Über „Alles total groovy hier“ von Jörg Juretzka

Besprochen von Patrick Ewald

Die ersten Worte scheinen einem Dalí-Bild entsprungen: ein schroffes, felsiges Küstenterrain, darin dorniges Gestrüpp und Baumleichen, skelettdürre Pferde und verbrannte staubige Weiden. Inmitten dieser Einöde, die „Küste des Lichts“ genannt wird, jagt eine Meute mit Steinen bewaffneter halbstarker Zigeuner einen brennenden Hund durch die endlose Agrarwüste Süd-Spaniens. Die furios beginnende Geschichte versandet jedoch bald in einer sich erst zum Ende wieder ins Furiose steigernden Kriminalgeschichte um das Verschwinden des Mitglieds einer Motorradgang.
Schisser, Anführer der Motorradgang „Stormfuckers“, ist mit hundertachtzigtausend Euro im Tank seiner Buell in den Süden gebrettert, um dort ein Kiffer-Paradies, die Stormfuckers Ranch, zu gründen. Doch seit einiger Zeit gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Also macht sich Gangmitglied und Privatdetektiv Kristof Kryszinski, zusammen mit seinem etwas begriffsstutzigen Kumpan Scuzzi auf ins ferne Spanien, um seinen Verbleib zu klären. Es verschlägt sie in die „Paradise Lodge“, einen von deutschen Hippies geleiteten Campingplatz. Sie wären wohl nur Randnotiz geblieben, hätte Kristof dort nicht erste Anzeichen für Schissers Verbleib entdeckt: einen Stummel der von ihm bevorzugten, mit Maisblättchen selbstgedrehten Zigaretten. Bei seinen Nachforschungen kann er jedoch kaum auf Unterstützung hoffen: Die Campbetreiber um den Anführer Leroy verstoßen ihn, die örtliche Polizei ist ein korrupter Haufen, und seinen Freund Scuzzi hat er gleich am ersten Tag an die Hippies verloren.
In der Folge entwickelt sich die Handlung mit erfreulich unvorhersehbaren Verstrickungen, vielen kleinen Details, die dem Leser beiläufig untergeschummelt werden, und einem derben, aber amüsanten Humor, der stets zwischen Gossenjargon und intelligenter Ironie alterniert. Beinah glaubt man, mit Juretzkas neuestem Streich das Buch eines Stand-Up-Artists zu lesen. Fesselnd beschreibt er alles, was ein primetimeverdächtiges Comedy-Abendprogramm ausmachen würde: amouröse Bettgeschichten, Szenen auf hoher See und actiongeladene Konflikte mit den Zigeunern und der örtlichen Polizei.
Bei all diesen Nebenschauplätzen hätte man den Grund der Reise Kristofs beinah vergessen. Ein Verdienst des erzählerischen Talents Juretzkas, der bewusst den Blick des Lesers auf vermeintliche Nebensächlichkeiten lenkt und diese in der Auflösung zu einem fulminanten und überraschenden Ende verknüpft: Schisser tauscht zwar im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr auf, doch auf dem Meeresgrund aller Tatsachen angekommen, bietet sich eine überraschende wie abstoßende Erklärung für alle Strapazen. Es erwartet den Leser ein actiongeladenes, furioses Ende, das ein Genrefilm nicht besser hätte bieten können.

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Über „Der Psalmenstreit“ von Maarten t‘ Hart

Besprochen von Anabelle Assaf

  • HART, Maarten t‘: Der Psalmentstreit. Piper, München; Zürich 2008. ISBN 978-3492252881.

Historie ohne Pomp und Kitsch

In seinem historischen Roman „Der Psalmenstreit“ beleuchtet Maarten ’t Hart ein Kapitel scheinbar absurder menschlicher Geschichte. In dem kleinen Fischerdörfchen Maasluis in den Niederlanden schlagen sich die Bürger Mitte des 18. Jahrhunderts die Köpfe ein über die Frage, ob die Psalmen in der Kirche nun langsam oder schnell gesungen werden sollen. Im Zentrum der Erzählung, die die Jahre 1739 bis 1811 umfasst, steht der Reeder Roemer Stroombreker, von seiner Mutter zur Hochzeit mit einer reichen Erbin gezwungen. Der junge Mann aber verliebt sich in eine arme Netzflickerin, mit der er einen unehelichen Sohn zeugt, welcher Zeit seines Lebens in kriminelle Handlungen verstrickt bleibt und dem sein ihm unbekannter Vater so nie nahe kommen kann. Bis dahin nicht viel Neues. Erfrischend ist allerdings, dass t’ Hart sich darauf beschränkt, eine historisch korrekte Episode niederländischer Geschichte zu erzählen, ohne dabei die Liebesgeschichte des Reichen und der Armen zum unzähligsten Male wiederzukäuen. Vielmehr verlegt er sich darauf, soziale Missstände zu schildern und dem Leser einen Einblick in die Fischerei und ihre Bedeutung für die Bevölkerung der holländischen Küste zu vermitteln, von der der Autor selbst gebürtig stammt. Seine Figuren aber bleiben bei all den historischen Daten leider nur oberflächlich gezeichnet. Einzig der alte Schullehrer Spanjaard erzeugt durch seine Ironie komische Momente, die die statische Erzählung ein wenig auflockern. Vielleicht hätte Maarten ’t Hart sich tatsächlich dazu hinreißen sollen, seinen Roman auf die doppelte Seitenanzahl zu verlängern, um die Geschichte tiefgründiger und auch persönlicher zu gestalten. So aber springt er mit jedem Kapitel um ein Jahrzehnt weiter vor und als Leser fragt man sich regelmäßig, was wohl aus der Fortsetzung der eben geschilderten Handlung geworden sein mag. Man kratzt die Zweifel an Bibel, Glauben und sinnvollem Kirchgang nur kurz und leider oft auch etwas lächerlich anmutend an, bleibt unfähig die Beweggründe der Charaktere wirklich nachzuvollziehen und sieht berühmte Persönlichkeiten wie Bach, Mozart, Beethoven, Napoleon und Kaiser Friedrich nur im Schnelldurchlauf vorbei ziehen. Gerade noch befindet man sich Anfang des 18. Jahrhunderts im Reich des florierenden Fischereigeschäfts, dann wieder ist man Zeuge des Psalmenstreits, kurz später gibt es bereits Krieg zwischen Holländern und Engländern, im nächsten Kapitel geht sich das Volk aber plötzlich wegen Patriotismusfragen an die Gurgel, nur um dann von Napoleon überrannt zu werden. 70 Jahre Geschichte werden doch extrem zusammenhanglos geschildert, ohne dass die Hintergründe dem historisch ungeschulten Leser klar würden.
Dennoch, bei all den schlecht recherchierten, überkandidelten Geschichtchen, die das Genre Historischer Roman in den letzten Jahren überschwemmen, bleibt t’ Hart dem eigentlichen Anliegen dieser Art Literatur wieder erwarten treu – ein Stück Geschichte zu vermitteln.

 

Über „Feuer brennt nicht“ von Ralf Rothmann

Besprochen von Leif Allendorf

  • ROTHMANN, Ralf: Feuer brennt nicht. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009. ISBN 978-3518420638.

Die Handlung ist wirklich nicht originell: Ein Mann im so genannten besten Alter verlässt den wilden Kreuzberger Kiez und zieht mit seiner langjährigen Lebensgefährtin in den beschaulichen Südosten Berlins. Er ist Schriftsteller, wird von Selbstzweifeln geplagt und geht fremd. Nun stammt diese Geschichte aber aus der Feder von Ralf Rothmann, und wer dessen Roman „Stier“ gelesen hat, diese Geschichte des Maurerlehrlings, der nicht „so eine panierte Schweineseele“ wie seine Kollegen werden will, der miterlebt, wie Punk und New Wave in Düsseldorf einbrechen und die Welt auf den Kopf stellen, der als Krankenpfleger beobachtet, wie Menschen nur noch als Verschiebemasse behandelt werden, und der schließlich nach Berlin geht, um Schriftsteller zu werden – wer also von dieser Geschichte bezaubert wurde, dem wird es schwer fallen, sich der Elegie „Feuer brennt nicht“ zu entziehen.

Das liegt zum einen daran, dass die Milieus präzise beschrieben werden. Da ist Kreuzberg, das Idyll der Berufsjugendlichen, aber jetzt nur noch heruntergekommen. Und dann gibt es Köpenick, den fernsten Ausläufer Berlins, die S-Bahn Richtung Erkner, Friedrichshagen, den Speckgürtel, Schöneiche. Bemerkenswert, dass knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ein Westdeutscher immer noch so tut als seien die Ostdeutschen außerirdische Wesen, der es also zwei Dekaden lang geschafft hat, jeden persönlichen Kontakt über die einstige Grenze zu vermeiden.

Umso tieferen Einblick erhalten wir in das Liebesleben des Schriftstellers mit der etwas jüngeren ehemaligen Buchhändlerin. Es ist eine ganz gewöhnliche Beziehung, doch wie man sich wehtut, wenn man zusammen ist, das beschreibt Rothmann mit schmerzhafter Intensität. Wir leiden mit dem Erzähler, auch wenn der im Unrecht ist. Eingebunden in den Hauptstrang sind zwei wunderbare Personenstudien: die Geliebte, eine vom Ehrgeiz zerfressene erfolgreiche Akademikerin, sowie der alternde Schriftsteller und einstige Mentor des Ich-Erzählers, dessen scheinbare Überlegenheit sich zunehmend als soziale Inkompetenz entlarvt.

Einzig störend sind Passagen, in denen Rothmann über das Schreiben selbst räsonniert. Das haben wir schon in den Achtzigern gelesen – und uns schon damals gelangweilt. „Die Unwahrheit fängt mit dem Kunstwillen an, dem Arrangement, aber das merkt man nicht.“ Eben. Das Buch ist am stärksten dort, wo es sich ganz auf die Handlung verlässt. Alina hat nämlich auch ein Geheimnis, und dass Rothmann das letzte Wort ihr überlässt, spricht für den Autor.

Ralf Rothmanns Romane machen den Leser nicht klüger – aber weiser.

 

Über „Ruhm“ von Daniel Kehlmann

Besprochenvon Bastian Buchtaleck

Vor kurzem hat ein gewisser Daniel Kehlmann angeblich einen Roman mit dem möglicherweise passenden Titel „Ruhm“ geschrieben. Gleich auf dem Buchcover versperren drei Missverständnisse den Blick auf dieses Buch in neun Geschichten.

Das erste Missverständnis ist die Annahme, dass der erst 1975 geborene, aber schon einige Werke schwere, immer noch junge Autor Daniel Kehlmann nach seinem Welterfolg „Die Vermessung der Welt“ gleich noch ein herausragendes Buch, vielleicht nur noch herausragende Bücher schreiben wird. Man sollte das Buch, nicht den Autoren lesen.

Das zweite Missverständnis ist die Annahme, dass es sich bei dem 200 Seiten langen Buch um einen Roman handeln soll. Das steht zwar auf dem Schutzumschlag, aber Roman wird üblicherweise definiert als die Großform erzählender Dichtung (in Prosa), und dieses Kriterium erfüllt Kehlmanns neues Buch nicht. „Ruhm“ besteht nämlich aus neun (Kurz-)Geschichten, die in sich abgeschlossen sind und nur durch wenige narrative Verknüpfungen miteinander in einem Austauschverhältnis stehen, sowie lose durch übergreifende Themen verbunden werden. Dies reicht nicht aus, die angesprochene Großform zu erreichen.

Das dritte Missverständnis ist die Annahme, dass „Ruhm“ ein angemessener Titel sein könnte. Ruhm ist ein auf unterschiedlichsten Leistungen beruhendes hohes Ansehen. Er kann lokal wie global und kurzlebig wie langfristig sein. Das betrifft allerdings kaum die Hälfte der Figuren.

Tatsächlich hat Ruhm mehr mit der Person Daniel Kehlmann zu tun als mit den von ihm geschilderten Figuren. Wer mit diesen Ansprüchen an „Ruhm“ herantritt, wird nicht erkennen können, dass es sich um ein zumindest ziemlich gutes Buch handelt. Nicht herausragend, nicht sehr gut, aber immer noch ziemlich gut und somit weitaus besser als viele andere Bücher. Jede Geschichte stellt eine andere Figur vor. Allerdings ist die dritte Geschichte die packendste. In „Rosalie geht sterben“ erbittet sich die Figur der Rosalie – sie ist auf dem Weg in ein Schweizer Sterbehospitz – im Zwiegespräch mit dem Autor ein neues Leben. Doch der Autor beharrt auf dem Fortgang des bisher Geschehenen und verweist auf die Unmöglichkeit ihres Wunsches – auch für ihn. Es folgen sechs weitere Episoden, von denen keine dieselbe Intensität erreicht. Zudem rücken nach und nach die Verknüpfungen, die die Teile zu einem Ganzen formen sollen, in den Vordergrund und beeinträchtigen auf diese Weise die einzelne Geschichte.

Während die Verknüpfungen austauschbar wirken, zieht sich ein Themenstrang als Motiv konsequent durch „Ruhm“: Die moderne Kommunikationstechnologie und ihre Anwendung. Mal fällt sie aus, mal dient sie als Ersatzwelt, weil die eigene unerträglich ist und mal eröffnet sie unverhofft Einblicke in Bereiche des Lebens, die sonst verschlossen geblieben wären. Die erste Geschichte „Stimmen“ handelt von dem Techniker Ebling, dessen Vorname genauso abhanden gekommen ist, wie sein Leben. Er hat sich gerade sein erstes Handy gekauft und schon erhält er eine Menge Anrufe. Nur dass sie nicht ihm, sondern einem Ralf gelten. Zunächst ist Ebling skeptisch, doch schließlich ist die Versuchung, die eigene Realität um jene dieses Ralfs zu erweitern, zu groß. Ebling erlebt sich auf eine Weise lebendig, die er nicht kannte, um den Preis, dass er seine dröge Arbeit als Computertechniker und seine ungeliebte Frau vernachlässigt, seine eigene Realität wird ihm unwirklich, er verliert sie aus dem Blick. Und dann klingelt das Handy nicht mehr. Dieses Muster zieht sich durch alle Kapitel. Es geht immer um die neuen Kommunikationsmedien in Form von Computern und Handys, die dadurch entstehende Vervielfältigung von Wirklichkeit und den daraus entstehenden Problemen für die Konstruktion eigener Identität.

„Wenn einer so viel im Internet unterwegs ist wie ich, dann weiß er, dass Wirklichkeit nicht alles ist. Dass es Räume gibt, in die man nicht mit dem Körper geht. Nur in Gedanken und trotzdem da.“

Bei Kehlmann führt die Anwendung der neuen Medien zunächst zu einem Lustgewinn, nach dem Motto: Ich will gar nicht wissen, ob es real ist, solange es nur schön ist. Der Blick öffnet sich auf eine Menge paralleler Lebensmöglichkeiten, die alle zu Wirklichkeiten werden könnten, aber immer in Dystopien enden. Die Figuren scheitern. Sie sind überfordert und werden von ihrem eigenen Leben eingeholt. In „Ruhm“ heißt es, „dass das Leben ist, was es ist, und dass man sich einiges aussuchen kann, das meiste aber nicht.“ Daniel Kehlmann beleuchtet hiermit ein gesellschaftlich hochaktuelles Thema, wovon auch das Buch „Wer bin ich und wenn ja, wie viele“ oder der Film „Matrix“ zeugen. Es ist ein Spiegelthema – welche Realität darf noch als wirklich gelten –, weil sich in den Spiegelungen kein Ursprung mehr erkennen lässt. Wenn dann gleich drei Figuren des Buchs Autoren sind, Leo Richter, Miguel Auristos Blancos und Maria Rubinstein, schreibt Kehlmann sich in seinen Roman ein, ohne dass man sagen kann, inwieweit er sich in diesen Figuren spiegelt oder seine Wirklichkeit um ihre erweitert. Ähnlich wie schon bei dem Titel des Buchs handelt es sich hierbei um ein ironisches Versteckspiel. Dies könnte vom Autor entweder sehr gut durchdacht und dann großartig inszeniert oder auch nur das Zufallsprodukt eines ziemlich guten Buchs sein. Genau darin liegt die Gefahr. Kann es so kunstvoll und intelligent konstruiert sein, wenn gleichzeitig die einzelnen Geschichten sprachlich locker-heiter erzählt werden und thematisch scheinbar immer an der Oberfläche bleiben?

„Ruhm“ ist der Versuch, durch ständige Spiegelungen den Blick auf die Dinge als das darzustellen, was er ist: fragwürdig, gespiegelt. In diesem Sinne scheinen die immer wieder auftauchenden Lebenshilfebücher von Miguel Auristos Blancos ebenso ein Hinweis für den Leser als auch ein Leuchtturm für den Autor zu sein.

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Über „Die Beute“ von Phoebe Müller

Besprochen von Leif Allendorf

  • MÜLLER, Phoebe: Die Beute: Erotische Erzählungen. Konkursbuch-Verl. Gehrke, Tübingen 2007. ISBN: 978-3887693688.

Die Karlsruher Autorin Phoebe Müller hat einen beachtlichen Weg hinter sich. In den 80er Jahren veröffentlichte sie im Selbstverlag Erzählungen unter dem Titel „Die Eingeweide des Himmels“. Es waren Geschichten des Weltschmerzes, die das Gefühl schildern, wenn man literarisch interessiert ist in einer Stadt, die wie Karlsruhe nicht das geringste Interesse an Literatur hat. Ihr Romandebüt „Fernes Feuer“ landete irgendwo zwischen Nichtbeachtung und Geheimtipp. Inzwischen gibt es sogar in Karlsruhe so etwas wie eine literarische Szene – dank des unermüdlichen Einsatzes von Menschen wie dem Leiter des Oberrheinischen Dichtermuseums, Hansgeorg Schmidt-Bergmann, oder dem umtriebigen Schriftsteller Matthias Kehle. Aber Phoebe Müller hat die Karlsruher Provinzbühne verlassen. Seit einiger Zeit veröffentlicht sie erotische Erzählungen im konkursbuch-Verlag von Claudia Gehrke. Geschichten dieser Art sind zur Zeit schwer in Mode. Der Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf hat eigens ein Spin-off dafür gegründet: In der Reihe „Anais“ verlegen drei junge Verlegerinnen die Erotikromane junger Autorinnen. Das Strickmuster dieser Geschichten ist immer dasselbe. Im Gegensatz zu den Klassikern, auf die sich heutige Texte dieser Art berufen zu dürfen glauben, Anais Nin oder Pauline Reage, handelt es sich um Dutzendware, die sich konsumieren lässt wie Pralinen oder Sekt.
Nicht so die Erzählungen in Phoebe Müllers neuestem Band „Die Beute“. Zwar mutet der Handlungsablauf meist genau so an wie bei den erwähnten Routineprodukten: zwei Menschen begegnen sich, haben Sex und gehen wieder auseinander. Bei Phoebe Müller kommt aber noch eine weitere Ebene hinein, ein Gefühl des Unbehagens. Es scheint, als ob das Ungenügen, das die Protagonisten bei „konventionellen“ Sex empfinden, die Autorin daran hindert, die übliche Erotik-Wohlfühlprosa zu produzieren, jenen Prosecco zum Lesen, der gegenwärtig so erfolgreich ist. Deutliches Zeichen dieses Unbehagens sind die von Erzählung zu Erzählung sich steigernden Verletzungen, die sich die Liebespartner zufügen. Je stärker die Leere empfunden wird, desto krasser findet sich dies in den sado-masochistischen Praktiken wider. Dies verleiht dem Buch die „Beute“ eine existenzielle Tiefe, die den meisten Konkurrentinnen Phoebe Müllers fehlt.

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„Honigkuss“ – Ein politisches Luststück

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • NEIMI, Salwa Al: Honigkuss. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. ISBN 978-3-455-40131-8.

Die in Damaskus geborene Muslima Salwa Al Neimi verkündet in ihrem Roman „Honigkuss“ die sich doch günstig auf Körper, Seele und Verstand auswirkende „Heilkraft des Beischlafs“. Ja, „je schamloser der Beischlaf ist, desto schöner ist er“ (Seite 10). Mehr noch, „es gibt Menschen, die Geister beschwören – ich beschwöre Körper“. (Seite 9) Schnell wird der explizit lustbetonte Ansatz deutlich, der wirkt, als wolle man auf der Welle der Empörung mitschwimmen, die durch Charlotte Roches Gequassel um Feuchtgebiete ausgelöst wurde.
Sofern es das boomende Genre des ‚Lebensbeichte-Romans‘ gibt, ist Honigkuss ein würdiger Vertreter. Angetrieben wird der Roman von einer Ich-Erzählerin, deren Reflektionen sich beständig um zwei Schwerpunkte drehen. Zum einen alte arabische Liebesliteratur, der die in einer Pariser Bibliothek arbeitende Ich-Erzählerin mit einer Mischung aus professioneller Notwendigkeit und persönlichem Interesse gegenüber tritt. Zum anderen die intensive Affäre der Ich-Erzählerin zu dem ‚Denker‘. An dieser Affäre entfaltet sich ein Widerstreit von Liebe und Lust. „Liebe ist für die Seele, Lust für den Körper. Ich habe keine Seele.“ (Seite 31) Durchgehend legt Neimi nahe, dass es Liebe ODER Lust gibt – von dem UND kann sie nicht viel berichten. Sie ist, indem sie die Lust des Körpers über das ‚Verlangen der Seele‘ stellt, taub gegenüber den Freuden der Liebe. Dabei bleibt die Beschreibung ihrer Lust stets vage, irgendwie unerfüllt.

Denn der Leser begreift schnell, was der Ich-Erzählerin nie so recht bewusst wird und sie in vielfältigen Worten abstreitet: Wenn sie keine Fragen stellt und keine Erklärungen braucht, solange der Denker da ist, dann beschreibt Neimi keinen Zustand der lustbetonten, affärenhaften Gleichgültigkeit, sondern den der Liebe.

Dann geht der Denker. „Es könnte sein, dass wir ihn verlieren wegen eines Worts, eines Schulterzuckens, (…) einer uralten Angst, eines Spiels, dessen Regeln sich uns entziehen.“ (Seite 121) Aber die Vermutungen der Ich-Erzählerin laufen ins Leere. Der Denker geht, weil ihn niemand bittet, zu bleiben. Wer zu oft hört, er sei frei, der wird auch gehen. Es berührt merkwürdig, der Ich-Erzählerin auf ihrem Pfad der Lust zu folgen, da ständig mitschwingt, dass sie nicht sexuelle Erfüllung sucht, sondern vor dem flieht, was eine Liebesbeziehung bedeuten könnte.

Das insgesamt gelungene Buch weist nur kleinere Schwächen auf. Die verwendeten literarischen Bilder sind brüchig, bekannt, manchmal kitschig – nur selten ein gelungener bildhafter Vergleich. Auch werden immer wieder vermeidbare Wiederholungen ähnlich lautender Sätze oder auch Inhalte produziert. Die Entwicklung der Geschichte tritt dabei auf der Stelle. Passend zur Ich-Erzählerin, die angehalten wird, einen wissenschaftlichen Aufsatz zu schreiben, ist die Sprache des Buchs reflektierend-beobachtend. Neimi ist vielmehr Chronistin als Erzählerin.

Was nach Verlagsangaben in arabischen Ländern einen Skandal ausgelöst hat, wirkt in den westlichen Ländern, die sich mit Bohlens Penisbruch, diversen Sexvideos und dem ‚Mädchen von Seite drei‘ konfrontiert sehen, sehr vertraut. Der intendierte Skandal verpufft am vermeintlich aufgeklärten (und zugleich übersättigten) Bürger des Abendlandes. Dafür dürfte sich dieser umso mehr über die politische Botschaft des Buchs freuen. Honigkuss betrachtet ungläubig die lustfeindliche Wandlung, die Teile der muslimischen Glaubensgemeinschaft seit den großen arabischen Werken vor mehr als tausend Jahren vollzogen haben und stellt fest, „dass sich Flauberts Orient von 1847 in Luft aufgelöst hat. Folgen des 11. September und des islamischen Dschihad.“ (Seite 60) Indem Neimi ihre Ich-Erzählerin als Erbin und Profiteurin der arabisch-erotischen Literatur profiliert, führt sie die aktuelle Lustfeindlichkeit als entwurzelte Fehlentwicklung vor.

Gerade die Vehemenz, mit der die Ich-Erzählerin an ihrer Lust festhält, kann als eine politisch-ideologische Abgrenzung verstanden werden: Muslimische Frauen haben Sex, Lust auf Sex und manchmal sogar so viel von beidem, dass darüber geschrieben werden muss. Neimis Buch ist die Versicherung: Ich, eine Muslima, bin ein Mensch, der (sexuelle) Bedürfnisse hat – genau wie du. Bei Honigkuss handelt sich sich also um eine politische Botschaft, ein politisches Luststück sozusagen. Denn das eine zeigt das Buch deutlich: Eine Frau ist eine Frau und ein Mann ist ein Mann und die Lust, die man füreinander empfindet ist menschlich. Und nun sage mal einer, diese Botschaft allein sei nicht schon ein ganzes Buch wert.

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Über „Tote Saison“ von O.P. Zier

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • ZIER, O.P.: Tote Saison. Residenz Verlag, St. Pölten; Salzburg 2007. ISBN 978-3-7017-1485-8 Pick It! .

Womit sieht sich der Leser dieses Kriminalromans von Anfang an konfrontiert? Mit dem ganz normalen Wahnsinn und der fanatischen Scheinheiligkeit einer durch und durch verkehrten Welt. Mit einer bizarren Farce über den Parteienfilz im Salzburger Land. Mit der geballten Niedertracht von zu jeder Schandtat bereiten Parteioberen und ihren liebedienernden Chargen, die für ihre Kariere alles zu tun bereit sind. Mit dem menschlichen Müll und Ausschuß, den die brutalisierte bürgerliche Gesellschaft in Hülle und Fülle nicht nur produziert, sondern in selbstdarstellerischer Absicht ihren abgründigen Zwecken dienstbar zu machen weiß. Mit Verschwörungen, ihren Machern und ihren schmarotzenden Theoretikern und wohlmeinenden interpretierenden Auslegern.

Womit also? O.P. Zier sagt es ohne Umschweife und gerade heraus: „Mit erkennbarer Verbitterung führte der Altlandeshauptmann, den in seiner Jugend die Ideen der christlichen Soziallehre begeistert hatten, aus, dass das größte Interesse der Partei momentan darin liege, eine Wirtschaftspolitik zu etablieren, bei der ein Unternehmen keine Mitarbeiter mehr kenne, sondern einzig und allein unerfreuliche Faktoren auf der Kostenebene, die seitens des Managements unter keinen Umständen mehr als menschliche Wesen gesehen werden dürften, weil sich solche Sentimentalitäten nur negativ auf die Bilanzen auswirkten. Um die daraus entstandene schiefe Optik auszugleichen, planten der Wirtschaftsflügel und befreundete Unternehmen groß angelegte Humanitäts-Events, konzipiert von professionellen PR-Beratern“. Es gehe nämlich letztlich darum, „das karitative Image der Partei … in den Menschen (zu) verfestigen, wenn man ihnen schon keinerlei soziale Sicherheiten mehr zugestehen könne.“ (383)

Das kommt einem seltsam vertraut vor, auch dann, wenn man mit den Ideen des sogenannten Neoliberalismus nicht gleich etwas anzufangen weiß … Denn wer kennt sie nicht oder hat jedenfalls von ihnen gehört, den „Chefleuten, die misstrauisch jedes Quäntchen Energie, das nach Dienstschluss noch in ihren Mitarbeiterinnen steckte, in die Nähe eines Diebstahls rückten. Kraft für sein eigenes Leben schien so ein halbes Kind in den Augen seiner Dienstgeber abends mitzunehmen wie unrechtmäßig vom Arbeitsplatz Entwendetes.“ (198) Und auch das gehört zum Altagsgeschäft jedes Politprofis, ganz unabhängig davon, welcher Partei er sich gerade zurechnet, seine Ausübung von Macht als eine „neue riesige Herausforderung auf sich“ zu nehmen, „um auch auf diesem Platz in großer Demut und mit ganzer Kraft und Hingabe“ beispielsweise Deutschland „zu dienen“. (385) „‚Und wie wurde Franz zum hoch dotierten Leiter dieser Einrichtung? Ahnungslose aufpassen!‘“ (233)

Das alles klingt sehr nach einem moralisch-angestrengten und anstrengenden, womöglich selbstgerechten Strafgericht. Ist es aber nicht, wie schon die frohgemut und launig angekündigte Aufklärung verdeutlicht. Denn in diesem Roman macht der Ton die Musik. Und dieser Ton hat es, die oben angeführten Beispiele belegten dies bereits, in sich und faustdick hinter den Ohren. Er ist betont kühl und sachlich, dabei jedoch getragen von schwebender und leichter Ironie. Dann wieder, vor allem im ersten Viertel, vernimmt man, dezent abgemildert, Anklänge an Thomas Bernhards besessenes und vernichtendes Daherschwadronieren vor dem Hintergrund eines wiederum und auch hier politisch motivierten Absurditätenkabinetts und eines in abscheulichster Verlogen- und Abgefeimtheit praktizierten und gehässig inszenierten Psychoterrors.

Genau hierin liegt das Geheimnis des Gelingens dieses ‚Schlüsselromans‘. Zwar permanent anzuklagen ohne zu klagen. Kühlen Kopfes und nüchtern eine, man mag es kaum glauben, lebensvolle Allegorie – wo Allegorien es normalerweise doch an sich haben, kühl, frostig und lebensfern zu sein – auf die Machenschaften der politisch Mächtigen und ihrer berechnenden Erfüllungsgehilfen aufs Papier gebracht zu haben. Das hat was, ist lehrreich und unterhält trotzdem prächtig.

Aber dieser spektakuläre Mordfall in der „toten Saison“, also im nieselig-tristen Alpenvorwinter, mit dem skandalöserweise wirtschaftlich so gar nichts los ist, hat vom Autor noch eine Dimension verpaßt bekommen, die einen sofort an Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ denken läßt, genauer an die in seinem ersten Teil im Zentrum stehende „Parallelaktion“. Unter diesem Decknamen, dies sei in Hinblick auf diejenigen resümiert, die diesen unglaublichen Roman eines anderen Österreichers (noch) nicht gelesen haben, verbergen sich die Vorbereitungen hochgestellter Persönlichkeiten, die das für 1918 zu erwartende 70-jährige Regierungsjubiläum des „Friedenskaisers“ Franz Josef gegenüber dem gleichzeitigen bloß 30-jährigen Kaiser Wilhelms II. zu glanzvollem Ausdruck und einem nie dagewesenen Event ausgestalten wollen. Eine Idee muß her, eine Jahrhundert- oder, besser noch, eine Jahrtausendidee, die alle bisher dagewesenen Ideen als läppisch und lachhaft erscheinen läßt und ausnahmslos in den Schatten stellt. Sie wird, so viel sei verraten, nicht wirklich gefunden. Das ganze verläuft sich irgendwie oder wird von der Realität eingeholt, nämlich der wüsten Begeisterung für die als groß empfundenen Begleitumstände des Weltkriegs Numero Eins. Denn ohne daß die Beteiligten und heillos Involvierten es zunächst selbst so recht bemerken, werden all ihre grotesk anmutenden, wichtigtuerisch-aufgeblasenen Bemühungen um das Finden der „erlösenden Idee“ in den enthusiastisch begrüßten Ausbruch des ‚Ringens der Völker‘ münden. Und das geplante „Weltösterreichjahr“ 1918 wird sich ironischerweise als das des Zusammenbruchs beider Monarchien erweisen. Was für ein Jokus. Es ist zum Totlachen, wenn es nicht so aberwitzig traurig wäre.

Genau diese Atmosphäre tieftraurigen Gelächters herzustellen ist auch O.P. Zier gelungen. Depravierten Charakteren, die einzig und allein die Größe des eigenen Landes und – mitlaufend – ihre eigene in ihren Köpfen haben, ist vieles zuzutrauen. Unter anderem auch dies, das Gebirgsmassiv der Hohen Tauern auszuschaben oder auszuhöhlen, um den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten der toten Saison machtvoll begegnen zu können. „‚Liebe FT-Mitglieder, vergesst das niemals: Alle Vorgaben, die aus dem MKZ des FT kommen, sind ab sofort für die Menschheit bindend!‘“ (311) Der Leser reibt sich die Augen und fragt: ‚Wie dies?‘ ‚Wovon, um Himmels willen, ist hier die Rede?‘ ‚Wer spricht? Ein Politiker der Alpenrepublik oder etwa einer von jenseits des Atlantik? …‘

Ganz einfach: Das „Macht- und Kompetenzzentrum – oder eben kurz: MKZ“ des FT – was sich hinter diesem Kürzel verbirgt wird hier nicht verraten, weil das Fahnden nach dessen Bedeutung den in diesen Irrsinn verstrickten Erzähler und unschuldig des Mordes schuldig Gewordenen selbst fast irrsinnig werden läßt („Alles konnte Zufall sein – aber auch das Gegenteil davon! Und wer jedes Ereignis in seinem Alltagsleben zwanghaft dahingehend hinterfragte, wurde mit Sicherheit – verrückt“ (188)) – hat eine Jahrtausendidee ausgeheckt, die Österreich zur Weltmachtführungsnation promovieren soll: Die „Rettung der alpinen Tourismus-Ökonomie“ per Vierjahreszeitenvereinheitlichung … Da geht es „um die Ausschaltung jahreszeitlich bedingter Konjunkturschwankungen zugunsten permanenter ökonomischer Spitzenresultate. Und so nebenbei werde die architektonische Idee der Entkernung in völlig neuartiger Weise in tiefste Tiefen vorangetrieben. Darüber hinaus werde in diesem geheimen Think-Tank (die Rede ist von dem MKZ des FT) der Stadtpartei St. Johann, einem exemplarischen Macht- und Kompetenzzentrum, an Überlebensstrategien für die christlich-soziale Partei von sensationeller Neuartigkeit gearbeitet.“ (390) Wahnsinn!! Und der Wahnsinn wird zur politischen Kraft, so daß Köpfe rollen müssen, selbst unter denen, die gar nichts anderes im Schilde führen und dasselbe selbst so oder so ähnlich auch immer schon gewollt haben.

Aber auch die halten sich auf altbewährte Art schadlos, indem sie ihren politischen und moralischen Niedergang als Dienst am großen Ganzen verkaufen. Mord und daraus reusultierender politischer Selbstmord als medienwirksame Selbstbeweihräucherung. Das kennt man und daran hat man sich, leider!, längst gewöhnt. Und auch O.P. Zier wird es mit dieser wunderbaren Gesellschaftssatire nicht gelingen, daß den Lesern vor dem Normalen dieses Wahnsinns, in dem beispielsweise einer einen Fallschirmsprung in den Freitod als letzte politische Selbstinszenierung seiner ach so wertvollen Politikerpersönlichkeit, die sich für die Partei und damit selbstredend auch für sein Land aufopfert, aufbereitet, speiübel wird.

Wer den Mord an Barbara Lochner denn nun eigentlich begangen hat?, fragen die kriminalistisch Interessierten unter den Lesern. Die Antwort auf diese Frage zögert der Romancier auf äußerst kunstvolle Weise bis kurz vor das nicht wirklich überraschende Ende hinaus. Denn, wie gesagt: Politikern ist, wenn es ihnen um ihre, Pardon: unsere Sache und damit immer auch ein wenig um sich selbst geht, einiges zuzutrauen.

 

Erstmals erschienen in: Marburger Forum, Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart, Jg. 8 (2007), Heft 6

Über „Abendland“ von Michael Köhlmeier

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • KÖHLMEIER, Michael: Abendland. Hanser, München 2007. ISBN 978-3-446-20913-8 Pick It!.

Zu Beginn überlegt man: woher kenne ich das Motiv? Wo ist es mir bereits begegnet? Man liest weiter und grübelt beim Lesen: Wo ist mir etwas ähnliches schon einmal untergekommen? Da, plötzlich, die Erleuchtung! Die traurig-heitere, anrührend-schöne Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Winston Groom „Forrest Gump“ mit Tom Hanks in der Titelrolle ist eine teilweise skurrile, burleske Reise durch die wahnwitzige amerikanische Geschichte des letzten Jahrhunderts. Köhlmeiers „Abendland“ ist das (nicht nur) europäische Pendant dazu. Im Unterschied zum amerikanischen ‚Original‘ allerdings agieren in diesem Roman neben so vielen anderen drei Hauptpersonen und die eine, ein Schriftsteller, ist darüber hinaus der von seinem väterlichen Freund, Paten und Mäzen in berechnender Absicht engagierte Erzähler.

Ich lese weiter und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Irgendwie wirkt das alles aufgesetzt, überladen und extrem gewollt. Berühmte Namen und ihre Träger aus Politik, Wissenschaft, Sport, Kunst, der Musikszene, Göring samt Nürnberger Prozeß, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und ihr Selbstmord in Stammheim etc. tauchen auf und verschwinden wieder (die letzte Fortsetzungs-Episode mit den Opfern Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hanns-Martin Schleyer berührt besonders peinlich). Es ist ein unablässiges Kommen und Gehen, die Zelebritäten drücken sich gegenseitig die Klinke in die Hand, und ich halte irgendwann inne und konstatiere einigermaßen ungehalten: Köhlmeier will einen Jahrhundertroman in des Wortes doppelter Bedeutung schreiben, und damit wird er scheitern.
Denn Historisches und Fiktives in Einklang bringen zu wollen muß zwangsläufig in bemühten Konstruktionen und weit hergeholten Kombinationen enden. Machbar ist allenfalls eine stark persönlich gefärbte Geschichte mit ausschließlich historischem Personal. Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und T.C. Boyles „Wassermusik“ fallen mir ein. Das funktioniert deswegen so prächtig, weil es den beiden Autoren gelungen ist, den Originalen wirkliches Leben, eine anrührende Seele, die unglaublich intensiv berührt, einzuhauchen. Aber dieser Fall hier liegt anders. Erfundene Personen interagieren mit realen, wie eben im „Forrest Gump“. Erdichtete Individualgeschichte mit Zeitgeschichte durchsetzt et vice versa. Und dieses Ingrediens soll das Ganze bedeutend, eventuell zeitlos machen. Sehr riskant und immer auf dem Sprung in die Peinlichkeit.
Aber da ist noch etwas anderes in diesem Roman, was dazu führt, daß man sich in seinen verschlungenen Pfaden wirklich gerne, nämlich unwillkürlich verliert. Köhlmeier ist im Kleinen, persönlich Unscheinbaren brillant und außerordentlich feinfühlig; im zeitgeschichtlich Unbedeutenden ist dieser Autor einfach grandios! Beispiele gefällig? Bitteschön: „Bestenfalls, dachte Carl, kann er nicht logisch denken, schlimmstenfalls ist er paranoid.“ (25) Oder dies hier: „Darmstadt, Darmstadt. – Die Zuhörer glaubten zuerst an ein technisches Gebrechen. Daß irgend etwas mit dem Abspielgerät nicht stimmte. Nach einer halben Minute schaltete Ernst Thomas das Gerät ab und versuchte, den Tonkopf zu säubern. Aber daran lag es nicht. Mein Vater sagte nichts, er saß auf seinem Sessel, die Arme hochverschränkt und starrte grimmig in (!) die Wand. … In der allgemeinen Ratlosigkeit meldete sich einer der Seminarteilnehmer zu Wort. Wenn man leider schon nicht hören könne, was Herr Lukasser komponiert habe, ob er wenigstens bereit wäre, quasi als Ersatz, etwas auf der Gitarre vorzuspielen. Dieser Herr war der einzige, der hier offensichtlich genug von Jazz verstand, um zu wissen, daß mein Vater in dieser Sparte – einst – ein großer Mann gewesen war. Alle waren erleichtert, niemand wünschte sich eine Blamage.“ ( 597 f.) Oder wie ist es hiermit?: „Das haben Metaphern nämlich so an sich: daß sie größenwahnsinnig sind. Sie sind die geistige Lieblingsspeise der Jugend. Als junger Mathematiker (es dreht sich übrigens vieles um die Mathematik in diesem Roman, und auch deswegen drängt sich der Kehlmann-Bezug auf, F.-P.H.) hat man den Ehrgeiz, sich ausschließlich mit jenem Bereich seiner Wissenschaft zu befassen, der auch philosophische Relevanz besitzt. Schau sie dir an, wie sie alle Gödels Theorem verehren. Die meisten, weil sie nichts davon verstehen. Sie plappern falsch nach: Ein System könne aus sich selbst heraus nicht bewiesen werden. Etwas kann sich selbst nicht verstehen. Das gilt ihnen als Rechtfertigung ihrer eigenen Dummheit und Ignoranz, aus der heraus sie dem gesunden Menschenverstand jegliche Erkenntnisfähigkeit absprechen. Die Metapher ist das Opium des Hochnäsigen. Metaphern sind Idiotenleim. Sie haben die Tendenz, sich zum Sinnbild für alles aufzuschwingen. Tatsächlich für alles!“ (649) Und, schließlich, das hier: „Er (Georg Lukasser, der musikalisch hochbegabte Vater des Erzählers Sebastian Lukasser, F.-P.H.) hatte meine Meinung immer ernst genommen. Schon als ich zehn war, hatte er mit mir gesprochen wie mit einem klügeren Bruder. Wenn überhaupt, hätte er sich nur von mir etwas sagen lassen. ‚Glaubst du inzwischen wirklich, daß es eine tolle Idee ist?‘ fragte er. ‚Es ist eine tolle Idee‘, antwortete ich, und weil ich ja wußte, daß er, wann immer er selbst Zweifel an einer Sache hatte, sie damit vertrieb, indem er Wortwiederholungsschleifen knüpfte, sagte ich: ‚Es ist eine tolle Idee, ja, es ist eine tolle Idee, es ist wirklich eine tolle Idee, ja, ich denke, es ist eine tolle Idee, doch, es ist eine tolle Idee‘.“ (404)
Und irgendwann ist es dann doch soweit. Man hält inne und begreift, daß diesem Romancier tatsächlich etwas Großes gelungen ist. Er hat einen Bildungs- bzw. Erziehungsroman geschrieben, der sich über das Lebensschicksal seiner in hohem Maße bedrohten und angefochtenen, unheldischen Helden einen dann doch wieder überzeugenden Weg durch die Geschichte eines unglaublich gewaltträchtigen Jahrhunderts bahnt. Denn im Hintergrund von all diesen Ab- und Irrwegen stehen die zwei Fragen danach, wie es, zum einen, ist, (persönliche aber auch politische) Macht zu haben und sie entsprechend einzusetzen, und was es, zum anderen, heißt, (nicht) mit der alles bezwingenden Macht des Genies begabt oder geschlagen zu sein.
Weil Köhlmeier das Zeitgeschichtliche durch den persönlichen Bezug verlebendigt, und das Persönliche durch den permanenten Zeitbezug bedeutend macht, gewinnt dieser Roman von beiden Seiten das Gewicht, das ihn zu einem Ereignis macht. Wenn der Stümper immer nach dem besonderen Wort sucht, dann findet der Könner stets das treffende. Denn „nicht die Begebenheit, gleichgültig, ob schwerwiegend oder nebensächlich …, entscheide über Tiefe und Weite des Raumes in der Vergangenheit, der erzählend mit Sinn erfüllt wird, sondern die Frage, wie viele andere Begebenheiten, also: wieviel Welt diese eine Begebenheit unter ihr Diktat zwinge“. (183) Ein enorm hoher Anteil ist hier ‚bezwungen‘ worden, ein ähnlich hoher wie in T.C. Boyles „Wassermusik“, dessen unverwechselbaren Stil Köhlmeier übrigens meisterlich nachzuahmen und gekonnt einzusetzen versteht (so, beispielsweise, auf den Seiten 732 und 746 in der in Südwestafrika spielenden Episode des vollkommen unmotiviert und kalten Blutes schlachtenden Serienmörders Hanns Alverdes), genauso wie denjenigen Dostojewskis in der vermeintlich tödlich endenden Episode mit dem Denunzianten Pontrjagin (285 ff.), und, vor allem, in dem unerreichten Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann.
Mein Entschluß steht fest: Ich werde den Rat des großen Sohnes der Hansestadt Lübeck befolgen und auch diesen Roman ein zweites Mal lesen, weil sich vermutlich erst dann der sachliche und strukturell-kompositorische Beziehungsreichtum wirklich entdecken und entsprechend würdigen läßt.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft 6

Über „Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen“ von Max Lorenzen

Besprochenvon Frank-Peter Hansen

  • LORENZEN, Max: Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007. ISBN 978-3-8260-3607-1.

Seltener Fall, daß ein Erzähler souverän unterschiedliche Stilformen beherrscht. Thomas Mann war ein Meister darin. Dann noch, selbstredend, Goethe. Lessing verstand sich darauf. Kein Wunder bei diesem unglaublich feinfühligen, leiseste gedankliche Differenzierungen sprachlich exakt nachzeichnenden Spätaufklärer. Und selbstverständlich der heute leider viel zu selten gelesene Göttinger Mathematiker, Astronom und Begründer des deutschen Aphorismus, Georg Christoph Lichtenberg. Sein „Göttinger Taschen Calender“ enthält Perlen deutscher Prosa. Beispiel gefällig? „Durch strikte Aufmerksamkeit auf seine Gedanken und Gefühle, durch individualisierendes Ausdrücken derselben, durch sorgfältig gewählte Worte lernen wir uns selbst kennen, unsere Gedanken werden fest und zusammenhängend. Unser Sprechen in Gesellschaft erhält eine gewisse Eigenheit wie die Gesichter, welches bei dem Kenner sehr empfiehlt, und dessen Mangel eine böse Wirkung tut. Nicht alle Reichen sind es durch Glück geworden, sondern viele durch Sparsamkeit.“ Vorzüglich gesagt. Genau so verhält es sich. Reichtum aus Sparsamkeit, darin zeigt und beweist sich große Kunst.
Ziehen wir noch einmal den Liebling der Musen, Goethe zu Rate. War er bloß Liebling? Wohl kaum. Denn wie heißt es bei ihm?

„So ist‘s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“

Max Lorenzen ist kein ungebundner Geist. Er ist reich aus Sparsamkeit, und das Gesetz hat ihm Freiheit gegeben. Welches Gesetz? Dasjenige, über das bereits Goethe und Schiller in angestrengtestes Nachdenken verfielen. Welcher Ton paßt zu welchem Gehalt, welcher Stimmung korrespondiert welches Stilmittel? Wo ist der Knotenpunkt, in dem die Fäden zusammenlaufen? Ich behaupte, bei diesem Erzähler ist es die Sympathie und die Fähigkeit Mitleid zu empfinden. Vielleicht ist der mitleidigste Mensch nicht der beste Mensch. Wer weiß? Aber er bringt die entscheidende Voraussetzung mit, Literatur zu schreiben, die unter die Haut geht, weil sie trifft. Und wohlgemerkt: Mitleid heißt nicht automatisch Lamento. In diesem Fall schon gar nicht. Sympathie versteht es vielmehr, in die unterschiedlichsten Situationen und Seelenlagen sich mit Delikatesse hineinzuversetzen und … den entsprechenden Ton zu treffen. Darum und um nichts anderes geht es hier.
Lorenzen verfügt über ein immenses Zartgefühl für diskrepante Stimmungslagen und Charaktere und, ich wiederhole mich, der Stil ist jedesmal danach.
Nehmen wir die erste Erzählung. Sie ist traurig schön in ihrer Gefaßtheit, mit der dem Doppelausbruch einer Gehirnerkrankung – ist es wirklich in beiden Fällen dieselbe Krankheit, oder ist etwa Sympathetisches aus schlechtem Gewissen im Spiel? – seitens der Ich-Erzählerin begegnet wird. Unwillkürlich dachte ich beim Lesen an die berühmte Charakteristik der Laokoongruppe durch Johann Joachim Winckelmann. Das Geheimnis ihrer außerordentlichen ästhetischen Wirkung ist: Sie strahlt Ruhe aus, obwohl, oder gerade weil der Sturm der Verzweiflung tobt. Stille Größe, das ist ihr Nährboden und der dieser Erzählung. Und auch wenn die letztere hier und da ein wenig überanstrengt und bemüht in ihrer gedankenreichen Tiefe wirkt: Was soll’s, reflektierter, möglicherweise auch überspannter Tiefsinn, Ausdruck von Ratlosigkeit einer gerade erst Neunzehnjährigen, ist vor dem Hintergrund einer Krankheit zum Tode allemal angebrachter als wohlfeile Verhaltensmaßregeln, die nicht bereit oder fähig sind, sich dem Bitteren, weil Hilf- und Ausweglosen zu stellen.
Wie anders wirkt der bigotte Sadismus in der treffend „Kälte“ titulierten zweiten Geschichte, in die der Erzähler, ein interessanter und überraschender Einfall, einen unvermittelten Perspektivenwechsel eingebaut hat. Wer diese Geschichte liest, wird an der entsprechenden Stelle merken, wie es gemeint ist. Die lakonisch-berichthafte Sprache dieses Bekenntnisses erzeugt eine unglaublich beklemmende Atmosphäre. Schulterklopfend und selbstgefällig meldet sich das berechnend-skrupellose und machtgestützte, ins Aberwitzige aufgeblähte kalte Kontrollbedürfnis des geistigen Hirten auf eine erschreckend nahe und authentische Weise zu Wort. Der „Tobias Mindernickel“ Thomas Manns und „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil sind ähnlich bestürzend und bedrängend in ihrer punktgenauen Knappheit.
Das trifft, der Kontrast schärft den Blick, so nicht auf Robert Menasses Roman um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in „Selige Zeiten, brüchige Welt“ zu. Rücksichtsloses Dominierenwollen um jeden Preis und bis zum letalen Ende auch hier. Aber der Autor bringt sich und den Leser um die beabsichtigte Wirkung, weil, je länger je mehr, das ganze zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle abdriftet. Vielleicht jedoch ist genau dies der Zweck der Übung?! Will Menasse seine Virtuosität und seinen Einfallsreichtum unter Beweis stellen, wenn er beispielsweise seinen Protagonisten mit dem Klassiker „Die Theorie des Romans“ von Georg Lukács reüssieren läßt? Mit der inversen „Phänomenologie des Geistes“ Hegels, einer „Phänomenologie der Entgeisterung“ als einer „Geschichte vom verschwindenden Wissen“ indessen hat dieser Epigone und Machtmensch kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen gegen den Strich gebürsteten und von Grund auf gedankenlosen Hegel der abstraktesten Bewußtseinsstufe im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Derlei Einfälle sind extrem weit hergeholt und sollen offensichtlich stutzig machen und aufhorchen lassen, obwohl sie doch bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Menasse will frappieren, Lorenzen frappiert.
Der ruhige, gehaltene, sachte Ton der „Unsterblichkeit“ überschriebenen letzten Erzählung stimmt den Leser, nach dem Wahnsinn der zurückliegenden Hölle, unverhofft auf die unberührte Stille der italienischen Voralpenwelt ein. Eine Idylle, die nie ins Kitschige abdriftet. Die Ruhe des Tons, der das Aufgesetzte und Überschwängliche meidet, verhindert dies. Und wie ganz anders wirkt das Intime der sexuellen Vereinigung hier im Vergleich zur Brutalität einer sich an sich selbst aufgeilenden und berauschenden pornographischen Folter dort.
Also ein letztes Mal: An dem souverän und sparsam durchgeführten Wechsel der Töne hängt hier, wie auch sonst in der Literatur, alles. Die Weisheit des Künstlers im Ausdrucke besteht eben darin, viel mit wenigem und nicht, wie der Stümper, Dilettant und Pfuscher, wenig mit viel anzudeuten. So ähnlich steht es in Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums“ geschrieben.
Etwas unglücklich allerdings ist der Einfall, das ganze unter die Überschrift „Nachmoderne Ästhetik“ zu stellen. Wer dies tut, läuft Gefahr, daß seine Literatur als Programmliteratur (miß-)verstanden wird. Denn alle anderen Bedenken, die sich hieran anschließen, einmal beiseite gelassen. Der Erzähler sollte davon Abstand nehmen, sein eigener Exeget und Theoretiker zu sein. Niemand wußte das besser als Goethe. Kunst, die sich selbst interpretiert, weil sie es offenbar nötig hat, ist keine Kunst mehr. Diese drei Erzählungen jedenfalls haben diesen Notbehelf ganz entschieden nicht nötig.
Im übrigen, wer wissen will, was genau sich in diesen Erzählungen zuträgt, möge sie, das versteht sich eigentlich von selbst und nach dem Gesagten ohnehin, lesen. Es kann nicht die Aufgabe des Rezensenten sein, auch wenn manch einer es anders sieht und hält, wie ein Pennäler nachzuerzählen. Mit Surrogaten ist dem nicht gedient, der wirklich(e) Kunst genießen will. Wer aus Bequemlichkeit Abkürzungen sucht, ist bestenfalls ein Bildungsphilister.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg 8 (2007), Heft 4

Über „Der Sonnenküsser“ von Jürgen Landt

Besprochen von Ronald Klein

  • LANDT, Jürgen: Der Sonnenküsser. Edition M, Weimar; Rostock 2007. Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern, Band 5. ISBN 978-3-933713-27-8.

„dann riss ihr der damm. und ich war da“, lautet das erste Kapitel. Die gewöhnungsbedürftige Form des radikalen Kleinschreibens führt den Leser in eine Welt, die nur auf den ersten Blick fremd scheint: Protagonist Peter Sorgenich kommt 1957 in der Nähe von Demmin inmitten der DDR-Provinz zur Welt. Die erste Nahtod-Erfahrung erlebt das Kind im Alter von einigen Tagen, als die Mutter es derart rücksichtslos zudeckt, dass es zu ersticken droht. Weitere bizarre Unfälle folgen. Die Welt ist feindlich und das Elternhaus bietet keinen Schutz. Im Gegenteil, die Mutter, unerträglich hysterisch, prügelt ihr jüngstes Kind bei geringsten Verfehlungen oder schickt Peter bei den geringsten Beschwerden durch die Lehrerin oder andere vermeintliche Autoritäten bereits nachmittags ins Bett. Ob Peter wirklich einen Verstoß begangen hatte, spielt dabei keine Rolle. Der Schein einer intakten Familie mit ordentlich erzogenen (konkret: gedrillten) Kindern wurde verletzt und diese Schmach wird nicht geduldet. Das permanent gedemütigte Kind erfährt in ersten Experimenten mit Alkohol, dass Schnaps den Schmerz dämpft. Schließlich entsteht daraus sogar Selbstbewusstsein und der Mut die Regeln der dominanten Mutter, der unfähigen Lehrerin oder der farblosen Pionierleiterin zu brechen. Das geht nicht lange gut. Die erreichte Emanzipation, das Erleben der ersten Liebe stellen nur Glück von kurzer Dauer dar. Kritisch beäugen die Erwachsenen den selbstbewussten Außenseiter. Man spürt, dass sie nur darauf warten, ihm endlich etwas nachweisen zu können, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Als es soweit ist, folgt eine endlose Odyssee durch die Knäste. Die Wiedereingliederungsversuche gelingen nicht. Peter bleibt stigmatisiert.

Es dauerte nach Mauerfall lange, bis das Alltagsleben der DDR literarisch verarbeitet wurde. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Brussigs „Wasserfarben“ oder Schulzes „Simple Stories“) konzentrierte sich die Erzählung auf die Verkettung humoriger Anekdoten. Die entgegengesetzte Richtung beschrieb das heldenhafte, humanistisch geprägte, Widerstehen zwischen Kirche und illegaler Druckwerkstatt.

Jürgen Landt erzählt gekonnt aus einer anderen Perspektive, die bisher kaum wahrgenommen wurde: Die Sicht eines sogenannten Außenseiters, der keinen politisch motivierten Oppositionellen darstellt, sondern auf dem Recht der Individualität pocht. Die Gesellschaft, in die er hineinwächst, verlangt Uniformität.

Nur en passant schildert Landt Kinderprostitution, häusliche Gewalt, Korruption. Diese Beiläufigkeit, das Brodeln unter der Oberfläche erzeugt beim Lesen eine Intensität, die nur wenigen Erzählern gelingt. „Die Dinge sind nicht wie sie scheinen“, formulierte Shakespeare. Oder moderner ausgedrückt: Demmin ist Twin Peaks. Die Fratze des Bösen lauert aber nicht hinter kleinbürgerlichen Masken, sondern ist ihnen immanent. Demmin und die DDR erhalten hier keine historische Funktion. Der äußerliche und zeitliche Rahmen des Romans verschwimmt, wird zu einer Allegorie, die sich problemlos übertragen lässt: Dort, wo der Selbstbestimmung kein Raum mehr gegeben wird, gerät die vermeintliche Ordnung zum Terror. Begriffe wie „Außenseiter“ oder „asozial“ stellen arbiträre Bezeichnungen dar, die bestenfalls etwas über die Perspektive der Gesellschaft, aber nicht die menschliche Qualität des Diffamierten aussagen.

Während im humanistisch inspirierten Entwicklungs- und Bildungsroman der Fokus auf dem Prozess des Protagonisten ruht, schleicht sich hier die Perspektive der Gesellschaft ins Auge. Eine Gesellschaft, die in sich zwar schon modert, aber in ihrem Verwesungsprozess auch noch unfähig zur Selbstreflexion bleibt. Stillstand. Stagnation. Perspektivlosigkeit. Landt gelingt damit ein tragisches Moment doppelter Ordnung: Scheitert Sorgenich an der Gesellschaft, so zerbricht diese an ihrer kristallin-verlogenen Struktur. Ohne Sentimentalität in der Sprache, gerade deswegen aufwühlend und bewegend. Ein außergewöhnliches Werk.