Vom Verschwinden des Qualitätsjournalismus

Besprochen  von Bastian Buchtaleck

  • DONSBACH, W./ RENTSCH, M./ SCHIELICKE, A.M./ DEGEN, S. (Hrsg.): Entzauberung eines Berufs. Was die Deutschen vom Journalismus erwarten und wie sie enttäuscht werden. UVK, Konstanz 2009. ISBN 978-3-86764-192-0.
vom verschwinden des qualitätsjournalismus                                     © UVK – Verlag

 

Die Ergebnisse des Buchs „Entzauberung eines Berufs“ sind nicht nur alarmierend, sie sind niederschmetternd: „Die Mehrheit der Befragten, darunter gerade auch die Jungen, hält Journalisten für unmoralisch, rücksichtslos, manipulativ, bestechlich und – überraschend im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion als vierte Gewalt – für zu mächtig. Zudem fühlen sie sich nicht sachlich genug informiert.“ Ebenso wird eine Studie zitiert, wonach acht von zehn Zeitungsredakteuren einräumen, dass im redaktionellen Teil der eigenen Zeitung auf die Interessen von Inserenten Rücksicht genommen wird.

Das alles klingt wahrlich ernüchternd. Doch worin bestand der Zauber des Berufs Journalist ursprünglich? Walter Donsbach und seine Co-Autoren schreiben, „Recherchetiefe, Neutralität und Fairness“ seien zentrale Merkmale des Journalismus gewesen. Lange Zeit war Journalismus eine Instanz, die die Wahrheit über finanzielle und persönliche Interessen gestellt hat und darum eine Kontrollfunktion auf Wirtschaft und Politik ausübte. Gleichzeitig brachten Journalisten das Neueste vom Tage in die Haushalte.

Journalismus in Deutschland – kein Vertrauen und wenig Glaubwürdigkeit

Die Ergebnisse der Studien rechnen deutlich mit dieser offensichtlich nicht mehr aktuellen Einschätzung ab. Gefragt wurden deutschlandweit 1054 Personen ab 18 Jahre. Ihr Bild vom derzeit praktizierten Journalismus ist düster. Weniger als Journalisten vertrauen die Deutschen nur noch Managern und Politikern.

Für die Erosion der Glaubwürdigkeit des Berufsstandes machen die Autoren mehrere Gründe aus. Allen voran den wachsenden Online-Markt, der andere Anforderungen an die Journalisten stellt als die klassischen Printausgaben. Seit im Internet fast alle Informationen und Nachrichten sekundenschnell verfügbar sind und ebenso schnell übernommen werden können, ist es schwierig, mit exklusiven Nachrichten und hoher Geschwindigkeit positiv herauszustechen. Es gibt immer mehr Anbieter, die dieselben Inhalte im Überfluss anbieten.

Mehr Anbieter bedeuten gleichzeitig weniger Auflage oder Klicks pro Angebot. Um trotzdem ein möglichst großes Stück des verbleibenden Kuchens zu erhalten, passen die Redaktionen ihre Inhalte an die Nachfrage an. Sie ändern sich in Richtung Personalisierung (People), Emotionalisierung (Klatsch) und Skandalisierung – kurz: das was man unter Boulevard versteht.

Soft News verdrängen die klassischen Hard News

Diese neuen Themen werden als Soft News bezeichnet. Sie unterscheiden sich von den Hard News dadurch, dass sie mehr auf Gerüchte und Spekulationen setzen als auf Fakten. Obwohl der Studie nach die meisten Zeitungsleser Soft News ablehnen, sind jene Zeitungen und Webseiten, die in erster Linie mit Soft News arbeiten, stärker nachgefragt als seriöse Angebote. Der Verdacht liegt nahe: auf die „Entzauberung eines Berufs“ folgt auch die Entzauberung des Lesers. Offensichtlich bevorzugen Leser in Umfragen andere Inhalte als sie sie schließlich am Kiosk oder im Internet nachfragen. Anspruch und Wirklichkeit gehen nicht nur bei den Journalisten auseinander.

Den Leser zu journalistischer Qualitätsarbeit nötigen

Vor diesem Hintergrund scheint es sogar möglich, dass der klassische Journalismus gerade darum gut gewesen ist, weil er seine Monopolstellung ausgenutzt und nicht auf die Bedürfnisse seiner Leser geachtet hat. Es gab ihn nur als Gesamtpaket und alternativlos in Form einer Tageszeitung. Wer Vermischtes lesen wollte oder Sport, musste immer erst an Wirtschaft und Politik vorbei. Der Leser wurde also ein Stück weit zum Qualitätsjournalismus genötigt. Man konnte es sich leisten, der Leser war auf die Zeitung oder Zeitschrift als Informationsquelle angewiesen. Journalismus hat sich lange auf einem künstlichen Plateau befunden. Nun wandelt sich der Journalismus, weg von einem Vollangebot und hin zu einem an der Nachfrage orientierten Journalismus.

Insgesamt liegt der Titel „Entzauberung eines Berufs“ vollkommen richtig. Früher war der Beruf des Journalisten irgendwie magisch. Er war der weiße Ritter gegen Korruption und Lüge. Doch die Zeiten haben sich geändert. Mit dem Internet sind Nachrichten Massenware geworden und wahrscheinlich ist es so, dass der Journalismus erst jetzt sein wahres Publikum findet. Das Buch zeigt dies gut auf, auch wenn der Anteil, den der Lesers daran hat, nicht genügend gewürdigt wird. Guter, ausführlicher, intensiv recherchierter Journalismus ist teuer, und die Gesellschaft muss entscheiden, wie viel ihr Qualitätsjournalismus wert ist.

 

„Freie Journalisten in Deutschland“-Verdünntes Weihwasser

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • MEYEN, Michael/ SPRINGER, Nina/ in Kooperation mit dem DFJV: Freie Journalisten in Deutschland. UVK, Konstanz 2009. ISBN: 978-3867641562.

freie journalisten ein deutschland- verdünntes weihwasser

                                       © UVK – Verlag

 

Bereits 2006 stellte der ehemalige Chef des Deutschen Journalistenverbandes Siegfried Weischenberg fest, dass „die Professionalität und die Identität des Journalismus bedroht“ seien. Er bezeichnete den Traumberuf vieler junger Menschen als ‚Weihwasser‘, das die Kommunikationsverhältnisse der Gesellschaft durchaus reinige, sieht es jedoch als schon reichlich verdünnt an. Nun haben Michael Meyen und Nina Springer in Kooperation mit dem Deutschen Fachjournalisten-Verband auf 180 Seiten einen umfassenden Report zusammengetragen. Er basiert auf einer vom Institut für Kommunikations­wissenschaft und Medienforschung der Universität München konzipierten Online­befragung von mehr als 1500 Journalisten und 82 Interviews. Um mehr über die berufliche Situation freier Journalisten in Deutschland zu erfahren, wurden die Teilnehmenden zu den Themen Werdegang, Arbeitsalltag und zu ihrem Selbstverständnis befragt.

Freie Journalisten seien in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, so die Autoren. Zum einen würden die Inhalte verschiedener Medien verstärkt von Freien produziert, während die fest angestellten Redakteure rein administrativ tätig seien. Zum anderen seien freie Journalisten ökonomisch attraktiv für Unternehmen, da sie häufig geringer entlohnt würden und nicht vertraglich gebunden seien. Sie stellten also zum inhaltlichen auch einen großen wirtschaftlichen Faktor dar. „Freie Journalisten benötigen im Unterschied zu Redakteuren eine doppelte Kompetenz: sie müssen nicht nur journalistisch arbeiten können, sondern auch Unternehmergeist besitzen“, stellen die Autoren fest.

Der Report entwirft ein deutliches Bild der Aufgaben, Chancen, Probleme und Möglichkeiten freier Journalisten. Auch nach dem beruflichen Status selbst und den Einkommensverhältnissen wird gefragt. Dem Selbstverständnis ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Letzteres sei geprägt vom „Ideal des neutralen Vermittlers“. Hierzu wurde eine „Selbstverständnis-Typologie“ erstellt, deren Unterteilung in Journalismus-Typen wie dem ‚Politiker‘, dem ‚Dienstleister‘, dem ‚Selbstverwirklicher‘ und weiteren sehr schlüssig scheint. Im letzten Kapitel wird zusätzlich eine ‚Typologie der freien Journalisten‘ entwickelt. Hierbei unterscheiden die Autoren zum Beispiel zwischen den ‚Redakteuren‘, den ‚Unternehmern‘ und den ‚Künstlern‘. Beide aufgestellte Typologien sind klug gewählt und begründet.

Meyen und Springer zeigen auch deutlich die Probleme auf, mit denen freie Journalisten umgehen müssen und die eine Bedrohung des ‚Weihwassers-Journalismus‘ darstellten. Selbständigkeit sei zwar die Freiheit, den Tag selbst einteilen zu können, zugleich ließen sich aber oftmals Geschäftliches und Privates nicht trennen. Außerdem klagten einige der befragten Journalisten, sie müssten aus Angst, in Zukunft nicht wieder berücksichtigt zu werden oder auch aus finanziellen Gründen jeden Auftrag annehmen. Der Report zeigt, dass die Freien – gemessen an der meist hochwertigen Ausbildung –  relativ schlecht bezahlt werden und darüber hinaus stark von den Redaktionen abhängig sind. Durch diese doppelte Unsicherheit können Freiberufler nur schwer ein missionarisches Statement oder eine eigene Politik entwickeln. Mehr noch: Freie Journalisten sind dazu gezwungen, andere Jobs anzunehmen. Die PR als verwandte Branche ist da für viele eine verlockende Alternative. Dort wird geregelter und besser bezahlt und außerdem bietet sie Raum für eigenes kreatives Schreiben – das ‚Weihwasser‘ allerdings verdünnt sich auf diese Weise.

Insgesamt ist der Report „Freie Journalisten in Deutschland“ keine Anleitung für die Praxis – der freie Journalist kann wenig mehr daraus lernen, als dass er mit seinen Problemen nicht alleine ist. Aber die Arbeit erhellt in einer verständlichen Sprache die ‚Blackbox‘ des freien Journalismus. Sie kann dabei Faktoren identifizieren, die ein besseres Einkommen ermöglichen, und die allgemeinen Bedingungen des Berufsstands deutlich darlegen. Gleichzeitig stellt der Report fest, dass Freiberuflichkeit mit Unsicherheiten und geringem Einkommen verbunden ist: Der Gehalt des ‚Weihwassers‘ nimmt mit dem Gehalt der Journalisten ab. Es mag also zwar dünner geworden sein, aber es ist – das zeigt „Freie Journalisten in Deutschland“ auch – immer noch gehaltvoll genug.

 

Profunde Halbbildung auf dem Weg zum Journalismus

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • GODERBAUER-MARCHNER, Gabriele: Journalist werden!. UVK-Verlag, Konstanz 2009, ISBN 978-3-86764-132-6.

profunde halbbildung auf dem weg zum journalismus (journalist werden!)

                                           © UVK – Verlag

 

„Die Medien transportieren, was in der Welt geschehen ist (…). Der Journalist, der diesen Informationstransport festlegt, auswählt, wertet, kommentiert, hat selbst eine Bedeutung, die ihn aus der Masse der Mitbürger heraushebt.“ Sehr knapp und präzise fasst die Professorin für Journalismus, Mediengeschichte und Medienpolitik Gabriele Goderbauer-Marchner die Arbeitsaufgaben eines Journalisten zusammen. Interessant hierbei ist, dass sie im ersten Kapitel ihres Buchs „Journalist werden!“ zwar die Bedeutung, aber nicht die Verantwortung des Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit erwähnt. In den letzten 30 Jahren hat sich im Berufsbild offenbar einiges geändert. Laut Goderbauer-Marchner fangen beispielsweise immer weniger Menschen ohne journalistischen Hintergrund an,  im Journalismus zu arbeiten – auch wenn es hier vergleichsweise viele dieser Quereinsteiger gebe.  Zudem habe sich die Ausbildung selbst im Laufe der Zeit sehr professionalisiert.

Auch die klare Trennung zwischen dem klassischen Journalismus der Printmedien und des Rundfunks auf der einen und der Unternehmenskommunikation und den Public Relations auf der anderen Seite würde immer durchlässiger. Eine weitere Veränderung beträfe die Arbeitsweise selbst. Die ehemalige Journalistin schreibt, sie werde „in Zukunft immer mehr mit den Fragen der Medienkonvergenz und der Digitalisierung zu tun haben. Denn die junge Zielgruppe wandert ins Internet“. Wer sich dort als Journalist behaupten wolle, sollte nicht nur das Handwerk des klassischen Journalismus, sondern eben auch die Multimedialität des neuen Mediums Internet beherrschen. Diese „Crossmedialität“ verlange von erfolgreichen Journalisten deshalb ein Denken und Zurechtfinden in mindestens zwei „Medienwelten“. Offensichtlich verschiebt sich also das Berufsbild des Journalisten.

Die Autorin stellt fest, dass sich der Journalismus heute in weiten Teilen auf die sogenannten „Freien“ stützt, die zwar meist selbst schreiben – während Redakteure Geschriebenes nur noch übernehmen – zugleich jedoch wenig Geld verdienen. Das Buch enthält eine Liste mit unentbehrlichen Charaktereigenschaften wie Neugierde und Unabhängigkeit.

Neben einem Studium seien Praktika unabdingbar für einen späteren Berufseinstieg, so die Autorin. Am besten in einer kleinen Redaktion, weil man dort mehr tun dürfe und das gleich für drei bis sechs Monate. Diese meist unbezahlten Praktika gehen jedoch an der Lebensrealität aller jungen Menschen vorbei. Vielmehr scheint hier ein wenig Betriebsblindheit der ehemaligen langjährigen Redaktionsleiterin vorzuliegen. Finanziell ist solch ein Praktikum für die meisten ein Desaster. Die Betreuung durch die Redakteure lässt auch oft zu wünschen übrig. Das Motiv, ein Praktikum über sich ergehen zu lassen ist die Hoffnung auf ein Volontariat. „Ein Volontariat zählt zu den klassischen und nach wie vor begehrtesten Einstiegen in den Beruf des Journalisten. 80 Prozent der Berufseinsteiger nehmen diesen Weg.“

Vor solch einem Volontariat steht meistens ein Studium, in dem man lernt, Informationen auszuwerten und zu kommentieren. „Der Journalismus fällt einem nicht in den Schoß, sondern ist eine Tätigkeit, die erlernt werden kann.“, so Goderbauer-Marchner. Um über ein Studium zum Journalismus zu gelangen, seien die Wege allerdings vielfältig. Immer jedoch sollte zumindest ein kleiner Teil mit Medien zu tun gehabt haben. Der Journalist „muss sich in ein Thema vertiefen können. Hartnäckig und nachhaltig“, dabei das Ziel verfolgen, „ein kompliziertes Thema sachlich korrekt, aber für die Allgemeinheit verständlich“ zu formulieren. Zugleich eigne man sich im Studium eine, wie der Münchener Journalist Herbert Riehl-Heyse es nennt, „profunde Halbbildung“ an.

Genau das vermittelt „Journalist werden!“: eine profunde Halbbildung. Das Buch hat den Charakter eines Ratgebers für Neulinge und richtet sich damit eher an Abiturienten als an ambitionierte Quereinsteiger. Es bietet einen Überblick über den aktuellen Journalismus. Allerdings ist es kaum mehr als eine erste Orientierung. Meint man es wirklich ernst, sollte die Lektüre unbedingt vertieft werden – beispielsweise anhand der aufgeführten Tipps und Links. Bedauernswert ist die ab und zu auftretende Betriebsblindheit der Autorin, die den Beruf des Journalisten ein wenig verklärt und aus ihm einen „Helden des Alltags“ macht. Letztlich – so kann man aus „Journalist werden!“ lernen – ist der Spaß am Schreiben entscheidend für den Karriereweg eines angehenden Journalisten.

Über „Die Silikonliebhaber“ von Javier Tomeo

Besprochen von Bastian Buchtaleck

Mit dem Roman „Die Silikonliebhaber“ führt der spanische Autor Javier Tomeo den Leser auf leichtfüßige Weise in eine skurrile, doppelbödige Erzählwelt. Eine Welt, in der Sexpuppen aus Silikon nicht nur sprechen können und ein Bewusstsein besitzen, sondern ihren Besitzern beim Liebesakt die Hörner aufsetzen. Mit mehr als 70 Jahren erzeugt Tomeo eine derbe, sexualisierte Welt, die einen ironischen Blick auf die heutige Gesellschaft erlaubt.

Die Liebesbeziehung des alternden Ehepaares Basilio und Lupercia ist derart heftig eingeschlafen, dass sich beide unabhängig voneinander Sexpuppen angeschafft haben – Marilyn und Big John. Zwar erinnert sich das Paar einmal wöchentlich bei einem gemeinsamen Mittagessen daran, „dass sie während einer kurzen Zeitspanne in ihrem Leben einigermaßen glücklich miteinander gewesen waren“, nun aber können sie sich nicht mehr füreinander erwärmen. Sex haben sie nur noch mit ihren Puppen.

Schrille Erzählung als Spiegel der Gesellschaft

Skurril wird die Erzählung, als Basilio und Lupercia ihre Puppen beim Sex erwischen. Big John besorgt es Marilyn richtig, und beide bestehen anschließend darauf, dass dies ihr Recht sei. Die sich in der Folge entspinnenden Ereignisse halten nicht nur Lupercia und Basilio einen Spiegel vor, sondern der heutigen Gesellschaft. Gummipuppen begreifen im Gegensatz zu vielen Menschen, dass „Ficken nicht alles sein kann“, und verlieben sich. Die unterschiedlichen Weltsichten der menschlichen und der dinglichen Protagonisten zeigen: Menschen benehmen sich oft nur menschenähnlich. Lupercia jedenfalls findet es völlig normal, Marilyn eine Schlampe zu nennen und Big John durch ein Loch in der Hülle zu töten, während die Puppen für ein Recht auf freie Entscheidung eintreten.

Zweite Erzählebene: Vom Wahnsinn des Schreibens

Um diese überzeichnete Erzählung herum hat der zu den meistübersetzten spanischen Gegenwartsautoren gehörende Tomeo eine zweite Erzählebene gefügt. In dieser begleitet ein genervter aber geduldiger Lektor einen mäßig begabten Autoren bei dessen Romanprojekt. Bezeichnenderweise heißt der Verfasser des Romans im Roman Ramón. Gegenüber seinem Lektor bezeichnet er sein Werk als einen interaktiven, pornosentimentalen Roman. Dem Lektor bleibt nichts weiter übrig als dem Wahnsinn freien Lauf zu lassen. »Kein Mensch hat das Recht, irgendjemanden daran zu hindern, den Blödsinn, der ihm einfällt, zu Papier zu bringen.« Eine postmoderne, sehr tolerante, eine zeitgenössische Position.

Insgesamt ist „Die Silikonliebhaber“ ein vielschichtiges, verspieltes Buch und auf eine schrille Weise komisch, vergleichbar den Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodovar. Der stetige Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen; die komischen Effekte durch die die, dem Geschehen entsprechende, derbe Sprache, machen den Reiz des Buchs aus und zugleich die Unterscheidung schwierig, ob die letzte Volte noch eine weitere Sinnebene eröffnet hat oder es sich vielmehr um pittoreskes Beiwerk handelt. Mal liegt die eine, dann wieder die andere Vermutung näher. Treffenderweise nimmt man den Roman zwar gerne in die Hand, kann ihn jedoch ebenso einfach wieder zur Seite legen.

© bastianbuchtaleck.de

Bestellen!

 

 

Trott und Wirklichkeit: Haruki Murakamis „Schlaf“

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • MURAKAMI, Haruki: Schlaf. DuMont, Köln 2009. ISBN 978-3-8321-9525-0 Pick It! .

Schon 1990 erschien in Japan die Erzählung „Schlaf“ von Haruki Murakami. Fünf Jahre später erschien sie auch in Deutschland. Nun hat der Kölner Dumont Verlag die Erzählung neu aufgelegt und in einem schmucken Buch herausgebracht. Sofort fällt auf, dass sich der Verlag mit diesem Buch besondere Mühe gegeben hat. So wurde das Buch sehr reichhaltig von Kat Menschik illustriert. Die auf dem beigeweiß der Buchseiten ausschließlich in dunklem Marineblau und Silbergrau gehaltenen Illustrationen greifen die Stimmungsbilder des Buchs wunderbar auf und führen sie als atmosphärische Stimmung fort. Zudem ist der Text großzügig gesetzt und wirkt durch viel Platz an den Rändern dennoch wie ein gefasster Textblock.

„Schlaf“ wird aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin erzählt, die nicht schlafen kann, deren Körper auch nicht danach verlangt. Vielmehr bleibt sie wach, konzentriert und fühlt sich gut dabei. Dadurch gewinnt die Ehefrau und Mutter viel Zeit hinzu. Zeit, die sie nutzt, um zu lesen oder um sich endlich wieder im Trott des Lebens selbst zu spüren. „Ich bin dreißig. Wenn man dreißig wird, merkt man, dass die Welt mit dreißig nicht zu Ende ist. Ich bin nicht gerade froh, älter zu werden, aber manche Sachen werden dadurch auch einfacher.“ Durch die zusätzliche Zeit, aber auch die besondere Situation, beginnt sie ihr Leben und ihre Umwelt schärfer wahrzunehmen.

„Seit ich nicht mehr schlief, empfand ich die Realität als extrem einfach. Sie lässt sich ganz einfach meistern. Es ist einfach Realität. Einfach Hausarbeit, einfach Familie. (…) Bloß Wiederholung.“ In „Schlaf“ geht es um die gelebte Wirklichkeit, die nicht in Frage gestellt wird, solange die kleinen Rituale funktionieren. Doch für die Protagonistin eröffnet sich die Frage, wie wahr ist Wirklichkeit, wenn die eigene Familie nicht bemerkt, dass man aus ihr herausgefallen ist?

Mit einer sehr nüchternen, beschreibenden Sprache verhandelt Murakami alltägliche, jedem bekannte Wahrheiten, die zugleich irritieren und die man doch nicht verbalisieren kann oder will. Wahrheiten, die sich in keinen Trott einpassen. Dass man einmal gelesene Bücher größtenteils wieder vergisst, dass man älter wird und sich das Leben damit verändert – ob man will oder nicht. Das Buch lädt dazu ein, den Tag im Gleichklang mit der Ich-Erzählerin zu verleben, sich in den Tag hinein zu setzen, mitten rein, und zu spüren, wie die Stunden einen umspülen und an einem vorbei ziehen, in der wohligen Gewissheit, dass eben genau das der Lauf der Dinge ist.

Neben dieser größeren Perspektive, ist das Buch eine wunderbare, eine gelebte Liebeserklärung an die Literatur. Daran wie sich Wahrnehmung und Zeitempfinden verschieben, wenn man ganz von einem guten Buch gefangen genommen wird.

Insgesamt hat sich der Verlag erfolgreich bemüht, etwas Besonderes zu schaffen, zumal die 20 Jahre überbrückt werden mussten, die seit der ersten Veröffentlichung vergangen sind. Der einzige Wermutstropfen ist, dass „Schlaf“ nach kaum vier Stunden ausgelesen ist. Bei Betrachtung der reinen Lesedauer, ist das Preis-Leistungsverhältnis schlecht. Durch das gelungene Zusammenspiel von hochwertigem Inhalt mit einer aufwendigen Herstellung wird dies jedoch mehr als nur aufgewertet. Gemeinsam entwickeln Text, Illustrationen und Herstellung einen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Die Illustrationen zeigen genau die Traumbilder, denen sich der Text verwehrt und die er doch in sich trägt. „Schlaf“ ist gleichermaßen als Einsteiger- oder Geschenkbuch geeignet und wird Buchliebhaber sogar verzücken.

Bestellen!

Therapiesitzung – Hegemanns Axolotl Roadkill

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • HEGEMANN, Helene: Axolotl Roadkill, Ullstein, Berlin 2010. ISBN: 978-3550087929.

Alle anderen sind „Bäh“ und man selbst irgendwie auch – so könnte man die Welt der jugendlichen Protagonistin Mifti, Ich-Erzählerin des Romans „Axolotl Roadkill“ und Alter-Ego der Autorin Helene Hegemann, in Hegemanns Erstling zusammenfassen. Mifti ist angeekelt, wie Teenager manchmal angeekelt sind. Ihr Leben ist zu gleichen Teilen durchzogen von Haltlosigkeit, wie von einer Unmenge an angerissenen Diskursen, die sie nicht verarbeiten kann und die ihre Haltlosigkeit verstärken. Zudem hält sich Mifti für therapieresistent. Dies wird ebenso betont, wie dass die Protagonistin an einem Roman über ihre Erlebnisse schreibt. Den Titel des fiktiven Romans kann man sich nun leicht ausmalen.

„Ich bin wild aufgewachsen und will wild bleiben“, lautet der unkeusche Wunsch der Protagonistin. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt dieser Vorsatz jedoch allzu fromm: jeder kennt den Wunsch und man weiß, wie er im Prozess des Erwachsenwerdens unabänderlich langsam bröckelt. Aber diese Unangepasstheit braucht die jugendliche Protagonistin, um sich von der Erwachsenenwelt abzugrenzen. Ein tendenziell pubertärer Vorgang.

Was dem Blogger Airen, dem man größere Authentizität nachsagen könnte, mit seiner Veröffentlichung „Strobo“ in einer Erstauflage von 300 Exemplaren nicht gelingen konnte, hat Hegemanns Roman in eine Besteller-Manie verwandelt: Die junge Autorin hat einer bestimmten Strömung der heutigen Zeit eine Stimme gegeben. Der Berliner Club Berghain, in einem alten Kraftwerk gelegen, ist schon länger eine steinerne Metapher für die Mischung aus Drogen, anonymen Sex und exzessivem Nachtleben, die von dem lesenden Bildungsbürger nur bestaunt, nicht aber gelebt werden darf.

„Niemand hat ein Gesicht, es herrscht grenzenlose Anonymität. Hier geht es also um Gott. Nur auf dieser Party ist man anonym, man ist nur dann anonym, wenn man Gott ist.“ Ähnlich wie dieses Beispiel hinken viele Vergleiche, Pointen und ganze Abschnitte. Zudem sind die Figuren zu schemenhaft und schematisch, um interessante Charaktere zu sein. Mifti ist darüber hinaus noch neunmalklug und vorlaut. Die meisten der Dialoge wirken gestelzt, in ihnen wird nicht die charakteristische Stimme einer Figur transportiert, sondern die im monologischen Duktus des Statements vorgetragene, notdürftig verdeckte Meinung der Autorin.

Für sich stehend ist „Axolotl Roadkill“ unreif, als Literatur nicht ernstzunehmen. Es liest sich wie die Aneinanderreihung breitgewalzter Sinnsprüche eines Teenager-Tagebuchs, zur Verarbeitung des Erlebten niedergeschrieben. Ein wenig Dialog davor und dahinter, ein bisschen Beschreibung drumherum, und ein zwei Sätze noch, die etwas Anrüchiges haben, über die man sich aufregen könnte – fertig ist ein Axolotl-Erzählabschnitt. Die narrative Klammer des Romans bleibt fadenscheinig. Die einzelnen Passagen sind wirr und unzusammenhängend wie niedergeschriebene Träume oder Drogentrips. Allerdings ohne Suchtpotential.

Insgesamt erfüllt das Buch viele Kriterien des Boulevard: Es geht um Sex, Drogen und Leute. Es ist in einer einfachen Sprache geschrieben, und auch die kaum vorhandene Handlung ist leicht zu verstehen. Im Prinzip geht Hegemann mit ihrer Erzählung den Weg, der von Charlotte Roche bereitet wurde: wenig Qualität, dafür viel Schmutz. Das hatte dem Verkauf schon damals nicht geschadet.

Erst wenn man also davon ausgeht, dass die Erzählung nicht im Roman, sondern erst in der Lebenswelt abgeschlossen ist, also in den Übertragungen, die von Mifti hin zu Helene Hegemann gemacht werden können, ergibt sich ein rundes Bild. Dann kommt allerdings auch eine lüsterne Gier nach Sensation hinzu. Darin liegt das – nahezu kathartische – Potential des Buchs. Vielleicht ist es das, was das Feuilleton anfangs an dem eigentlich unvollständigen, banalen Buch faszinierte. Nicht das Fräuleinwunder, sondern die verruchte Projektionsfläche für den lüsternen Blick in fremde Wohnzimmer? Ein literarischer Genuss ist es jedenfalls nicht.

Auch wenn es sich in diesem Fall nicht lohnt, der Stimme von Helene Hegemann zu lauschen – ungestüm, laut, unreif und mit kaum Tiefgang – so ist diese Stimme doch vernehmbar, und man darf auf ihre Entwicklung gespannt sein. Weil Schreiben auch eine therapeutische Wirkung hat, kann man behaupten, Mifti ist nicht therapieresistent, sondern hat sich mit dem Schreiben des Buchs selbst therapiert.

Bei Amazon bestellen!

Hanebüchene Prophezeiungen zur Weltwirtschaftskrise

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • BÖCKL, Manfred: Vom Stachel ihrer Gier werden sie getötet. Prophezeiungen zur Weltwirtschaftskrise und ihren möglichen katastrophalen Folgen. SüdOst Verlag, München 2010. ISBN 978-3-89682-186-7 Pick It!.

Was kann schon dabei herauskommen, wenn Propheten, Tempelritter und Visionäre gemeinsam mit Druiden, Paranormalen und einem präkognitiv veranlagten Bauern aus dem Waldviertel zitiert werden, um „eiskalte Feinde der Humanität“ ihres Tuns zu überführen? Genau dies macht der Autor Manfred Böckl in seinem Buch „Vom Stachel ihrer Gier werden sie getötet“, in dem er auf 144 Seiten „Prophezeiungen zur Weltwirtschaftskrise und ihren möglichen katastrophalen Folgen“ präsentiert.
Katastrophal ist einzig das Buch. Böckl verschlagwortet aktuell existierende Groß-Probleme – Finanzkrise, Umweltzerstörung, Terrorismus – auf peinlichste Art und Weise. „Unendlich geldgierige Konzernbosse“, „verantwortungslose Finanzabenteurer“ und „skrupellose Profitmaximierer“ sollen die eiskalten Feinde der Humanität sein. Sie stehen bei Böckl für „brutalen Neokapitalismus“ und fachen „hemmungslosen Konsumwahn“ an, der schließlich in der Zerstörung der Welt mündet.
Böckls Buch ist mit sprachlichen Plattitüden gespickt, die sich in die Argumentationsweise fortsetzen: Jeder Sachverhalt, der dem Autor nicht zusagt, seien es Handys, Computerspiele, Politiker oder Banken, ist menschenverachtend. Dass er sich dabei auf solch zweifelhafte Quellen wie Propheten, präkognitive Bauern oder britannische Druiden stützt, macht es nicht besser. Zum Beispiel erzählt eine Vision aus dem frühen Mittelalter von einer Eule, die einen Esel ausbrütet, der von einer Schlange großgezogen wird und schließlich die Krone aufgesetzt bekommt. Böckl „interpretiert“ diese Vision auf seine Weise: „In der Schlange und im Esel werden die machthungrigen, neokapitalistischen Zerstörer der Menschlichkeit, des Anstandes und auch der Natur kenntlich.“ An anderer Stelle warnt ein Visionär vor Handy- und Computerstrahlung und verweist auf seine deutlichen Kopfschmerzen, die er davon bekommen habe. Zum Schutz baute er sich eine Blockhütte, die die Strahlung abfängt.
Vielleicht könnte man über die dreiste Dummheit schmunzeln, mit der Böckl nichtssagende Weissagungen als Wahrheiten verkauft und gegen eine graue Masse der Nutznießer des Kapitalismus wettert. Aber wenn er von „nichteuropäischen Immigranten“ schreibt, „die sich der Integration vielfach verweigern und deren Gewaltbereitschaft in letzter Zeit beträchtlich gewachsen ist“, hört der Spaß auf.
Weder mit seiner antiquierten Sprache, der 80er Jahre Umschlaggestaltung oder dem hanebüchenen Inhalt verdient „Vom Stachel ihrer Gier werden sie getötet“ irgendwelche Sympathien. Vielleicht kann sich Manfred Böckl irgendwann vor jenen als Wunderheiler der modernen Gesellschaft bezeichnen, die an Propheten, Visionäre und Tempelritter glauben. Wahrscheinlicher und wünschenswert ist jedoch, dass weder er noch sein Buch von den Menschen wahrgenommen werden.

Bei Amazon bestellen!

Laurent Jullier: Star Wars. Anatomie einer Saga

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • JULLIER, Laurent: Star Wars. Anatomie einer Saga, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2007. ISBN 978-3896695574.

Zweifelsfrei: die Star-Wars-Saga hat sich in allen Punkten, d.h. Erzählung, Vermarktung und Publikumserfolg zu einem modernen Mythos entwickelt. Bekannt ist auch, dass sich ihr Schöpfer George Lucas bei der Konzeption von den Erzählstrukturen klassischer Mythen hat inspirieren lassen. Der französische Filmwissenschaftler Laurent Jullier hat 2007 mit dem Buch „Star Wars“ eine neue, wissenschaftsnahe „Anatomie einer Saga“ vorgelegt. Auf 344 Seiten nähert er sich dem Thema, ohne ihm wirklich nah zu kommen.
In der Einleitung des Buchs warnt Jullier vor der Betriebsblindheit wissenschaftlicher und feuilletonistischer Emsigkeit. „Denn vor allem von ihnen [den Forschern und Journalisten] werden die Konzepte und Ideologien herangetragen, von denen erwartet wird, dass sie sich im Werk selbst befinden“. Heißt: man interpretiert nicht seinen Gegenstand, sondern redet in dessen Namen über die eigenen Interessen. Dass der Autor im Verlauf des Buchs mehrfach ausgerechnet selbst in diese Falle tappt, ist mehr als ärgerlich. Aber Jullier trifft auch die begrüßenswerte Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Analyse des Erkenntnisgegenstandes. Die interne Analyse zeichnet sich dadurch aus, dass sie in „der Welt des Films bleibt und Wiederholungen, Antinomien und Symmetrien ausfindig macht. Man nimmt Maß, man verzeichnet technische Details“. Die externe Analyse dagegen beleuchtet die Verbindungen zwischen Film und Realität, Saga und Welt – sie ist das, was man einen kulturwissenschaftlichen Ansatz nennt.
Entsprechend der getroffenen Unterscheidung beginnt Jullier mit einer Analyse der formalen Struktur der Filme. Hierbei ist es allerdings schwer, der Argumentation zu folgen, da ausschließlich Zahlenreihen durchdekliniert werden. Der Zusammenhang zur inhaltlichen bzw. narrativen Ebene wird nicht hergestellt – etwas, was nicht nur möglich, sondern auch angebracht wäre. Insgesamt ist die interne Analyse zwar schlüssig, aber in ihrer Argumentation nicht zwingend und inhaltlich wenig aufschlussreich. Zumindest aber der Vergleich zwischen dem Pod-Race in „Star Wars Ep. 1“ und dem Wagenrennen in dem Film „Ben Hur“ mit Charlton Heston stellt ein gelungenes Stück Wissenschaft dar.
Diese gelungenen Stücke bleiben jedoch viel zu vereinzelt, da sich der Autor gerade im zweiten Teil seiner Arbeit – der externen Analyse – darauf verlegt, die Arbeiten anderer Interpreten auf ihre Schwächen hin abzuklopfen. Mehr noch, oftmals wirkt es geradezu zwanghaft, wie sich Jullier gegen andere Interpretationen stellt und spätestens, wenn er an der Verbindung der Begriffe „High Concept“ und „Star Wars“ mäkelt, wird seine Masche zur Macke.
Über weite Passagen ist das Buch in einem schnoddrigen Stil und dozentenhaften Tonfall geschrieben, der in Deutschland für wissenschaftliche Arbeiten sehr untypisch ist. Zudem wechselt das Buch phasenweise in den Modus der Ironie, der kaum von ernst gemeinten Aussagen zu unterscheiden ist.
Letztlich entspricht Julliers „Anatomie einer Saga“ weder sprachlich, analytisch oder inhaltlich dem, was man von einem wissenschaftlichen Werk erwarten darf. So richtig die prinzipielle Forderung nach einer Interpretation ist, die erst nah am Werk bleibt und sich dann für die Verbindung von Werk und Welt hin öffnet; so sehr steht der Verdacht nah, dass Jullier seinen Gegenstand wegen der popkulturellen Bedeutung und der großen Menge an vorhandenen Paratexten gewählt hat, um daran redselig seine Sicht auf die Welt abzuarbeiten. Von einer textnahen Interpretation jedenfalls kann kaum mehr die Rede sein. Insofern eignet sich dieses Buch nur für hart gesottene Fans der Star-Wars-Saga oder als ein Blick auf die Wirren des Wissenschaftsbetriebs.

 

Mithu Sanyal : Vulva Renaissance

Besprochen von Bastian Buchtaleck

Es waren verschiedene Gründe, die Mithu Sanyal dazu bewogen haben, das Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ zu schreiben. Zum Ersten hatte sie als junge Frau im Gegensatz zu ihrem Partner keine Vorstellung vom Aussehen ihrer Vulva. Dann fehlten ihr, nachdem sie sich ein Bild gemacht hatte, die Worte, um ihre Vulva zu beschreiben. Drittens fand sie auf der Suche nach Worten die Vulva nur im Kontext von Krankheit oder Kinderkriegen. Aus diesem dreifachen Anlass versucht Sanyal auf 240 Seiten sichtbar zu machen, was bislang unsichtbar blieb: der äußerlich sichtbare Teil des weiblichen Geschlechtes. Selbstredend geht es ihr dabei auch um die Definitionsgewalt über das eigene Geschlecht.

Im Gegensatz zu Vulva sind Vagina und Scheide weitaus gebräuchlichere Begriffe für das weibliche Geschlechtsorgan. Während die Vulva den sichtbaren Teil beschreibt, reduziert sich Vagina „ausschließlich auf die Körperöffnung“. Sie „ist nur ein Loch, in das der Mann sein Genitale stecken kann, oder, um im Bild zu bleiben: eine Scheide für sein Schwert.“ Schon das erste etymologisch angelegte Kapitel spricht sehr deutlich die Politik, die das weitere Buch verfolgt: In kämpferischer Manier führt Sanyal vor, wie die Vulva kulturell und sprachlich abgewertet und aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeklammert wurde. Im Folgenden extrahiert Sanyal Mechanismen der Unterdrückung für die ganz alten Mythen, das Christentum und für die Kunst.

Immer ist die Frau die abgewertete Folie, von der sich der Mann absetzt. „Er war vermeintlich ‚rational‘, weil sie ‚irrational‘ war. Und ‚Kultur‘ benötigte ‚Natur‘, um sie sich untertan zu machen.“ Der Mann ist der Kopf, die Frau der Körper. Mit dem Christentum nahm die Unterdrückung Fahrt auf. „Der abstrakte monotheistische Gott benötigte keine sakrale Weiblichkeit mehr, da er zumindest theoretisch alle ihre Funktionen selbst erfüllte“, begründet die Autorin. Das Buch ist geprägt durch einen locker-reflexiven Schreibstil, der zumindest für den geübten Leser eingängig sein dürfte. Damit gelingt Sanyal überzeugend und lesenswert der kulturhistorische Nachweis, wie die Mechanismen der Unterdrückung gewirkt haben (und teilweise noch wirken).

Andererseits ist das Buch weder in seiner Haltung noch in der eröffneten Perspektive zeitgemäß. Wenn Sanyal die Frau als Abziehfolie des Mannes, als unvollständiger Mann ohne Penis, mit wandernder Gebärmutter, als Kastrierte beschreibt, muss sie gerade darin kritisiert werden. Sie bewegt sich dafür in den Diskursen der 70er und schreibt über die Gesellschaft der 50er Jahre. Viel zu oft liest sich „Vulva“ wie ein Pamphlet mit dem kämpferischen Ziel der Deutungshoheit, wobei Vulva dann zu einem Kampfbegriff wird, der einzig auf die Unterdrückung durch die Männer verweist. Sanyals Ziel, einen eigens definierten, positiven Begriff von Vulva zu erschaffen, einen, auf den frau stolz sein kann, verfehlt sie jedoch. Noch immer kann sie die Schönheit der Vulva nicht in Worte fassen. Vielleicht besteht der Wert des Buchs zunächst also einfach darin, das Schweigen gebrochen zu haben. Selten haben die, die zuerst gesprochen haben, auch als erste gleich die richtigen Worte gefunden.

Bestellen!

Amazon.de Widgets

Über „Stallion Batallion“ von The Boss Hoss

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • The Boss Hoss: Stallion Batallion. 2007.

Musikalisch sind „The Boss Hoss“ schon immer ihren eigenen Weg gegangen. Wollte man sie anfänglich milde belächeln – eine deutsche Band, die Country spielt und dabei bekannte Pop-Songs covert – beweisen sie mit den 19 Tracks ihres dritten Albums „Stallion Batallion“, dass es hierzulande eine echte Sehnsucht nach punkigem Country-Rock gibt. Während sie in ihren ersten beiden Alben hauptsächlich andere Songs nachspielten, legen sie im aktuellen Album mehrere eigene Kompositionen vor, die längst mit den Cover-Versionen mithalten können.
Schon das Titellied „Stallion Batallion“ klingt nach dem wüsten Genremix von Country, Rock’n’Roll und Punk, der die Berliner Band auszeichnet. Die sieben Musiker spielen sowohl Instrumente, die man klassischerweise dem Country zuordnen würde, wie das Waschbrett oder die Mundharmonika, als auch elektrische Rock-Gitarren. Man kennt auch den nasal-erzählenden Tonfall von typischen Country-Sängern. Die Sänger der Band Boss Burns und Hoss Power treffen diesen Tonfall sehr gut und lassen zugleich die kratzige Kehle des Rock deutlich anklingen.
Reinhörtipps sind die Lieder „High“ und „José and Myling“. „High“ würde textlich einer Reggae-Band viel besser zu Gesicht stehen, da in diesem Lied ironisch-lustvoll die Wirkung von Marihuana besungen wird. Darin heißt es, so viele Dinge seien zu erledigen – „But I’m high – and it’s the best thing I ever had“ – Dinge, die dann liegen bleiben. Die bei „José and Myling“ erzählte Geschichte ist genauso wild, wie die Musik. Zumindest dem Namen nach kommen Jo?e und Myling aus zwei Kulturkreisen und doch finden sie als Paar zusammen, genau wie die Musik verschiedene Genres vereint.
Bezeichnend für die unerschrockene Haltung ist auch das Cover des electroclash Songs „Gay Bar“ der Performance-Sängerin Peaches. Eigentlich eignet sich dieser Song gar nicht für Country-Musik, doch genau das zeichnet „The Boss Hoss“ aus. Ihre Cover-Versionen leben weniger von den bekannten Vorbildern und mehr von dem Boss-Hoss-Sound. Gerade darin liegt die Stärke der Band: Was sie auch tun und spielen, ihr Stil, dieser anarchische Genremix, ist unverkennbar.
Mit „Stallion Batallion“ ist „The Boss Hoss“ ein sehr gutes Album gelungen und die Mischung aus elf Eigenkompositionen und acht Cover-Songs birgt Abwechslung. Es ist nicht nur für Country-Fans interessant, sondern eine Bereicherung für jede Party. Letztlich haben sie sich Boss Hoss – um es mit einer Übertreibung zu sagen – nicht dem Publikumsgeschmack angepasst, sondern sich ihre Hörer geschaffen. In diesem Sinne: Höre das Album, entdecke deinen inneren Cowboy – auf die Pferde, an die Stromgitarren, fertig, los!