einer „Lightversion von Kapitalismuskritik“ zurecht – ohne ihn allerdings zu denunzieren, wie es der Spiegel plötzlich tat. Das so genannte Nachrichtenmagazin rümpfte auf einmal die Nase darüber, dass Michael Moore seit seinem Welterfolg reich ist. Es handelt sich um die gleiche Masche, die vom bürgerlichen Mainstram gegen Leute wie Lafontaine ins Feld geführt wird. Dem sozial engagierten wird sein Wohlstand als Doppelmoral vorgehalten. Darf ein reicher Mann sich nicht sozial engagieren? Warum kritisieren diese Kritiker nicht lieber die Reichen, denen soziale Probleme egal sind?

Bedenklicher ist wohl Moores Israelfeindlichkeit. Aber Kay Sokolowsky kann plausibel machen, dass es sich dabei nicht um Antisemitismus sondern um jene – in der Linken ja weit verbreitete – Palästinernser-Tuch-Romantik handelt, die in dem mörderischen Bürgerkrieg die eine Seite nur als Opfer sieht.

„Wäre Michael Moore bei seiner Eroberung Deutschlands von der Unterstützung der hiesigen Medien abhängig gewesen, er hätte bei seinen Auftritten keine Uni-Buchhandlung gefüllt“, resümiert Sokolowsky die Titelzeilen von FAZ und Spiegel. Dort versuchte man ihn lange als Politclown und Windbeutel abzutun, wie der Autor belegt. Die Presse sei dem Ruhm, zu dem sie nicht beigetragen hatte, „nachgegeifert“.

Im Moment ist es still geworden um den Berufsquerulanten. Aber dabei bleibt es bestimmt nicht. Immerhin ist Moores Erzfeind George W. Bush noch im Amt und begeht einen Fehler nach dem anderen. Auf Moores Webseite www.michaelmoore.de verspricht man, ihn nicht davonkommen zu lassen: „Wir werden nicht aufgeben, und wir wissen, dass ihr es auch nicht tut.“

Über die neue Schell-Edition

Besprochen von Leif Allendorf

  • Maximilian Schell Jubiläums Edition. Die preisgekrönten Film-Regiearbeiten. Eurovideo, 374 Min, EUR 34,99. Enthält: Erste Liebe (1970), Der Fußgänger (1973), Der Richter und sein Henker (1975), Geschichten aus dem Wiener Wald (1979). Mit Birgit Doll u.a.

Maximilian Schell, der 2005 seinen 75. Geburtstag feierte, ist für zwei Karrieren bekannt. Ersten Ruhm errang der Österreicher als international gefragter Schauspieler und Frauenschwarm der Nachkriegszeit. In jüngster Zeit machte Schell sich als Dokumentarfilmer einen Namen. So porträtierte er zwei Frauen, die im Alter zu Schatten ihres Ruhmes wurden: Marlene Dietrich und seine Schwester Maria Schell.

Dazwischen liegt eine nicht weniger spannende Erfolgsgeschichte. Für seine erste Regiearbeit, die 1970 gedrehte Turgenjew-Adaption „Erste Liebe“ erhielt Schell drei Oscar-Nominierungen. Sein nächster Spielfilm, „Der Fußgänger“ von 1973 bekam Dutzende internationaler Preise, unter anderen den Golden Globe. Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“, und Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ folgten 1975 und 1979.

Ein Stück Film- und Zeitgeschichte

Nun ist bei Eurovideo eine Gesamtausgabe der genannten vier Spielfilme auf zwei DVDs erschienen, die Gelegenheit bieten, sich ein Stück Zeit- und Filmgeschichte noch einmal anzusehen. Dabei steht Zeitgemäßes neben Unzeitgemäßem. So ist das Drama „Der Fußgänger“ mit seine Schwere und Langatmigkeit heutzutage kaum mehr zu ertragen. All diese Debatten um Schuld und Sühne jener Unternehmer der Adenauerzeit, die in Verbrechen des NS-Regimes verstrickt waren, sind in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten ausgiebig geführt worden. Für eine Überraschung sorgt in diesem Film nur der revolutionäre 68er-Sprößling, der seinen Nazi-Vater von aller Schuld freispricht, mit der Begründung: „Ich habe es sat, immer der Sohn eines bösen Nazis zu sein.“ Statdessen will er lieber gegen den Vietnam-Krieg der Amerikaner protestieren. Dass diese auch schon die Gegner des Vaters waren, schwingt hier leise mit. Dies wirkt wie eine gruselige Vorwegnahme des Spaziergangs von Ronald Reagen mit Bundeskanzler Kohl über die SS-Soldatengräber von Bitburg. Damals, 1985, signalisierte der US-Präsident, die deutschen Wehrmachtssoldaten seien ja eigentlich auf der richtigen Seite gewesen – schließlich hätten sie die Kommunisten bekämpft.

Prominent besetzter Thriller statt Europudding

Ganz und gar zeitgemäß dagegen wirkt die Dürrenmatt-Verfilmung „Der Richter und sein Henker“. Dass dieser Streifen mit Jaqueline Bisset und Martin Shaw (nicht zu vergessen Donald Sutherland als Leiche) nicht zum Europudding wurde, verdankt er den schrulligen Hauptpersonen. Wenn Kommissar Bärlach (Martin Rit) und sein Assistent Tschanz (heute nicht wiederzuerkennen: Jon Voight) sich gegenseitig die Bälle zuwerfen, ist das so frisch und neu wie Frotzeleien der heutigen „Tatort“-Polizisten Leitmayer und Batic.

Einen schönen Gegensatz bieten auch das älteste und das jüngste Werk des Spielfilmregisseurs Schell. „Erste Liebe“ ist ein in jeder Hinsicht schöner Film. Er ist leise, melancholisch und zeigt die Unzulänglichkeit des Menschen wie mit einem Weichzeichner. Die Horváth-Verfilmung von 1979 ist – dem österreichischen Dramatiker getreu – eine zynische Abrechnung mit den letzten präfaschistischen Jahren der Alpenrepublik.

Rückblick ohne Ostalgie. Musiker André Herzberg im Interview mit Leif Allendorf, 03.11.05

André Herzberg, Jahrgang 1955, war als Sänger der DDR-Band „Pankow“ für eine Jugendgeneration von Ostdeutschen das, was im Westen Herbert Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen waren. Nach der Wende war es still um das einstige Idol. 2005 sprach er erstmals über das Thema jüdische Identität in der DDR.

Was bedeutete jüdische Herkunft in der DDR? Gab es da eine bestimmte Erwartungshaltung der anderen?

Das wurde überhaupt nicht thematisiert. Es gab einen Status, den man von offizieller Seite Leuten zuerkannt hat, die in direkter Konfrontation zum Nazi-Regime gestanden hatten: entweder „Opfer des Faschismus“ oder „Kämpfer gegen den Faschismus“. Meine Mutter gehörte aufgrund ihrer frühen KPD-Mitgliedschaft zu der zweiten Gruppe, die höher angesehen wurde. Es gab in diesem Zusammenhang kleine Privilegien, eine Wohnung, Geld. So bekam ich bis zum Ende des Studiums einen monatlichen Zuschuss. Dass meine Eltern Juden waren, wurde dabei nicht angesprochen

Es gab also eine Gemeinsamkeit von Gegnern des Faschismus, es wurde kein Schisma gemacht zwischen jüdisch und kommunistisch?

Meine Tante, die Auschwitz überlebt hatte, hatte den etwas niedrigeren Status als Opfer des Faschismus, was ich absurd finde, da meine Mutter mit der Emigration ein vergleichsweise harmloses Schicksal hatte.

Wurde das Thema jüdische Herkunft im Freundes- und Bekanntenkreis zur Sprache gebracht?

Der Bekanntenkreis meiner Eltern bestand zum größten Teil aus jüdischen Immigranten. Es war ein familiärer Kreis, zu dem beispielsweise die Schriftstellerin Barbara Honigmann gehörte. Die Kinder verkehrten mit den anderen Immigrantenkindern. Ich gehörte schon nicht mehr richtig dazu, wohl aber meine älteren Geschwister.

Ihre Mutter hat sich stark mit dem Staat DDR identifiziert. Wie ist sie mit dem Thema jüdische Herkunft umgegangen?

Meine Mutter hat in traumatischer Weise über diese Dinge gesprochen. Sie erzählte, wie sie aus ihrer Wohnung geflüchtet ist und ihre Mutter zurückgelassen hat, wie sie nach Deutschland zurückgekehrt ist und die Mutter war tot. Aber all das nur in Andeutungen. Was Judentum ausmacht und jüdisches Leben, damit wollten meine Eltern nichts zu tun haben. Sie waren nicht religiös und sind als gute Kommunisten aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten.

Wie stehen Sie selbst dazu? Hat jüdische Identität für Sie eine Relevanz?

Das ist ein ganz langer Prozess, von den Andeutungen über die Wahrnehmung der Andersartigkeit bis zum Abbröckeln des vorgegebenen Antifaschismus in der DDR. Während meiner Lehre in der NVA erlebte ich, dass die meisten kein Problem mit der Nazi-Zeit hatten und in dem Kriegsende keinen Bruch, sondern einen nahtlosen Untergang sahen. So wurde beispielsweise auf unserer Stube von den Soldaten heimlich Hitlers Geburtstag gefeiert.

Ein zynischer Scherz?

Das war eher nach dem Motto: Was verboten ist, macht uns gerade scharf. Das kam bei der Sauferei dann zum Vorschein. Für mich war das völlig verblüffend, weil es in völligem Widerspruch zu meiner Erziehung und dem Weltbild stand, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich war entsetzt, habe das aber für mich behalten.

Ist die Militärzeit nicht generell eine Notsituation, die man zu überstehen versucht und erst später darüber nachdenkt?

Dieses Später hat bei mir sehr lange gedauert. In den Siebzigerjahren war der Staat Israel noch der zionistische Feind gewesen. In der letzten Phase der DDR wurde das Thema Israel etwas freundlicher behandelt. Ich hatte in erster Linie eine ablehnende Haltung gegen die Schule, gegen meine Eltern, gegen das Leben in der DDR. Irgendwann trug die jüdische Identität dazu bei, dass ich mich völlig als Außenstehender fühlte. Eine tiefere Beschäftigung damit kam aber erst nach der Wende.

Wie sah die aus?

Das ist ein noch nicht abgeschlossener Prozess. Ich habe Schwierigkeiten mit der jüdischen Identität. Das halte ich in Deutschland überhaupt für schwierig, wenn man sich nicht völlig religiös orientiert. Die jetzt bestehende jüdische Gemeinde wird im Osten von russischen Einwanderern dominiert, die weitgehend unter sich bleiben. Und die westdeutsche Gemeinde ist mir ebenfalls fremd, weil diese Menschen ebenfalls einen ganz anderen Lebenshintergrund haben als ich. Erst bei meinen Reisen nach Israel zu Verwandten dort in den Neunzigerjahren hat bei mir ein Nachdenken über die eigene Familie eingesetzt, und damit verbunden ein gewisser Normalitätsprozess. Vorher war das bei mir alles unter der Decke gewesen.

Wessen Initiative waren die Besuche in Israel? Die Ihrer Eltern?

Nein, meine eigene. Meine Eltern sind diesen Schritt nicht mitgegangen, sondern bei 1989 stehen geblieben. Mein Vater blockt das bis heute völlig ab. Er war kommunistischer Hardliner und hat diese Seite seiner Biografie ausgeblendet.

Welche Verwandten haben Sie in Israel besucht?

Verwandte meines Vaters, die mein Vater nie gesehen hat, die aber von uns wussten und mich sehr herzlich aufgenommen haben. Dass sie im Kibbuz leben, hat mir den Kontakt erleichtert. Die Kibbuzbewegung hat ja starke Ähnlichkeit mit der linken Bewegung des Sozialismus. Als ich dort ankam, kam mir das alles sehr vertraut vor. Es war wie im Osten, LPG, sozialistischer Großbetrieb, die blauen Arbeitsoveralls, die die Leute trugen, Wandbilder, die mich an Planerfüllung erinnerten. Nur mit dem wichtigen Unterschied, dass dort das Tor offen war, und nicht, wie in der DDR, verschlossen. Jeder kann kommen, und wer nicht bleiben will, kann gehen. Ich habe mich dort so wohl gefühlt, dass ich mit diesem Begriff jüdische Identität erstmals unbefangen umgehen konnte.

Sie sind ganz ohne Großeltern aufgewachsen?

Absolut. Meinen Großeltern väterlicherseits ist es gelungen, nach Amerika zu kommen. Von dort aus sind sie dem Bruder meines Vaters nach Südafrika gefolgt, wo sie mittlerweile verstorben sind. Ich habe sie nie gesehen, nur ein paar dürftige Zeilen bekommen, in einem Brief, den mein Großvater mir geschrieben hat. Daneben gab es in dieser Generation nur noch die Großmutter mütterlicherseits, die in Auschwitz umkam. Es ist also der totale Bruch in der Familie.

Ein Bruch, den die übrige Bevölkerung nicht hatte.

Da gibt es natürlich auch Einschnitte, Väter, die nicht aus dem Krieg zurückkehrten. Ich bin nicht der einzige, den das betrifft. In Familien beispielsweise, wo Angehörige in die Nazi-Diktatur involviert waren, dürfte das Schweigen ebenfalls verbreitet sein. Ich glaube allerdings, dass im Fall meiner Eltern, wo das Jüdischsein überhaupt nicht artikuliert wurde, das Sprechen darüber extrem schwierig ist.

Sie sind das jüngste von drei Kindern. Wie gehen Ihr Bruder und Ihre Schwester mit diesem Thema um?

Über den Kopf. In meiner Familie ist es typisch, mit so etwas sehr rational umzugehen. Mein Bruder hat sich geradezu wissenschaftlich mit dem Thema Judentum, Nazizeit und Überleben beschäftigt und hat Bücher zu dem Thema veröffentlicht. Das Gefühl bleibt auf diese Art meiner Ansicht nach außen vor.

Kennen Sie Menschen, die damit anders umgegangen sind?

Barbara Honigmann kommt aus ähnlichen Verhältnissen wie ich. Ihre jüdische Hochzeit in Ost-Berlin 1984, die ich miterlebt habe, hat große Aufmerksamkeit erregt. Sie ist dann nach Straßburg übergesiedelt, und ich hatte den Eindruck, dass hier jemand völlig unvermittelt von einer Identität in die andere springt. Es hat mich irritiert, dass sie sich in ihren darauf folgenden Büchern nur noch jüdisch definiert. Ich lebe mit einer gebrochenen Identität, ich fühle mich genauso als Deutscher wie als Jude.

Wir haben über Einschnitte gesprochen. Die Wende war sicher auch ein Einschnitt für den Musiker André Herzberg. Sie haben den Westen aber bereits vor 1989 kennen gelernt.

Ich durfte ab Mitte der Achtzigerjahre reisen. Ideologisch hat man sich abgeschottet. Aber es gab gleichzeitig Wirtschaftsinteressen, und die Band „Pankow“ war ein kleiner Wirtschaftsfaktor. Die wirtschaftlichen Interessen siegten, und sie ließen uns touren. Für mich war das ein Ventil. Auch wenn der Wahnsinn, die Verhältnisse, in denen ich in der DDR lebte, von außen betrachtet noch viel wahnsinniger erschien, ich konnte mich wie ein Engel auf beiden Seiten bewegen. Ich habe das genossen, aber auch gemerkt, wie wahnsinnig fremd und verloren ich mich im Westen fühlte und wie froh ich war, anschließend wieder in die heimische Höhle zu kriechen, wo ich mich auskannte.

Nun existiert die Höhle nicht mehr und der Westen ist zu Ihnen nach Prenzlauer Berggekommen. Fühlen Sie sich fremd und verloren?

Eine gewisse Fremdheit ist geblieben. Das hängt auch mit meiner beruflichen Situation zusammen. Das Publikum nimmt mich nach wie vor als Sänger der Gruppe „Pankow“ wahr. In diese Rolle werde ich – wie bei der jüngsten Ostalgie-Welle – immer wieder hineingedrängt.

Um aus Rolle herauszutreten haben Sie Ihr letztes Album als André Herzberg und nicht unter dem Etikett „Pankow“ herausgebracht. Außerdem sind Sie als Autor tätig. Mit Erfolg?

Ich verstehe mein Handwerk und ich weiß, was ich tue. Die Resonanz auf die Musik und das Buch ist gut, aber der kommerzielle Erfolg ist bislang ausgeblieben.

Sicherlich war es in einer Nischengesellschaft leichter, etwas bekannt zu machen, als im gegenwärtigen Überangebot.

Es mag auch daran liegen, dass das Thema DDR gerade nicht en vogue ist – es sei denn, im Rahmen von Ostalgie-Shows.