Hißnauer, Christian: Episodischer Variationsreichtum: Innovative Krimiserien abseits des ‚Quality TV‘, 18.08.2016

Episodischer Variationsreichtum: Innovative Krimiserien abseits des ‚Quality-TV‘.
Boomtown, Motive, Accused, Countdown und Krimiprinzipien jenseits ‚klassischer‘ Whodunit– und Howcatchem-Dramaturgien

Christian Hißnauer[1]

Der Mörder war wieder der Gärtner
Und der plant schon den nächsten Coup
Der Mörder ist immer der Gärtner
Und der schlägt erbarmungslos zu

Reinhard Mey: Der Mörder ist immer der Gärtner (1971)

Die Originalität liegt in anderem. Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau.
Bertolt Brecht[2]

Auch abseits des vielgerühmten, zuweilen überbewerteten, ‚Quality-TV‘ finden sich innovative – zumindest unkonventionelle – Serienproduktionen; oft übersehen und unterschätzt.[3] Das gilt auch für den immer noch (bzw. immer wieder) boomenden Bereich der Krimiserien.

Hansen, Frank-Peter: Einstein liest Nietzsche, 28.09.2015

Einstein liest Nietzsche … Bitte?! Die Nietzschephilologen und -forscher greifen sich an den Kopf. Worauf soll das hier hinaus?, mögen sie sich fragen. Das Inkom­mensurable kommensurabel zu machen, mag in der Mathematik ja noch hin­gehen. Wenngleich … Doch das steht auf einem anderen Blatt. Aber wenn behauptet wird, der Genius der theoretischen Physik habe den unzeitge­mäßen Kul­tur- und Geschichtskritiker auch nur flüchtig zur Kenntnis genom­men, sich gar ernsthaft mit ihm beschäftigt … Also nein! Wir lassen uns doch nicht verhoh­nepiepeln, und das geht entschieden zu weit! Unwilliges Kopf- und selbst Fäus­teschütteln macht sich breit. Unverhohlen ärgerliches Gemurmel er­füllt den Raum. Der Sturm der Entrüstung ist kurz davor loszu­brechen.

Gemach, liebe Freunde. Was folgt, ist ein Scherz, aber ein ernster. Ja, es mag schon so sein, dass der erzgescheite Südwestdeutsche nie auch nur einen Blick in das hy­persensible Schriftgut des gebürtigen Sachsen geworfen hat. Insofern ist das, was folgt, nichts weiter als Dichtung. Dass die fingierte Rahmenhand­lung aber in ihrem innersten Kern mehr als lediglich ein Körnchen Wahrheit beinhaltet, das zu be­haupten habe ich die Stirn. Denn ansonsten hätte ich mich, so dreist bin ich denn doch nicht, nie getraut, mit dem Nachfolgenden den öf­fentlichen Raum zu betre­ten und mich dem strengen Urteil der Fachwelt auszu­setzen. Welche Versicherung, ich weiß, lediglich eine petitio principii ist.

Behaupten lässt sich Vieles. Dem kombinatorischen Einfallsreichtum sind keine oder fast keine Grenzen gesetzt. Credo, quia absurdum?! Nein, so denn doch nicht. Bleiben wir halbwegs seriös. Es muss vielmehr so lauten: credo ut in­tellegam. Des­wegen bitte ich um die Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. Der Leser schlucke fürs Erste seinen Ärger hinunter. Er konzentriere sich auf das, was kommen wird. Er folge mir an der Seite des sanftmütig Blickenden in ein Ber­liner Kaffeehaus zu Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Als sich bereits abzuzeichnen begann, dass nicht nur seines Bleibens in der Noch-Republik Ziel und Grenze gesetzt war. Man leiste mir Gesellschaft an einem Nachbartisch und beobachte, un­ter meiner Führung, was sich zu ereignen im Begriffe steht. Ich werde Ein­blicke gewähren in den Gedankenhaushalt Des­jenigen, der sich gleich, wie es seine Art ist, in einen Zustand der geistig-intel­lektuellen Entrückung verabschieden wird.

Er hat Platz genommen. Tun wir es ihm gleich. Geben auch wir un­sere Be­stellung auf. Da! Der entscheidende Moment ist gekommen. Er zückt den Schmöker, den er soeben in einer am Gen­darmenmarkt gelegenen traditions­reichen Buchhandlung erstanden hat, aus der Seitentasche seines Mantels, den er achtlos über die jugendstilverschnörkelte Lehne des Nachbarstuhls geworfen hat. Er be­dankt sich artig für den gereichten Mocca bei der ihn freundlich anlä­chelnden weib­lichen Bedienung.

Schlägt die erste Seite auf und beginnt mit seiner Lektüre …

Damit ein Ereignis Größe habe, muß zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben. An sich hat kein Ereignis Größe. Es kommt aber auch vor, daß ein gewaltiger Mensch einen Streich führt, der an einem harten Gestein wirkungslos niedersinkt; ein kurzer scharfer Widerhall, und alles ist vorbei. Die Geschichte weiß auch von solchen gleichsam abgestumpften Ereignissen beinahe nichts zu melden. So überschleicht einen jeden, welcher ein Ereignis herankommen sieht, die Sorge, ob die, welche es erleben, seiner würdig sein werden. Auf dieses Sich-Entspre­chen von Tat und Empfänglichkeit rechnet und zielt man immer, wenn man han­delt, im kleinsten wie im größten; und der, welcher geben will, muß zusehen, dass er die Nehmer findet, die dem Sinne seiner Gabe genugtun. Eben deshalb hat auch die einzelne Tat eines selbst großen Menschen keine Größe, wenn sie kurz, stumpf und unfrucht­bar ist; denn in dem Augenblicke, wo er sie tat, muß ihm jedenfalls die tiefe Einsicht gefehlt ha­ben, dass sie gerade jetzt notwendig sei: er hatte nicht scharf genug gezielt, die Zeit nicht bestimmt genug erkannt und gewählt: der Zufall war Herr über ihn geworden, während groß sein und den Blick für die Notwendigkeit haben streng zusammengehört.

Er sieht auf und fährt sich mit der Hand über die Stirn. Sein Blick verliert sich im Un­gefähren. Das Stimmengewirr, das die Räumlichkeiten des gut besuchten Kaf­fee­hauses erfüllt, dringt kaum bis an die Schwelle seines Bewusstseins vor. Denn der, der das Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben hatte, musste dabei an ihn gedacht haben. Oder an seinesgleichen. Obgleich … So ganz stimmte das nicht, oder traf jedenfalls nicht auf ihn und seine Situation zu Beginn dieses Jahrhunderts zu.

Denn ja, sein Sinn war groß gewesen, als ihm der entscheidende Einfall ge­kommen war, dass der Grund zum Newtonschen Gedankengebäude eine Schicht tiefer ge­legt werden müsse. Die terrestrische hatte durch eine Physik mit univer­salem An­spruch ersetzt zu werden. Paradoxerweise dadurch, dass die Absolut­heit der Zeit und des Raumes aufgehoben werden mussten. Alles eine Frage der Geschwin­digkeit und ihres absoluten Grenzwertes, an dem die Zeit stillstand und der Raum seiner Ausdehnung verlustig ging. Die Lichtgeschwin­digkeit im Vakuum ist unab­hängig vom Bewegungszustand des emittierenden Körpers. Über sie gibt es kein Hinaus und folglich nichts zu addieren. Absurd das alles, aber die einzige phy­sikalisch logische Konsequenz. Messgenauigkeit, die gerade dadurch zustande kam und je­derzeit – er muss schmunzeln – herzu­stellen war, dass Raum und Zeit zu Ver­änderlichen, Variablen herabgesetzt wurden. Eine absolute Gleichzeitigkeit für alle Inertialsysteme gibt es nicht. Jedes System be­sitzt eine Eigenzeit, die von der eines relativ zu ihm bewegten Systems verschie­den ist.

Wenn er sich nicht intensiv mit den schier unglaublichen Einsichten des Mitbe­gründers der neuen Physik, der auch sein Scherflein zur Grundlegung der Ana­lysis beigetragen hatte, auseinandergesetzt hätte, er wäre nie auf die Lücke in dessen Ab­leitungen gestoßen, die zu schließen sein Verdienst gewesen war. Und das heißt, dass die, die, im übertragenen Sinne gesprochen, nur Zeitungen lesen und wenn’s hoch geht, Bücher zeitgenössischer Autoren, sich wie hochgradig Kurzsichtige verhalten, die es ver­schmähen, Augengläser zu tragen. Sie sind ab­hängig von den Vorurteilen und Moden ihrer Zeit, denn sie bekommen nichts anderes zu sehen und zu hören. Und was einer, da gibt es nichts daran zu deu­teln, selbständig denkt ohne Anlehnen an das Denken und Erleben anderer, ist auch im besten Falle ziemlich ärmlich und monoton. Denn, da beißt in letzter Konsequenz die Maus keinen Faden ab, bei der Relativitätstheorie handelt es sich keineswegs um einen revolutionären Akt, sondern um eine natürliche Fort­entwicklung einer durch Jahrhunderte verfolg­baren Linie.

Was heißt schon groß? Oder anders gefragt, im Sinne des luziden Kulturkriti­kers, dessen frühe Schrift zu lesen er gerade begonnen hat, ist es tatsächlich angezeigt, dass zweierlei zusammenkommen muss, damit die vollbrachte revo­lutionäre Tat wirklich groß und bahnbrechend ist? Nein! Das muss es nicht. Denn sie bleibt ex­zeptionell selbst dann, wenn niemand, nicht einmal Physiker von Profession, sie als solche zu würdigen bereit, willens, oder ganz einfach nicht in der Lage sind. Weil ihnen der Sinn und die Sensibilität für die Durch­schlagskraft des ganz und gar un­geheuren Gedankens abgeht: nämlich festen Grund zu gewinnen dadurch, dass man die vermeintliche Stabilität zweier physi­kalischer Grundgrößen als abhängige Variable zu verstehen lernt. Diesen in sich widersprüchlichen und doch einzig kon­sequenten Gedanken in seiner ungeheu­ren Konsequenz nachzuvollziehen und zu begreifen, was das heißt, war eigent­lich bloß einer in der Lage gewesen. Aber an­sonsten hatte zunächst niemand aus der physikalischen Szene aufgemerkt oder sich zu Wort gemeldet. Alles schien beim Alten geblieben zu sein. Weil der Sinn derer, an deren Adres­se seine im Umfang unscheinbare kleine Schrift gerichtet war, eben nicht groß gewesen war.

Doch, sein fulminanter Einfall von damals hatte Größe besessen, auch wenn er nur einen Teilaspekt des Gesamtproblems ins Visier genommen hatte. Die Kom­plet­tierung, Universalisierung und rechnerische Durchführung des Kerngedan­kens hatte noch einmal gut und gern zehn Jahre extremster, kräftezehrender ge­dank­licher Arbeit in Anspruch genommen. Weil er seinen doch recht mediokren ma­thematischen Kenntnisstand mit Hilfe seines Freunde Marcel Großmann hatte gehörig aufpäppeln müssen. Großmann, hatte er dem damals in Zürich lehren­den Freund geschrieben, Du mußt mir helfen, sonst werd’ ich verrückt!

Am Polytechnikum in Zürich hätte er, das stimmte, eine fundierte mathemati­sche Ausbildung erfahren können. Hurwitz und Minkowski waren Koryphäen ihres Fachs! Dennoch, dass er die Mathematik bis zu einem gewissen Grade ver­nachlässigte, hatte nicht nur den Grund, daß das naturwissenschaftliche Inter­esse stärker war als das mathematische, sondern vor allem die Tatsache, daß die Mathe­matik in viele Spezialgebiete gespalten war, deren jedes diese kurze uns vergönnte Lebenszeit weg­nehmen konnte. Er hatte sich wie Burridans Esel gefühlt, der sich nicht für ein besonderes Bündel Heu entschließen konnte. Dies lag offenbar daran, daß seine Intuition auf mathemati­schem Ge­biet nicht stark genug war, um das Fundamental-Wichtige, Grundlegende sicher von dem Rest der mehr oder weniger entbehrlichen Gelehrsamkeit zu unterscheiden. Außer­dem war aber auch das Interesse für die Naturerkenntnis unbedingt stärker; und es wurde ihm als Student nicht klar, daß der Zugang zu den tieferen prin­zipiellen Erkenntnissen in der Physik an die fein­sten mathematischen Methoden gebunden war. Dies dämmerte ihm erst allmählich nach Jahren selbständiger wissenschaftlicher Arbeit. Aber wie auch immer, er hatte, derart gerüstet, von kräftefreien Bewegungszuständen in den physikalisch letztlich einzig relevanten Bereich von Kräfte- und/oder Beschleunigungsverhältnissen durchstoßen müs­sen.

Was, erneut, als ganz und gar unmöglich von berufener Seite abgetan worden war. Ausgeschlossen, die Vielzahl der Variablen in die schlichte Einfachheit mathema­tischer Formel- und Gesetzessprache zu überführen. Du verplemperst deine Zeit, mein Lieber … Von wegen! Diese Erweiterung hatte das physikali­sche Verständnis des anorganischen Makrokosmos’ in seiner formvollendeten Gesetzmäßigkeit und, wie er es empfand, überirdischen Schönheit, erst komplett und in sich geschlossen gemacht. Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundge­fühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.

Diese durch summa summarum zehn Jahre getrennten Ergebnisse höchster denke­rischer Kraftanstrengung hatten Größe, egal wie sich der Rest der Welt dazu stellte oder gestellt hatte. Und im übrigen, hätte er sich nach dem Urteil der an­deren Fachgenossen gerichtet, nie hätten diese grundstürzenden Einsichten das Licht der Welt erblickt. Nein, einem ernst zu nehmenden Wissenschaftler muss es in jederlei Hinsicht egal sein, ob er sich mit seinem geistigen Treiben außer- oder innerhalb seiner Zeit befindet. Nur so kann er hoffen, einen oder vielleicht mehrere Schritte hinaus über die bisherige Grenze der Erkenntnis zu tun. Und ob ihm die anderen dabei nachfolgen werden, das hat ihn nicht zu in­teressieren. Darauf darf er keine Rücksicht nehmen. Denn selbst wenn sein Streich wirkungslos niedergesunken wäre … Was läge daran? Was hätte daran gelegen? Er wusste und weiß es besser. Und die, die ihm nachzufolgen bereit und in der Lage gewesen wa­ren, die hatten auch längst verstanden, welch großer Doppelwurf ihm in diesen Jahren vor dem Weltkrieg gelungen war.

Man muss es kennen und am eigenen Leibe erlebt haben, was es heißt, das ahnungs­volle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehn­sucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung und seinem endlichen Durchbruch zur Klarheit. Wer sie kennt reißt sich nicht danach. Wie hatte es noch in einem Brief an seinen Freund Ehrat ge­heißen? Ja, genauso: Jetzt weiß ich, warum es so viele Leute gibt, die gern Holz spalten. Bei dieser Tätigkeit sieht man nämlich immer sofort den Erfolg!

Es war an Absurdität kaum noch zu überbieten gewesen, als er 1907 an der Uni­ver­sität Bern die 1905 verfasste, alles in der physikalischen Wissenschaft auf eine neue Basis hebende, Arbeit Elektrodynamik bewegter Körper als Habilita­tionsschrift einge­reicht hatte und einer der Ordinarien, es war, wenn er sich recht erinnerte, Professor Aimé Forster gewesen, ihm die fulminante, 30 Druckseiten umfassende Schrift mit den Worten zu­rückgegeben hatte: Was Sie da geschrie­ben haben, verstehe ich überhaupt nicht. Gegen wen sprach das? Etwa gegen ihn?!

Er fährt sich mit der Hand durch sein leicht gewelltes, immer noch vergleichs­weise volles ergrautes Haar. Hatte er nicht vielleicht doch, wenn er ehrlich war, Sorge em­pfunden, ob die, welche seine Texte zur Kenntnis nehmen würden, sei­ner wür­dig sein würden? Nein!, allenfalls, nachdem der entscheidende Schritt getan und der Beweis mit dem schlichten, fast unscheinbaren Formelapparat zu Papier gebracht worden war, hatte er kurz innegehalten und sich gefragt, ob sei­ner auf leisen Sohlen daherkommenden Großtat die ihr entsprechende Aufmerk­samkeit zuteil werden würde. Denn sie selbst war nicht allein notwendig, son­dern so, wie die physika­lischen Dinge damals gelegen hatten, auch ganz und gar an der Zeit gewesen. In ei­nem überpersönlichen Sinne also gab es die Entspre­chung. Weil die Zeit reif ge­wesen war für diesen Schritt über das mit vermeint­lichen Konstanten operierende Denken der klassischen Physik.

Voraussetzungsloses Denken? Womöglich jenseits oder außerhalb der Zeit? Im Elfenbeinturm? Pah! Alles hatte seine notwendige Bedingungskette im Rücken. Und er war lediglich der gewesen, der, als das Problem spruchreif geworden war und, freilich von Niemandem bemerkt, auf der Tagesordnung gestanden hatte, das erlösende Wort der Lösung gesprochen hatte.

Selbst die Unzeitgemäßen Betrach­tungen des Röckener Alleszerstörers waren an der Zeit gewesen. Die passende grüblerische Ant­wort eines hochsensiblen, künstlerisch begabten Menschen, der ein Gespür dafür gehabt hatte, was sich hinter der glän­zenden Fassade des neuen, gerade erst gegründeten kleindeut­schen Reiches unter der kompromisslosen Führerschaft des auf Macht und nichts sonst verses­senen Kanzlers und seiner berechnenden antikatholischen Kulturkampfeu­phorie in Wahr­heit verbarg. Mediokres Philistertum und eine Gesellschaftsordnung, die mit ihrem preußischen Drill, ihrer kirchlich-höfisch basierten Hierarchie und ihrer biedermän­nischen Staatsfrömmigkeit selbst den Gelehrtenstand geistig domestiziert hatte. Wie hatte er sich an anderer Stelle mit beißendem Spott über die deutsche Gelehr­tenzunft lustig gemacht?! Er hatte von den in ihren Staat vergnügten Universitätspro­fessoren gesprochen, die er auf Grund ihrer zur zweiten Natur gewor­denen Devot­heit herzlich verachtet hatte. Denn was ist die Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine …Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des ‚Reichs’ zusammenfällt: beide Tatsachen beweisen ein und dasselbe – Ge­horsam und lange Beine. – Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Recht so! Wenngleich es so aussieht, als ob gerade jetzt eine Steigerung dieses widerwärtigen deutschen Superlativs unmittelbar vor der Tür steht. O wie einem nunmehr der Genuß zuwider ist, der grobe, dumpfe, braune Genuß, wie ihn sonst die Genießenden, unsre ‚Gebildeten’, unsre Rei­chen und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem großen Jahrmarkts-Bumbum zu­hören, mit dem sich der ‚gebildete’ Mensch und Großstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu ‚geistigen Genüssen’, unter Mithilfe geistiger Getränke, notzüch­tigen lässt! Den Herrschen­den nach dem Mund zu reden jedenfalls kann bloß in den geistigen Ruin führen!

So ist zum Beispiel das Gebäude der Erziehung als morsch erkannt, und überall finden sich einzelne, welche in aller Stille schon das Gebäude verlassen haben. Könnte man die, welche tat­sächlich schon jetzt tief mit ihm unzufrieden sind, nur einmal zur offenen Empörung und Er­klärung treiben! Könnte man sie des verzagenden Unmuts berauben! Ich weiß es: wenn man gera­de den stillen Bei­trag dieser Naturen von dem Ertrage unseres gesamten Bildungswesens ab­striche, es wäre der empfindlichste Aderlaß, durch den man dasselbe schwächen könnte. Von den Gelehr­ten zum Beispiel blieben unter dem alten Regimente nur die durch den politischen Wahn­witz An­gesteckten und die literatenhaften Men­schen aller Art zurück. Das widerliche Gebilde, welches jetzt seine Kräfte aus der Anlehnung an die Sphären der Gewalt und Ungerechtigkeit, aus Staat und Gesellschaft, nimmt und seinen Vorteil dabei hat, diese immer böser und rück­sichts­loser zu machen, ist ohne diese Anlehnung etwas Schwächliches und Er­müdetes: man braucht es nur recht zu verachten, so fällt es schon über den Haufen.

Schön! Sehr schön! Doch freilich, legt sich ein Schatten der Trauer über ihn, wenn das alles so einfach wäre … Aber das ist es nun einmal leider nicht.

Etwas Dunkles schiebt sich in sein Gesichtsfeld. Jemand tippt auf seine Schul­ter. Nicht jetzt! Man stört. Immer zur Unzeit. Unwillkürlich macht er eine kaum wahr­nehmbare Ausweichbewegung. Umsonst. Er wird angesprochen. Er be­schließt, nicht zu reagieren. Ich bin nicht da, denkt er. Hält sich den Schmöker ganz dicht vor seine birnenförmige Nase. Die ergrauten Haare seines Schnurr­barts schaben über das vergilbte Papier. Es hilft alles nichts. Der, der ihn aus seinen der Vergan­genheit zugewandten Gedanken schamlos aufgeschreckt hat, hält ihm ein aufge­klapptes Buch vors Gesicht. In der anderen Hand befindet sich ein schwarz glän­zender Füllfederhalter. Wie er sie hasst, diese unterwürfig-auf­dringlichen Auto­grammjäger! Die sich auf diese erbärmlich-nichtswürdige Art wichtig machen. Glauben, allein dadurch ihrem trostlosen Leben etwas Schwere und Gewicht geben zu können, dass sie sich, verbürgt durch eine Unterschrift, im Dunstkreis von Per­sonen des sogenannten öffentlichen Interesses aufgehalten haben. Duckmäuser, nichtswürdige! Mediokres Pack! Um so zu sein oder zu werden, muss man nicht einmal an einer deutschen Universität lehren. Diese Geisteshaltung eines spin­tisierenden Flohknackers beherrscht auch der gemeine Mann von der Straße aus dem Effeff. Seine Devise hingegen hat, so lange er zurückdenken kann, schon immer gelautet: Was an der eigenen Existenz bedeut­sam ist, wird uns selber kaum bewußt und sollte die Mitmenschen gewiß nicht kümmern. Was weiß ein Fisch vom Wasser, in dem er sein Lebtag herum­schwimmt? Sein höchstes Ziel eben ist es, Abstand von sich selbst, ja, im äu­ßersten Extrem und soweit das überhaupt menschenmöglich ist, Befreiung vom Persönlichen zu gewinnen. Das Biographische ist der belangloseste Teil eines Er­denbürgers. Auch wenn das die Großen der menschlichen Spezies oder die, die sich irrtümlicherweise dafür halten, ganz anders sehen.

Ein Schmunzeln huscht über sein von Falten zerfurchtes Gesicht. Und kritzelt achtlos mit einem schabenden Geräusch sein verschnörkeltes, leicht verwasche­nes A. Einstein in die äußerste rechte untere Ecke des ersten Blattes des Druck­werks. Schmöker und Crayon wechseln erneut den Besitzer. Den wort­reichen Dank hört er bereits nicht mehr. Oder nur von ganz weit weg. Wie das unange­nehme Sirren eines lästigen Insekts, das man mit einem flüchtigen, ärgerlichen Wedeln der Hand auf Abstand zu halten sucht.

Der Schüler steht vor seinem geistigen Auge. Sein Hass auf den täglichen Drill. Seine Abneigung gegen ein mechanisches Auswendiglernen selbst in den Wis­sens­gebieten, wo es nichts verloren hat. In der Schule wird die Freude, die hei­lige Neugier des Forschens erdrosselt. Denn der Heranwachsende bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit. Es ist ein unverzeihlicher Irrtum, zu glau­ben, dass Freude am Lernen durch den Zwang zur Pflicht gefördert wird. Dass er von seinen Lehrern stets scheel angesehen wurde hatte wohl letztlich daran gelegen, dass er so eine Art Va­gabund und Eigenbrödler gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Er misstraut jeder Autorität. Das ist die Einstel­lung, die ihn nicht wieder verlassen hat. Und der, den er gerade zu lesen begon­nen hat, hat das, so weit er weiß, ganz genauso em­pfunden. Seine Schulzeit in Schulpforta hat der genialische junge Mensch, der Stür­mer und Dränger der zweiten Gene­ration, auch stets als Zumutung empfunden. Auch wenn sein gei­stiger Hintergrund ein anderer gewesen ist. Klassische Antike. Die Humaniora. Literatur und, vor al­lem und immer wieder im Schlepptau des Erz­romantikers Schopen­hauer, die zwangsläufig der Nachtseite zugewandte Zauber­welt der Tonkunst. Die roman­tischste aller Künste. Die ihre verklärende Vollen­dung in dem zunächst bewunder­ten Meister mit seinem Drang zum musikalischen Ge­samtkunstwerk ge­funden hat. Bevor der Unzeitgemäße in dem zunächst abgöt­tisch Verehrten und Angehimmelten, dem, das war zu viel gewesen, grauenhaf­ten Erz­katholiken, und wahrscheinlich auch in sich den Décadent par excellence ent­deckt und unerbittlich bekämpft hat. Allein das ist schon selbstzerstörerisch gewesen. Von allem anderen einmal abgesehen. Aber, gleichviel. Die Gründe für den Ab­scheu vor den schuli­schen geisttötenden Anforderungen sind bei ihnen die glei­chen gewesen. Denn auch das Leben und Weben in der (Theorie der) Musik und Lite­ratur ist auf einige wenige Grundkenntnisse angewiesen; vor allem aber auf ein lei­denschaftliches Sich­verlieren in den Labyrinthen wort- und klanggewaltigen menschlichen Ausdrucks. Obwohl er selbst viel mehr mit der heilig-nüchternen Strenge und Klarheit eines Johann Sebastian Bach bei seinem mehr als bloß halb­professionellen Violinspiel an­zufangen weiß.

So auch, wenn auch ganz anders, in der Mathematik. Der Physik. Oder der Che­mie. Kurz, in allen naturwissenschaftlichen Fächern. Gut. Grundlagenkenntnisse sind hier wie sonst unverzichtbar. Axiomatik, Dimensionenlehre, Protonen- und Neu­tronenzahlen, Kernbausteine, Anzahl der diversen Elektronen auf den Scha­len. Elektronensprünge, Massenverluste und noch einiges mehr. Aber dann heißt es, seinen Kopf anzustrengen und aus den Gegebenheiten etwas zu machen. Nach Möglichkeit etwas Schlüssiges, in sich Zusammenhängendes, Gesetzmä­ßiges und Notwendiges. Das sämtlichen jeweils gegebenen Aspekten nicht bloß standhält, sondern sie in eine kristallklare Ordnung bringt, in der jedes Teilchen seine unver­rückbare Ordnung findet. Denn die Naturwelt des Physikers ist die in Formeln gebrachte objektive Ordnung des realen Seins. Deswegen ist ihm die gegenwärtig grassierende Wahrscheinlichkeitsmystik und die Abkehr von der Realität ein Gräuel. Nein, Messungen machen nur dann Sinn, wenn etwas exis­tiert, das gemes­sen werden kann. Sie konstituieren ihren Gegenstand nicht. Und wenn die Zahl der in Frage kommenden Faktoren bei einem komplexen Phäno­men der Natur zu groß wird, dann heißt das noch lange nicht, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst und lediglich noch der Zufall regiert. Selbst die Ergebnisse der Wahrscheinlichkeits­rechnung mit ihrer sprichwörtlichen großen Zahl deuten noch auf so etwas wie ei­ne regelmäßige Verteilung hin. Nehme man beispiels­weise das Wetter, dann sei eine sichere Vorhersage für zwei oder drei Tage zwar nicht bis ins Letzte möglich. Nicht aber, weil den Erscheinungen des Wetters kein Kausalzusammenhang, keine Ord­nung und Gesetzlichkeit zugrunde liege, sondern weil mannigfaltige, uns unbe­kannte Faktoren mitwirken.

Das Buch des im Grundlegenden Gleichgesinnten rutscht ihm aus der Hand. Fällt zu Boden. Die Seiten rascheln. Er bückt sich. Hebt es auf. Zurück auf Los.

Daß ein einzelner, im Verlaufe eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas durchaus Neues hin­stellen könne, mag wohl alle die empören, welche auf die Allmählichkeit aller Entwicklung wie auf eine Art von Sitten-Gesetz schwören: sie sind selber langsam und fordern Langsamkeit – und da sehen sie nun einen sehr Geschwinden, wissen nicht, wie er es macht, und sind ihm böse.

Donnerwetter, ja! Schon wieder zückt er einen Stift und markiert die Stelle. Ist zwar auf den verehrten Tonkünstler gemünzt. Aber wer, wenn nicht er, soll sich durch diese Zeilen angesprochen fühlen?!

Es wäre sonderbar, wenn das, was jemand am besten kann und am liebsten tut, nicht auch in der gesamten Gestaltung seines Lebens wieder sichtbar würde; vielmehr muß bei Menschen von her­vorragender Befähigung das Leben nicht nur, wie bei jedermann, zum Abbild des Charakters, sondern vor allem auch zum Abbild des Intellektes und seines eigensten Vermögens werden.

Auch das ist wahr und trifft auf ihn ohne jede Einschränkung zu. Allerdings be­schleicht ihn ein ungutes Gefühl. Wer derart, und sei es auch bloß im Gedanken an einen anderen, ins Schwärmen und preisende Schwadronieren gerät, läuft un­wei­gerlich Gefahr, all das Richtige in einer hochgepuschten Eitelkeit und lobhu­delnden Selbstverliebtheit zu ersäufen. Und das ist dann wieder der doch sonst stets ver­achtete Philisterhabitus. Der Ausnahmemensch gerät vor allem dann, wenn er auf diese schleichende Gefahr nicht ausdrücklich reflektiert, zur Karika­tur des Geni­alen: einem aufgeblasenen Wichtigtuer und hohl-gestikulierenden Schaum­schläger. Ohnehin haben die meisten Menschen … einen heiligen Res­pekt vor Worten, die sie nicht be­greifen können, und betrachten es als ein Zei­chen der Oberflächlichkeit eines Autors, wenn sie ihn begreifen können. Er wird das fatale Gefühl nicht los, dass der Autor bei allem Über­schwang des Lobprei­sens des verehrten Meisters dabei immer auch mehr als bloß ein wenig sich selbst aufs Schild gehoben hat. Zuerst hypertropher Enthusias­mus, der dann, fast wie aus dem Nichts, in sein genaues Gegenteil umschlägt. Und in eben dem, dem unbändigen Hass auf den Décadent – der Nihilismus als Logik der Deka­denz –, als dessen Spezialisten, Propheten und Opfer er sich je länger desto mehr sah, ist der Hass auf sich selbst, den pessimistischen Falschmünzer, wie selbstverständlich immer mit einge­schlossen.

Es geht gefährlich und verzweifelt zu im Lebenswege jedes wahren Künstlers, der in die modernen Zeiten geworfen ist. Man denke ihn sich in eine Beamtung hinein – so wie Wagner das Amt eines Kapellmeisters an Stadt- und Hoftheatern zu versehen hatte; man empfinde es, wie der ernsteste Künstler mit Gewalt da den Ernst erzwingen will, wo nun einmal die modernen Einrichtungen fast mit grundsätzlicher Leichtfertigkeit aufgebaut sind und Leichtfertigkeit fordern, wie es ihm zum Teil gelingt und im ganzen immer mißlingt, wie der Ekel ihm naht und er flüchten will, wie er den Ort nicht findet, wohin er flüchten könnte, und er immer wieder zu den Zigeunern und Ausgestoßenen unsrer Kultur als einer der Ihrigen zurückkehren muß.

Die Kinder sind’s bei ihm. Weil sie, in der Regel, noch unverbildet sind. Weil sie sich im Abseits ihrer phantastischen Welten schlafwandlerisch sicher ver­lieren. Und wohin er ihnen nicht allein, wann immer es geht, liebend gerne folgt, sondern, der Schalk treibt ihn an, auch auf eigene Faust neue, unbetretene Wege bahnt. Nein, sich unter ein Diktat zu beugen, Regeln des Benimm an seiner Per­son zu voll­strecken … Das will er nicht. Hat es nie gewollt. Da streckt er lieber wie ein kleiner Junge die Zunge heraus und gebärdet sich wie ein Narr. Wie ei­ner, der sich unter keine gesellschaftlichen Konventionen beugt und beugen lässt. Weil ihm das mo­derne Kunst-Lügenwesen von Grund auf verhasst ist. Weil es ihn davor wie vor nichts sonst ekelt.

So nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Kon­vention hinzu, das heißt des Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Übereinkommen des Gefühls. …Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er sich, nach der Art unserer ‚Kunstfreunde’, einem trügerischen Behagen und einer stillen Trunksucht überantwortete!

Apropos Trunksucht … Er winkt der Bedienung, sie möge ihm noch einen Mocca bringen. Und ja, gerne auch einen Cognac im Schwenker. Um sich auch somatisch auf ein höheres Energieniveau zu begeben.

Im Weiterlesen fingert er aus der Seitentasche seines Jacketts seine Rauchuten­silien hervor. Das Pfeifenrauchen sorgt für Atmosphäre. Mit flinken Fingern stopft er den zart nach Pflaumen riechenden Knaster in den Pfeifenkopf und entzündet paffend den vom häufigen Gebrauch fast schwarz verfärbten Knösel. Jetzt ist er ganz bei sich. Noch jeweils ein Schluck von dem inzwischen bereit­gestellten Stark­getränk und dem warm-schweren Branntwein und er fährt, zu­frieden lächelnd, in der Lektüre fort. Sollte ihn jetzt noch jemand stören, wehe ihm …

Wagner, so liest er, bannt und schließt zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medizinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringie­rende Kraft: insofern gehört er zu den ganz großen Kulturgewalten. Er waltet über den Künsten, den Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ord­nenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammen­gebrachten, ein Vereinfacher der Welt.

Ja, das ist er auch geworden, mit seiner Doppeleinsicht. Obwohl, nein!, so stimmt das nicht. Nicht er hat die Welt vereinfacht. Sie gehorcht von sich aus, ganz ohne sein Zutun, diesen in ihrer paradoxen Einfachheit von ihm als so wunderschön em­pfundenen Gesetzen. Und an ihm war es lediglich, ihr ihr Ge­heimnis, das tatsäch­lich eines der Vereinfachung und Vereinheitlichung war, abzulauschen. Und weil das so ist, weil er, in dem Sinne, nichts erfunden, son­dern lediglich etwas, das vor aller Menschen Augen liegt und sich unentwegt abspielt, gedanklich bewältigt hat, ist er auch schlecht zu sprechen auf das er­kenntnis- und wissenschafts­theoretische Metagewese der philosophischen Wis­senschaft seines sonst so verehrten österrei­chischen Lehrers Ernst Mach, dem sich alles in letztlich fiktionale Erscheinungs- und Vorstellungsbilder, freie Er­findungen des mensch­lichen Geistes, auflöst. Wie kommt …ein ordentlich be­gabter Naturforscher überhaupt dazu, sich um Erkenntnistheorie zu küm­mern? Gibt es in seinem Fache nicht wertvollere Arbeit? Da­ran jedenfalls ist nicht zu rütteln: Erkenntnistheorie ohne Kontakt zur Naturwis­senschaft, die ihrerseits von einer unabhängig für sich beste­henden Welt realer und gesetzmäßig verbun­dener Zusammenhänge ausgeht, gerät zum leeren Schema. Denn was ist Natur­wissenschaft? Sie ist der Versuch einer nachträglichen Rekonstruktion alles Sei­enden im Prozeß der begrifflichen Erfassung. Sie ist nichts weiter als eine Ver­feinerung unseres alltäglichen Denkens. Jawohl! So und nicht anders!

Sein Knösel glüht. Der Qualm steigt senkrecht in die Höhe, bevor er sich sacht verwirbelt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen zu bilden begonnen. Der Cognac dämpft das Brennen auf seiner Zunge merklich herab.

Was auf ihn stark wirkte, das wollte und konnte er auch machen; von seinen Vorbildern verstand er auf jeder Stufe ebensoviel als er auch selber bilden konn­te, er zweifelte nie daran, das auch zu können, was ihm gefiel. Vielleicht ist er hierin eine noch ‚präsumtuösere’ Natur als Goethe, der von sich sagte: ‚immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst’.

Ein Sonntagskind des Lebens. Das war Wagner für Nietzsche gewesen. So, er weiß es, lautet auch das Selbstverständnis eines der größten Romanciers dieses Jahr­hunderts. Und ja, obwohl er sich selbst für vergleichsweise uneitel hält, auch er war nie frei gewesen von dem Gefühl, dass es mit ihm stets nur gut und zu seiner Zu­friedenheit ausgehen könne. Was er erreicht hatte, stand ihm auch zu. Nicht, weil es ihm in den Schoß gefallen war. Nein, weiß Gott nicht! Er hatte es sich hart erar­beiten müssen. Er hat ebenso unablässig darnach gestrebt, sich die schwersten Gesetze auf­zuerlegen, als andre nach Erleichterung ihrer Last trach­ten; das Leben und die Kunst drücken ihn, wenn er nicht mit ihren schwierigsten Problemen spielen kann. Man muss das Brett dort bohren, wo es am dicksten ist. Keine Frage. Aber wenn dann der Gipfel erklom­men ist, erwartet einen dort oben niemand anders als man selbst. Und wie fühlt sich das an? Wie jene gold­helle durch­gegorne Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe, be­trachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit. Genau so! Denn so ist die Stimmung eines wahr­haft frei gewordnen Könnens, das nie den Atem verliert, nie keuchend an sein Ziel kommt.

Von seinem Erlebnis aus verstand er die ganze schmachvolle Stellung, in wel­cher die Kunst und die Künstler sich befinden: wie eine seelenlose oder seelen­harte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und Künstler zu ihrem sklavischen Gefolge zählt, zur Be­friedigung von Schein­bedürfnissen. Die moderne Kunst ist Luxus: das begriff er ebenso wie das andre, daß sie mit dem Rechte einer Luxus-Gesellschaft stehe und falle … Die ganze ästhetische Schreib- und Schwatzseligkeit brach wie ein Fieber unter den Deutschen aus, man maß und fingerte an den Kunstwerken, an der Person des Künstlers herum, mit jenem Mangel an Scham, welcher den deutschen Gelehr­ten nicht weniger als den deutschen Zeitungsschreibern zu eigen ist.

Und nicht bloß denen! Seit er eine Berühmtheit war, stellte man ihm nach. Machte sich anheischig, die Größe seines Gehirns und die Anzahl von dessen Windungen zu vermessen. Physiognomik und Schädellehre auf dem allernied­rigsten Stand. Oder man trug ihm an, seine Seele zergliedern zu lassen. Platz zu nehmen auf der Couch. Es sich, womöglich liegend, bequem zu machen, um sein Innerstes nach Außen zu kehren. Um der Psyche eines Genies, für das man ihn hielt, ihr abgrün­diges Geheimnis abzulauschen Dabei bedurfte es doch bloß eines geringen ge­danklichen Aufwandes, um zu begreifen, dass die Psychoana­lyse die Krankheit war, für dessen Therapie sie sich irrtümlicherweise hielt.

Aber er will sich nicht mehr ärgern. Zumal ihm die nächste Stelle ins Auge fällt, die seinem Selbstverständnis voll und ganz entspricht. Es kühn in Worte fasst, wie aller Mühsal gedanklicher Extrembeanspruchung zum Trotz das Ergebnis dieses unent­wegten, zähen Ringens nichts anderes ist als ein schwebend leichtes, ganz und gar in sich stimmiges logisch-reales Luftgebilde.

Man erwäge dann wiederum die Einordnung einer solchen singenden Leiden­schaft in den ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein Wun­derding von überwundenen Schwierig­keiten kennen zu lernen: seine Erfindsam­keit hierbei, im kleinen und großen, die Allgegenwart seines Geistes und seines Fleißes ist derart, daß man beim Anblick einer Wagnerschen Partitur glauben möchte, es habe vor ihm gar keine rechte Arbeit und Anstrengung gegeben. Es scheint, daß er auch in bezug auf die Mühsal der Kunst hätte sagen können, die eigentliche Tugend des Dramatikers bestehe in der Selbstentäußerung; aber er würde wahrscheinlich entgegnen: es gibt nur eine Mühsal, die des noch nicht Freigewordenen; die Tugend und das Gute sind leicht.

Oder auch so: frei und leicht wie aus dem Nichts entsprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick. Das ist sogar noch tiefer gedacht, weil es die Mühsal nicht unterschlägt, sondern bloß, im Ergebnis, vergessen macht. Kunst, die Na­tur zu sein scheint. Kristallklare Erkenntnis, die kein Aber zulässt, weil alles in sich stimmig ist, seine unverrückbare Stelle hat und mithin passt.

Und genau so kommt es auch hier. Gleich im Anschluss. Denn er liest mit einem sich immer mehr ausbreitenden und sein Gesicht schließlich erstrahlen lassen­den Lächeln …

Als Künstler im ganzen betrachtet, so hat Wagner, um an einen bekannteren Typus zu erinnern, etwas von Demosthenes an sich: den furchtbaren Ernst um die Sache und die Gewalt des Griffs, so daß er jedes Mal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Augenblick, und sie hält fest, als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener seine Kunst oder macht sie vergessen, indem er zwingt, an die Sache zu denken; …seine Kunst wirkt als Natur, als hergestellte, wiedergefundene Natur.

Das Naive ist das Sentimentalische, denkt er. Goethe und Schiller sind eins. Und diesen beiden Dioskuren aus Weimar fühlt er sich so nah in diesem Moment tag­heller Erleuchtung wie lange nicht mehr.

Er hält inne. Seine Pfeife, die er in seiner Rechten hält, ist längst erloschen. Der Mocca ist nicht einmal mehr lauwarm. Nur der Weinbrand, den er nun bis zur Neige austrinkt, rinnt warm-sanft durch seine ausgetrocknete Kehle.

Weiter! Immer weiter zieht der andere ihn mit sich fort! Während es draußen sacht zu schneien begonnen hat.

Selbst das Gute, liest er, indem er leicht zu nicken beginnt, weil es ihm aus dem Her­zen gesprochen ist, in der Kunst ist überflüssig und schädlich, wenn es aus der Nachahmung des Besten entstand. Und ja, der Weise verkehrt im Grunde mit lebenden Menschen nur so weit …, als er durch sie den Schatz seiner Er­kenntnis zu mehren weiß … Wenngleich er, gerade im Umgang mit seinen Stu­denten, gelernt hat, sich auf deren Schwierigkeiten des geistigen Nachvollzugs der bisweilen hochgradig komplizierten Materie mit Engels­geduld einzulassen. Obwohl, auch darin ist er sich mit dem von dem Anderen bewunderten Tonset­zer einig, von dem der Satz überliefert ist: Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist im Irrtum.

Und trotzdem, und erst recht gilt, dass im allgemeinen …der hilfreiche Drang des schaf­fenden Künstlers zu groß ist, der Horizont seiner Menschenliebe zu umfänglich, als daß sein Blick an den Umzäunungen des nationalen Wesens hängen bleiben sollte. Seine Gedanken sind … überdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der Zukunft.

Genau das ist auch sein Glaube und seine Zuversicht, selbst wenn die politi­schen Zeichen inzwischen auf Sturm stehen, und er ernstlich darüber nachzu­denken be­gonnen hat, Deutschland den Rücken zuzukehren. So wie die Dinge liegen, ist hier in der Hauptstadt des Deutschen Reiches seines Bleibens nicht länger mehr. So schwer es ihn ankommt. Er wird den Weg in die Fremde antre­ten müssen. Hinaus aus der von völkischen Widerwärtigkeiten verstockten, stickig-provinziellen, von roher Gewalt schwangeren Atmos­phäre.

Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf!
Fern dämmre schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf!

Möge es so kommen! Und möge er durch sein unablässiges Streben seinen Teil da­zu beitragen, daß die Menschheit irgendwann einmal endgültig ideale Ord­nungen finden werde.

Freund, denkt er, Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?

Er verstaut seine Rauchutensilien und den Schmöker, winkt die Bedienung heran, begleicht die Rech­nung, streift sich seinen knielangen, zweireihigen hellgrauen Mantel über und tritt beschwingt in die froststarre Kälte des in dichtem Schneege­stöber verschwimmenden Januartages hinaus.

Shilik, Maria: Der Dokumentarfilm als Showbühne – Der Versuch eines Helge Schneider-Porträts, 24.07.2015

Besprochen von Maria Shilik

  • Mülheim – Texas: Helge Schneider hier und dort, Regie: Andrea Roggon, Produktion: Deutschland, Laufzeit: 93 Min.

 

Ein Dokumentarfilm über den Künstler Helge Schneider – ist das überhaupt ohne Inszenierung möglich? Wie kann man hinter die verschiedenen Masken eines Menschen blicken, der sein Hauptkapital aus anarchischem Humor und Rollenwechseln schlägt? Die Filmemacherin Andrea Roggon bekommt die Chance, Schneider mit einer Kamera vier Jahre lang zu begleiten und einen Blick hinter die Kulissen des Multitalents zu riskieren. Herausgekommen ist ein Portrait, das sich laufend selbst dekonstruiert und mit erzählerischen Konventionen bricht.

Collagenartig verbindet der Film die unterschiedlichen Aspekte und Bereiche aus Schneiders Leben. Dabei erzählt Roggon keine Biographie oder abgeschlossene Geschichte von Helge Schneider. Vielmehr gibt sie episodenhaft Einblicke in sein kreatives Schaffen, seine Arbeitsweise, seine wilden Gedankengänge. Sei es kostümiert in einer wie Texas anmutenden Landschaft, in einer gesetzten Interviewsituation im Studio oder bei den Proben auf der Bühne – Schneider behält die Kamera stets im Blick und im Hinterkopf. Zuweilen lässt er sich aber auch bei der ernsthaften Reflexion über sein Leben ertappen.

Wir begleiten ihn dabei, wie er der Filmemacherin Anweisungen gibt und mit ihr in ständige Verhandlungen tritt, um sich selbst in Szene zu setzen. Es mutet an wie ein Machtkampf, der hier zwischen Regisseurin und Protagonist ausgetragen wird. Und es ist eine merkliche Herausforderung für die recht junge Filmemacherin, dieses Showtalent im Zaum zu halten. Soll er von rechts oder links kommen, oder nicht lieber doch schon im Bild sein? Soll er wirklich diese langweilige Frage, die keinen interessiert, beantworten? Und was kommt denn nun als Nächstes? Immer wieder torpediert er die Aufnahmen oder bricht sie auch einfach ab. Roggon muss auf Zack sein, um nicht die Kontrolle über den Film vollends abzugeben oder gar von Schneider vorgeführt zu werden. Wie zu einem Ruhepol kehrt hier der Film wiederholt zu dem gesetzten Interview zurück, in dem Roggon scheinbar über Stunden versucht, an Schneiders Kern zu kratzen, und verleiht ihm damit die Ernsthaftigkeit, die ihm in den theaterhaften und klamaukigen Szenen fehlt.

Spannend sind vor allem die wenigen beobachtenden Momente des Films, in denen Schneider mit anderen Menschen zusammenarbeitet: Mit den Kollegen am Filmset von „00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse“ oder zu Hause, bei der Besprechung der bald erscheinenden CD. Hier muss er mit Menschen kommunizieren, die nicht Teil dieser besonderen Verbindung zwischen Protagonist und Regisseurin sind. Menschen, mit denen er aus Gründen der Professionalität keine Spielchen treiben kann. Wir bekommen eine Vorstellung davon, wie Schneider funktioniert, wenn er arbeitet oder wie es ist, ein konstruktives Gespräch mit ihm zu führen. Doch wer behauptet denn, dass die Momente der klar markierten Inszenierung, mit Kostüm und Trompete weniger für die Arbeit und die Kraft des Schaffens von Helge Schneider stehen als die beobachteten? Schließlich sehen wir auch da, wie sein Gehirn auf Hochtouren an Ideen arbeitet, wie Aktionen geplant und wieder verworfen werden und mit welchem Nachdruck er seine Vorstellungen umsetzen will.

Wie wahrhaftig ist also ein Portrait über jemanden, der stets versucht, die Kontrolle über dieses Machwerk zu behalten und seine eigene Show daraus zu machen? Ist das, was wir über Schneider sehen, weniger authentisch nur weil er sich der Kamera stets bewusst ist oder sie für seine Zwecke nutzt? Der Film beantwortet zwar nicht die klassischen Fragen über einen Künstler, wie es eine Biographie tut. Auch verlangt er von seinem Zuschauer gewisse Vorkenntnisse über Schneider, um die Filmsituationen richtig einordnen zu können. Doch liefert er ein spannendes Bild von dem Portraitierten, regt zum Nachdenken über den Entstehungsprozess dieses Dokumentarfilms an und vergisst darüber nicht, eins zu sein: Sehr kurzweilig und unterhaltsam.

Shilik, Maria: Der Unabomber revisited: Über „Spuren eines Unsichtbaren“ von Stefan Preis, 22.07.2015

Besprochen von Maria Shilik

  • PREIS, Stefan: Spuren eines Unsichtbaren – Der Fall Kaczynski als Bibliotheksphänomen betrachtet. Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2015.

Wenn Terror Menschenleben fordert, bemühen sich Medien, Aufklärungsorgane und Polizei um schnelle, plausible Erklärungen und Motive für die Vorkommnisse: Teils um die Sensationslust der Menschen zu befriedigen und damit mehr Öffentlichkeit zu erreichen, teils um weitere Gewalt zu verhindern, vielleicht aber auch um weitere Spekulationen und Nachforschungen zu stoppen. Nach der Auflösung des Rätsels hinter dem sogenannten ‚Unabomber‘, der zwischen 1978 und 1995 mehrere Anschläge mit insgesamt drei Toten und 23 Verletzten in den USA verübt hatte, begnügten sich die Ermittler damit, den Täter Theodore Kaczynski zunächst nur als einen einsamen Menschen mit emotionalen Problemen zu beschreiben. Jedoch war Kaczynski ein hochbegabter, ehemaliger Mathematikprofessor, der sich in den 1970er Jahren zurückzog, um allein in einer Blockhütte im Wald zu leben. Er gehörte mit seinen Taten keiner Gruppierung oder Bewegung an, hatte aber durchaus seine eigene politische Motive, die er 1995 in einem ,Manifest‘ veröffentlichte.

Um den Terroristen Kaczynski richtig einordnen zu können, ist die genaue Lektüre seines ,Manifests‘ unvermeidbar, gibt erst diese doch den wesentlichen Aufschluss über seine Motive, meint Kriminologe Stefan Preis. In seiner Arbeit Spuren eines Unsichtbaren – Der Fall Kaczynski als Bibliotheksphänomen betrachtet, unternimmt er den Versuch, den Attentäter als Leser und Autor zu begreifen, indem er dessen ,Manifest‘ auf zeitgenössische kulturelle Strömungen und auf den Einfluss von anderen theoretischen Schriften untersucht. Auf diese Weise verbindet die Arbeit die unterschiedlichen Disziplinen der Kriminologie, Philosophie und Literaturwissenschaft.

Laut seines ,Manifests‘ war es ein wesentliches Ziel von Kaczynski, einer vollkommen technologieunabhängigen Gesellschaft näher zu kommen. Die Menschen sollten nicht länger als Sklaven einer Technokratie und als unmündige Bürger leben, sondern zur Freiheit und zur Natur zurückkehren. Deshalb richteten sich seine Taten gegen Computer- und IT-Wissenschaftler an Universitäten und auch gegen Fluglinien. Preis versucht zu erkunden, wie Kaczynski zu solchen Ansichten gekommen ist. Dazu bespricht er in kurzen Kapiteln, die leider nicht immer schlüssig miteinander verknüpft sind, welche theoretischen Strömungen und einzelnen Ideen Kaczynski beeinflusst haben könnten: Er nennt dabei Autoren der Frankfurter Schule ebenso wie Autoren des Kulturpessimismus sowie Aktivisten der Gegenkultur. Preis weist insbesondere darauf hin, dass Kaczynskis Ideen wesentlich durch Nietzsches Anarchie-Vorstellungen geprägt sind. Leider unternimmt er einige thematische Exkurse an solch unpassenden Stellen, dass sie damit den roten Faden und die Herleitung des Themas unterbrechen. So wird beispielsweise im ersten Kapitel, bei der Erläuterung von Kaczynskis Biografie, noch bevor diese zu Ende ausgeführt wird, ein Zwischenkapitel über Nietzsches Einfluss auf einen Roman eingebaut, der Kaczynski geprägt haben soll. Im Weiteren geht Preis wieder auf Kaczynskis Lebensweg ein. Eine Zusammenführung der Argumente, die für Nietzsches generellen Einfluss auf Kaczynskis Ideen und sein ,Manifest‘ sprechen, hätte der Arbeit gut getan. Insgesamt beschleicht einen beim Lesen immerzu das Gefühl der Unübersichtlichkeit der Argumente.

Gleichzeitig werden weitere Argumente und Zusammenhänge viel zu lose in den Raum gestellt. Das vierte Kapitel ordnet Kaczynskis Aktivitäten in eine technologie-skeptische kulturelle Strömung der 1970er Jahre ein, welche u.a. im dystopischen Hollywoodfilm ihren Ausdruck fand. Kaczynski selbst bezieht sich in seinem ,Manifest‘ nicht auf diese Welle des Hollywoodkinos, so dass diese Behauptung von Preis nicht belegt werden kann. Ob Kaczynski von diesen Filmen wirklich beeinflusst wurde, bleibt eine nicht nachvollziehbare Spekulation.

Wie Stefan Preis selbst behauptet, reicht die bloße Lektüre radikaler Schriften noch nicht, um gewalttätig zu werden. Wenn es so wäre, wäre jeder Leser ein potenzieller Terrorist. Leider schafft es seine Arbeit aber nicht, zu erklären wie Kaczynski von einem Menschen in der Bibliothek zu einem radikalen Terroristen werden konnte, womit die finale Erklärung seiner Taten noch immer aussteht.

„Lilting“ – Die Grenzen der Kommunikation

Besprochen von Anne Brauer

  • Lilting, Regie: Hong Khaou, Produktion: UK 2014, Laufzeit: 86 Minuten.

Manchmal lässt sich mehr sagen, indem nichts gesagt wird, oder, wie im Fall von „Lilting“, vieles nur in Andeutungen geschieht. Der mehrfach nominierte Film erzählt die Geschichte von Junn (Cheng Pei-pei), einer chinesisch-kambodschanischen Rentnerin. Vor vielen Jahren ist sie mit ihrer Familie nach England gezogen, um ihrem Sohn Kai (Andrew Leung) bessere Chancen zu bieten. Nach dem Tod ihres Mannes wird Kai ihr einziger Bezugspunkt, da sie sich auch nach all den Jahren in der Fremde weigert, Englisch zu lernen. Inzwischen lebt sie in einem Altersheim, was sie ihrem Sohn zum Vorwurf macht.

Kai würde sie zwar gerne zu sich holen, doch wohnt er mit seinem Freund Richard (Ben Wishaw) zusammen. Seine Mutter kennt Richard nur als Kais Mitbewohner, denn von seiner Homosexualität und Beziehung zu Richard hat Kai ihr aus Angst vor ihrer Reaktion nicht erzählt. Als Kai bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, ist Junn irritiert, als Richard sie besucht und ungewöhnlich tief von Kais Tod getroffen zu sein scheint. Um die Sprachbarriere zu überwinden und Junn eine Freude zu machen, engagiert Richard eine junge Übersetzerin (Naomi Christie). Vann ermöglicht es erstmals, dass Junn sich mit ihrem Verehrer Alan (Peter Bowles), einem weiteren Bewohner des Altersheims, austauschen kann. Doch es stellt sich heraus, dass gerade die Möglichkeit, miteinander zu sprechen, die Beziehung zerstört. Und auch als Richard Junn anbietet, zu ihm zu ziehen, reagiert die alte Dame ablehnend.

Der Film setzt verschiedene Kunstgriffe ein, wie zu wie Szenen erst teilweise, und später vollständig oder aus einer anderen Perspektive zu zeigen. Die Anfangsszene, in der Kai seine Mutter das letzte Mal besucht, wird später noch einmal gezeigt – diesmal aber mit Kais deutlichem Zögern, seiner Mutter von seiner Beziehung zu Richard zu erzählen. In einer surrealen Szene werden, während die Kamera durch den Raum schwenkt, nacheinander die Paare Kai und Richard, Junn und Alan, Richard und Vann, und Junn und Kai beim Tanzen gezeigt. Da sie aus der Handlung herausgenommen ist, wirkt sie allerdings auch befremdlich. Trotz der melancholischen Grundstimmung hat der Film auch lustige Züge: Richard arrangiert ein Rendezvous für Alan und Junn. Während die beiden Turteltauben ihr Essen genießen, überlegen Richard und Vann in der Küche unter amüsiertem Kichern, was für Unanständigkeiten sich die beiden Alten wohl erzählen.

Es ist ein langsamer, leiser Film über Kommunikation und ihre Grenzen. Wenn Junn spricht, werden zumeist Untertitel eingeblendet, doch an einigen Stellen wird der Zuschauer, genauso wie Richard oder Alan, im Ungewissen gelassen. Der Höhepunkt des Films ist die Aussprache zwischen Junn und Richard, die ohne Dolmetscherin miteinander reden und ein Verständnis über die Sprache hinaus finden.

An einigen Stellen hätte mehr Hintergrund gegeben werden können. Es ist zum Beispiel schade, dass auf die Familiengeschichte Junns nicht eingegangen wird. Es wird lediglich erwähnt, dass sie vor 40 Jahren in Kambodscha gelebt hat und somit vermutlich vor dem Schreckensregime der Roten Khmer geflohen ist. Der Film behandelt, neben Kommunikation, viele weitere Themen, die aber oft nur angedeutet werden: Homosexualität, ‘coming out’, die Unvereinbarkeit von Kulturen, Tod, Verlust und die Schuld zwischen Eltern und Kindern. Der Film stimmt nachdenklich, und sein schwer nachvollziehbarer Titel „Lilting“ (aus dem Englischen: trällernd, im singenden Tonfall sprechend), der laut Regisseur auf die trällernden Qualitäten des Filmes verweist, deutet schon die teilweise kryptische Umsetzung der Handlung an.

Karl, Alexander: Erfolg in der Nische? Die Webserie „Hunting Season“ über schwules Großstadtleben, 7.11.2014

Männer haben es schwer im Fernsehen. Zumindest, wenn es sich um homosexuelle Männer handelt und deren Beziehungsleben dargestellt werden soll.

Auch wenn in deutschen Soaps wie „Lindenstraße“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ sowie in amerikanischen Serienhits wie „Six Feet Under“ oder „Glee“ homosexuelle Beziehungen von Männern existieren, wird die Körperlichkeit oftmals verhaltener dargestellt. Wo bei heterosexuellen Paaren ein Abschiedskuss ausgetauscht wird, ist es bei homosexuellen manchmal nur eine Umarmung. Ähnlich verhält es sich mit Sexszenen. Natürlich gibt es Ausnahmen: Die Showtime-Serie „Queer as Folk“ etwa, die Anfang der 2000er das Leben einer schwulen Männerclique abbilden wollte und dies oftmals explizit (und leicht bekleidet) tat. Mit der HBO-Serie „Looking“ folgte zuletzt ein thematisch ähnliches gelagertes TV-Projekt. Doch es scheint so, als wäre die Nische der männlichen Homosexualität zumindest fürs traditionelle Fernsehen zu klein, als dass eine Vielzahl von Formaten angeboten werden könnte.

Doch längst ist die lineare TV-Ausstrahlung mit entsprechenden Produktionen nicht mehr der einzige Weg, um bewegte Bilder mit bewegenden Geschichten an den Rezipienten zu bringen. Anbieter wie Netflix oder Amazon bieten nicht nur für das Fernsehen produzierte Formate zum Streamen an, sondern auch eigene Produktionen wie die Politikerserien „House of Cards“ (Netflix) und „Alpha House“ (Amazon). Darüber hinaus bevölkern das Internet aber auch Webserien, die unabhängig von den großen Onlineanbietern entwickelt und erstellt werden. Die Vorteile unabhängiger Produktionen sind klar: Kreativität und Freiheiten. Die Nachteile: Oftmals fehlende finanzielle Mittel für Produktion und Marketing. Könnte hier die Besetzung von Nischen eine Lösung sein? „Hunting Season“ lässt das vermuten. Die Webserie begleitet den schwulen New Yorker Alex durch sein Leben mit Kumpels und (Sex-) Dates; in der ersten Staffel wurde das alles verpackt in acht Episoden mit einer Länge von neun bis zwölf Minuten. Das Besondere: Die Episoden gibt es zwei Versionen – mit gepixelt und ungepixelt Nacktszenen. Während die gepixelte Version auf LogoTV.com veröffentlicht wurde und mittlerweile frei zugänglich ist, müssen die ungepixelten Episoden gekauft werden. 20,99 Dollar werden für die erste Staffel fällig, um die Schauspieler gänzlich im Adams Kostüm zu sehen.

Für die zweite Staffel wurde aber ein anderes Finanzierungsmodell gewählt – die Crowdfunding-Plattform Kickstarter. Bis zum 6. Dezember 2013 wurde dort Geld eingesammelt, wobei im Spendenaufruf die Beweggründe für diesen Schritt geschildert werden: „Jon Marcus, the creator of the show, paid for Season One out of his own savings, and then he borrowed the money to finish to [sic!] show. […] We made a successful licensing deal with the gay cable network Logo to launch season 1, but they were not able to find sponsorship to pay for more episodes. We have been knocking on doors for a year in the traditional, old-media financing style, but the time has come to embrace new models and we come to you on Kickstarter to ask for help.”

Dieser Hilferuf via Kickstarter war erfolgreich, die Unterstützer steuerten sogar mehr als die erbetenen 150.000 Dollar bei. Gleichzeitig wird aber auch deutlich: Webserien können in Nischen, die vielleicht zu eng für das traditionelle Fernsehen sind, erfolgreich ein Publikum ansprechen. Mehr noch: Das Publikum ist sogar bereit dazu, ein Format finanziell zu unterstützen. Dies trägt zur Diversifizierung des medialen Spektrums bei und ermöglicht gleichzeitig zielgruppenspezifische Produkte, die für das traditionelle Fernsehen aufgrund ihrer Thematik und expliziter Inhalte untauglich erscheinen. Denn so scheint sicher: Nicht in jedem Format umarmen sich homosexuelle Paare zum Abschied. In manchen Formaten dürfen sie sich sogar küssen.

 

Weitere Informationen zu „Hunting Season“ und weiteren Webserien bietet auch der WebserienBlog.

Dokumentarfilmisch arbeiten – Begleittext zum aufgezeichneten Vortrag des Dokumentarfilmers Christoph Hübner von Henrik Wehmeier, 19.05.2014

Christoph Hübner gilt als einer der stilprägendsten Dokumentaristen unserer Zeit, und zugleich als einer der Vordenker zur Theorie des Dokumentarfilms. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich in seinem Vortrag vom 19.05.2014 im Rahmen der Ringvorlesung „Medienkulturen des Dokumentarischen“ die autobiographische Werkschau wie von selbst mit Fragen zum Status quo des Dokumentarfilms vermischt.

Christoph Hübner, geboren 1948, erregte gleich mit seinem ersten Dokumentarfilm 1978 großes Aufsehen: Direkt nach seinem Studienabschluss ging er in das damals noch stigmatisierte Ruhrgebiet und begann, sich in den Alltag einer örtlichen Kleinstadt einzuleben und diesen filmisch festzuhalten. Diese Direktheit des Filmens blieb stilprägend für seine weiteren Arbeiten, etwa die zusammen mit Gabriele Voss realisierte achtteilige Dokumentation „Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“. 1980 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet besticht dieses biographische Interview durch seinen radikalen Ansatz: Ohne Schnitte besteht der Film lediglich aus einer einzigen Halbnahen-Einstellung auf Alfons S., der auf unnachahmliche Weise seine Lebensgeschichte – und damit zugleich die Geschichte Deutschlands – erzählt.

Und auch die folgenden Werke blieben experimentell. So konfrontierte er Briefe von Vincent van Gogh mit Aufnahmen aus einem Landwirtschaftsbetrieb („Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“) oder vermischte fiktionale wie dokumentarische Elemente („Anna Zeit Land“). Den vorzeitigen Höhepunkt dieser experimentellen Versuche stellt sein Film „Schnitte in Raum und Zeit“ dar. Gleichzeitig ließ ihn das Ruhrgebiet nie los, es entstanden die mehrteiligen „Emscher-Skizzen“ sowie eine (noch unvollendete) Fußballtriologie („Die Champions“, „HalbZeit – Vom Traum ins Leben“).

Neben diesen künstlerischen Tätigkeiten setzte er sich zugleich umfassend theoretisch mit dem Dokumentarfilm auseinander. So etwa als Dozent an der Filmklasse der Hochschule für Bildende Künste Hamburg (HfbK) oder zuletzt als Autor zusammen mit Gabriele Voss („Dokumentarisch arbeiten“, Berlin 1996.). Für das gleichnamige Projekt bat er zugleich über 13 Filmer wie Volker Koepp und Klaus Wildehahn vor die Kamera, um mit ihnen über ihre Arbeit sowie ihre Ansichten zum Dokumentarfilm zu sprechen. Der Vortrag „Dokumentarisch arbeiten“ stellt nun eine Art autobiographische Werkschau dar, die zugleich zeitgenössische, abstrakte Überlegungen zum Dokumentarfilm präsentiert:

Dokumentarfilmisch arbeiten – Aufgezeichneter Vortrag des Dokumentarfilmers Christoph Hübner, 19.05.2014

Galerie im Turm: Die Ästhetik des Widerstands

Besprochen von Leif Allendorf

Der vor gut drei Jahrzehnten verstorbene Peter Weiss ist der große Unzeitgemäße. Wenn man heute das Fernsehinterview mit dem Schriftsteller, Künstler und Filmemacher aus den 80er Jahren betrachtet, fühlt man sich in eine andere Welt versetzt. Die Vorstellung, mit Kunst die Gesellschaft zu verändern, ja der Gedanke, die Gesellschaft überhaupt verändern zu können, erscheint heute utopischer denn je.

Umso verdienstvoller, dass die Galerie im Turm im Juni und Juli diesen Jahres Weiss‘ Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ mit einer Ausstellung würdigt. Die Initiatorinnen Julia Lazarus und Moira Zoitl, deren Schau bereits im Februar in Wien zu sehen war, wollen die dem Roman zugrunde liegenden Themen nach eigenen Angaben „in der Gegenwart neu verorten und der Frage nachgehen, inwieweit die in Peter Weiss‘ aufgestellten Thesen für das künstlerische und das politische Feld auch heute noch Gültigkeit haben“. Dazu wurden Künstler, die sich bereits mit dem Werk des Schriftstellers beschäftigt haben, eingeladen, einen Beitrag zu gestalten.

Die Räumlichkeiten der Galerie im Turm am Frankfurter Tor im Berliner Stadtteil Friedrichshain sind eher übersichtlich. Die meisten Bildwerke sind grafischer Natur: ein Jugendlicher mit Zwille, eine imaginäre Weltkarte mit Bedeutungsorten, ein Diagramm der „Ersten globalen Friedensdemonstration“ von 2003. In Filmbeiträgen werden Performances dokumentiert wie Hubert Lobnings „Die Baustelle“ von 2013, wo Arbeiter in prekären Beschäftigungsverhältnissen, meist Flüchtlinge mit ungesichertem Status, weithin sichtbar riesige Holzbohlen durch die Wiener Innenstadt trugen.

Das Begleitprogramm der Ausstellung ist beeindruckend: Workshops, öffentliche Leseproben, Ortsbegehungen im Pergamon-Altar und eine Führung durch die Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit Hans Coppi, dem Sohn eines der von den Nazis ermordeten kommunistischen Widerstandskämpfer, der in Weiss‘ Roman eine zentrale Rolle spielt. Weniger überzeugend sind die künstlerischen Arbeiten selbst. Verglichen mit der titanischen Arbeit an seiner – von den Kritikern fast durchweg angefeindeten – Romantrilogie des Peter Weiss ist eine heutige Performance nur ein schwacher Abklatsch. Peter Weiss selbst hatte eine Aktion des Pariser Künstlers Jean Tinguely als „Jahrmarktsscherz“ kritisiert, in der eine Parade von lärmenden Blechwagen durch die französische Hauptstadt paradierte.

Die Ästhetik des Widerstands. 13. Juni – 23. Juli 2014. Galerie im Turm, Frankfurter Tor 1, 10234 Berlin.

Verbrecher und Menschenkenner zugleich

Besprochenvon Andrea Hajnalka Meisel

  • Köhlmeier, Michael: Die Abenteuer des Joel Spazierer. München: Hanser, 656 S., 24,90 €.

In Michael Köhlmeiers Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ durchreist der Hochstapler András Fülöp, der sich Joel Spazierer nennt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Länder Mitteleuropas. Seine Reise, die in Ungarn beginnt, führt ihn über Österreich, Deutschland bis nach Mexiko und wieder zurück ins heimische Wien. Dabei entpuppt er sich mehr und mehr als skrupelloser Betrüger, Manipulator, Hochstapler und Mörder, während der Leser gleichzeitig über seine eigene Sympathie mit dem Helden staunt.

Als die Großmutter vom kommunistischen Geheimdienst Ungarns verhaftet wird, bleibt der vierjährige Protagonist allein in der Wohnung zurück. Er ernährt sich von den Vorräten in der Wohnung. Die Tiere auf seinem bestickten Kissen werden in seiner Phantasie zu realen Personen, mit deren Hilfe das Kind die Einsamkeit übersteht. Seitdem klafft eine Lücke zwischen seiner Wahrnehmung und der seiner Mitmenschen.

Als der Junge später selber verhört wird, antwortet er nur mit „Ja“, „Nein“ und „Weiß nicht“. Es ist eine Frage-Antwort-Technik, mit der er erfolgreich falsches Spiel treibt. So lernt er schon im Kindesalter, wie man Menschen manipuliert. Die Familie flieht schließlich vor dem Regime nach Österreich, wo sich der inzwischen Neunjährige erfolgreich prostituiert.
Er wird von einem ungarischen Geheimdienstler entführt, der ihn künftig als seinen Sohn ausgibt und als solchen behandelt. Er lernt Ausweise zu fälschen und seine Identität zu verändern. Der Geheimdienstoffizier setzt sich ab und lässt das Kind zurück, woraufhin András einen obdachlosen desertierten Soldaten der US-Armee trifft. Mit diesem tut er sich zusammen, lebt im Wald und sichert das Überleben durch Hauseinbrüche und Raubüberfälle. Ihre gemeinsame Wanderschaft führt nach Österreich, wo András wieder zu dem Schoß seiner Familie zurückkehrt.
Zurück in Wien sucht er die Freundschaft eines reichen Mitschülers. Beim Einbruch in dessen Haus, wird er gestellt. Zum ersten Mal gelingt es ihm nicht seine Mitmenschen zu manipulieren und er wird verurteilt. Im Gefängnis ersticht er seinen vormaligen Beschützer, schiebt den Mord dessen Rivalen in die Schuhe und sichert so für den Rest seiner Haft eine gewisse Machtposition.
Aus der Haft entlassen trifft er auf Janna, einer Drogenabhängigen, die er vergeblich zu retten versucht. Nach dem Einzelversuch einen Mitmenschen zu helfen, führt er weiterhin ein wechselhaft-erfolgreiches Leben als Trickbetrüger, bis ein Schriftsteller ihm freies Wohnen anbietet unter der Bedingung, dass er seine Lebensgeschichte aufschreibt.
Nach und nach versteht der Leser, dass es dem alten, zur Ruhe gekommenen Erzähler nicht darum geht, seine Taten retrospektiv als verwerflich zu erklären. Es ist nicht seine Absicht, sich von seiner Schuld freizusprechen, sondern einzig und allein Regeln menschlichen Sozialverhaltens zu verstehen, diese imitieren zu können und die Moral als willkürliche Wahrheit zu klassifizieren. Seinen Höhepunkt erfährt diese Imitation, als sich Joel Spazierer durch die Lektüre von Ernst Thälmanns Biographie erfolgreich als sein rechtmäßiger Enkel ausgibt und dem politischen Kader der DDR eine Biographie vorgaukelt, die ihm eine Karriere als Professor für wissenschaftlichen Atheismus an der Humboldt-Universität verschafft. Ein gesichertes Einkommen, einen hochkarätiger Freundeskreis und zwei Familien fügen sich wie nebenbei auch in diese Logik.

Obwohl sich der Held geistig nicht entwickelt, sondern bis zum Schluss kompromisslos seine Interessen durchsetzt, so leidet er auch doch selbst unter den Konsequenzen seines Lügenlebens. Während sich der Schelm des Picaroromans seines Erfolgs sicher sein kann, ist das Scheitern ein wichtiges Element im Lebenslauf Joel Spazierers. Immer wieder holt ihn seine Vergangenheit ein, zwingt ihn dazu, alles aufzugeben und eine neue Existenz an einem anderen Ort aufzubauen.
Michael Köhlmeier bricht mit den Traditionen des Schelmenromans, indem er seinen Held nicht nur als augenzwinkernden Kritiker der Gesellschaft beschreibt, sondern auch als gescheiterte Existenz, die sich am Ende fragen lassen muss, was ihm dieses Wissen über die Funktionsweisen des Menschen nützt. Mit allen menschlichen Wünschen, Bedürfnissen, Abtrünnigkeiten und Scheinheiligkeiten vertraut, ist er fähig, das Verhalten seiner Mitmenschen berechnen und vorhersehen zu können. Dies hat aber nichts mit tiefem gegenseitigem Verständnis und mit Nähe zu tun. Es ist das völlige Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen, das in der Psychologie als psychopathisch bezeichnet. Joel Spazierers einziges erklärtes Ziel ist das Hier und Jetzt ist, er hat keine langfristigen Ziele. Sein Lebensmotto ist „unnütz zu sein wie eine Lilie auf dem Felde“. So bleibt der Leser am Ende des Romans mit einem merkwürdig leeren Gefühl zurück. Fraglich ist auch, warum der österreichische Erzähler den Erfolg von Joel Spazierers Täuschungskunst gerade in der DDR als besonders erfolgreich inszeniert.
Die Geschichte von Joel Spazierer ist streckenweise lang, zu lang. Vermutlich ist dies dem Glauben des Erzählers geschuldet, dass „unwichtige Details“ die Glaubwürdigkeit einer Biographie erhöhen. Nur leider hat es den unerwünschten Effekt, dass der Leser zuweilen das Ende des Romans herbeisehnt. Dennoch gelingt es Köhlmeier mit kaltblütiger Präzision die Tricks und Finessen eines erfolgreichen Gauners zu beschreiben, was das Lesen zu einem genüsslichen Erlebnis werden lässt.

Im Gespräch mit der Trauer

Besprochen von Andrea Hajnalka Meisel

  • Barbara Pachl-Eberhart: Vier minus drei. Wie ich nach dem Verlust meiner Familie zu neuem Leben fand. München: Heyne, 351 S., 8,99 €.

Welchen Sinn hat es, wenn zwei Kleinkinder mit Ihrem Vater von einem Zug überrollt werden und tödlich verunglücken? Der tragische Unfall einer Familie in Österreich aus dem Jahr 2008 ging auch durch die deutschen Medien. Es ist nicht nur das Unglück, das die einzige Überlebende der Familie, die Mutter, prominent werden ließ. Es ist ihr Mut, sich diesem Schicksal zu stellen, ihr Glaube an die Sinnhaftigkeit dieser Tragik und ihre Hoffnung auf eine glückliche Zukunft auch nach dem Verlust ihrer Familie. Über die Zeit nach dem tödlichen Unfall berichtet Barbara Pachl-Eberhart in ihrem autobiografischen Buch Vier minus drei.
Die Autorin erzählt zunächst in chronologischer Reihenfolge ihre Erlebnisse und streut einige Erinnerungen an gemeinsame glückliche Augenblicke als Familie mit ein. Sie selbst arbeitet zu dieser Zeit als Clown in einem Kinderkrankenhaus. Eines Tages, bei einem alltäglichen Einkauf im Supermarkt, erfährt sie über das Telefon von dem Unfall. Ihr Ehemann Helmut ist sofort tot. Auch die Kinder überleben ihre lebensgefährlichen Verletzungen nicht. Allerdings bekommt die Mutter die Möglichkeit, in den letzten Lebenstagen der Kinder Abschied zu nehmen und gewinnt in dieser Zeit die Zuversicht, dass ihre Seelen weiterleben.
Während eines Waldspazierganges nach dem Unfall verspürt die Autorin eine große Fröhlichkeit bei dem Gedanken an ihre Tochter Fini. Nach der Rückkehr in das Krankenhaus ist ihre Tochter bereits tot. Sie stellt sich den Tod daher als fröhlichen Übergang in eine unvergängliche Welt vor und malt sich ihre verstorbene Familie als glückliche Engel aus, die auf Wolken sitzen und ihr von Ferne zuschauen. Aber auch andere spirituelle Gesichtspunkte regen zum Nachdenken an. Alltägliche Vorkommnisse, wie z.B. das Grafitti „Sei mutig!“ am Ort des Unglücks interpretiert sie als Zuspruch ihres verstorbenen Ehemannes.
Warum die Autobiographie dennoch nicht zu einem der zahlreichen esoterischen Bücher verkommt, ist, weil die Autorin selber die eigenen Zweifel nicht verdrängt. Auch sie wägt innerlich ab zwischen den Argumenten für und gegen den Glauben. „Die Stimme in meinem Kopf ist manchmal sehr kritisch. Sie will es genau wissen.“ Und sie ist sich nicht immer sicher, dass sie mit einem Wiedersehen nach dem Tod rechnen darf. Sie glaubt daran, weil sie daran glauben will. Und es ist auch letztendlich Mut, sich der Verzweiflung nicht zu überlassen.

Sprache heilt

Obgleich die Geschichte von Barbara Pachl-Eberhart sprachlich schlicht gehalten ist, so ist sie allerdings ein erstaunliches Zeugnis vom therapeutischen Potenzial von Sprache. Es gibt dem Leser einen inspirierenden Einblick in die Möglichkeiten des Sprechens auch in Extremsituationen, in denen scheinbar nur noch Sprachlosigkeit existieren kann. So richtet die Autorin kurz nach dem Unglück einen offenen Brief an ihre Mitmenschen. Sie schreibt in ihrem Tagebuch Nachrichten an ihre verstorbenen Angehörigen. Sie formuliert einen Brief an den Schaffner derjenigen Eisenbahn, die ihre Familie umgebracht hat. Und sie begibt sich in Gesprächstherapien. All dieses Sprechen ermöglicht letztlich die Hoffnung nicht aus den Augen und Herzen zu verlieren.
Aber auch sie braucht nach dem Unglück eine Zeit des Schweigens und der Zurückgezogenheit. Dennoch bekommt sie durch diese Formen des Sprechens ein sensibles Bewusstsein für den Prozess der eigenen Trauer. Sie nimmt dabei die zahlreichen Tabus wahr, die im Kontext von Tod existieren. So wird ihre ausgefallene Idee, die Beerdigung als fröhliches „Seelenfest“ zu begehen und dabei farbige Kleidung zu tragen von einigen Nachbarn kritisch kommentiert. Durch das Schreiben und Reden über die eigene Trauer schafft sie es aber ihre eigenen Bedürfnisse zu respektieren und Tabus zu überschreiten. Daher lässt sie es sich auch nicht nehmen, ihren Sohn in Gegenwart von ihren Clownkollegen und bei fröhlicher Musik in den Tod zu begleiten.
Barbara Pachl-Eberhart versteht den Schicksalsschlag zwar als herbe Zumutung, akzeptiert ihn aber auch im Vertrauen darauf, dass er zu ihr gehöre. So trägt sie das, was sie erlebt hat, „wie einen würdigen, ehrenvollen Mantel“, der ihr angezogen wurde. Und sie träumt von einer Welt, „in der jede Form der Trauer“ als königlich geachtet wird. Das Buch ist empfehlenswert für alle, die sich mit der Frage „Wie kann Gott so viel Leid zulassen?“ auseinandersetzen und auch für diejenigen, die die Kraft zur Lebensbejahung nach einem Schicksalsschlag wiederfinden möchten.