Einstein liest Nietzsche … Bitte?! Die Nietzschephilologen und -forscher greifen sich an den Kopf. Worauf soll das hier hinaus?, mögen sie sich fragen. Das Inkommensurable kommensurabel zu machen, mag in der Mathematik ja noch hingehen. Wenngleich … Doch das steht auf einem anderen Blatt. Aber wenn behauptet wird, der Genius der theoretischen Physik habe den unzeitgemäßen Kultur- und Geschichtskritiker auch nur flüchtig zur Kenntnis genommen, sich gar ernsthaft mit ihm beschäftigt … Also nein! Wir lassen uns doch nicht verhohnepiepeln, und das geht entschieden zu weit! Unwilliges Kopf- und selbst Fäusteschütteln macht sich breit. Unverhohlen ärgerliches Gemurmel erfüllt den Raum. Der Sturm der Entrüstung ist kurz davor loszubrechen.
Archiv der Kategorie: Literatur
Bei Märchen gibt es kein Copy-Paste. Prof. Susanne Marschall im Interview mit Alexander Karl, 19.10.2013
Die Tübinger Professorin Dr. Susanne Marschall ist nicht nur Expertin für Filme und Serien, sondern auch für Mythen und Märchen. Sie selbst ist ein großer Fan von Jean Cocteaus Die Schöne und das Biest. Mit Alexander Karl sprach sie über den Subtext in Märchen, die Rückbesinnung auf die Düsternis und das Frauenbild in Twilight.
Alexander Karl: Frau Marschall, sind Märchen Kinderkram?
Susanne Marschall: Nein, ganz im Gegenteil. Zwar wurden die bekannten Märchen der Gebrüder Grimm überwiegend als Kinderliteratur rezipiert, doch wenn man genauer hinsieht, entdeckt man viele „erwachsene“ Themen und zwar gerade in den bekannten Märchenstoffen. Tod, Einsamkeit, Ausgrenzung und schließlich Sexualität sind wichtige Themen des Märchens.
Fuhrmann, Sandra: Der Geruch von Büchern – der Gestank von Geld, 14.10.2013
Sie duften, sie fühlen sich gut an, sie können Emotionen wecken und mit manchen gehen wir eine Beziehung fürs ganze Leben ein. Für viele sind Bücher mehr als ein Gebrauchsgegenstand. Wir besitzen sie über Jahrzehnte, und jedes Mal, wenn wir sie lesen, nehmen sie ein Stück unserer eigenen Geschichte in sich auf. Aber wie viel ist uns diese Beziehung eigentlich wert?
Buchpreisbindlung – sinnvoll oder sinnlos?
Der 11. März 2012 – ein „schwarzer Tag für den Schweizer Buchhandel“, titelt das Magazin Buch Markt. Es ist der Tag, an dem die Schweizer Bevölkerung über das Gesetz zur Buchpreisbindung abstimmt – und sich mit 58 % dagegen entscheidet. Die Buchpreisbindung zieht eine Kluft durch ganz Europa. Während beispielsweise Frankreich, Italien, die Niederlande und Österreich Preise für Bücher festlegen, fehlt diese Regelung in Belgien, Großbritannien, Irland oder Schweden.
Hansen, Frank-Peter: Vergessene Bücher X: Der philosophische Kritizismus. Geschichte und System von Alois Riehl, 24.02.09
Kant, auf den Alois Riehl im ersten Band dieses nach der zweiten Auflage zitierten Dreiteilers Bezug nimmt, sagt in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft: „‘alle Bedingungen, die der Verstand jederzeit bedarf, um etwas als notwendig einzusehen, vermittelst des Wortes: unbedingt wegwerfen, macht mir noch lange nicht begreiflich, ob ich alsdann durch meinen Begriff eines unbedingt Notwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts denke‘“ (I, 569). Und Alois Riehl respondiert: „Auf der Höhe der Abstraktion drehen wir uns mit dem Dogmatiker ewig im leeren Kreise der Begriffe, erst durch die Beziehung auf das Wirkliche wird unser Wissen zum Beurteilen von etwas, was da ist, wird das jungfräuliche Denken durch gegenständlichen Inhalt befruchtet, und damit allererst Erkenntnis“ (I, 182).
Hansen, Frank-Peter: Wer ist oder was macht eigentlich einen guten Erzähler?, 15.11.08
Kennen Sie Tschechow? Nein? Sie sollten ihn kennen (lernen). Warum? Weil dieser sozial engagierte russische Autor und Arzt, dieser Meister der kleinen Form wie kaum ein anderer Autor in die Ab- und Hintergründe der Seele des Menschen geschaut hat. Ich erinnere vor allem an die Meistererzählung über die Ehebrecherin Agafja, in der die Zerrissenheit, das Nicht-ein-noch-aus-Wissen der Protagonistin ähnlich intensiv, hautnah und bedrückend wie die gehobene und kriecherische Lust am Quälen und Drangsalieren der in Abhängigkeit gehaltenen Kreatur im Tobias Mindernickel von Thomas Mann vergegenwärtigt wird. Dabei werden die letzten Dinge bei Tschechow oft in schwebender Ungewißheit gelassen, ab und an etwas zu sehr. Hören wir zu: „Agafja drehte sich um und erhob sich auf ein Knie … Ich sah, wie sie litt … Eine halbe Minute lang drückte ihre Gestalt, soviel ich in der Dunkelheit erkennen konnte, inneres Ringen und Schwanken aus. Es gab einen Augenblick, da sie, gleichsam erwachend, ihren Leib aufrichtete, um ganz aufzustehen, aber eine unbezwingliche und unerbittliche Kraft zog ihren Körper wieder zu Boden, und sie sank neben Savka hin. „Hol ihn der Teufel“, sagte sie mit wildem, tief aus der Brust kommendem Lachen. Aus diesem Lachen sprachen besinnungslose Entschlossenheit, Machtlosigkeit und Schmerz … Agafja sprang plötzlich auf, schüttelte den Kopf und ging auf ihren Mann zu. Man sah, daß sie alle Kraft zusammennahm und einen Entschluß gefaßt hatte.“ Welchen? Das herauszufinden überläßt Tschechow der Phantasie des Lesers.
Hansen, Frank-Peter: Die Erfahrungsseelenkunde Martin Suters, 31.07.2008
Martin Suter, das As? Die Rezensenten sind voll des Lobes, enthusiasmiert und euphorisch. Wo man hinhört: Aufgeregte Superlative im Rauschen des Blätterwalds. Doch kann das sein? Trifft diese hypertrophe Begeisterung den Schweizer Autor in seinem Kern, oder legt sie falsche, der Sensationsgier geschuldete Fährten?
Hettche, Thomas: In dieser Sache sind Daten alles. Zur deutschen Neuausgabe von Bram Stokers Dracula, 17.03.08
Jonathan Harker, ein junger Londoner Anwalt, gerade erst von einer höchst gefahrvollen Geschäftsreise aus Rumänien zurück, betritt am Abend des 2. Oktober 1890 das eheliche Schlafzimmer: „Auf der Kante des Bettes kniete die weiße Gestalt seiner Frau. Neben ihr stand ein großer hagerer Mann, vollkommen in Schwarz gekleidet. Ihr weißes Nachthemd war mit Blut bespritzt, und Blut rann wie ein weißer Faden über des Mannes Brust, die er entblößt hatte.“
Allendorf, Leif: Nichts, was Sie sehen, geschieht in Echtzeit. Über die Schwierigkeit, den Verlauf der Zeit synchron wiederzugeben, 17.03.08
Wer war der erste, der eine Geschichte in Echtzeit erzählte? Sie werden es nicht glauben – Heinrich von Kleist. Es handelt sich um die Anekdote aus dem letzten preussischen Kriege von 1810. Der Regisseur Zoltan Spirandelli drehte 1995 einen achtminütigen Film, bei dessen Kinovorführung ein Sprecher den Kleist-Text vorlas. Das Ergebnis: Der gesprochene Text beschrieb exakt die im Film gezeigten Aktionen. “Dieser Kerl, sprach der Wirt, sprengte, ganz vom Staub bedeckt, vor meinen Gasthof, und rief: ‘Herr Wirt!’ und da ich frage: was gibt’s ‘ein Glas Branntewein!’, antwortet er, indem er sein Schwert in die Scheide wirft: ‘mich dürstet.’ Gott im Himmel! sag ich: will er machen, daß er wegkömmt? Die Franzosen sind ja dicht vor dem Dorf! ‘Ei was’ spricht er, indem er dem Pferde die Zügel über den Hals legt. ‚Ich habe den ganzen Tag nichts genossen!’ Nun, er ist, glaube ich, vom Satan besessen-! He! Liese! ruf ich, und schaff ihm eine ganze Flasche Danziger herbei, und sage: da! und will ihm die ganze Flasche in die Hand drücken, damit er nur reite.“
Über T. Gilliams ‚Brothers Grimm‘
von Leif Allendorf
- Brothers Grimm (The Brothers Grimm), Regie: Terry Gilliam, Produktion: Großbritannien, Tschechien 2005, Laufzeit: 119 Minuten.
Die Gebrüder Grimm gehören zu den erstaunlichsten Personen der Geistesgeschichte. Das von ihnen erstellte Wörterbuch kann sich in seiner Wirkung auf die deutsche Sprache mit Luthers Bibelübersetzung messen. Bekannt sind jedem Kind – nicht nur in Deutschland – die Märchen, die von den Brüdern gesammelt und damit gerettet wurden. Was wäre diese Welt ohne die Geschichten von Rotkäppchen, Dornröschen und Schneewittchen?
Der Fall Humbert-Humbert. Klaus Beier spricht mit Camilo Jiménez über Humbert Humbert, 26.01.08
Vladimir Nabokovs Roman Lolita wurde oft als eine Verharmlosung der Pädophilie angesehen. Aber handelt es sich bei der Geschichte der 12-jährigen Dolores Haze und des 37-jährigen Humbert Humbert tatsächlich um einen Fall von Pädophilie? Professor Klaus Beier antwortet.
Der Leser des Romans hat manchmal den Eindruck, dass Lolita kein durchschnittliches Kind ist. Mehr noch nimmt man wahr, dass sie den Protagonisten, Humbert Humbert, der mit ihrer Mutter verheiratet ist, verführt. In manchen Kulturen hätten beide heiraten und eine Ehe führen können, ohne dass jemand Anstoß daran genommen hätte. Warum würden wir heute Humbert Humbert dermaßen strikt beurteilen?
Bei Lolita ist eine wichtige Überlegung anzuführen: Eine Jugendliche kann nicht mit einem Kind verglichen werden; die Pubertät beginnt bei Mädchen durchschnittlich mit elfeinhalb und bei Jungen etwa mit zwölf Jahren. Zu dieser Zeit stehen die Gehirne massiv unter dem Einfluss von Hormonen. Der Jugendliche befindet sich zunehmend auch auf sexueller Reizsuche – das Kind nicht. Diesem geht es um emotionale Bindungspartner.