Verbrecher und Menschenkenner zugleich

Besprochenvon Andrea Hajnalka Meisel

  • Köhlmeier, Michael: Die Abenteuer des Joel Spazierer. München: Hanser, 656 S., 24,90 €.

In Michael Köhlmeiers Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ durchreist der Hochstapler András Fülöp, der sich Joel Spazierer nennt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Länder Mitteleuropas. Seine Reise, die in Ungarn beginnt, führt ihn über Österreich, Deutschland bis nach Mexiko und wieder zurück ins heimische Wien. Dabei entpuppt er sich mehr und mehr als skrupelloser Betrüger, Manipulator, Hochstapler und Mörder, während der Leser gleichzeitig über seine eigene Sympathie mit dem Helden staunt.

Als die Großmutter vom kommunistischen Geheimdienst Ungarns verhaftet wird, bleibt der vierjährige Protagonist allein in der Wohnung zurück. Er ernährt sich von den Vorräten in der Wohnung. Die Tiere auf seinem bestickten Kissen werden in seiner Phantasie zu realen Personen, mit deren Hilfe das Kind die Einsamkeit übersteht. Seitdem klafft eine Lücke zwischen seiner Wahrnehmung und der seiner Mitmenschen.

Als der Junge später selber verhört wird, antwortet er nur mit „Ja“, „Nein“ und „Weiß nicht“. Es ist eine Frage-Antwort-Technik, mit der er erfolgreich falsches Spiel treibt. So lernt er schon im Kindesalter, wie man Menschen manipuliert. Die Familie flieht schließlich vor dem Regime nach Österreich, wo sich der inzwischen Neunjährige erfolgreich prostituiert.
Er wird von einem ungarischen Geheimdienstler entführt, der ihn künftig als seinen Sohn ausgibt und als solchen behandelt. Er lernt Ausweise zu fälschen und seine Identität zu verändern. Der Geheimdienstoffizier setzt sich ab und lässt das Kind zurück, woraufhin András einen obdachlosen desertierten Soldaten der US-Armee trifft. Mit diesem tut er sich zusammen, lebt im Wald und sichert das Überleben durch Hauseinbrüche und Raubüberfälle. Ihre gemeinsame Wanderschaft führt nach Österreich, wo András wieder zu dem Schoß seiner Familie zurückkehrt.
Zurück in Wien sucht er die Freundschaft eines reichen Mitschülers. Beim Einbruch in dessen Haus, wird er gestellt. Zum ersten Mal gelingt es ihm nicht seine Mitmenschen zu manipulieren und er wird verurteilt. Im Gefängnis ersticht er seinen vormaligen Beschützer, schiebt den Mord dessen Rivalen in die Schuhe und sichert so für den Rest seiner Haft eine gewisse Machtposition.
Aus der Haft entlassen trifft er auf Janna, einer Drogenabhängigen, die er vergeblich zu retten versucht. Nach dem Einzelversuch einen Mitmenschen zu helfen, führt er weiterhin ein wechselhaft-erfolgreiches Leben als Trickbetrüger, bis ein Schriftsteller ihm freies Wohnen anbietet unter der Bedingung, dass er seine Lebensgeschichte aufschreibt.
Nach und nach versteht der Leser, dass es dem alten, zur Ruhe gekommenen Erzähler nicht darum geht, seine Taten retrospektiv als verwerflich zu erklären. Es ist nicht seine Absicht, sich von seiner Schuld freizusprechen, sondern einzig und allein Regeln menschlichen Sozialverhaltens zu verstehen, diese imitieren zu können und die Moral als willkürliche Wahrheit zu klassifizieren. Seinen Höhepunkt erfährt diese Imitation, als sich Joel Spazierer durch die Lektüre von Ernst Thälmanns Biographie erfolgreich als sein rechtmäßiger Enkel ausgibt und dem politischen Kader der DDR eine Biographie vorgaukelt, die ihm eine Karriere als Professor für wissenschaftlichen Atheismus an der Humboldt-Universität verschafft. Ein gesichertes Einkommen, einen hochkarätiger Freundeskreis und zwei Familien fügen sich wie nebenbei auch in diese Logik.

Obwohl sich der Held geistig nicht entwickelt, sondern bis zum Schluss kompromisslos seine Interessen durchsetzt, so leidet er auch doch selbst unter den Konsequenzen seines Lügenlebens. Während sich der Schelm des Picaroromans seines Erfolgs sicher sein kann, ist das Scheitern ein wichtiges Element im Lebenslauf Joel Spazierers. Immer wieder holt ihn seine Vergangenheit ein, zwingt ihn dazu, alles aufzugeben und eine neue Existenz an einem anderen Ort aufzubauen.
Michael Köhlmeier bricht mit den Traditionen des Schelmenromans, indem er seinen Held nicht nur als augenzwinkernden Kritiker der Gesellschaft beschreibt, sondern auch als gescheiterte Existenz, die sich am Ende fragen lassen muss, was ihm dieses Wissen über die Funktionsweisen des Menschen nützt. Mit allen menschlichen Wünschen, Bedürfnissen, Abtrünnigkeiten und Scheinheiligkeiten vertraut, ist er fähig, das Verhalten seiner Mitmenschen berechnen und vorhersehen zu können. Dies hat aber nichts mit tiefem gegenseitigem Verständnis und mit Nähe zu tun. Es ist das völlige Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen, das in der Psychologie als psychopathisch bezeichnet. Joel Spazierers einziges erklärtes Ziel ist das Hier und Jetzt ist, er hat keine langfristigen Ziele. Sein Lebensmotto ist „unnütz zu sein wie eine Lilie auf dem Felde“. So bleibt der Leser am Ende des Romans mit einem merkwürdig leeren Gefühl zurück. Fraglich ist auch, warum der österreichische Erzähler den Erfolg von Joel Spazierers Täuschungskunst gerade in der DDR als besonders erfolgreich inszeniert.
Die Geschichte von Joel Spazierer ist streckenweise lang, zu lang. Vermutlich ist dies dem Glauben des Erzählers geschuldet, dass „unwichtige Details“ die Glaubwürdigkeit einer Biographie erhöhen. Nur leider hat es den unerwünschten Effekt, dass der Leser zuweilen das Ende des Romans herbeisehnt. Dennoch gelingt es Köhlmeier mit kaltblütiger Präzision die Tricks und Finessen eines erfolgreichen Gauners zu beschreiben, was das Lesen zu einem genüsslichen Erlebnis werden lässt.

Im Gespräch mit der Trauer

Besprochen von Andrea Hajnalka Meisel

  • Barbara Pachl-Eberhart: Vier minus drei. Wie ich nach dem Verlust meiner Familie zu neuem Leben fand. München: Heyne, 351 S., 8,99 €.

Welchen Sinn hat es, wenn zwei Kleinkinder mit Ihrem Vater von einem Zug überrollt werden und tödlich verunglücken? Der tragische Unfall einer Familie in Österreich aus dem Jahr 2008 ging auch durch die deutschen Medien. Es ist nicht nur das Unglück, das die einzige Überlebende der Familie, die Mutter, prominent werden ließ. Es ist ihr Mut, sich diesem Schicksal zu stellen, ihr Glaube an die Sinnhaftigkeit dieser Tragik und ihre Hoffnung auf eine glückliche Zukunft auch nach dem Verlust ihrer Familie. Über die Zeit nach dem tödlichen Unfall berichtet Barbara Pachl-Eberhart in ihrem autobiografischen Buch Vier minus drei.
Die Autorin erzählt zunächst in chronologischer Reihenfolge ihre Erlebnisse und streut einige Erinnerungen an gemeinsame glückliche Augenblicke als Familie mit ein. Sie selbst arbeitet zu dieser Zeit als Clown in einem Kinderkrankenhaus. Eines Tages, bei einem alltäglichen Einkauf im Supermarkt, erfährt sie über das Telefon von dem Unfall. Ihr Ehemann Helmut ist sofort tot. Auch die Kinder überleben ihre lebensgefährlichen Verletzungen nicht. Allerdings bekommt die Mutter die Möglichkeit, in den letzten Lebenstagen der Kinder Abschied zu nehmen und gewinnt in dieser Zeit die Zuversicht, dass ihre Seelen weiterleben.
Während eines Waldspazierganges nach dem Unfall verspürt die Autorin eine große Fröhlichkeit bei dem Gedanken an ihre Tochter Fini. Nach der Rückkehr in das Krankenhaus ist ihre Tochter bereits tot. Sie stellt sich den Tod daher als fröhlichen Übergang in eine unvergängliche Welt vor und malt sich ihre verstorbene Familie als glückliche Engel aus, die auf Wolken sitzen und ihr von Ferne zuschauen. Aber auch andere spirituelle Gesichtspunkte regen zum Nachdenken an. Alltägliche Vorkommnisse, wie z.B. das Grafitti „Sei mutig!“ am Ort des Unglücks interpretiert sie als Zuspruch ihres verstorbenen Ehemannes.
Warum die Autobiographie dennoch nicht zu einem der zahlreichen esoterischen Bücher verkommt, ist, weil die Autorin selber die eigenen Zweifel nicht verdrängt. Auch sie wägt innerlich ab zwischen den Argumenten für und gegen den Glauben. „Die Stimme in meinem Kopf ist manchmal sehr kritisch. Sie will es genau wissen.“ Und sie ist sich nicht immer sicher, dass sie mit einem Wiedersehen nach dem Tod rechnen darf. Sie glaubt daran, weil sie daran glauben will. Und es ist auch letztendlich Mut, sich der Verzweiflung nicht zu überlassen.

Sprache heilt

Obgleich die Geschichte von Barbara Pachl-Eberhart sprachlich schlicht gehalten ist, so ist sie allerdings ein erstaunliches Zeugnis vom therapeutischen Potenzial von Sprache. Es gibt dem Leser einen inspirierenden Einblick in die Möglichkeiten des Sprechens auch in Extremsituationen, in denen scheinbar nur noch Sprachlosigkeit existieren kann. So richtet die Autorin kurz nach dem Unglück einen offenen Brief an ihre Mitmenschen. Sie schreibt in ihrem Tagebuch Nachrichten an ihre verstorbenen Angehörigen. Sie formuliert einen Brief an den Schaffner derjenigen Eisenbahn, die ihre Familie umgebracht hat. Und sie begibt sich in Gesprächstherapien. All dieses Sprechen ermöglicht letztlich die Hoffnung nicht aus den Augen und Herzen zu verlieren.
Aber auch sie braucht nach dem Unglück eine Zeit des Schweigens und der Zurückgezogenheit. Dennoch bekommt sie durch diese Formen des Sprechens ein sensibles Bewusstsein für den Prozess der eigenen Trauer. Sie nimmt dabei die zahlreichen Tabus wahr, die im Kontext von Tod existieren. So wird ihre ausgefallene Idee, die Beerdigung als fröhliches „Seelenfest“ zu begehen und dabei farbige Kleidung zu tragen von einigen Nachbarn kritisch kommentiert. Durch das Schreiben und Reden über die eigene Trauer schafft sie es aber ihre eigenen Bedürfnisse zu respektieren und Tabus zu überschreiten. Daher lässt sie es sich auch nicht nehmen, ihren Sohn in Gegenwart von ihren Clownkollegen und bei fröhlicher Musik in den Tod zu begleiten.
Barbara Pachl-Eberhart versteht den Schicksalsschlag zwar als herbe Zumutung, akzeptiert ihn aber auch im Vertrauen darauf, dass er zu ihr gehöre. So trägt sie das, was sie erlebt hat, „wie einen würdigen, ehrenvollen Mantel“, der ihr angezogen wurde. Und sie träumt von einer Welt, „in der jede Form der Trauer“ als königlich geachtet wird. Das Buch ist empfehlenswert für alle, die sich mit der Frage „Wie kann Gott so viel Leid zulassen?“ auseinandersetzen und auch für diejenigen, die die Kraft zur Lebensbejahung nach einem Schicksalsschlag wiederfinden möchten.

Paul Lukas: „Vinyl“

Besprochen von Julia Schmidt

  • Paul Lukas: Vinyl. Milena: Wien 2012. 232 Seiten.

Wie ein ständiges Auf und Ab, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt: so beschreibt Paul Lukas in seinem Roman „Vinyl“ die Liebesbeziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner großen Liebe, der unberechenbaren und kompromisslosen Nadja.

Der Protagonist, ein ehemaliger Musiker, dessen Namen der Leser während des gesamten Romans nicht erfährt, arbeitet in einer Berliner Plattenfirma und führt ein trostloses Leben. Immer wieder springt er  zurück in die Vergangenheit und erzählt, wie er seine große Liebe Nadja kennenlernte, wie sie sich verliebten, wie sich ihre Beziehung entwickelte. Und wie er zu seiner Band, den „Sonntagsmördern“ kam, mit denen er so viele Jahre verbracht und gespielt hat.

Während all seiner Erzählungen steht die Beziehung zu Nadja im Mittelpunkt. Diese hat nichts Beständiges, nichts Sicheres oder Routiniertes. Wunderschöne und harmonische Momente wechseln sich ab mit heftigen Streitereien. Nadja ist eine komplizierte Person,  auf der einen Seite sehr stark und selbstbewusst, eine junge Frau mit klaren moralischen Vorstellungen, der Spießertum, Heuchelei und Geldgier ein Gräuel sind. Doch auf der anderen Seite verliert sie schnell die Kontrolle über ihre Emotionen, bricht zusammen und muss gepflegt und geschont werden, bis es ihr wieder besser geht. Auch mit der musikalischen Karriere des Erzählers geht es nicht immer steil bergauf. Die Band hat einige Anlaufschwierigkeiten, es dauert lange, bis die Musiker wirklich genug Erfolg haben, um von ihrer Musik leben zu können. Dies bringt ständige Geldprobleme für den Protagonisten mit sich, der zudem noch eine kleine Tochter aus einer früheren Beziehung zu versorgen hat.

Trotz dieser Schwierigkeiten steht der junge Mann von „damals“  in klarem Kontrast zu seinem jetzigen Ich. Als der Protagonist Nadja kennenlernt, ist er ein lebenshungriger junger Mann, der optimistisch in die Zukunft blickt, sein älteres Ich jedoch ist ein Zyniker. Dieser Mensch hat von Politik, Jugend und Gesellschaft eine sehr geringe Meinung und verspricht sich auch von seinem eigenen Leben nicht mehr viel. Mit Nadja ist er nicht mehr zusammen, sie fehlt ihm sehr und er hat ihren Verlust nicht überwunden. Durch die Zeitsprünge setzt sich das Leben des Protagonisten nach und nach wie ein Puzzle zusammen und die Frage, wie und warum die Beziehung zu Nadja ein endgültiges Ende findet, wird erst am Schluss beantwortet.

Nadja sucht ihren ehemaligen Geliebten nach einer mehrjährigen Trennung auf und bittet ihn um Hilfe. Erneut fühlt sich der Protagonist zu ihr hingezogen. Als sie ihm jedoch von ihrem Plan erzählt, ist er geschockt. Nadja ist traurig und wütend über den Tod ihrer Tante, der auf eine falsche ärztliche Behandlung zurückzuführen war und möchte ein Zeichen setzen. Sie will eine Bombe zünden und so gegen die Geldgier im Gesundheitssystem protestieren. Ihr Ex-Geliebter schafft es nicht, sie aufzuhalten; Nadja wirft die Bombe. Sie stirbt, er verliert eine Hand. Die musikalische Karriere des Protagonisten ist vorbei, doch dies scheint ihm gleichgültig zu sein. Nadjas Tod reißt ihn in tiefe Depressionen, sie bedeutete ihm alles.

Die Geschichte insgesamt ist ein wenig düster, von der Tatsache überschattet,  dass der Protagonist nicht mit seiner großen Liebe zusammenbleibt, er in einem Job endet, den er nicht ausstehen kann und seinen Kummer in Alkohol ertränkt. Dagegen ist die Sprache sehr bunt, reich an Bildern und Metaphern. Das ständige Auf und Ab in der Beziehung ist spannend mit zu verfolgen und auch die Frage, was zum endgültigen Bruch zwischen Nadja und ihrem Geliebten führt, erhält die Neugier aufrecht.  Vinyl – ein umgangssprachliches Wort für „Schallplatte“; genau wie dieser Tonträger scheint auch der Protagonist seine beste Zeit hinter sich zu haben. Er hängt einer vergangenen Liebe nach und auch seine berufliche Lage scheint aussichtslos. Das Ende des Romans gibt jedoch Mut: der Erzähler erwacht aus seiner Gleichgültigkeit, kündigt seinen ihm so sehr verhassten Job und beschließt, es noch einmal mit der Musik und dem Leben zu versuchen.

P.D. James – Der Tod kommt nach Pemberley

Besprochen von Pia Klein

  • P.D. James: Der Tod kommt nach Pemberley. Kriminalroman. Droemer 2013. 384 Seiten, 19,99 Euro.

Die bekannte Krimiautorin P.D. James wagt sich an daran, „Stolz und Vorurteil“, den Klassiker von  Jane Austen, weiterzuschreiben. Ein Unterfangen, welches bekanntermaßen nicht im Sinne Austens gewesen wäre, hat die doch in ihrem Roman „Northanger Abbey“ unmissverständlich klargemacht, dass sie von Schauergeschichten überhaupt nichts hält. Dennoch kommt bei James der Tod nach Pemberley.

Einige Jahre sind vergangen, seit die Schwestern Elizabeth und Jane Bennet einen Mann fürs Leben gefunden haben. Während eines stürmischen Herbstes steht der alljährliche Ball Lady Annes vor der Tür, und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Plötzlich fallen Schüsse im Wald. Die Jüngste der Bennet-Schwestern, Lydia, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Es gibt einen Toten, und jemand muss ins Gefängnis. Es bleiben Fragen: War es Wickhams Schuld? Was stimmt nicht mit dem Haus im Wald? Wen wird Darcys Schwester  Giorgiana heiraten? Und welches Geheimnis haben die Eheleute Lizzy und Mr. Darcy vor einander? Es gibt viele Indizien, aber Beweise leider keine. Nur wer die Lektüre bis zum letzten Kapitel durchhält, bekommt die Antworten.

Die Autorin beginnt mit einer Zusammenfassung für Nicht-Austen-Kenner, bei der die moderne Krimiautorin wunderbar den Ton ihres Vorbildes trifft. Die dann folgende Krimigeschichte aber entwickelt sich enttäuschend. Zunächst hat man den Eindruck, Lizzy würde sich wie Miss Marple auf die Suche nach dem Mörder machen, der ihr kleines Paradies in Gefahr bringt. Doch stattdessen wird die Gedankenwelt ihres Gatten, Mr. Darcy, ausgebreitet. Schließlich liegt die Lösung des Rätsels bei der Herkunft eines unehelichen Kindes, das bei den Protagonisten des Jane Austen-Romans „Emma“ ein neues Zuhause findet.

P.D. James ist sichtlich bemüht, den Stil des großen Vorbilds zu erreichen. Dies gelingt ihr aber nur zu Beginn des Romans. Was dann folgt, sind Verwicklungen, die den Leser seltsam unberührt lassen, weil es ihr nicht gelingt, das Seelenleben ihrer Figuren glaubhaft zu schildern. Die Charaktere sind zwar zahlreich, aber farblos. Insgesamt funktioniert „Der Tod kommt nach Pemberley“ weder als Krimi noch als Fortsetzung eines Klassikers.

„Coffeeshop“: Multimediales Erzählen in der ‚Literatur‘

Besprochen von Alexander Karl

Das ist der Literaturbranche bestimmt nicht Latte (Macchiato): Denn Coffeeshop von Gerlis Zillgens stellt einen Bruch mit den gängigen Buchkonventionen dar. Zunächst einmal ist es kein haptisches Buch, sondern eine E-Book-Serie mit 12 Episoden (wahlweise auch als Hörbuch oder als Read & Listen Version verfügbar). Darin erlebt die Sachensucherin Sandra die unterschiedlichsten Abenteuer mit ihren drei besten Freunden, deren zentraler Treffpunkt der „Coffeeshop“ ist, das Café ihres schwulen Freundes Captain. Allein die Episodenhaftigkeit und somit die strukturelle Anlehnung an TV-Serien mag für den Literaturbetrieb ungewöhnlich sein. Dabei stellt dies aber nur Basis-Version der Erzählung dar. Denn die „Coffeeshop“-App sorgt für ein kunterbuntes Story-Erlebnis.

Multimediale App

Multimedial wird Coffeeshop vor allem durch die App, die es parallel zu den anderen Produkten gibt: Jede der 12 Episoden in der App besteht nicht nur aus geschriebener Handlung, sondern reichert sie multimedial an. Kurze Filme greifen Handlungselemente auf, führen sie aus und kommentieren sie. Comicsequenzen zeigen die Gedanken der Protagonistin Sandra. Zudem werden Gespräche mit ihrem Vater auf rein auditiver Ebene eingebunden. Hinzu kommen weitere Elemente, um weiter in das „Coffeeshop“-Universum einzutauchen: Die Tagesgerichte des Coffeeshops lassen sich mittels der abrufbaren Rezepte nachkochen und Steckbriefe fassen die Eigenheiten der Protagonisten zusammen. Eine weitere Perspektive auf die Handlung wird durch die jeweils zur Episode passenden Kolumnen von Captain geboten. Hinzu kommen ein Spiel sowie Musik- und Büchertipps der Protagonistin, wobei letztere ins Web ausgelagert sind. Zusätzlich kann man sich die Episoden auch vorlesen lassen.

All das, was sonst transmedial ist

Mit dieser App geht Coffeeshop weit über das hinaus, was der Literaturliebhaber alter Couleur kennt: Statt ‚nur‘ gedruckte Worte auf Papier zu liefern, schafft Coffeeshop ein multimediales Erlebnis, das weit über die eigentliche Buchlektüre hinausgeht und innerhalb einer App all das versammelt, was in TV-Serien sonst gerne transmedial ausgelagert wird. Etwa bei der Erfolgsserie Breaking Bad, die online mit den Blogs der Figuren Marie und Hank sowie Graphic Novel Games und einigen Minisoden aufwartet – wie Jason Mittell in seinem online vorab publizierten Buch Complex TV : The Poetics of Contemporary Television Storytelling beschreibt, dienen die transmedialen Erzählungen von Breaking Bad vor allem dazu, den (Neben-)Figuren zusätzliche Tiefe zu verleihen. Ähnliches lässt sich auch bei Coffeeshop mit der Kolumne von Captain feststellen, da die eigentlichen Episoden aus Sandras Ich-Perspektive erzählt werden. Und auch die kurzen Videos ermöglichen Kommentare der weiteren Hauptdarsteller und Nebenfiguren, etwa Sandras Eltern.

Doch wie neu ist dieses Vorgehen? „Coffeeshop ist ein multimediales Projekt, bei dem erstmals ein Verlag und eine Filmproduktionsfirma zusammenarbeiten und ihre Stärken in einer neuen Form des Storytellings verbinden“, heißt es in einer Presseinformation.

Mehr noch: Coffeeshop stellt ein Beispiel für Paradigmenwechsel der Buchwelt dar, die zusehends mit hochwertig produzierten (und komplexen) TV-Serien konkurrieren muss, die als Romane der Neuzeit gefeiert werden. Daher scheint es nur logisch, die Stärken der unterschiedlichen Medien zu vereinen und dadurch ein multimediales Gesamterlebnis zu schaffen.

 

Die Rezension erschien zuerst am 11. Juni 2013 auf media-bubble.de.

Carl Sagan trifft Umberto Eco

Besprochen von Hans W. Giessen

  • FLYNN, Michael F.: Eifelheim. Tor, New York 2006. Reprint 2009. ISBN
    978-0765340351.

Das Buch „Eifelheim“ hat einen deutsch klingenden Titel, obgleich es ein amerikanisches Buch ist, von einem amerikanischen Autor, in einem amerikanischen Verlag erschienen. Aber der Titel trügt nicht: „Eifelheim“ ist der Name eines „deutschen“ Dorfes, genauer: eines Schwarzwalddorfes zur Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit (also, wenn wir streng sind, zu einer Zeit, als es „Deutschland“ noch nicht gab).

Tatsächlich handelt es sich um zwei Parallelgeschichten, die sich einerseits im titelgebenden Ort „Eifelheim“ des 14. Jahrhunderts und zum anderen in der (in einer nahen Zukunft angesiedelten) Gegenwart eines Akademikerpärchens an einer US-amerikanischen Universität entwickeln. Verbunden werden die beiden Geschichten in der Person des Historikers Tom Schwoerin. Er versucht, herauszufinden, wieso der Ort im Jahr 1349 nach einer Pestepidemie aufgegeben und dann nie wieder besiedelt wurde, obgleich es sich von der Lage her angeboten hätte. Alle geographischen und ökonomischen Daten sprechen dafür, dass hier eine Siedlung stehen müsste. Es muss also etwas Dramatisches passiert sein, dass es dazu nicht gekommen ist – aber was? Dies erläutert der Teil der Handlung, der in „Eifelheim“ selbst angesiedelt ist. Wobei die Handlung selbst schnell erzählt ist – es handelt sich gerade nicht um eine mäandernde, aber vorwärtstreibende ,Handlung’ im Sinn anderer historischer Romane à la „Wanderhure“, die auf eine anderes Publikum zielen, das Sex und Krimieffekte im historischen Ambiente sucht. „Eifelheim“ beschreibt Sozialstrukturen, Verhaltensschemata, philosophische und weltanschauliche Konzepte, dazu kommen wissenschaftliche Konzepte insbesondere aus der Quantenphysik – aber weniger vorwärtstreibende Handlung im Sinn zahlreicher äußerer Ereignisse. Von daher können die Ereignisse des Buches hier bedenkenlos erzählt werden, da die Spannung andere Quellen hat. Immerhin beginnt die Geschichte buchstäblich mit einem Donnerschlag: Ein Raumschiff stürzt in einen nahegelegenen Wald. Offenbar handelt es sich um eine Bruchlandung, die Passagiere sind auf der Erde gestrandet, müssen ihr Raumschiff reparieren. Der Dorfpfarrer entdeckt eine Art Haus, das plötzlich im Wald aufgetaucht ist. In der Folge liegt der Schwerpunkt dann aber nicht mehr auf schnellen Handlungseffekten. Vielmehr geht es um den sich langsam anbahnenden Kontakten zwischen den Außerirdischen, insektenartig aussehenden Wesen, die von den Menschen, die ihre Sprache und Art des Kommunizierens nicht verstehen, „Krenken“ genannt werden.

Das Buch wirbt, meiner Meinung nach völlig gerechtfertigt, mit einem Zitat aus einer Rezension des “Entertainment Weekly“: “Carl Sagan meets Umberto Eco“. Wobei der Hinweis auf den Astrophysiker Sagan eher auf seinen Roman “Contact“ aus dem Jahr 1995 abzielt als auf seine wissenschaftlichen Bücher (von denen in Deutschland sicherlich und zumindest noch “Cosmos“ aus dem Jahr 1980 bekannt sein dürfte), und der Hinweis auf Eco ebenfalls nicht vorrangig den Semiotiker meint, sondern wohl eine Referenz auf seinen berühmtesten Roman „Il nome della rosa“, ebenfalls aus dem Jahr 1980, darstellt, der in der selben Zeit wie „Eifelheim“ spielt (korrekterweise: zwanzig Jahre früher, 1327). Also ein Buch, das literarische Kategorien überschreitet, natürlich historischer Roman, gleichzeitig Science-Fiction, ebenso aber auch philosophischer Dialog…

Die Außerirdischen sind im Wortsinn Fremde, im Denken, Handeln, im Anblick. Sie sind auf den ersten Blick ausgesprochen unsympathisch: nicht nur, dass sie bizarr aussehen, wie übergroße, graufarbene Heuschrecken. Sie sind auch cholerisch, neigen zu Gewaltausbrüchen, sind eingebunden in eine strenge Hierarchie, dort äußerst statusorientiert. Insektenmäßig ist also nicht nur ihr Aussehen: Ihre Instinkte sind durch ihre Jugend geprägt, die sie in einem bienenartigen Schwarm erleben. Aber die Krenken werden, ihrer Sozialstruktur zum Trotz, dennoch auch als Individuen gezeichnet. Manche werden geradezu sympathisch, andere bleiben unangenehm. In der Tat ist ein Reiz des Buches, dass und wie sehr es sie sich als individuelle, realistisch anmutende ,Personen’ entwickeln lässt.

Was ich besonders faszinierend finde, ist, dass es eher die Außerirdischen sind, die sich den Menschen zuwenden, als umgekehrt. Unter den Dorfbewohner gibt es nur wenige, die neugierig sind, wieso die Krenken hierhergekommen sind, wie es in der Hölle (oder wo auch immer diese Wesen herstammen) aussieht, geschweige denn, wer sie wirklich sind. Offensichtlich ist die Gegenwart, sind die eigenen Ängste zu dominant – oder ist die menschliche Natur so? Aber auch hier zeichnet Michael F. Flynn ein differenziertes Bild. Einige Dorfbewohner suchen den Kontakt. Zunächst fühlt sich der Dorfpfarrer durch ihre Ankunft herausgefordert und versucht, herauszufinden, was dies für das Dorf bedeutet.

Pfarrer Dietrich ist eine faszinierende Figur. Er hat in Paris bei den berühmtesten Gelehrten seiner Zeit studiert, bei Jean Buridan, seinerseits Schüler Wilhelm von Ockhams (der im Buch auch einen Gastauftritt hat). Offenbar hatte er dann aus theologischen ebenso wie sozialen Gründen einen Bauernaufstand unterstützt – er hat also konkrete Schlüsse aus Ockhams Philosophie gezogen. Natürlich hat er sich dabei mächtige Gegner gemacht; sein Leben scheint bedroht gewesen zu sein. So wird erklärt, warum dieser gebildete und hochintelligente Mann fast versteckt in einem abgelegenen Schwarzwalddorf lebt. Dietrich hat also seine Wunden. Emotional ist er deshalb vorsichtig, lässt sich nicht direkt auf seine Mitmenschen ein, wirkt eher ,verkopft’ – auch er ist eine zwiespältige Figur, nur begrenzt sympathisch. Aber er ist nicht tumb und lehnt Fremdes einfach deshalb ab, weil es fremd und anders ist. Dennoch bleibt er in seiner Zeit verwurzelt. Flynn beschreibt keinen ,Gegenwartmenschen’, der halt in einer anderen Epoche lebt. Nein, Dietrich ist durchdrungen von der Theologie seiner Zeit. Und er hat große Schwierigkeiten, die Krenken, ihre Technologie und Sozialstruktur zu verstehen, beziehungsweise in Begriffe und Konzepte zu übersetzen, mit denen er umgehen kann. Aber die Ockhamsche Theologie (oder seine Persönlichkeit) veranlassen ihn doch, auf die Krenken zuzugehen und ihnen zu helfen. Die Kommunikation erfolgt über einen Übersetzungscomputer, den die Außerirdischen besitzen. Dennoch bleibt sie schwierig. Da das Vokabular bei Krenken und Menschen semantisch höchst unterschiedlich besetzt ist, entstehen faszinierende Diskussionen. Um zu erklären, wie Weltraumflüge funktionieren, erklären die Krenken quantenphysikalische Phänomene. Dietrich kann dies natürlich nicht verstehen – aber: er versteht dennoch, denn er fügt die Informationen der Außerirdischen in sein theologisches Konzept ein. So gehen die Diskussionen (die wir Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus beiden Perspektiven zumindest abstrakt nachvollziehen können) oft haarscharf aneinander vorbei – und ergeben doch auf merkwürdige, äußerst faszinierende Art einen neuen ,Sinn’. Und es funktioniert auch umgekehrt: Theologische Aussagen Dietrichs werden von den Krenken als Anmerkungen zu (oder Umschreibungen von) quantenphysikalischen oder astronomischen, aber auch sozialen Prozessen interpretiert. Wenn beispielsweise Jesus der bald zurückerwartete – es herrscht ja Endzeitstimmung – “Lord of the stars“ ist: Bedeutet dies, dass er ein Raumfahrer ist, der die Krenken aufgrund seiner Erfahrungen und seines Wissens aus ihrer Situation erlösen kann?

Auch das hat mir gut gefallen: Der Konflikt zwischen figurativer und konkreter Sprache ist ein wichtiges Subthema des Buches. Die Außerirdischen haben keine ,Antenne’ für Metaphern – die aber die christliche Theologie dominieren. Dies erweist sich als noch einschneidender als die unterschiedlichen Kenntnisse über die Naturgesetze, über die Welt, über Welterklärungskonzepte. Sprachliche Kommunikation und die dadurch entstehenden Missverständnisse und dann doch wieder aufflackernden Momente des Einvernehmens sind auf jeden Fall der entscheidende Knackpunkt im Verhältnis zwischen Dietrich und den Außerirdischen. Allein die Art, wie Flynn den Umgang, die Kommunikation zwischen Menschen und Krenken konzipiert hat, ist faszinierend, die theologischen Diskurse des Buchs sind mitunter atemberaubend.

Die Gegensätze zwischen Krenken und spätmittelalterlichen Dorfbewohnern sind im Übrigen fast genauso groß wie zwischen dem Pfarrer und Teilen seiner Gemeinde. Dietrich wird von Bruder Joachim von Herbolzheim unterstützt, der Franziskaner ist. Joachim kann mit der eher vernunftbetonten Theologie Dietrichs nichts anfangen: Seine Religiosität ist ausschließlich emotional begründet. Er sieht in den Krenken sofort Dämonen. Dies meint auch die Mehrheit der Dorfbewohner. Man kann es ihr nicht verübeln, der Augenschein scheint ihnen Recht zu geben: Die Fremden können fliegen, auch wenn sie keine Flügel haben. Und so entwickelt sich als erste Frage, was denn die eigentliche Herausforderung sei: Muss man die Fremden eliminieren oder bekehren? Pfarrer Dietrich will die Krenken bekehren. Dazu muss zunächst die theologische Frage geklärt werden, ob Außerirdische überhaupt Christen sind oder werden können. Schließlich gelingt es ihm, sich mit einigen der Krenken anzufreunden und sie zu überzeugen. Dem ersten Täufling gibt er den Namen Hans. Damit ist auch – und zumindest – bewiesen: Die Krenken haben eine Seele. Und: Die christliche Botschaft ist so stark, dass ihr Einfluss sogar die ursprüngliche Natur der Krenken überwindet.

Die Außerirdischen haben weitere Integrationserfolge. Bemerkenswerterweise gibt es sogar Parallelen zwischen der hierarchischen Gesellschaftsstruktur der Krenken und der spätmittelalterlichen Feudalordnung. Auch dies erlaubt es den Krenken, sich anzupassen, und der lokale Potentat Manfred von Hochwald kann gar, überraschend problemlos, ein Lehnsverhältnis der Krenken akzeptieren. Er ernennt einen der Außerirdischen, der ihm behilflich ist, gar zum Baron Großwald.

Beeindruckend ist also, wie Flynn die Konsequenzen des Kontakts zwischen Menschen und Krenken gestaltet. Die Menschen ändern sich letztlich kaum, ihre Persönlichkeitsstrukturen bleibt gleich – auch die des in der Geschichte so dominanten Pfarrers Dietrich, der zwar offen und (scheinbar) tolerant auf die Fremden zugeht, aber doch so sehr in seinem Weltbild verhaftet ist, dass er sie zu bekehren versucht und ihn die Vorstellung umgekehrter Anpassung an die Kultur der technologisch weiterentwickelten Wesen undenkbar erscheint. Dagegen erwägen und akzeptieren einige der Krenken in der Tat menschliche Normen und Werte. Sie machen emotional wie intellektuell den größeren ,menschlicheren’ Schritt. Die christliche Bekehrung und Taufe sind dafür nur die (aus menschlicher Sicht) extremsten Gesten. Schließlich wird das Dorf von der Pest erreicht. Der Dorfpfarrer versucht sein Möglichstes, den sterbenden Dorfbewohnern zu helfen. Die Krenken haben ihr Raumschiff repariert und wollen die Erde wieder verlassen. Aber einige bleiben, um der Dorfbevölkerung zu helfen und die Toten zu begraben. Sie sind humaner geworden als die meisten Menschen des Dorfes, sie orientieren sich am Dorfpriester – während sich, natürlich, kein Mensch an ihnen orientiert.

Dies ist besonders faszinierend: Flynn kann glaubhaft darstellen, dass und warum verschiedene Außerirdische, obgleich einer überlegenen Technologie entstammend, lieber in einem pestverseuchten spätmittelalterlichen Schwarzwalddorf bleiben wollen, um dort als Christen (im spätmittelalterlichen Sinn des Wortes) weiterzuleben. Bald sterben aber auch sie. Manche kommen in Kämpfen um, manche erfrieren, aber vor allem leiden sie an der irdischen Nahrung, der eine Aminosäure fehlt, die sie zum Überleben benötigen. Sie besitzen zwar technologische Möglichkeiten, die den menschlichen Erfahrungshorizont übersteigen. Aber ihre Lage ist dennoch so verzweifelt wie die der Dorfbewohner. So diskutieren der Pfarrer und sein außerirdischer Freund Hans philosophische Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Ursache von Unheil.

Rund 700 Jahre später ist die Stelle, an der das Dorf existiert hatte, noch immer verwaist. Im ,Gegenwartsteil’ des Buches stößt Tom Schwoerin, der Historiker, der mathematisch-statistische Methoden nutzt, um zu neuen Erkenntnissen über historische Probleme zu gelangen, auf die erstaunliche Tatsache dieser Wüstung. Auch der ,Gegenwartsteil’ ist spannend und faszinierend. Die ,Handlung’ ist Folge des Zusammenlebens des Historikers mit einer theoretischen Physikerin, Sharon Nagy. Beide sind in einer schwierigen Phase ihrer Beziehung, in ihre Arbeit vertieft, vom jeweils anderen genervt. In solchen Situationen bringen sie oft abfällige Bemerkungen des anderen weiter. Einmal schleudert Tom beiläufig Sharon den Vorwurf entgegen, dass die Lichtgeschwindigkeit, Einstein zum Trotz, auch unter identischen Bedingungen nicht gleich sei. Wütend überprüft Sharon den Vorwurf – und muss in der Tat feststellen, dass die Lichtgeschwindigkeit seit Messbeginn (wenngleich nur minimal) langsamer geworden ist. Zunächst vermutet sie, dass einfach die Messmethoden präziser geworden sind. Aber dann bestätigt sich der Vorwurf ihres Lebensgefährten.

Sie erforscht die Rätsel von Raum und Zeit und entwirft ein zwölfdimensionales Universum – und entdeckt dabei exakt die Mechanismen, die die Außerirdischen für ihre Reise genutzt haben. Zunächst aber muss ihr Partner das Rätsel des Dorfes lösen. Infolge mühsamer Recherchen erfährt er, das ,Eifelheim’ zunächst ,Oberhochwald’ hieß und erst nach den Ereignissen von 1348 und 1349, nachdem der Ort also aufgegeben war, als ,Teufelheim’ bezeichnet wurde; daraus entwickelte sich dann ,Eifelheim’. Eine beiläufige Nebengeschichte schildert die Hilfe, die Schwoerin von einer Bibliothekarin erhält, die ihn offenbar als Forscher (und darüber hinaus) anhimmelt. Aber er ist so absorbiert, dass er darauf nicht eingeht. So bleibt er bei Sharon – zum Glück (nicht nur für seine Beziehung), denn die eigentliche Lösung des Rätsels ist Sharon zu verdanken. Beide reisen schließlich nach Freiburg und von dort weiter zur Wüstung Eifelheim, und finden sogar das (christliche) Grab des Krenken Hans – und dort eine Art Plan, der die Theorie von Sharon bestätigt und erklärt, wie die Außerirdischen durchs Weltall reisen konnten. Mithin haben die Forschungsfragen ihres Freundes auch die theoretische Physikerin weitergebracht, ihr sogar zu einem empirischen Beweis ihrer theoretischen Überlegungen verholfen. Michael Flynns Roman ist so präzise durchkomponiert, dass Vergangenheit und Zukunft sowie Geschichte (Geistes-  beziehungsweise Sozialwissenschaft) und Physik (Naturwissenschaft) jeweils exakt den Schlüssel zur Erklärung und Lösung der gegenseitigen Fragestellungen und Probleme bieten. Die Ökonomie des Romans hat zur Folge, dass die jeweiligen Epochen, Ergebnisse, Geschichten und Welterklärungen, so verschieden sie objektiv sind, zueinander passen wie Puzzleteile.

Die Zeit, das Dorf, die Menschen – alles ist sehr glaubwürdig, gerade weil nichts einseitig (perfekt, gut – oder schlecht) ist. Michael F. Flynn geht fair mit dem spätmittelalterlichen Europa um, er hat Respekt – genauso wie mit den Wissen­schaftlern, die er im Gegenwarts-Teil beschreibt. Das spätmittelalterliche Weltverständnis erscheint mitunter so fremd wie dasjenige der im Band beschriebenen Physik oder der Außerirdischen. Aber Flynn macht deutlich: Auch wenn uns die jeweiligen Denkansätze fremd sind, sind sie nicht minderwertig, sondern differenziert und sinnvoll, damals wie „heute“. Sie sind anders, weder besser, noch schlechter. Sie haben Interesse und Verständnis verdient.

Freilich: Damit ist der Roman zu komplex, um es beispielsweise mit einer „Wanderhure“ aufzunehmen. Letztlich ist er auf bizarre Weise gar ein Gegenentwurf zu Ockhams Rasiermesser. Immer wieder werden Erwartungen gebrochen – angefangen von den „menschlichen“ Außerirdischen, über die Tatsache, dass die beiden Wissenschaftler jeweils Fächer repräsentieren, die man gemeinhin eher dem jeweils anderen Geschlecht zutraut (theoretische Physik wird eher als ,männlich’ wahrgenommen, Geschichtestudierende sind überwiegend weiblich…). Selten verbindet ein Buch so viele verschiedene Themen und Forschungsgebiete, von der Anthropologie über die Epidemiologie, die Gesellschaftstheorie, Kosmologie, Quantentheorie, Religionspolitik, Soziologie und Sozialgeschichte, mittelalterliche Theologie bis zur Xenobiologie, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig sind die Grenzen unseres (des?) Wissens ein zentrales Thema. Ist diese Komplexität der Grund, warum der Band bisher nicht in Deutschland erschienen ist? Diese Tatsache ist beschämend, nicht nur, weil die Geschichte in Deutschland spielt. Der Band wurde weltweit aufgenommen und es ist auch zu Übersetzungen in unsere Nachbarsprachen gekommen, ins Französische und ins Polnische, zudem beispielsweise ins Japanische – in Japan hat der Roman sogar einen nicht unbedeutenden Preis erhalten, ebenso wie in den USA, wo er es auf die Shortlist zum Hugo gebracht hat. Nur in Deutschland traut sich offenbar niemand an das Buch heran.

Vielleicht ist auch ein Grund, dass Michael Flynn als Science-Fiction-Autor wahrgenommen wird, und das Genre der Science-Fiction in Deutschland fast nur mit Computerspielen und den von ihrer Ästhetik beeinflussten Hollywood-Baller-Filmen assoziiert wird. Möglicherweise dominiert diese Assoziation so sehr, dass lediglich noch Leser zu Science-Fiction-Romanen greifen, die Nervenkitzel, Thrill suchen. Die Verlage, die Science-Fiction-Literatur verlegen, passen sich diesem Trend an (oder müssen sich ihm anpassen, da sie sonst zu wenig Umsatz erzielen?) – und so erwarten Interessenten ernsthafter, nachdenklicher Science-Fiction gar keine entsprechenden Werke mehr.

Offensichtlich war dies das Schicksal des einzigen Flynn-Bandes, der bisher in Deutschland erschienen ist („Der Fluss der Sterne“, erschienen 2008 bei Heyne in München, im Original 2003 unter dem Titel “The Wreck of the River of Stars“ ebenfalls bei Tor in New York veröffentlicht und von Andreas Brandhorst übersetzt). Auch dies ist ein eher ruhiges, reflektierendes Buch, aber der Verlag glaubte, Werbung für das Buch mit Sätzen wie „das größte aller Abenteuer beginnt […] – ein atemberaubendes Science-Fiction-Erlebnis“ machen zu müssen. Kein Wunder, dass die Leser, die auf der Suche nach Action waren, enttäuscht wurden, und andere Leser den Band gar nicht erst in die Hand nahmen. Kurz und gut, die Erwartungen wurden gegenseitig missachtet. So entstehen sich selbst verstärkende Schleifen: Niemand erwartet mehr seriöse, nachdenkliche Science-Fiction-Geschichten, und wenn dies doch mal vorkommen sollte, bekommen ihre potentiellen Leser dies gar nicht erst mit, weil in den einschlägigen Verlagsprogrammen anders vorherrscht – und die Action-Fans sind enttäuscht und schimpfen über den Verlag, falls sie ,fälschlicherweise’ ein solches Buch erwerben. Haben mithin Bücher wie Eifelheim überhaupt noch eine Chance in Deutschland?

Aber es gibt sie noch: ernsthafte Literatur, die sich großer Themen annimmt und diese atemberaubend und spannend aufbereitet. Wo die Spannung der Durchführung zu verdanken ist und nicht einer vordergründigen Action. ,Eifelheim’ ist ein solcher Roman und hätte eine Chance verdient. Immerhin kann man ihn ja heutzutage über die großen Lieferdienste in der amerikanischen Originalfassung schicken lassen, Gott sei Dank.

 

Über „Die Silikonliebhaber“ von Javier Tomeo

Besprochen von Bastian Buchtaleck

Mit dem Roman „Die Silikonliebhaber“ führt der spanische Autor Javier Tomeo den Leser auf leichtfüßige Weise in eine skurrile, doppelbödige Erzählwelt. Eine Welt, in der Sexpuppen aus Silikon nicht nur sprechen können und ein Bewusstsein besitzen, sondern ihren Besitzern beim Liebesakt die Hörner aufsetzen. Mit mehr als 70 Jahren erzeugt Tomeo eine derbe, sexualisierte Welt, die einen ironischen Blick auf die heutige Gesellschaft erlaubt.

Die Liebesbeziehung des alternden Ehepaares Basilio und Lupercia ist derart heftig eingeschlafen, dass sich beide unabhängig voneinander Sexpuppen angeschafft haben – Marilyn und Big John. Zwar erinnert sich das Paar einmal wöchentlich bei einem gemeinsamen Mittagessen daran, „dass sie während einer kurzen Zeitspanne in ihrem Leben einigermaßen glücklich miteinander gewesen waren“, nun aber können sie sich nicht mehr füreinander erwärmen. Sex haben sie nur noch mit ihren Puppen.

Schrille Erzählung als Spiegel der Gesellschaft

Skurril wird die Erzählung, als Basilio und Lupercia ihre Puppen beim Sex erwischen. Big John besorgt es Marilyn richtig, und beide bestehen anschließend darauf, dass dies ihr Recht sei. Die sich in der Folge entspinnenden Ereignisse halten nicht nur Lupercia und Basilio einen Spiegel vor, sondern der heutigen Gesellschaft. Gummipuppen begreifen im Gegensatz zu vielen Menschen, dass „Ficken nicht alles sein kann“, und verlieben sich. Die unterschiedlichen Weltsichten der menschlichen und der dinglichen Protagonisten zeigen: Menschen benehmen sich oft nur menschenähnlich. Lupercia jedenfalls findet es völlig normal, Marilyn eine Schlampe zu nennen und Big John durch ein Loch in der Hülle zu töten, während die Puppen für ein Recht auf freie Entscheidung eintreten.

Zweite Erzählebene: Vom Wahnsinn des Schreibens

Um diese überzeichnete Erzählung herum hat der zu den meistübersetzten spanischen Gegenwartsautoren gehörende Tomeo eine zweite Erzählebene gefügt. In dieser begleitet ein genervter aber geduldiger Lektor einen mäßig begabten Autoren bei dessen Romanprojekt. Bezeichnenderweise heißt der Verfasser des Romans im Roman Ramón. Gegenüber seinem Lektor bezeichnet er sein Werk als einen interaktiven, pornosentimentalen Roman. Dem Lektor bleibt nichts weiter übrig als dem Wahnsinn freien Lauf zu lassen. »Kein Mensch hat das Recht, irgendjemanden daran zu hindern, den Blödsinn, der ihm einfällt, zu Papier zu bringen.« Eine postmoderne, sehr tolerante, eine zeitgenössische Position.

Insgesamt ist „Die Silikonliebhaber“ ein vielschichtiges, verspieltes Buch und auf eine schrille Weise komisch, vergleichbar den Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodovar. Der stetige Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen; die komischen Effekte durch die die, dem Geschehen entsprechende, derbe Sprache, machen den Reiz des Buchs aus und zugleich die Unterscheidung schwierig, ob die letzte Volte noch eine weitere Sinnebene eröffnet hat oder es sich vielmehr um pittoreskes Beiwerk handelt. Mal liegt die eine, dann wieder die andere Vermutung näher. Treffenderweise nimmt man den Roman zwar gerne in die Hand, kann ihn jedoch ebenso einfach wieder zur Seite legen.

© bastianbuchtaleck.de

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Trott und Wirklichkeit: Haruki Murakamis „Schlaf“

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • MURAKAMI, Haruki: Schlaf. DuMont, Köln 2009. ISBN 978-3-8321-9525-0 Pick It! .

Schon 1990 erschien in Japan die Erzählung „Schlaf“ von Haruki Murakami. Fünf Jahre später erschien sie auch in Deutschland. Nun hat der Kölner Dumont Verlag die Erzählung neu aufgelegt und in einem schmucken Buch herausgebracht. Sofort fällt auf, dass sich der Verlag mit diesem Buch besondere Mühe gegeben hat. So wurde das Buch sehr reichhaltig von Kat Menschik illustriert. Die auf dem beigeweiß der Buchseiten ausschließlich in dunklem Marineblau und Silbergrau gehaltenen Illustrationen greifen die Stimmungsbilder des Buchs wunderbar auf und führen sie als atmosphärische Stimmung fort. Zudem ist der Text großzügig gesetzt und wirkt durch viel Platz an den Rändern dennoch wie ein gefasster Textblock.

„Schlaf“ wird aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin erzählt, die nicht schlafen kann, deren Körper auch nicht danach verlangt. Vielmehr bleibt sie wach, konzentriert und fühlt sich gut dabei. Dadurch gewinnt die Ehefrau und Mutter viel Zeit hinzu. Zeit, die sie nutzt, um zu lesen oder um sich endlich wieder im Trott des Lebens selbst zu spüren. „Ich bin dreißig. Wenn man dreißig wird, merkt man, dass die Welt mit dreißig nicht zu Ende ist. Ich bin nicht gerade froh, älter zu werden, aber manche Sachen werden dadurch auch einfacher.“ Durch die zusätzliche Zeit, aber auch die besondere Situation, beginnt sie ihr Leben und ihre Umwelt schärfer wahrzunehmen.

„Seit ich nicht mehr schlief, empfand ich die Realität als extrem einfach. Sie lässt sich ganz einfach meistern. Es ist einfach Realität. Einfach Hausarbeit, einfach Familie. (…) Bloß Wiederholung.“ In „Schlaf“ geht es um die gelebte Wirklichkeit, die nicht in Frage gestellt wird, solange die kleinen Rituale funktionieren. Doch für die Protagonistin eröffnet sich die Frage, wie wahr ist Wirklichkeit, wenn die eigene Familie nicht bemerkt, dass man aus ihr herausgefallen ist?

Mit einer sehr nüchternen, beschreibenden Sprache verhandelt Murakami alltägliche, jedem bekannte Wahrheiten, die zugleich irritieren und die man doch nicht verbalisieren kann oder will. Wahrheiten, die sich in keinen Trott einpassen. Dass man einmal gelesene Bücher größtenteils wieder vergisst, dass man älter wird und sich das Leben damit verändert – ob man will oder nicht. Das Buch lädt dazu ein, den Tag im Gleichklang mit der Ich-Erzählerin zu verleben, sich in den Tag hinein zu setzen, mitten rein, und zu spüren, wie die Stunden einen umspülen und an einem vorbei ziehen, in der wohligen Gewissheit, dass eben genau das der Lauf der Dinge ist.

Neben dieser größeren Perspektive, ist das Buch eine wunderbare, eine gelebte Liebeserklärung an die Literatur. Daran wie sich Wahrnehmung und Zeitempfinden verschieben, wenn man ganz von einem guten Buch gefangen genommen wird.

Insgesamt hat sich der Verlag erfolgreich bemüht, etwas Besonderes zu schaffen, zumal die 20 Jahre überbrückt werden mussten, die seit der ersten Veröffentlichung vergangen sind. Der einzige Wermutstropfen ist, dass „Schlaf“ nach kaum vier Stunden ausgelesen ist. Bei Betrachtung der reinen Lesedauer, ist das Preis-Leistungsverhältnis schlecht. Durch das gelungene Zusammenspiel von hochwertigem Inhalt mit einer aufwendigen Herstellung wird dies jedoch mehr als nur aufgewertet. Gemeinsam entwickeln Text, Illustrationen und Herstellung einen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Die Illustrationen zeigen genau die Traumbilder, denen sich der Text verwehrt und die er doch in sich trägt. „Schlaf“ ist gleichermaßen als Einsteiger- oder Geschenkbuch geeignet und wird Buchliebhaber sogar verzücken.

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Therapiesitzung – Hegemanns Axolotl Roadkill

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • HEGEMANN, Helene: Axolotl Roadkill, Ullstein, Berlin 2010. ISBN: 978-3550087929.

Alle anderen sind „Bäh“ und man selbst irgendwie auch – so könnte man die Welt der jugendlichen Protagonistin Mifti, Ich-Erzählerin des Romans „Axolotl Roadkill“ und Alter-Ego der Autorin Helene Hegemann, in Hegemanns Erstling zusammenfassen. Mifti ist angeekelt, wie Teenager manchmal angeekelt sind. Ihr Leben ist zu gleichen Teilen durchzogen von Haltlosigkeit, wie von einer Unmenge an angerissenen Diskursen, die sie nicht verarbeiten kann und die ihre Haltlosigkeit verstärken. Zudem hält sich Mifti für therapieresistent. Dies wird ebenso betont, wie dass die Protagonistin an einem Roman über ihre Erlebnisse schreibt. Den Titel des fiktiven Romans kann man sich nun leicht ausmalen.

„Ich bin wild aufgewachsen und will wild bleiben“, lautet der unkeusche Wunsch der Protagonistin. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt dieser Vorsatz jedoch allzu fromm: jeder kennt den Wunsch und man weiß, wie er im Prozess des Erwachsenwerdens unabänderlich langsam bröckelt. Aber diese Unangepasstheit braucht die jugendliche Protagonistin, um sich von der Erwachsenenwelt abzugrenzen. Ein tendenziell pubertärer Vorgang.

Was dem Blogger Airen, dem man größere Authentizität nachsagen könnte, mit seiner Veröffentlichung „Strobo“ in einer Erstauflage von 300 Exemplaren nicht gelingen konnte, hat Hegemanns Roman in eine Besteller-Manie verwandelt: Die junge Autorin hat einer bestimmten Strömung der heutigen Zeit eine Stimme gegeben. Der Berliner Club Berghain, in einem alten Kraftwerk gelegen, ist schon länger eine steinerne Metapher für die Mischung aus Drogen, anonymen Sex und exzessivem Nachtleben, die von dem lesenden Bildungsbürger nur bestaunt, nicht aber gelebt werden darf.

„Niemand hat ein Gesicht, es herrscht grenzenlose Anonymität. Hier geht es also um Gott. Nur auf dieser Party ist man anonym, man ist nur dann anonym, wenn man Gott ist.“ Ähnlich wie dieses Beispiel hinken viele Vergleiche, Pointen und ganze Abschnitte. Zudem sind die Figuren zu schemenhaft und schematisch, um interessante Charaktere zu sein. Mifti ist darüber hinaus noch neunmalklug und vorlaut. Die meisten der Dialoge wirken gestelzt, in ihnen wird nicht die charakteristische Stimme einer Figur transportiert, sondern die im monologischen Duktus des Statements vorgetragene, notdürftig verdeckte Meinung der Autorin.

Für sich stehend ist „Axolotl Roadkill“ unreif, als Literatur nicht ernstzunehmen. Es liest sich wie die Aneinanderreihung breitgewalzter Sinnsprüche eines Teenager-Tagebuchs, zur Verarbeitung des Erlebten niedergeschrieben. Ein wenig Dialog davor und dahinter, ein bisschen Beschreibung drumherum, und ein zwei Sätze noch, die etwas Anrüchiges haben, über die man sich aufregen könnte – fertig ist ein Axolotl-Erzählabschnitt. Die narrative Klammer des Romans bleibt fadenscheinig. Die einzelnen Passagen sind wirr und unzusammenhängend wie niedergeschriebene Träume oder Drogentrips. Allerdings ohne Suchtpotential.

Insgesamt erfüllt das Buch viele Kriterien des Boulevard: Es geht um Sex, Drogen und Leute. Es ist in einer einfachen Sprache geschrieben, und auch die kaum vorhandene Handlung ist leicht zu verstehen. Im Prinzip geht Hegemann mit ihrer Erzählung den Weg, der von Charlotte Roche bereitet wurde: wenig Qualität, dafür viel Schmutz. Das hatte dem Verkauf schon damals nicht geschadet.

Erst wenn man also davon ausgeht, dass die Erzählung nicht im Roman, sondern erst in der Lebenswelt abgeschlossen ist, also in den Übertragungen, die von Mifti hin zu Helene Hegemann gemacht werden können, ergibt sich ein rundes Bild. Dann kommt allerdings auch eine lüsterne Gier nach Sensation hinzu. Darin liegt das – nahezu kathartische – Potential des Buchs. Vielleicht ist es das, was das Feuilleton anfangs an dem eigentlich unvollständigen, banalen Buch faszinierte. Nicht das Fräuleinwunder, sondern die verruchte Projektionsfläche für den lüsternen Blick in fremde Wohnzimmer? Ein literarischer Genuss ist es jedenfalls nicht.

Auch wenn es sich in diesem Fall nicht lohnt, der Stimme von Helene Hegemann zu lauschen – ungestüm, laut, unreif und mit kaum Tiefgang – so ist diese Stimme doch vernehmbar, und man darf auf ihre Entwicklung gespannt sein. Weil Schreiben auch eine therapeutische Wirkung hat, kann man behaupten, Mifti ist nicht therapieresistent, sondern hat sich mit dem Schreiben des Buchs selbst therapiert.

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Über „Bowling Alone“ von Robert D. Putnam

Besprochen von Hans W. Giessen

  • PUTNAM, R. D.: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. Simon & Schuster: New York 2000. ISBN 978-0684832838.

1. Verwaltung, Staatswesen, Gemeinschaftsgefühl und Medien

Robert D. Putnams Buch hat den Titel ”Bowling Alone“; dieser Titel stellt zugleich die Quintessenz seiner These dar. Ganz allgemein geht es um die Frage, wieso sich manche Gesellschaften zu wohlhabenden Gebilden, ,blühenden Gemeinwesen’ entwickeln, und andere nicht. Das Dramatische der Antwort des Autors Robert D. Putnams ist, dass er nicht nur einen Schlüssel erkannt zu haben glaubt, sondern gleichzeitig die Begründung, warum offensichtlich die Grundlage des amerikanischen Wohlstands – langsam, aber stetig – im Schwinden begriffen sei. (Im Übrigen geht Putnam von langfristigen Prozessen aus; eine kurzfristige Wirtschaftskrise hat mit seiner These nichts zu tun).
Für Putnam hängen die wirtschaftliche Entwicklung und der gesellschaftliche Wohlstand einer Region unter anderem und insoweit leicht nachvollziehbar davon ab, wie die jeweilige Verwaltung funktioniert.
Putnam ergänzt diesen Satz mit der weiteren These, dass eine Verwaltung vor allem dann gut funktioniere, wenn sie von einem gewissen Verantwortungsgefühl geprägt sei. Dieses Verantwortungsgefühl entstehe vor allem – oder eigentlich: nur – dann, wenn es überhaupt Gemeinschaften mit einem Gefühl gegenseitiger Verpflichtungen gebe, für die die Verwaltung dann tätig werden könne. Putnams Kernfrage lautet demnach: Wie entsteht ein solches Verantwortungsgefühl und ein darauf fußendes Gemeinwesen, wie kann es gefördert oder gegebenenfalls auch nur bewahrt werden? Die Brisanz der Putnam’schen Argumentationskette liegt darin, dass der Autor dieses Gefühl und die darauf aufbauenden gut funktionierenden Gemeinwesen bedroht sieht, aus strukturellen Gründen.
Putnams eigene Studien begannen in den frühen siebziger Jahren mit Feldforschungen in unterschiedlichen Regionen Italiens. Dort wurde zum damaligen Zeitpunkt eine Verwaltungsreform durchgeführt, deren Ziel eine größere Freiheit der einzelnen Regionen von der bis dahin alleinentscheidenden, übermächtigen Zentralregierung in Rom war. Die zwanzig Regionen des Landes, von Sizilien im Süden bis zum Trentino im Norden, erhielten neue Gesetzgebungskompetenzen – und wurden jetzt natürlich auch verantwortlich für die eigene Entwicklung. Robert D. Putnam fuhr direkt 1970 mit einigen Kollegen nach Italien und untersuchte, wie die neuen Verwaltungen ihre Aufgaben erledigten, wo und warum es zum Aufschwung kam, und weshalb es in manchen Regionen dennoch nicht so recht klappte. Es fiel auf, dass die stagnierenden Regionen allesamt im Süden lagen, während der Norden von der Reform im Grossen und Ganzen recht deutlich profitierte.
Dies mag aus verschiedenen Gründen überraschen. Zunächst war das Lebensniveau im Süden viel niedriger als im Norden. Nun kann eine zumindest relative Wohlstandssteigerung von einem niedrigen Sockel aus leichter bewerkstelligt werden als von hohem Niveau. Dazu kommt, dass die Verwaltungsbeamten des Nordens im Schnitt weniger gut ausgebildet waren als die des Südens. Wieso kam es dann zu dieser verblüffenden Entwicklung?
Durch eine Vielzahl von statistischen Untersuchungen konnte Putnam zeigen, dass sich die Unterschiede bis ins Mittelalter zurückführen lassen, als die Normannen in Süditalien einfielen und eine autoritäre Herrschaft errichteten. Vor allem seien sie bestrebt gewesen, die dort existierenden Dorfgemeinschaften aufzubrechen und weitgehend zu zerstören, damit sich kein Widerstand gegen die fremden Herren entwickeln konnte.
Es ist bemerkenswert, dass die Normannen – auch Wikinger, ein germanisches Volk, das ursprünglich ebenfalls gemeinschaftlich organisiert war und Konflikte im sogenannten Thing oder Allthing gemeinschaftlich löste, dort auch gemeinschaftlich Entscheidungen fällte – die gemeinschaftlichen Strukturen im eroberten Süditalien so radikal auflösten. Allerdings war dies offenbar bereits die Folge anderer und früherer Entwicklungen. Schon im neunten Jahrhundert eroberten Normannengruppen Teile des heutigen Nordwestfrankreich, die noch immer so bezeichnete Normandie. Hier experimentierten sie mit neuen Gesellschaftsstrukturen, die sich im Eroberungskampf als überlegen erwiesen: Die zunächst gleichberechtigten Teilnehmer einer Wikfahrt scharten sich unter der zentralen Herrschaftsgewalt des Normannenherzogs. Verstärkend kam hinzu, dass die Eroberer aus dem Norden ihre Bindungen an die Herkunftsregion verloren. Diese Kombination – ein Eroberungs- und Kriegszustand ohne traditionelle Bindungen – intensivierte den Prozess der Machtzentralisierung. Bei den Normannen gab es nur einen schwachen ,Adel’, wenn er überhaupt so bezeichnet werden kann; und es gab überhaupt kein Lehnswesen. Es gab also keine nennenswerten Strukturen, die sich zwischen die zentrale Macht und den Einzelnen stellen konnten. So konnte der Herzog eine zentrale Verwaltung aufbauen. Dieser Regierungsstil wurde im Übrigen später auch zum Vorbild der Königsherrschaft in Frankreich.
Als die Normannen dann in der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts aus der Normandie zu weiteren Eroberungszügen nach Süditalien aufbrachen, hatte sich dieses Herrschaftsmodell bereits durchgesetzt. Umso nachdrücklicher wurde es im neueroberten Territorium eingeführt. Offenbar eignete es sich gut zur Machtsicherung in einem fremden Gebiet. Robert D. Putnam betont, es sei das Bestreben der Normannen gewesen, die Bewohner der süditalienischen Territorien vom Wohlwollen der Herrschaft abhängig zu machen. Gegenseitiges Verantwortungsgefühl und der Stolz auf die eigene Gemeinschaft seien deshalb systematisch unterdrückt worden.
Im Norden dagegen blühten – aus gerade umgekehrten Gründen: weil die Zentralgewalt, das Heilige Römische Reich, so schwach geworden war – autonome Republiken auf, geprägt von engen Gemeinschaften, die ein hohes gegenseitiges Verantwortungsgefühl entwickelt hatten: Zünfte und Gilden und andere Gruppierungen, die, so Putnam, ein Gefühl des Vertrauens aufeinander erwachsen ließen, das es im Süden nie gegeben habe.
Putnam betont wiederholt die ,erstaunliche Konstanz‘ des italienischen Nord-Süd-Gegensatzes bis in die Gegenwart hinein. Die Strukturen hätten den Niedergang der bis dahin unabhängigen Republiken des Nordens im siebzehnten Jahrhundert ebenso überstanden wie das Risorgimento des neunzehnten Jahrhunderts. Und so konnte Putnam auch feststellen, dass die wirtschaftlich schwächsten Regionen noch immer exakt dem ehemaligen Herrschaftsgebiet der Normannenkönige im elften und zwölften Jahrhundert entsprachen. Gleichzeitig seien dies noch immer die Regionen mit dem am wenigsten ausgeprägten dörflichen Gemeinschaftsleben. Beispielsweise gebe es hier die wenigsten örtlichen Gesangsvereine oder Fußballclubs.
Aufgrund dieser Beobachtungen gelangte Robert D. Putnam zur Überzeugung, dass die Qualität der Verwaltung kaum vom Bildungsgrad der Verwaltungsbeamten abhänge, sondern vor allem vom jeweils vorherrschenden Gemeinschaftsgefühl. Da dieses im Norden ausgeprägter gewesen sei, wurde dort die Verwaltungsreform zur Erfolgsgeschichte, im Gegensatz zum Süden, wo es aufgrund der jahrhundertlangen Ausbeutung noch immer zuviel Misstrauen gebe. So schrieb der Amerikaner als Ergebnis seiner Italien-Studie etwas pointiert, dass eine gute Verwaltung ein Nebenprodukt von örtlichen Gesangsvereinen und Fußballclubs sei: Wo diese Gemeinschaften bedeutsam seien, entwickle sich ein allgemeines Gemeinschaftsempfinden, von dem dann die gesamte Region profitiere.
Wenn diese These Putnams zutreffend sein sollte, dann wird auch verständlich, warum er nach der Rückkehr in sein Heimatland so alarmiert war. Dort musste er nämlich feststellen, dass die zahllosen traditionellen Gemeinschaften – ein Erbe aus der Zeit, als das weite Land erobert wurde und jeder auf den anderen angewiesen war – in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dramatisch schwächer geworden waren. Robert D. Putnam präsentiert eindeutige Zahlen: Das Vertrauen in Regierungen, sei es auf der nationalen, sei es auf der lokalen Ebene, werde immer geringer, und immer weniger Bürger engagierten sich für ihr Gemeinwesen. Die Anzahl der Kirchgänger habe ebenso abgenommen wie die der Gewerkschaftsmitglieder. Die Mitgliedschaft bei den Pfadfindern, einer traditionell wichtigen Gemeinschaft in Amerika, werde immer schwächer, auch beim Roten Kreuz oder bei den Frauenverbänden. Insgesamt sei das Engagement in solch freiwilligen Gemeinschaften etwa in den fünfzehn Jahren von 1974 bis 1989 im statistischen Schnitt um ein Sechstel gesunken. Selbst das Kegeln in Verbänden und Vereinen werde immer weniger populär, obgleich es sich doch um eine der charakteristischsten amerikanischen Freizeitaktivitäten handele: Zwischen 1980 und 1993 habe es einen Rückgang um sage und schreibe 40 Prozent gegeben!
Bedeutet der Kegelclub für Nordamerika das, was der Fußballverein für Italien ist? Sicherlich, auf der ,kulturellen Ebene‘ gibt es enorme Unterschiede; kaum zwei Ballspiele dürften einander unähnlicher sein. Aber Robert Putnam vergleicht ja nicht die Spiele, sondern nimmt sie in ihrer Funktion für die Gesellschaft war, als Ausdruck durchaus vergleichbarer Strukturen. Und daher reagiert er besorgt. – Im Gegensatz zum Fußball kann Bowling im übrigen ja auch alleine gespielt werden, und in der Tat hat die Anzahl der Kegler, die nun ganz alleine ihren Sport ausübten, ohne irgendeinen Verein, dem sie angehörten, im selben Zeitraum um zehn Prozent zugenommen – für Putnam ein weiteres Indiz seiner These (und aus dieser Beobachtung leitet er auch den Titel seines Buches ab: “Bowling Alone“). So formuliert er noch recht allgemein, dass offenbar auch in Amerika das Bedürfnis wachse, das Privatleben selbstbestimmt und frei von Zwängen welcher Gemeinschaft auch immer zu gestalten.
Was mögen die Gründe für diese Entwicklung sein? Robert Putnam bestätigt, dass es ausgesprochen viele Ursachen geben könne. Er nennt etwa die zunehmende Mobilität, die traditionelle Bindungen schwäche. Wichtig sei zudem die Tatsache, dass nun auch Frauen immer stärker ins Berufsleben strömen, weil dies ebenso Zeit und Energie koste. Schließlich sei die Bevölkerungsentwicklung mit der Zunahme der Alten ein Problem. Aber am Bedeutsamsten sei die technische Entwicklung und insbesondere das Fernsehen. Darauf deute bereits ganz simpel die enorme Zeit, die dafür aufgewandt werde – mehr als vierzig Prozent der Freizeit eines amerikanischen Durchschnittsbürgers. Das Fernsehen befriedige viele Bedürfnisse der Bürger, aber, so Putnam, eben auf Kosten der Gemeinschaft. Deren Unterhaltungswert sei halt auch geringer, merkt er an. Einen entscheidenden Hinweis sieht er in verschiedenen statistischen Daten – vor allem in der Tatsache, dass Menschen, die täglich viele Stunden fernsehen, deutlich seltener Vereinsmitglieder seien als Wenigseher, sich deutlich seltener für andere engagierten und überhaupt deutlich seltener ihr Heim verließen. Auch diese Zahlen sind im Lauf der Jahrzehnte gewachsen und ausgeprägter geworden, bereits schwach seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und seit den siebziger Jahren immer deutlicher. Inzwischen haben Sendervermehrungen, Breitbandverkabelung und vor allem der Computer das Problem noch verstärkt.

2. Eine kurze Anmerkung zu Putnams Ansatz

Nun sind die Vereinigten Staaten das ,Mutterland’ des Fernsehkonsums, bereits seit den fünfziger Jahren. Die aktive Bevölkerung ist also bereits mit dem Fernsehapparat aufgewachsen – mehr noch: ihre Elterngeneration war die erste Fernsehgeneration; man könne also auch nicht sagen, dass sich eventuell noch die Erziehung auswirke, die die Eltern den Kindern angedeihen ließen. Inzwischen präge das Fernsehen bereits die Kindeskinder der ersten Zuschauer.
Dennoch hat in dieser Zeit der Wohlstand in den USA noch (wenngleich sehr asymmetrisch, aber Asymmetrien gab es hier schon lange) zugenommen, und ist nicht etwa geringer geworden. Insofern sind die Befürchtungen Robert D. Putnams offenbar zumindest übertrieben, und in der Tat lädt diese Beobachtung dazu ein, nach den Schwachstellen der Putnam’schen Theorie zu suchen. Das Problem ist offenbar, dass er zwar für Italien eine augenfällige Parallele zwischen gesellschaftlichem Engagement und der Effizienz der Verwaltung belegen kann, aber keinen Wirkungszusammenhang. Für Amerika kann Putnam Parallelen zwischen Fernsehkonsum und Abnahme des gesellschaftlichen Engagements empirisch-statistisch belegten, aber nicht, dass die Verwaltung darunter leide, und auch keine anderen Konsequenzen. Die italienischen Wirkungszusammenhänge gelten demnach nicht notwendigerweise auch für andere Kulturkreise, und für die Entwicklungen von Gemeinwesen gibt es auch andere, ebenso plausible Erklärungsversuche. So hat beispielsweise Max Weber mit seinem Konzept einer ,protestantischen Ethik’ ein mindestens ebenso überzeugendes Erklärungsmodell für den Wohlstand in Europa und Amerika aufgestellt.
Max Weber hatte in Nordamerika und Europa, insbesondere im Verlauf eines Vergleichs innerhalb Deutschlands, aber auch bezüglich der Unterschiede zwischen England und den lateinisch-katholischen Ländern beobachtet, dass es einen Zusammenhang zwischen der Religionszugehörigkeit und dem Wirtschaftsverhalten sowie dem allgemeinen Wohlstand gibt. Weber konnte dank aufwändiger Kulturanalysen die Ursache plausibel erklären; der Grund für den unterschiedlichen Wohlstand liege demnach nicht in unterschiedliche Strukturen, sondern in unterschiedlichen Lebenseinstellungen – also in kulturellen Faktoren. Insbesondere der die protestantische Strömung des Calvinismus verurteile das Ausruhen. Dort gelte sogar der Besitz als unethisch, wenn er nicht genutzt werde, um damit zu arbeiten, um also neue Werte zu schaffen. Dies wiederum begünstige die von einem solchen Leitgedanken getragenen Gesellschaften. Die Arbeitstugenden und die immer höhere Kapitalbildung hätten weitere technische Entwicklungen und letztlich immer mehr Wohlstand ermöglicht – unabhängig von Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühlen; sie bedürfen ihrer nicht.
Das Konzept der ,protestantischen Ethik’ widerspricht den italienischen Befunden Robert D. Putnams nicht, auch nicht den Aussagen hinsichtlich des Gemeinschaftslebens in Amerika, denn es ist auf einer anderen Ebene angesiedelt – aber es relativiert beispielsweise die von Putnam in düsteren Farben gemalten Bedrohungen unseres gesellschaftlichen Wohlstands. Im Übrigen ist auch diesem Modell sicherlich kein alleiniger Erklärungsanspruch zuzubilligen, wie nicht zuletzt das Beispiel der traditionell katholischen Länder Bayern oder Luxembourg zeigt, die (dennoch?) zu den wohlhabendsten Ländern Deutschlands beziehungsweise der EU aufgestiegen sind. So bleibt als Quintessenz, dass es wohl keine monokausale Erklärung gibt; und dass noch nicht einmal alle in einem kulturellen Kontext plausiblen Erklärungen Allgemeinverbindlichkeitsanspruch geltend machen können.

R. D. Putnam, with R. Leonardi and R. Y. Nanetti, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton, New Jersey 1992
M. Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 20, 1904, Band 21, 1905