We don’t let the memory freeze. „Unfreeze“. Ein Film über das Kunstprojekt ‚Social Bookmarking‘ in Hamburg.

von Maria Kotylevskaja, Stefanie Schulz und Xin Tong

Unfreeze beschäftigt sich mit dem Kunstprojekt ‚Social Bookmarking‘, das sich mit partizipativen Erinnerungsformen befasst und an eine fast vergessene Geschichte erinnern will: an die chinesischen Zwangsarbeiter im nationalsozialistischen Hamburg und ein verlorenes Chinatown mitten in St. Pauli.

Unfreeze, D 2016, Regie und Konzeption: Maria Kotylevskaja, Stefanie Schulz und Xin Tong, Kamera: Maria Kotylevskaja, Schnitt: Stefanie Schulz, Xin Tong und Maria Kotylevskaja, Ton: Stefanie Schulz, Organisation und Übersetzung: Xin Tong, Mit: Dagmar Rauwald: Deutsche Künstlerin und Organisatorin des Projekts, Noga Stiassny: Mitorganisatorin, Ding Liu: Chinesischer Künstler. Laufzeit: 7:37 min.

Künstler und Künstlerinnen aus Deutschland und China schlossen sich zusammen, um vom 25.11.- 27.11.2016 im Rahmen unterschiedlicher künstlerischer Projekte an die Verbrechen der Nationalsozialisten an chinesischen Migranten in Hamburg St. Pauli zu erinnern.

Es wurde ein Ausstellung im Gängeviertel zu dem Thema organisiert und eine Installation direkt an der Schmuckstraße sowie andere Aktionen durchgeführt: eine Tanzperformance, ein chinesisches Essritual und eine geschichtsorientierte Diskussionsrunde am letzten Tag.

Der Film befasst sich vor allem mit der Aktion des chinesischen Künstlers Liu Ding an dem Platz des ehemaligen Arbeitslagers “Langer Morgen“ in Wilhelmsburg. Liu Ding ist ein in China bekannter Künstler, der sich unterschiedlicher Medien bedient, um seine Ideen zu vermitteln. Auf Einladung der Organisatorin und Künstlerin Dagmar Rauwald, wählte er eine partizipative Form, in der die Menschen selbst Teil der Performance wurden. Unter dem Namen ‚Social Bookmarking‘ entsteht ein Projekt, das einen historischen Ort und dessen Bedeutung in Verbindung setzt mit einem lebendigen kulturellen Austausch. Das Lesezeichen aus dem virtuellen Raum wird so auf den analogen Stadtraum übertragen und durch eine künstlerische Setzung durch die Teilnehmer realisiert.

Weitere Informationen zum Projekt ‚Social Bookmarking‘ gibt es auf der Webseite des Gängeviertels.

„Rehumanize refugees“. Regisseur Michael Graversen im Interview über seinen Film „Dreaming of Denmark“, 04.11.2016

von Hannah Doll, Gesa Hinterlang und Naika König

Bei den 58. Nordischen Filmtagen in Lübeck (02.-06.11.2016) wurde unter anderem der Dokumentarfilm Dreaming of Denmark (2015) von Michael Graversen gezeigt. Für die Verwirklichung seines Dokumentarfilms folgte Graversen dreieinhalb Jahre lang dem Leben des afghanischen Flüchtlings Wasiullah. Der Film wurde unter anderem mit dem Amnesty Award des Giffoni International Film Festivals ausgezeichnet.
Hannah Doll, Gesa Hinterlang und Naika König haben Michael Graversen am 04.11.2016 interviewt.

Dreaming of Denmark (Drømmen om Danmark), DK 2015,
Regie: Michael Graversen, Kamera: Michael Graversen, Schnitt: Rebekka Jørgensen und Sofie Steenberger, Ton: Raoul Brand, Produktionsfirma: Klassefilm v/ Lise Saxtrup, Laufzeit: 62 min.

Zur Filmhandlung: Wasiullah floh mit 15 Jahren alleine aus Afghanistan und verbrachte die Zeit bis zu seiner Volljährigkeit in einem Asylcenter für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Dänemark. Dort lernte Graversen den Jungen beim Dreh seines Dokumentarfilms No Man’s Land (2013) kennen. Graversen wird von Wasiullah kontaktiert, als dessen Asylantrag abgelehnt wird und ihm mit Vollendung seines 18. Lebensjahres die Abschiebung droht. Er entschließt sich nach Italien zu fliehen um dort eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen – immer mit dem Ziel am Ende in seine neue Heimat Dänemark zurückkehren zu können.

Hißnauer, Christian: Episodischer Variationsreichtum: Innovative Krimiserien abseits des ‚Quality TV‘, 18.08.2016

Episodischer Variationsreichtum: Innovative Krimiserien abseits des ‚Quality-TV‘.
Boomtown, Motive, Accused, Countdown und Krimiprinzipien jenseits ‚klassischer‘ Whodunit– und Howcatchem-Dramaturgien

Christian Hißnauer[1]

Der Mörder war wieder der Gärtner
Und der plant schon den nächsten Coup
Der Mörder ist immer der Gärtner
Und der schlägt erbarmungslos zu

Reinhard Mey: Der Mörder ist immer der Gärtner (1971)

Die Originalität liegt in anderem. Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau.
Bertolt Brecht[2]

Auch abseits des vielgerühmten, zuweilen überbewerteten, ‚Quality-TV‘ finden sich innovative – zumindest unkonventionelle – Serienproduktionen; oft übersehen und unterschätzt.[3] Das gilt auch für den immer noch (bzw. immer wieder) boomenden Bereich der Krimiserien.

Hansen, Frank-Peter: Einstein liest Nietzsche, 28.09.2015

Einstein liest Nietzsche … Bitte?! Die Nietzschephilologen und -forscher greifen sich an den Kopf. Worauf soll das hier hinaus?, mögen sie sich fragen. Das Inkom­mensurable kommensurabel zu machen, mag in der Mathematik ja noch hin­gehen. Wenngleich … Doch das steht auf einem anderen Blatt. Aber wenn behauptet wird, der Genius der theoretischen Physik habe den unzeitge­mäßen Kul­tur- und Geschichtskritiker auch nur flüchtig zur Kenntnis genom­men, sich gar ernsthaft mit ihm beschäftigt … Also nein! Wir lassen uns doch nicht verhoh­nepiepeln, und das geht entschieden zu weit! Unwilliges Kopf- und selbst Fäus­teschütteln macht sich breit. Unverhohlen ärgerliches Gemurmel er­füllt den Raum. Der Sturm der Entrüstung ist kurz davor loszu­brechen.

Gemach, liebe Freunde. Was folgt, ist ein Scherz, aber ein ernster. Ja, es mag schon so sein, dass der erzgescheite Südwestdeutsche nie auch nur einen Blick in das hy­persensible Schriftgut des gebürtigen Sachsen geworfen hat. Insofern ist das, was folgt, nichts weiter als Dichtung. Dass die fingierte Rahmenhand­lung aber in ihrem innersten Kern mehr als lediglich ein Körnchen Wahrheit beinhaltet, das zu be­haupten habe ich die Stirn. Denn ansonsten hätte ich mich, so dreist bin ich denn doch nicht, nie getraut, mit dem Nachfolgenden den öf­fentlichen Raum zu betre­ten und mich dem strengen Urteil der Fachwelt auszu­setzen. Welche Versicherung, ich weiß, lediglich eine petitio principii ist.

Behaupten lässt sich Vieles. Dem kombinatorischen Einfallsreichtum sind keine oder fast keine Grenzen gesetzt. Credo, quia absurdum?! Nein, so denn doch nicht. Bleiben wir halbwegs seriös. Es muss vielmehr so lauten: credo ut in­tellegam. Des­wegen bitte ich um die Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. Der Leser schlucke fürs Erste seinen Ärger hinunter. Er konzentriere sich auf das, was kommen wird. Er folge mir an der Seite des sanftmütig Blickenden in ein Ber­liner Kaffeehaus zu Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Als sich bereits abzuzeichnen begann, dass nicht nur seines Bleibens in der Noch-Republik Ziel und Grenze gesetzt war. Man leiste mir Gesellschaft an einem Nachbartisch und beobachte, un­ter meiner Führung, was sich zu ereignen im Begriffe steht. Ich werde Ein­blicke gewähren in den Gedankenhaushalt Des­jenigen, der sich gleich, wie es seine Art ist, in einen Zustand der geistig-intel­lektuellen Entrückung verabschieden wird.

Er hat Platz genommen. Tun wir es ihm gleich. Geben auch wir un­sere Be­stellung auf. Da! Der entscheidende Moment ist gekommen. Er zückt den Schmöker, den er soeben in einer am Gen­darmenmarkt gelegenen traditions­reichen Buchhandlung erstanden hat, aus der Seitentasche seines Mantels, den er achtlos über die jugendstilverschnörkelte Lehne des Nachbarstuhls geworfen hat. Er be­dankt sich artig für den gereichten Mocca bei der ihn freundlich anlä­chelnden weib­lichen Bedienung.

Schlägt die erste Seite auf und beginnt mit seiner Lektüre …

Damit ein Ereignis Größe habe, muß zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben. An sich hat kein Ereignis Größe. Es kommt aber auch vor, daß ein gewaltiger Mensch einen Streich führt, der an einem harten Gestein wirkungslos niedersinkt; ein kurzer scharfer Widerhall, und alles ist vorbei. Die Geschichte weiß auch von solchen gleichsam abgestumpften Ereignissen beinahe nichts zu melden. So überschleicht einen jeden, welcher ein Ereignis herankommen sieht, die Sorge, ob die, welche es erleben, seiner würdig sein werden. Auf dieses Sich-Entspre­chen von Tat und Empfänglichkeit rechnet und zielt man immer, wenn man han­delt, im kleinsten wie im größten; und der, welcher geben will, muß zusehen, dass er die Nehmer findet, die dem Sinne seiner Gabe genugtun. Eben deshalb hat auch die einzelne Tat eines selbst großen Menschen keine Größe, wenn sie kurz, stumpf und unfrucht­bar ist; denn in dem Augenblicke, wo er sie tat, muß ihm jedenfalls die tiefe Einsicht gefehlt ha­ben, dass sie gerade jetzt notwendig sei: er hatte nicht scharf genug gezielt, die Zeit nicht bestimmt genug erkannt und gewählt: der Zufall war Herr über ihn geworden, während groß sein und den Blick für die Notwendigkeit haben streng zusammengehört.

Er sieht auf und fährt sich mit der Hand über die Stirn. Sein Blick verliert sich im Un­gefähren. Das Stimmengewirr, das die Räumlichkeiten des gut besuchten Kaf­fee­hauses erfüllt, dringt kaum bis an die Schwelle seines Bewusstseins vor. Denn der, der das Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben hatte, musste dabei an ihn gedacht haben. Oder an seinesgleichen. Obgleich … So ganz stimmte das nicht, oder traf jedenfalls nicht auf ihn und seine Situation zu Beginn dieses Jahrhunderts zu.

Denn ja, sein Sinn war groß gewesen, als ihm der entscheidende Einfall ge­kommen war, dass der Grund zum Newtonschen Gedankengebäude eine Schicht tiefer ge­legt werden müsse. Die terrestrische hatte durch eine Physik mit univer­salem An­spruch ersetzt zu werden. Paradoxerweise dadurch, dass die Absolut­heit der Zeit und des Raumes aufgehoben werden mussten. Alles eine Frage der Geschwin­digkeit und ihres absoluten Grenzwertes, an dem die Zeit stillstand und der Raum seiner Ausdehnung verlustig ging. Die Lichtgeschwin­digkeit im Vakuum ist unab­hängig vom Bewegungszustand des emittierenden Körpers. Über sie gibt es kein Hinaus und folglich nichts zu addieren. Absurd das alles, aber die einzige phy­sikalisch logische Konsequenz. Messgenauigkeit, die gerade dadurch zustande kam und je­derzeit – er muss schmunzeln – herzu­stellen war, dass Raum und Zeit zu Ver­änderlichen, Variablen herabgesetzt wurden. Eine absolute Gleichzeitigkeit für alle Inertialsysteme gibt es nicht. Jedes System be­sitzt eine Eigenzeit, die von der eines relativ zu ihm bewegten Systems verschie­den ist.

Wenn er sich nicht intensiv mit den schier unglaublichen Einsichten des Mitbe­gründers der neuen Physik, der auch sein Scherflein zur Grundlegung der Ana­lysis beigetragen hatte, auseinandergesetzt hätte, er wäre nie auf die Lücke in dessen Ab­leitungen gestoßen, die zu schließen sein Verdienst gewesen war. Und das heißt, dass die, die, im übertragenen Sinne gesprochen, nur Zeitungen lesen und wenn’s hoch geht, Bücher zeitgenössischer Autoren, sich wie hochgradig Kurzsichtige verhalten, die es ver­schmähen, Augengläser zu tragen. Sie sind ab­hängig von den Vorurteilen und Moden ihrer Zeit, denn sie bekommen nichts anderes zu sehen und zu hören. Und was einer, da gibt es nichts daran zu deu­teln, selbständig denkt ohne Anlehnen an das Denken und Erleben anderer, ist auch im besten Falle ziemlich ärmlich und monoton. Denn, da beißt in letzter Konsequenz die Maus keinen Faden ab, bei der Relativitätstheorie handelt es sich keineswegs um einen revolutionären Akt, sondern um eine natürliche Fort­entwicklung einer durch Jahrhunderte verfolg­baren Linie.

Was heißt schon groß? Oder anders gefragt, im Sinne des luziden Kulturkriti­kers, dessen frühe Schrift zu lesen er gerade begonnen hat, ist es tatsächlich angezeigt, dass zweierlei zusammenkommen muss, damit die vollbrachte revo­lutionäre Tat wirklich groß und bahnbrechend ist? Nein! Das muss es nicht. Denn sie bleibt ex­zeptionell selbst dann, wenn niemand, nicht einmal Physiker von Profession, sie als solche zu würdigen bereit, willens, oder ganz einfach nicht in der Lage sind. Weil ihnen der Sinn und die Sensibilität für die Durch­schlagskraft des ganz und gar un­geheuren Gedankens abgeht: nämlich festen Grund zu gewinnen dadurch, dass man die vermeintliche Stabilität zweier physi­kalischer Grundgrößen als abhängige Variable zu verstehen lernt. Diesen in sich widersprüchlichen und doch einzig kon­sequenten Gedanken in seiner ungeheu­ren Konsequenz nachzuvollziehen und zu begreifen, was das heißt, war eigent­lich bloß einer in der Lage gewesen. Aber an­sonsten hatte zunächst niemand aus der physikalischen Szene aufgemerkt oder sich zu Wort gemeldet. Alles schien beim Alten geblieben zu sein. Weil der Sinn derer, an deren Adres­se seine im Umfang unscheinbare kleine Schrift gerichtet war, eben nicht groß gewesen war.

Doch, sein fulminanter Einfall von damals hatte Größe besessen, auch wenn er nur einen Teilaspekt des Gesamtproblems ins Visier genommen hatte. Die Kom­plet­tierung, Universalisierung und rechnerische Durchführung des Kerngedan­kens hatte noch einmal gut und gern zehn Jahre extremster, kräftezehrender ge­dank­licher Arbeit in Anspruch genommen. Weil er seinen doch recht mediokren ma­thematischen Kenntnisstand mit Hilfe seines Freunde Marcel Großmann hatte gehörig aufpäppeln müssen. Großmann, hatte er dem damals in Zürich lehren­den Freund geschrieben, Du mußt mir helfen, sonst werd’ ich verrückt!

Am Polytechnikum in Zürich hätte er, das stimmte, eine fundierte mathemati­sche Ausbildung erfahren können. Hurwitz und Minkowski waren Koryphäen ihres Fachs! Dennoch, dass er die Mathematik bis zu einem gewissen Grade ver­nachlässigte, hatte nicht nur den Grund, daß das naturwissenschaftliche Inter­esse stärker war als das mathematische, sondern vor allem die Tatsache, daß die Mathe­matik in viele Spezialgebiete gespalten war, deren jedes diese kurze uns vergönnte Lebenszeit weg­nehmen konnte. Er hatte sich wie Burridans Esel gefühlt, der sich nicht für ein besonderes Bündel Heu entschließen konnte. Dies lag offenbar daran, daß seine Intuition auf mathemati­schem Ge­biet nicht stark genug war, um das Fundamental-Wichtige, Grundlegende sicher von dem Rest der mehr oder weniger entbehrlichen Gelehrsamkeit zu unterscheiden. Außer­dem war aber auch das Interesse für die Naturerkenntnis unbedingt stärker; und es wurde ihm als Student nicht klar, daß der Zugang zu den tieferen prin­zipiellen Erkenntnissen in der Physik an die fein­sten mathematischen Methoden gebunden war. Dies dämmerte ihm erst allmählich nach Jahren selbständiger wissenschaftlicher Arbeit. Aber wie auch immer, er hatte, derart gerüstet, von kräftefreien Bewegungszuständen in den physikalisch letztlich einzig relevanten Bereich von Kräfte- und/oder Beschleunigungsverhältnissen durchstoßen müs­sen.

Was, erneut, als ganz und gar unmöglich von berufener Seite abgetan worden war. Ausgeschlossen, die Vielzahl der Variablen in die schlichte Einfachheit mathema­tischer Formel- und Gesetzessprache zu überführen. Du verplemperst deine Zeit, mein Lieber … Von wegen! Diese Erweiterung hatte das physikali­sche Verständnis des anorganischen Makrokosmos’ in seiner formvollendeten Gesetzmäßigkeit und, wie er es empfand, überirdischen Schönheit, erst komplett und in sich geschlossen gemacht. Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundge­fühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.

Diese durch summa summarum zehn Jahre getrennten Ergebnisse höchster denke­rischer Kraftanstrengung hatten Größe, egal wie sich der Rest der Welt dazu stellte oder gestellt hatte. Und im übrigen, hätte er sich nach dem Urteil der an­deren Fachgenossen gerichtet, nie hätten diese grundstürzenden Einsichten das Licht der Welt erblickt. Nein, einem ernst zu nehmenden Wissenschaftler muss es in jederlei Hinsicht egal sein, ob er sich mit seinem geistigen Treiben außer- oder innerhalb seiner Zeit befindet. Nur so kann er hoffen, einen oder vielleicht mehrere Schritte hinaus über die bisherige Grenze der Erkenntnis zu tun. Und ob ihm die anderen dabei nachfolgen werden, das hat ihn nicht zu in­teressieren. Darauf darf er keine Rücksicht nehmen. Denn selbst wenn sein Streich wirkungslos niedergesunken wäre … Was läge daran? Was hätte daran gelegen? Er wusste und weiß es besser. Und die, die ihm nachzufolgen bereit und in der Lage gewesen wa­ren, die hatten auch längst verstanden, welch großer Doppelwurf ihm in diesen Jahren vor dem Weltkrieg gelungen war.

Man muss es kennen und am eigenen Leibe erlebt haben, was es heißt, das ahnungs­volle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehn­sucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung und seinem endlichen Durchbruch zur Klarheit. Wer sie kennt reißt sich nicht danach. Wie hatte es noch in einem Brief an seinen Freund Ehrat ge­heißen? Ja, genauso: Jetzt weiß ich, warum es so viele Leute gibt, die gern Holz spalten. Bei dieser Tätigkeit sieht man nämlich immer sofort den Erfolg!

Es war an Absurdität kaum noch zu überbieten gewesen, als er 1907 an der Uni­ver­sität Bern die 1905 verfasste, alles in der physikalischen Wissenschaft auf eine neue Basis hebende, Arbeit Elektrodynamik bewegter Körper als Habilita­tionsschrift einge­reicht hatte und einer der Ordinarien, es war, wenn er sich recht erinnerte, Professor Aimé Forster gewesen, ihm die fulminante, 30 Druckseiten umfassende Schrift mit den Worten zu­rückgegeben hatte: Was Sie da geschrie­ben haben, verstehe ich überhaupt nicht. Gegen wen sprach das? Etwa gegen ihn?!

Er fährt sich mit der Hand durch sein leicht gewelltes, immer noch vergleichs­weise volles ergrautes Haar. Hatte er nicht vielleicht doch, wenn er ehrlich war, Sorge em­pfunden, ob die, welche seine Texte zur Kenntnis nehmen würden, sei­ner wür­dig sein würden? Nein!, allenfalls, nachdem der entscheidende Schritt getan und der Beweis mit dem schlichten, fast unscheinbaren Formelapparat zu Papier gebracht worden war, hatte er kurz innegehalten und sich gefragt, ob sei­ner auf leisen Sohlen daherkommenden Großtat die ihr entsprechende Aufmerk­samkeit zuteil werden würde. Denn sie selbst war nicht allein notwendig, son­dern so, wie die physika­lischen Dinge damals gelegen hatten, auch ganz und gar an der Zeit gewesen. In ei­nem überpersönlichen Sinne also gab es die Entspre­chung. Weil die Zeit reif ge­wesen war für diesen Schritt über das mit vermeint­lichen Konstanten operierende Denken der klassischen Physik.

Voraussetzungsloses Denken? Womöglich jenseits oder außerhalb der Zeit? Im Elfenbeinturm? Pah! Alles hatte seine notwendige Bedingungskette im Rücken. Und er war lediglich der gewesen, der, als das Problem spruchreif geworden war und, freilich von Niemandem bemerkt, auf der Tagesordnung gestanden hatte, das erlösende Wort der Lösung gesprochen hatte.

Selbst die Unzeitgemäßen Betrach­tungen des Röckener Alleszerstörers waren an der Zeit gewesen. Die passende grüblerische Ant­wort eines hochsensiblen, künstlerisch begabten Menschen, der ein Gespür dafür gehabt hatte, was sich hinter der glän­zenden Fassade des neuen, gerade erst gegründeten kleindeut­schen Reiches unter der kompromisslosen Führerschaft des auf Macht und nichts sonst verses­senen Kanzlers und seiner berechnenden antikatholischen Kulturkampfeu­phorie in Wahr­heit verbarg. Mediokres Philistertum und eine Gesellschaftsordnung, die mit ihrem preußischen Drill, ihrer kirchlich-höfisch basierten Hierarchie und ihrer biedermän­nischen Staatsfrömmigkeit selbst den Gelehrtenstand geistig domestiziert hatte. Wie hatte er sich an anderer Stelle mit beißendem Spott über die deutsche Gelehr­tenzunft lustig gemacht?! Er hatte von den in ihren Staat vergnügten Universitätspro­fessoren gesprochen, die er auf Grund ihrer zur zweiten Natur gewor­denen Devot­heit herzlich verachtet hatte. Denn was ist die Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine …Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des ‚Reichs’ zusammenfällt: beide Tatsachen beweisen ein und dasselbe – Ge­horsam und lange Beine. – Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Recht so! Wenngleich es so aussieht, als ob gerade jetzt eine Steigerung dieses widerwärtigen deutschen Superlativs unmittelbar vor der Tür steht. O wie einem nunmehr der Genuß zuwider ist, der grobe, dumpfe, braune Genuß, wie ihn sonst die Genießenden, unsre ‚Gebildeten’, unsre Rei­chen und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem großen Jahrmarkts-Bumbum zu­hören, mit dem sich der ‚gebildete’ Mensch und Großstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu ‚geistigen Genüssen’, unter Mithilfe geistiger Getränke, notzüch­tigen lässt! Den Herrschen­den nach dem Mund zu reden jedenfalls kann bloß in den geistigen Ruin führen!

So ist zum Beispiel das Gebäude der Erziehung als morsch erkannt, und überall finden sich einzelne, welche in aller Stille schon das Gebäude verlassen haben. Könnte man die, welche tat­sächlich schon jetzt tief mit ihm unzufrieden sind, nur einmal zur offenen Empörung und Er­klärung treiben! Könnte man sie des verzagenden Unmuts berauben! Ich weiß es: wenn man gera­de den stillen Bei­trag dieser Naturen von dem Ertrage unseres gesamten Bildungswesens ab­striche, es wäre der empfindlichste Aderlaß, durch den man dasselbe schwächen könnte. Von den Gelehr­ten zum Beispiel blieben unter dem alten Regimente nur die durch den politischen Wahn­witz An­gesteckten und die literatenhaften Men­schen aller Art zurück. Das widerliche Gebilde, welches jetzt seine Kräfte aus der Anlehnung an die Sphären der Gewalt und Ungerechtigkeit, aus Staat und Gesellschaft, nimmt und seinen Vorteil dabei hat, diese immer böser und rück­sichts­loser zu machen, ist ohne diese Anlehnung etwas Schwächliches und Er­müdetes: man braucht es nur recht zu verachten, so fällt es schon über den Haufen.

Schön! Sehr schön! Doch freilich, legt sich ein Schatten der Trauer über ihn, wenn das alles so einfach wäre … Aber das ist es nun einmal leider nicht.

Etwas Dunkles schiebt sich in sein Gesichtsfeld. Jemand tippt auf seine Schul­ter. Nicht jetzt! Man stört. Immer zur Unzeit. Unwillkürlich macht er eine kaum wahr­nehmbare Ausweichbewegung. Umsonst. Er wird angesprochen. Er be­schließt, nicht zu reagieren. Ich bin nicht da, denkt er. Hält sich den Schmöker ganz dicht vor seine birnenförmige Nase. Die ergrauten Haare seines Schnurr­barts schaben über das vergilbte Papier. Es hilft alles nichts. Der, der ihn aus seinen der Vergan­genheit zugewandten Gedanken schamlos aufgeschreckt hat, hält ihm ein aufge­klapptes Buch vors Gesicht. In der anderen Hand befindet sich ein schwarz glän­zender Füllfederhalter. Wie er sie hasst, diese unterwürfig-auf­dringlichen Auto­grammjäger! Die sich auf diese erbärmlich-nichtswürdige Art wichtig machen. Glauben, allein dadurch ihrem trostlosen Leben etwas Schwere und Gewicht geben zu können, dass sie sich, verbürgt durch eine Unterschrift, im Dunstkreis von Per­sonen des sogenannten öffentlichen Interesses aufgehalten haben. Duckmäuser, nichtswürdige! Mediokres Pack! Um so zu sein oder zu werden, muss man nicht einmal an einer deutschen Universität lehren. Diese Geisteshaltung eines spin­tisierenden Flohknackers beherrscht auch der gemeine Mann von der Straße aus dem Effeff. Seine Devise hingegen hat, so lange er zurückdenken kann, schon immer gelautet: Was an der eigenen Existenz bedeut­sam ist, wird uns selber kaum bewußt und sollte die Mitmenschen gewiß nicht kümmern. Was weiß ein Fisch vom Wasser, in dem er sein Lebtag herum­schwimmt? Sein höchstes Ziel eben ist es, Abstand von sich selbst, ja, im äu­ßersten Extrem und soweit das überhaupt menschenmöglich ist, Befreiung vom Persönlichen zu gewinnen. Das Biographische ist der belangloseste Teil eines Er­denbürgers. Auch wenn das die Großen der menschlichen Spezies oder die, die sich irrtümlicherweise dafür halten, ganz anders sehen.

Ein Schmunzeln huscht über sein von Falten zerfurchtes Gesicht. Und kritzelt achtlos mit einem schabenden Geräusch sein verschnörkeltes, leicht verwasche­nes A. Einstein in die äußerste rechte untere Ecke des ersten Blattes des Druck­werks. Schmöker und Crayon wechseln erneut den Besitzer. Den wort­reichen Dank hört er bereits nicht mehr. Oder nur von ganz weit weg. Wie das unange­nehme Sirren eines lästigen Insekts, das man mit einem flüchtigen, ärgerlichen Wedeln der Hand auf Abstand zu halten sucht.

Der Schüler steht vor seinem geistigen Auge. Sein Hass auf den täglichen Drill. Seine Abneigung gegen ein mechanisches Auswendiglernen selbst in den Wis­sens­gebieten, wo es nichts verloren hat. In der Schule wird die Freude, die hei­lige Neugier des Forschens erdrosselt. Denn der Heranwachsende bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit. Es ist ein unverzeihlicher Irrtum, zu glau­ben, dass Freude am Lernen durch den Zwang zur Pflicht gefördert wird. Dass er von seinen Lehrern stets scheel angesehen wurde hatte wohl letztlich daran gelegen, dass er so eine Art Va­gabund und Eigenbrödler gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Er misstraut jeder Autorität. Das ist die Einstel­lung, die ihn nicht wieder verlassen hat. Und der, den er gerade zu lesen begon­nen hat, hat das, so weit er weiß, ganz genauso em­pfunden. Seine Schulzeit in Schulpforta hat der genialische junge Mensch, der Stür­mer und Dränger der zweiten Gene­ration, auch stets als Zumutung empfunden. Auch wenn sein gei­stiger Hintergrund ein anderer gewesen ist. Klassische Antike. Die Humaniora. Literatur und, vor al­lem und immer wieder im Schlepptau des Erz­romantikers Schopen­hauer, die zwangsläufig der Nachtseite zugewandte Zauber­welt der Tonkunst. Die roman­tischste aller Künste. Die ihre verklärende Vollen­dung in dem zunächst bewunder­ten Meister mit seinem Drang zum musikalischen Ge­samtkunstwerk ge­funden hat. Bevor der Unzeitgemäße in dem zunächst abgöt­tisch Verehrten und Angehimmelten, dem, das war zu viel gewesen, grauenhaf­ten Erz­katholiken, und wahrscheinlich auch in sich den Décadent par excellence ent­deckt und unerbittlich bekämpft hat. Allein das ist schon selbstzerstörerisch gewesen. Von allem anderen einmal abgesehen. Aber, gleichviel. Die Gründe für den Ab­scheu vor den schuli­schen geisttötenden Anforderungen sind bei ihnen die glei­chen gewesen. Denn auch das Leben und Weben in der (Theorie der) Musik und Lite­ratur ist auf einige wenige Grundkenntnisse angewiesen; vor allem aber auf ein lei­denschaftliches Sich­verlieren in den Labyrinthen wort- und klanggewaltigen menschlichen Ausdrucks. Obwohl er selbst viel mehr mit der heilig-nüchternen Strenge und Klarheit eines Johann Sebastian Bach bei seinem mehr als bloß halb­professionellen Violinspiel an­zufangen weiß.

So auch, wenn auch ganz anders, in der Mathematik. Der Physik. Oder der Che­mie. Kurz, in allen naturwissenschaftlichen Fächern. Gut. Grundlagenkenntnisse sind hier wie sonst unverzichtbar. Axiomatik, Dimensionenlehre, Protonen- und Neu­tronenzahlen, Kernbausteine, Anzahl der diversen Elektronen auf den Scha­len. Elektronensprünge, Massenverluste und noch einiges mehr. Aber dann heißt es, seinen Kopf anzustrengen und aus den Gegebenheiten etwas zu machen. Nach Möglichkeit etwas Schlüssiges, in sich Zusammenhängendes, Gesetzmä­ßiges und Notwendiges. Das sämtlichen jeweils gegebenen Aspekten nicht bloß standhält, sondern sie in eine kristallklare Ordnung bringt, in der jedes Teilchen seine unver­rückbare Ordnung findet. Denn die Naturwelt des Physikers ist die in Formeln gebrachte objektive Ordnung des realen Seins. Deswegen ist ihm die gegenwärtig grassierende Wahrscheinlichkeitsmystik und die Abkehr von der Realität ein Gräuel. Nein, Messungen machen nur dann Sinn, wenn etwas exis­tiert, das gemes­sen werden kann. Sie konstituieren ihren Gegenstand nicht. Und wenn die Zahl der in Frage kommenden Faktoren bei einem komplexen Phäno­men der Natur zu groß wird, dann heißt das noch lange nicht, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst und lediglich noch der Zufall regiert. Selbst die Ergebnisse der Wahrscheinlichkeits­rechnung mit ihrer sprichwörtlichen großen Zahl deuten noch auf so etwas wie ei­ne regelmäßige Verteilung hin. Nehme man beispiels­weise das Wetter, dann sei eine sichere Vorhersage für zwei oder drei Tage zwar nicht bis ins Letzte möglich. Nicht aber, weil den Erscheinungen des Wetters kein Kausalzusammenhang, keine Ord­nung und Gesetzlichkeit zugrunde liege, sondern weil mannigfaltige, uns unbe­kannte Faktoren mitwirken.

Das Buch des im Grundlegenden Gleichgesinnten rutscht ihm aus der Hand. Fällt zu Boden. Die Seiten rascheln. Er bückt sich. Hebt es auf. Zurück auf Los.

Daß ein einzelner, im Verlaufe eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas durchaus Neues hin­stellen könne, mag wohl alle die empören, welche auf die Allmählichkeit aller Entwicklung wie auf eine Art von Sitten-Gesetz schwören: sie sind selber langsam und fordern Langsamkeit – und da sehen sie nun einen sehr Geschwinden, wissen nicht, wie er es macht, und sind ihm böse.

Donnerwetter, ja! Schon wieder zückt er einen Stift und markiert die Stelle. Ist zwar auf den verehrten Tonkünstler gemünzt. Aber wer, wenn nicht er, soll sich durch diese Zeilen angesprochen fühlen?!

Es wäre sonderbar, wenn das, was jemand am besten kann und am liebsten tut, nicht auch in der gesamten Gestaltung seines Lebens wieder sichtbar würde; vielmehr muß bei Menschen von her­vorragender Befähigung das Leben nicht nur, wie bei jedermann, zum Abbild des Charakters, sondern vor allem auch zum Abbild des Intellektes und seines eigensten Vermögens werden.

Auch das ist wahr und trifft auf ihn ohne jede Einschränkung zu. Allerdings be­schleicht ihn ein ungutes Gefühl. Wer derart, und sei es auch bloß im Gedanken an einen anderen, ins Schwärmen und preisende Schwadronieren gerät, läuft un­wei­gerlich Gefahr, all das Richtige in einer hochgepuschten Eitelkeit und lobhu­delnden Selbstverliebtheit zu ersäufen. Und das ist dann wieder der doch sonst stets ver­achtete Philisterhabitus. Der Ausnahmemensch gerät vor allem dann, wenn er auf diese schleichende Gefahr nicht ausdrücklich reflektiert, zur Karika­tur des Geni­alen: einem aufgeblasenen Wichtigtuer und hohl-gestikulierenden Schaum­schläger. Ohnehin haben die meisten Menschen … einen heiligen Res­pekt vor Worten, die sie nicht be­greifen können, und betrachten es als ein Zei­chen der Oberflächlichkeit eines Autors, wenn sie ihn begreifen können. Er wird das fatale Gefühl nicht los, dass der Autor bei allem Über­schwang des Lobprei­sens des verehrten Meisters dabei immer auch mehr als bloß ein wenig sich selbst aufs Schild gehoben hat. Zuerst hypertropher Enthusias­mus, der dann, fast wie aus dem Nichts, in sein genaues Gegenteil umschlägt. Und in eben dem, dem unbändigen Hass auf den Décadent – der Nihilismus als Logik der Deka­denz –, als dessen Spezialisten, Propheten und Opfer er sich je länger desto mehr sah, ist der Hass auf sich selbst, den pessimistischen Falschmünzer, wie selbstverständlich immer mit einge­schlossen.

Es geht gefährlich und verzweifelt zu im Lebenswege jedes wahren Künstlers, der in die modernen Zeiten geworfen ist. Man denke ihn sich in eine Beamtung hinein – so wie Wagner das Amt eines Kapellmeisters an Stadt- und Hoftheatern zu versehen hatte; man empfinde es, wie der ernsteste Künstler mit Gewalt da den Ernst erzwingen will, wo nun einmal die modernen Einrichtungen fast mit grundsätzlicher Leichtfertigkeit aufgebaut sind und Leichtfertigkeit fordern, wie es ihm zum Teil gelingt und im ganzen immer mißlingt, wie der Ekel ihm naht und er flüchten will, wie er den Ort nicht findet, wohin er flüchten könnte, und er immer wieder zu den Zigeunern und Ausgestoßenen unsrer Kultur als einer der Ihrigen zurückkehren muß.

Die Kinder sind’s bei ihm. Weil sie, in der Regel, noch unverbildet sind. Weil sie sich im Abseits ihrer phantastischen Welten schlafwandlerisch sicher ver­lieren. Und wohin er ihnen nicht allein, wann immer es geht, liebend gerne folgt, sondern, der Schalk treibt ihn an, auch auf eigene Faust neue, unbetretene Wege bahnt. Nein, sich unter ein Diktat zu beugen, Regeln des Benimm an seiner Per­son zu voll­strecken … Das will er nicht. Hat es nie gewollt. Da streckt er lieber wie ein kleiner Junge die Zunge heraus und gebärdet sich wie ein Narr. Wie ei­ner, der sich unter keine gesellschaftlichen Konventionen beugt und beugen lässt. Weil ihm das mo­derne Kunst-Lügenwesen von Grund auf verhasst ist. Weil es ihn davor wie vor nichts sonst ekelt.

So nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Kon­vention hinzu, das heißt des Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Übereinkommen des Gefühls. …Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er sich, nach der Art unserer ‚Kunstfreunde’, einem trügerischen Behagen und einer stillen Trunksucht überantwortete!

Apropos Trunksucht … Er winkt der Bedienung, sie möge ihm noch einen Mocca bringen. Und ja, gerne auch einen Cognac im Schwenker. Um sich auch somatisch auf ein höheres Energieniveau zu begeben.

Im Weiterlesen fingert er aus der Seitentasche seines Jacketts seine Rauchuten­silien hervor. Das Pfeifenrauchen sorgt für Atmosphäre. Mit flinken Fingern stopft er den zart nach Pflaumen riechenden Knaster in den Pfeifenkopf und entzündet paffend den vom häufigen Gebrauch fast schwarz verfärbten Knösel. Jetzt ist er ganz bei sich. Noch jeweils ein Schluck von dem inzwischen bereit­gestellten Stark­getränk und dem warm-schweren Branntwein und er fährt, zu­frieden lächelnd, in der Lektüre fort. Sollte ihn jetzt noch jemand stören, wehe ihm …

Wagner, so liest er, bannt und schließt zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medizinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringie­rende Kraft: insofern gehört er zu den ganz großen Kulturgewalten. Er waltet über den Künsten, den Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ord­nenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammen­gebrachten, ein Vereinfacher der Welt.

Ja, das ist er auch geworden, mit seiner Doppeleinsicht. Obwohl, nein!, so stimmt das nicht. Nicht er hat die Welt vereinfacht. Sie gehorcht von sich aus, ganz ohne sein Zutun, diesen in ihrer paradoxen Einfachheit von ihm als so wunderschön em­pfundenen Gesetzen. Und an ihm war es lediglich, ihr ihr Ge­heimnis, das tatsäch­lich eines der Vereinfachung und Vereinheitlichung war, abzulauschen. Und weil das so ist, weil er, in dem Sinne, nichts erfunden, son­dern lediglich etwas, das vor aller Menschen Augen liegt und sich unentwegt abspielt, gedanklich bewältigt hat, ist er auch schlecht zu sprechen auf das er­kenntnis- und wissenschafts­theoretische Metagewese der philosophischen Wis­senschaft seines sonst so verehrten österrei­chischen Lehrers Ernst Mach, dem sich alles in letztlich fiktionale Erscheinungs- und Vorstellungsbilder, freie Er­findungen des mensch­lichen Geistes, auflöst. Wie kommt …ein ordentlich be­gabter Naturforscher überhaupt dazu, sich um Erkenntnistheorie zu küm­mern? Gibt es in seinem Fache nicht wertvollere Arbeit? Da­ran jedenfalls ist nicht zu rütteln: Erkenntnistheorie ohne Kontakt zur Naturwis­senschaft, die ihrerseits von einer unabhängig für sich beste­henden Welt realer und gesetzmäßig verbun­dener Zusammenhänge ausgeht, gerät zum leeren Schema. Denn was ist Natur­wissenschaft? Sie ist der Versuch einer nachträglichen Rekonstruktion alles Sei­enden im Prozeß der begrifflichen Erfassung. Sie ist nichts weiter als eine Ver­feinerung unseres alltäglichen Denkens. Jawohl! So und nicht anders!

Sein Knösel glüht. Der Qualm steigt senkrecht in die Höhe, bevor er sich sacht verwirbelt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen zu bilden begonnen. Der Cognac dämpft das Brennen auf seiner Zunge merklich herab.

Was auf ihn stark wirkte, das wollte und konnte er auch machen; von seinen Vorbildern verstand er auf jeder Stufe ebensoviel als er auch selber bilden konn­te, er zweifelte nie daran, das auch zu können, was ihm gefiel. Vielleicht ist er hierin eine noch ‚präsumtuösere’ Natur als Goethe, der von sich sagte: ‚immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst’.

Ein Sonntagskind des Lebens. Das war Wagner für Nietzsche gewesen. So, er weiß es, lautet auch das Selbstverständnis eines der größten Romanciers dieses Jahr­hunderts. Und ja, obwohl er sich selbst für vergleichsweise uneitel hält, auch er war nie frei gewesen von dem Gefühl, dass es mit ihm stets nur gut und zu seiner Zu­friedenheit ausgehen könne. Was er erreicht hatte, stand ihm auch zu. Nicht, weil es ihm in den Schoß gefallen war. Nein, weiß Gott nicht! Er hatte es sich hart erar­beiten müssen. Er hat ebenso unablässig darnach gestrebt, sich die schwersten Gesetze auf­zuerlegen, als andre nach Erleichterung ihrer Last trach­ten; das Leben und die Kunst drücken ihn, wenn er nicht mit ihren schwierigsten Problemen spielen kann. Man muss das Brett dort bohren, wo es am dicksten ist. Keine Frage. Aber wenn dann der Gipfel erklom­men ist, erwartet einen dort oben niemand anders als man selbst. Und wie fühlt sich das an? Wie jene gold­helle durch­gegorne Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe, be­trachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit. Genau so! Denn so ist die Stimmung eines wahr­haft frei gewordnen Könnens, das nie den Atem verliert, nie keuchend an sein Ziel kommt.

Von seinem Erlebnis aus verstand er die ganze schmachvolle Stellung, in wel­cher die Kunst und die Künstler sich befinden: wie eine seelenlose oder seelen­harte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und Künstler zu ihrem sklavischen Gefolge zählt, zur Be­friedigung von Schein­bedürfnissen. Die moderne Kunst ist Luxus: das begriff er ebenso wie das andre, daß sie mit dem Rechte einer Luxus-Gesellschaft stehe und falle … Die ganze ästhetische Schreib- und Schwatzseligkeit brach wie ein Fieber unter den Deutschen aus, man maß und fingerte an den Kunstwerken, an der Person des Künstlers herum, mit jenem Mangel an Scham, welcher den deutschen Gelehr­ten nicht weniger als den deutschen Zeitungsschreibern zu eigen ist.

Und nicht bloß denen! Seit er eine Berühmtheit war, stellte man ihm nach. Machte sich anheischig, die Größe seines Gehirns und die Anzahl von dessen Windungen zu vermessen. Physiognomik und Schädellehre auf dem allernied­rigsten Stand. Oder man trug ihm an, seine Seele zergliedern zu lassen. Platz zu nehmen auf der Couch. Es sich, womöglich liegend, bequem zu machen, um sein Innerstes nach Außen zu kehren. Um der Psyche eines Genies, für das man ihn hielt, ihr abgrün­diges Geheimnis abzulauschen Dabei bedurfte es doch bloß eines geringen ge­danklichen Aufwandes, um zu begreifen, dass die Psychoana­lyse die Krankheit war, für dessen Therapie sie sich irrtümlicherweise hielt.

Aber er will sich nicht mehr ärgern. Zumal ihm die nächste Stelle ins Auge fällt, die seinem Selbstverständnis voll und ganz entspricht. Es kühn in Worte fasst, wie aller Mühsal gedanklicher Extrembeanspruchung zum Trotz das Ergebnis dieses unent­wegten, zähen Ringens nichts anderes ist als ein schwebend leichtes, ganz und gar in sich stimmiges logisch-reales Luftgebilde.

Man erwäge dann wiederum die Einordnung einer solchen singenden Leiden­schaft in den ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein Wun­derding von überwundenen Schwierig­keiten kennen zu lernen: seine Erfindsam­keit hierbei, im kleinen und großen, die Allgegenwart seines Geistes und seines Fleißes ist derart, daß man beim Anblick einer Wagnerschen Partitur glauben möchte, es habe vor ihm gar keine rechte Arbeit und Anstrengung gegeben. Es scheint, daß er auch in bezug auf die Mühsal der Kunst hätte sagen können, die eigentliche Tugend des Dramatikers bestehe in der Selbstentäußerung; aber er würde wahrscheinlich entgegnen: es gibt nur eine Mühsal, die des noch nicht Freigewordenen; die Tugend und das Gute sind leicht.

Oder auch so: frei und leicht wie aus dem Nichts entsprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick. Das ist sogar noch tiefer gedacht, weil es die Mühsal nicht unterschlägt, sondern bloß, im Ergebnis, vergessen macht. Kunst, die Na­tur zu sein scheint. Kristallklare Erkenntnis, die kein Aber zulässt, weil alles in sich stimmig ist, seine unverrückbare Stelle hat und mithin passt.

Und genau so kommt es auch hier. Gleich im Anschluss. Denn er liest mit einem sich immer mehr ausbreitenden und sein Gesicht schließlich erstrahlen lassen­den Lächeln …

Als Künstler im ganzen betrachtet, so hat Wagner, um an einen bekannteren Typus zu erinnern, etwas von Demosthenes an sich: den furchtbaren Ernst um die Sache und die Gewalt des Griffs, so daß er jedes Mal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Augenblick, und sie hält fest, als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener seine Kunst oder macht sie vergessen, indem er zwingt, an die Sache zu denken; …seine Kunst wirkt als Natur, als hergestellte, wiedergefundene Natur.

Das Naive ist das Sentimentalische, denkt er. Goethe und Schiller sind eins. Und diesen beiden Dioskuren aus Weimar fühlt er sich so nah in diesem Moment tag­heller Erleuchtung wie lange nicht mehr.

Er hält inne. Seine Pfeife, die er in seiner Rechten hält, ist längst erloschen. Der Mocca ist nicht einmal mehr lauwarm. Nur der Weinbrand, den er nun bis zur Neige austrinkt, rinnt warm-sanft durch seine ausgetrocknete Kehle.

Weiter! Immer weiter zieht der andere ihn mit sich fort! Während es draußen sacht zu schneien begonnen hat.

Selbst das Gute, liest er, indem er leicht zu nicken beginnt, weil es ihm aus dem Her­zen gesprochen ist, in der Kunst ist überflüssig und schädlich, wenn es aus der Nachahmung des Besten entstand. Und ja, der Weise verkehrt im Grunde mit lebenden Menschen nur so weit …, als er durch sie den Schatz seiner Er­kenntnis zu mehren weiß … Wenngleich er, gerade im Umgang mit seinen Stu­denten, gelernt hat, sich auf deren Schwierigkeiten des geistigen Nachvollzugs der bisweilen hochgradig komplizierten Materie mit Engels­geduld einzulassen. Obwohl, auch darin ist er sich mit dem von dem Anderen bewunderten Tonset­zer einig, von dem der Satz überliefert ist: Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist im Irrtum.

Und trotzdem, und erst recht gilt, dass im allgemeinen …der hilfreiche Drang des schaf­fenden Künstlers zu groß ist, der Horizont seiner Menschenliebe zu umfänglich, als daß sein Blick an den Umzäunungen des nationalen Wesens hängen bleiben sollte. Seine Gedanken sind … überdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der Zukunft.

Genau das ist auch sein Glaube und seine Zuversicht, selbst wenn die politi­schen Zeichen inzwischen auf Sturm stehen, und er ernstlich darüber nachzu­denken be­gonnen hat, Deutschland den Rücken zuzukehren. So wie die Dinge liegen, ist hier in der Hauptstadt des Deutschen Reiches seines Bleibens nicht länger mehr. So schwer es ihn ankommt. Er wird den Weg in die Fremde antre­ten müssen. Hinaus aus der von völkischen Widerwärtigkeiten verstockten, stickig-provinziellen, von roher Gewalt schwangeren Atmos­phäre.

Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf!
Fern dämmre schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf!

Möge es so kommen! Und möge er durch sein unablässiges Streben seinen Teil da­zu beitragen, daß die Menschheit irgendwann einmal endgültig ideale Ord­nungen finden werde.

Freund, denkt er, Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?

Er verstaut seine Rauchutensilien und den Schmöker, winkt die Bedienung heran, begleicht die Rech­nung, streift sich seinen knielangen, zweireihigen hellgrauen Mantel über und tritt beschwingt in die froststarre Kälte des in dichtem Schneege­stöber verschwimmenden Januartages hinaus.

Busilacchi, Gianluca: Two Problems, One Solution: The Earth Basis Income, 11.01.08

Abstract

The great inequality in the distribution of world resources is well represented by the co-existence of two opposite phenomena: the scarcity of resources that relegates billions of individuals in extreme poverty conditions, and the over-consumption of resources by a minority of inhabitants who waste and pollute the planet earth.

In addition to the serious ethical paradox produced by the combination of these negative forces, every year poverty and pollution cause severe economic losses, both directly and for negative externalities. Is it possible to reverse this ethical and economic paradox and find a joint solution to these two forms of world pollution?

This paper illustrates a simple model of earth basic income, which could serve as an easy solution to both problems: a taxation mechanism on waste production as a means to finance basic income.

Introduction

Poverty and earth pollution are two main problems that the world still faces in the 21st century. The advancement of civilization, economic growth, social and cultural progress, together with the diffusion of civil and political rights have not been sufficient to resolve these issues over the years.

Paradoxically, the attainment of ever greater wealth over time on a global scale and the increasing inequality of capital distribution highlight the persistence of over-consumption of resources by a minority of inhabitants of the planet – consequently producing great quantities of waste and acuting the lack of those resources for the majority of the world population.

Besides the serious ethical paradox caused by the simultaneous existence of these opposing phenomena, every year the negative externalities of poverty and pollution cause severe economic damage, both directly and indirectly.

According to the United Nations Environmental Program (UNEP), gas emissions from greenhouses, which are one factor of the planet’s overheating, produce economic damage that can be estimated at around 150 billion dollars every year. Intangible damage of an ethical, environmental and natural kind should be obviously added to this figure.

Apart from being one of the ‘evils’ of our time, to use Beveridge’s term, poverty causes serious ethical, social and economical damage: people die of hunger, children grow up in poverty with few opportunities for a better life, whole populations suffer dire hygienic and dietary conditions. The socio-economic circumstances in which poverty develops also give rise to other social ‘evils’: disease, illiteracy and crime.

In Western countries poverty develops in rich societies, thus causing further social and ethical problems such as wide social inequalities, social exclusion and marginalization, relational and familial fragility, and depression. In short, poverty causes direct damage to economic systems – as well as indirectly, this being though less visible but yet quantifiable.

If we add the damage caused by environmental pollution to that caused by poverty, which can be defined as a special form of ‘social pollution’, we find out that the world economic system yearly suffers considerable losses.

The paradoxical question addressed by this brief article is a very simple one: can these two ‘types of damage’ be converted into something positive?

The operation appears to be a rather complex one: the product of two elements with negative value is positive for mathematicians – this is, however, not the case for social scientists. But it is possible to propose a model of global basic income financed from environmental damage and, consequently, to derive solutions from ‘the waste’.

The taxation of pollution in order to finance a basic income capable of defeating poverty may be the simple solution to this dual issue.

A simple simulation model

Approximately ten years ago, Michel Genet and Philippe Van Parijs suggested a model of basic income for all European citizens, the Eurogrant, which based on a direct financing from energy taxes.[1] The authors ended their paper with several questions, one of which advocated the implementation of this instrument outside Europe.

The idea proposed in this paper reprises the central principle of Genet and Van Parijs’s model – to finance basic income by means of an ecological tax –, but it gives the model global dimensions and uses a slightly different taxation system. Instead of an energy tax, the world basic income, termed ‘Earth Basic Income’ (EBI), could be financed by means of a tax on greenhouse gas emissions.

The main difference, however, is that in this case ecological taxation itself would be the goal of the model and not a mere financial instrument for basic income. In that way, a double result would be pursued: on the one hand, to finance EBI in order to fight poverty on the entire planet and, on the other, to encourage the achievement of a minimum level of greenhouse gas emissions so that earth pollution can be reduced.

Since both problems may possibly be solved by a taxation system that operates, in the former case, as a financing instrument and as a ‘negative’ incentivization policy in the latter, the issue must be considered a problem of optimal taxation with two constraints.

The first constraint concerns the level of pollution that can be ‘tolerated’ by the planet.

For convenience, pollution intensity is a value that can be based on the threshold magnitudes of greenhouse gas emissions established at the Kyoto Conference on Bio-Climatic Change in 1997. According to the Kyoto Protocol, industrialized countries and countries with transitional economies, such as the Eastern European countries, must effect a 5% reduction of their greenhouse gas emissions, with respect to values of 1990, from 2008 to 2012.[2]

This average percentage value is obtained, when considering the reductions of 8% in emissions by the European Union, 7% by the USA, and 6% by Japan. Other countries must only attempt to stabilize their emissions, and in the case of outstanding countries, such as Iceland, they may even slightly increase them. Developing countries are exempted from this commitment so that limits are not imposed on their socio-economic development.

These reductions are in fact considerable – especially for the most industrialized countries such as the USA – because in the same period of time the production rate of these gases is expected to increase by about 20%: the net result would be therefore a potential 25% reduction of emissions. Not surprisingly, countries such as the USA and Australia have decided not to ratify the Treaty. However, concerns about the Treaty not entering into force dissolved this year as Russia announced its ratification. The requirements set out in section 25[3] of the Treaty were consequently fulfilled; and the Kyoto Protocol legally came into force on 16th February 2005.

A commitment of this kind entails very high costs for the economic systems of some of the countries involved in the Kyoto negotiations, in particular for nations like the USA, Canada, Japan and New Zealand, whose production systems use very large amounts of energy; for them the costs of signing the Treaty would be relatively higher than, for example, for Europe (see table 1).

Table 1. CO2 emissions and costs of Kyoto Treaty

Country

CO2 emissions

(millions of tons)

Emission reduction

(Kyoto constraint)

GDP variation in 2010 (%)

Source: OCSE, 1999

It is at this point that the mechanism described in this paper could be implemented. Its central aim may be enlightened by the following questions: In the absence of a binding legislation, how can these costs be off-set for the industrialized countries? And, how can a virtuous behavior, which leads to better climatic conditions and economic advantages, be stimulated?

One way could be to tax a country that doesn’t adopt a virtuous behavior proportionally to its deviation. This would motivate a government to set a limit on its emissions, in order to become exempt from the tax. Countries that do not comply with this restriction would be taxed on the value of gas emissions that exceed the established threshold:

1.) Ti= (XPi – XSi) t

The amount of ecological taxes (Ti ) collected in country ‘i’ would therefore be proportional to the difference between the gas emissions established in Kyoto for this country (XSi) and the gas emissions produced by it (XPi), multiplied by the ecological tax (t).

One possible hypothesis adjustable to the model presupposes each country to provide itself with monitoring systems able to distribute the taxation amount (Ti) among polluting enterprises according to the emissions they produce.

Under a second hypothesis, the tax does not determine secondary effects that may retroact on the model, for instance by decreasing wages or increasing commodity prices, and may partially bypass the effects of introducing a basic income. This could be controlled by means of a compensatory mechanism, for example, by eliminating other ecological taxes on enterprises in order to maintain prices and wages stable. The reduction of public revenue due to a lower ecological taxation could be off-set by the decrease of social expenditure on social assistance measures that would partially lose their purpose with the implementation of the EBI.

Having identified our first goal, i.e. the fulfillment of the Kyoto parameters for greenhouse gas emissions, let us now see how this could be related to financing a basic income.

The second constraint lays on the exogenously fixed amount of EBI.

The tax amount Ti in all the ‘k’ taxed countries can be used to finance the EBI for the entire world population, or at least part of it. Let us take as an example the population of age (pop):

k

2.) EBI * pop = ∑ Ti

i=1

Nonetheless, two problems arise from this simple equation. The first involves an ethical issue. Indeed, it could be argued that in such a way the EBI would be financed, at the end, with money deriving indirectly from pollution. An instrument used to fight poverty would end up depending on the existence of greenhouse gas emissions that surpass the levels permitted. Yet, there is a straightforward answer for this objection: firstly, the money would derive from the fight against pollution, not from pollution itself; secondly, the fact that the model uses a constant exogenous value of EBI does not determine a variation in the sum of basic income account due to greenhouse gas emissions.

This gives rise to the second problem. The fact that the EBI is independent of the value of produced gases and that it is actually fixed exogenously, proposes a difficulty when calculating the taxation level. Or, in other words: how can ‘t’ be determined, being it a value dependant from a variable such as (XPi), which might, or better should, change over time?

The same issue also arises from a mathematical perspective if equation 2 is substituted by equation 1:

3.) ∑ t = ∑ Ti / ∑ (XPi – XSi) = EBI * pop / ∑ (XPi – XSi)

There seem to be three different solutions to the problem of a temporally changing variable: to propose a different taxation system for each country; to choose a tax that varies over time; or to allow the total amount of taxes collected to finance the EBI, that is to say, letting ‘∑ Ti’ vary.

In the first case, (t) would depend on the decisions taken by individual countries (ti). At this point the summatory of (t) values would not be equal to the product of (t), multiplied by the number (k) of taxed countries:

4.) ∑ t = k * t ≠ ∑ ti

Each country would determine its own tax amount and taxation system (by adopting, for instance, a proportional system, or a progressive one, or by implementing other parameters), as long as the required amount (Ti) is achieved. A drawback may possibly be different taxation systems having evident and dangerous consequences on market mechanisms.

A second solution consists on choosing a tax (t) that is the same for all countries but varies over time. This could certainly ensure a constant flow of ‘∑ Ti’ resources to the EBI for each time period taken up into consideration (tt=0,1,2…n), independently of the values of greenhouse gases emitted above tolerable levels. At this point equation 3 should be modified as following:

5.) tt=0,1,2…n = ∑ Ti / k * ∑ (XPi t=0,1,2…n – XSi)

In such a case the variability of (t) is strictly temporal: it depends on the emissions produced over the number of years (n) by the various countries (XPi t=0,1,2…n). The product of these two variabilities would ensure, besides, a constant flow of resources.

Still, the variability of (t) over time may be followed by two further problems. The first one regards the emergence of numerous opportunities for free riding. If the total amount of emissions (the denominator in equation 5) changes due to the virtuous (or vicious) behavior of a number of countries, the effects of (t) variations will affect too those countries that have kept out of action.[4] The second problem suggests that the impossibility of knowing future (t) values could bring difficulties to economic systems, in which taxed enterprises operate.

It seems therefore that the only feasible option for solving the problem of variability is to determine a ‘∑ Ti’ amount that varies over time. Evidently, this third solution may, however, cause distress as EBI financing may be in danger, should ecological taxes decrease.

This paradoxical scenario is dangerous both in ethical terms and in terms of the measure’s financial efficacy. If the taxation and/or incentivization mechanism achieves the results expected, pollution levels could decrease; but in such case, the same would happen to the resources available for EBI financing. This seems at first sight to be a trade-off between the fight against poverty and the fight against pollution. Yet, in reality, this ethical dilemma can be easily avoided: as mentioned above, pollution and poverty produce economic as well as social damage. A reduction in the economic costs of these phenomena could therefore be used as added value for the operation, from which additional financial sources could be derived.

A Guarantee Fund (GF) could be activated for security reasons when introducing the EBI. In this way, should emission levels decrease significantly, the maintenance of the measure over time would remain ensured. Equation 2 would therefore change into:

k

6.) EBI * pop + GF = ∑ Ti

i=1

The organization responsible for managing the EBI within, say, the United Nations could use the GF to assure activities related to the implementation and monitoring of EBI. These activities would include an analysis of the profits produced by the reduction of greenhouse gas emissions. This added value would be analogously produced by the mechanism introduced together with the EBI. The resources generated through this operation could be transferred to the GF in order to sustain it.[5]

Conclusions

This short paper has not sought to describe a complete financing model of basic income. Its aim has been rather to raise some points for consideration. My intention, further on, is to ‘fill’ this simple theoretical model with data on the worldwide production of greenhouse gases; so that, as a result, the model’s ability to implement basic income on a global scale becomes quantifiable.

I have raised at least two considerations that go beyond commonplaces on the possibility of financing basic income and on the strength of its ethical justifications:

– We can image a mechanism able to adjust a system of incentives and constraints and with which to attempt to solve two of the major issues of this century: poverty and earth pollution. The solution to both problems may be a mix of taxation on greenhouse gas emissions and a basic income for the entire world population financed with this tax. This highlights a basic principle of the EBI functioning mechanism: a minimum global re-distribution of the resources of the richest countries to the poorest ones – from those which most exploit the planet’s resources (partially destroying the planet) to those which make less use of the same resources – seems ethically fair. Since the planet belongs to everybody, a minimum part of its resources should be destined to the worst-off.

– Finding a system to finance basic income on a world scale is certainly a difficult operation, yet it is not utopian. Likewise, the possible perverse effects exerted on the economic system by this financing system and by the introduction of this measure may be controlled and restrained with a series of compensatory mechanisms. I have sought in this paper to prove the existence of different taxation solutions for basic income. I have described a taxation system based on greenhouse gas emissions (and expressed my preference for a fixed-tax system). I believe that the real problem with implementing a basic income on a global scale (and also with reducing greenhouse gases) is not the devising of theoretical models that can be applied and sustained over time. The real problem is governance: Now, who might actually manage both, a revolutionary policy like the above exposed and the needed natural capacity and authority (political, juridical and legislative) still remains the main question.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Genet M./Van Parijs P.: “Eurogrant”, in: Basic Income Research Group (BIRG), Bulletin no.15, July, 1992.
  2. These gases are carbon dioxide (CO2), methane (CH4), nitrogen dioxide (N20), hydrofluoric carbon (HFC), perfluorated carbon (PFC) and sulfur hexafluoride (SF6). Reference year is 1990 for the first three gases and 1995 for the remaining three.
  3. Section 25 states that the Treaty will be effective only when it has been ratified by at least 55 industrialized countries, representing not less than 55% of CO2 emissions (according to 1990 data).
  4. Not only might the incentive produced by the taxation system disappear due to this mechanism, but it could also have the opposite effect. In order to maintain total resources constant, the more virtuous the average behavior (reduction of emissions), the higher the ecological tax (t) will be.
  5. With the passing of time, the resources of the GF could be invested in economic activities to sustain specific programs for pollution reduction, especially in the poorest countries. The reduction of pollution may also reduce poverty by creating virtuous circles (on hygiene conditions, territorial development, etc.).

Klepzig, Sascha: Schöne Worte für das Klima. Merkel auf der Konferenz für Nachhaltigkeit in Berlin, 24.11.06

Während die Klimakonferenz in Nairobi weltweit Beachtung findet, bekam die am 26. September in Berlin stattfindende Konferenz zum Thema Nachhaltigkeit trotz Anwesenheit der deutschen Bundeskanzlerin wenig Echo. Die Jahreskonferenz des Rates für nachhaltige Entwicklung fand weitaus weniger Beachtung als die Islamkonferenz einen Tag später, was im damals durch die Opernabsetzung aus Terror-Angst aufgeheizten Klima nicht verwundert.

Unter den Zuhörern in der Kongresshalle am Alexanderplatz saßen Vertreter der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, darunter viele Repräsentanten von Vereinen und Initiativen. Eingeladen hatte unter dem Motto „Die Kunst, das Morgen zu denken“ zum mittlerweile sechsten Mal der Rat für Nachhaltige Entwicklung, der im Jahr 2001 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen wurde. Neben einer Fotoausstellung, einer Modenschau und der Siegerehrung zu einem Jugendwettbewerb bestand das Hauptprogramm aus der Forenarbeit am Nachmittag (zu Themen wie Energie, demografischer Wandel, Medien oder soziale Sicherung) und den Redebeiträgen am Vormittag.

Den Anfang machte BUND-Vorsitzende und Ratsmitglied Angelika Zahrnt, die auf die Rolle von Kunst, Kultur und Bildung in der Nachhaltigkeitsdebatte hinwies. Sie forderte die Regierung wie später auch der Ratsvorsitzende Volker Hauff auf, die EU-Ratspräsidentschaft 2007 zu einer „Nachhaltigkeitsoffensive“ zu nutzen. Die Wichtigkeit des Dialogs mit der Wirtschaft unterstrich Zahrnt mit der Zauberformel CSR, auf Deutsch: „Corporate Social Responsibility“. Im Zuge der Globalisierung wachse nicht nur der Einfluss, sondern auch die Verantwortung von Unternehmen, die das Soziale und Ökologische nicht mehr nur dem Staat überlassen dürfen.

Als nächster Redner eingeladen war der Vorstandsvorsitzende der Münchener Rück, Nikolaus von Bomhard. Als Versicherer beschäftigt er sich selbstverständlich mit der Zukunft, und könnte mit dem Statistik-Material seines Unternehmens sicherlich einiges zur globalen Risiko-Vorsorge beitragen. Bomhard blieb allerdings recht allgemein und redete von steigenden Schäden aus Naturkatastrophen, die ihn schon lange beschäftigen. Dass er die gesellschaftliche Entwicklung als verantwortlich für den Klimawandel ausmachte, war dann keine große Erkenntnis für die Teilnehmer dieser Veranstaltung zur Nachhaltigkeit. In Bomhards Rede kam dann auch noch das aktuelle Top-Thema Terrorismus zur Sprache, im Versicherungs-Jargon „das einzige vom Menschen bewusst herbeigeführte Risiko“. Da Terror-Schäden nur begrenzt versicherbar sind, sei hier auch der Staat gefordert, z.B. im Rahmen der bereits existierenden Opfer-Fonds. Positiv festzustellen ist, dass Bomhard als Vertreter der Wirtschaft nicht nur den Begriff Nachhaltigkeit kennt, sondern auch vor seiner effekthaschenden, inflationären Verwendung warnte, indem er zum Abschluss nicht ganz ernst gemeint eine Art „TÜV“ dafür anregte.

Schließlich war es dann am Vorsitzenden des Rates, Volker Hauff, die Bundeskanzlerin zu begrüßen, und mit den Worten „Nachhaltigkeit = Chefsache“ klar zu machen, was er von ihrer Rede und vor allem ihrer Politik erwartete, nämlich nichts weniger als Kontinuität, Innovation und Engagement.

Angela Merkel hatte, so schien es, ihre Hausaufgaben gemacht. Sie wusste, was dem Publikum auf den Nägeln brannte. In einem allgemeinen, etwas improvisiert wirkenden Vorgeplänkel über den „Verbrauch der Zukunft in der Gegenwart“ zeigte sie, dass sie den Leitsatz der Nachhaltigkeitspolitik verstanden hatte. Es gehe darum, an die kommenden Generationen zu denken und ihnen nicht alle aktuellen Probleme aufzubürden. Nachhaltige Entwicklung heißt also, unseren Kindern eine Welt zu hinterlassen, in der Ökologie, Wirtschaft und Soziales noch im Einklang sind.

Mit den Stichworten „Gerechtigkeitsempfinden“ und „Demut“ stellte sie sich auf die Seite derjenigen, die ihr zunächst eher skeptisch zuhörten. Später nahm sie eventuellen Kritikern dann allen Wind aus den Segeln, indem sie damit kokettierte, sich wohl bewusst zu sein, manchmal unpopuläre Entscheidungen zu treffen. So erwarte sie gerade von den Anwesenden keine Jubel-Arien, sondern Hinweise und Kritik. Sie brauche den Nachhaltigkeitsrat als Mahner und Antreiber. Wie gefordert, will sie die EU-Ratspräsidentschaft und auch den G8-Vorsitz im nächsten Jahr dazu nutzen, Nachhaltigkeitsthemen auf die Tagesordnung zu setzen. Vor allem der Klimaschutz und die Energiepolitik sollen noch einmal angegangen werden. Für Beifall und mehr Medienresonanz sorgen sollte das bekundete Vorhaben, endlich auch die Amerikaner mit ins CO2-Programm zu holen. Selbst die Asiaten, so berichtete Merkel von ihren Dienstreisen, seien mittlerweile risikobewusster und handlungsbereiter als früher, wenn es um den Abbau von Treibhausgas-Emissionen geht.

Schließlich wurden noch ein lose Reihe weiterer Projekte der Bundesregierung, angesprochen, die weitgehend mit dem Thema Nachhaltigkeit zu tun haben. Die Kanzlerin prangerte die schlechte Balance zwischen Zinsausgaben für alte Schulden und Ausgaben für die Zukunft an, und lag mit vielen Zuhörern auf einer Wellenlänge. Als an diesem Tag sicher weniger kontroverse Maßnahme zur Haushaltssanierung brachte sie das Sparen bei der Beamtenbesoldung ins Spiel.

Weiterhin redete Merkel von neuen Strategien der Regierung zur Stärkung der Exportweltmeister-Position, die sogar noch 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze vor allem im High-Tech-Bereich schaffen sollen. Weiterhin ging es um den schonenden vernünftigen Umgang mit Ressourcen, in Deutschland und in den Entwicklungsländern, für die es auf einen verstärkten Schutz ihres Eigentums und weniger Ausbeutung durch die Industrieländer hinauslaufen soll. Global wird auch gedacht, wenn es um gemeinsame internationale Kriterien in allen Bereichen geht, z.B. beim Schutz von geistigem Eigentum, einer der mittlerweile wichtigsten Ressourcen des Westens. Weltweit soll der Verlust an biologischer Vielfalt bis 2010 verringert werden, ein dringendes Programm, dessen Handlungsgrund durch die doppelte Negation fast verharmlost wird. Die Umwelt soll auch zuhause geschützt werden, so soll, auch in Zusammenhang mit dem Stichwort Artenschutz, der neue Flächenverbrauch hierzulande reduziert werden, was angesichts der demographischen Entwicklung mehr als sinnvoll erscheint.

Schließlich betonte Merkel die Wichtigkeit des „lebenslangen Lernens“, und die Notwendigkeit, das generationsübergreifende Denken vor allem der zukünftigen Rentner-Generation zu vermitteln, damit alle noch folgenden Maßnahmen auch nachhaltig funktionieren könnten.

Dies war durchaus im Sinne von Volker Hauff. Der Ratspräsident erklärte, mit Zustimmung, Hoffnung und Nachdenklichkeit die Rede der Kanzlerin zur Kenntnis genommen zu haben. Bei allen Schwierigkeiten wolle er jedoch nicht nur an die Politik appellieren, sondern genauso an Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Nur wenn alle Akteure zusammen arbeiten und die Bedeutung der nachhaltigen Entwicklung nicht aus den Augen verlieren, hätte sein Rat Erfolg und diese Veranstaltung einen Sinn.

Es bleibt abzuwarten, was aus den hehren Ansprüchen wird, nicht nur was die wirkungsvolle Umsetzung der Projekte angeht, sondern schon allein wenn es darum geht, das Thema Nachhaltigkeit ins Gedächtnis zurückzurufen und immer wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Die großen Schlagzeilen werden zwar bis zum nächsten Kongress doch eher wieder der Terror oder so Wichtiges wie die Altbundeskanzler-Memoiren liefern, doch vielleicht schafft es auch zwischen Anschlägen und Schädel-Schändungen immer mal wieder eine kleinere Nachhaltigkeitsgeschichte, wie z.B. die gerade aufkeimende Debatte um das Garantierte Grundeinkommen.

Eine Frage der Wortwahl. Tilmann Spohn im Interview mit Camilo Jiménez, 20.10.06

Spohn ist Direktor des Instituts für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Der renommierte Akademiker spricht über die Entscheidung der Internationalen Astronomen-Union (IAU), Pluto nicht mehr als Planeten zu bezeichnen.

Professor Spohn, was haben Merkur, Venus, die Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun, was Pluto nicht hat?

Sie haben in der Tat viel gemeinsam. Erstens sind sie keine Sterne. Das bedeutet, sie sind relativ kleine Körper, in denen keine Kernreaktion stattfindet wie in den Sternen und sie deshalb kein Licht aussenden. Es sind außerdem Körper, die über relativ wenig Masse verfügen. Erst wenn sie die fünfzehnfache Masse des Jupiter hätten, wären sie keine Planeten mehr. Planeten von Sternen zu unterscheiden, oder anders gesagt, eine Unterscheidung von groß und klein, wäre relativ einfach. Auf der anderen Seite ist eine Unterscheidung von klein nach groß ziemlich schwierig. So gab es von Anfang an Schwierigkeiten, Pluto einzuordnen. Die kleinsten Objekte im Sonnensystem heißen Kleinplaneten, wie beispielsweise die Asteroiden. Hier fangen die Schwierigkeiten an. Wir haben Probleme damit, Planeten von Asteroiden zu unterscheiden. Im Fall von Pluto ist dies genau das Dilemma: im Unterschied zu allen anderen acht Planeten des Sonnensystems sind die Astronomen hier nie sicher gewesen, ob es sich um einen Planeten oder Asteroiden handelt.

Aber nach der neuen Definition ist Pluto kein Planet…

Was man getan hat, ist, verschiedene Bedingungen aufzustellen, die erfüllt sein müssen, um als Planet klassifiziert zu werden. Es sind zwei: Der Himmelskörper muss so groß sein, dass dadurch sein Inneres aufgeheizt wird, so dass der Kern schmilzt und dass er dadurch eine Kugelform erhält. Zweitens muss er in der Lage sein, die nähere Umgebung seiner Umlaufbahn von allen anderen Himmelskörpern zu säubern. Die letzte Bedingung erfüllt Pluto nicht, weil er selbst Teil des Kuiper-Gürtels ist. Die anderen acht Planeten erfüllen diese Bedingungen. Aus diesem Grund klassifiziert man Pluto als Zwergplaneten.

Wie haben Planetenforscher diese Nachricht aufgenommen?

Niemand wäre böse gewesen, wenn Pluto ein Planet geblieben wäre. Es handelt sich eigentlich um eine Frage der Wortwahl, nicht mehr. Die Frage, die sich den Astronomen in Prag stellte, war: Welche von den ganzen Himmelskörpern des Sonnensystems sind Planeten im klassischen Sinne und welche nicht? Für uns Astronomen ist eine Antwort auf diese Frage allerdings fast bedeutungslos, denn wir waren uns immer darüber im klaren, dass Pluto ein Himmelskörper ist, dessen Eigenschaften sich fundamental beispielsweise von den Gasriesen wie Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun unterscheiden, aber auch von den steinigen inneren Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars. Dennoch ist die Astronomie jahrhundertelang problemlos vorangekommen.

Als was wurde denn bislang Pluto betrachtet?

Seit die Existenz Plutos bekannt ist – also seit siebzig Jahren – haben alle Forscher Pluto als Himmelskörper betrachtet, der um die Sonne kreist und Teil einer Unzahl gefrorenen kometenähnlichen Himmelskörpern zählt, die sich am Rande unseres Sonnensystems befinden und als Kuiper-Gürtel bekannt sind. Es war bekannt, dass der Kuiper-Gürtel viele plutoähnliche Objekte hat, sogar einer der Neptunmonde, Triton, war ursprünglich Teil des Kuiper-Gürtels. Den Astronomen war also klar, dass Pluto kein Planet im klassischen Sinne wie die anderen acht Planeten ist.

Könnte man also sagen, dass der neue Status des Pluto der Forschung gar nichts bringt?

Ob Pluto ein Planet ist oder nicht, ist eine müßige Frage. Die Physik beispielsweise, die uns dazu verhilft, das Funktionieren der Himmelskörper zu verstehen, bleibt dieselbe, ob Pluto nun Planet ist oder nicht. Ein wichtiger Unterschied ist dagegen, ob ein Körper um die Sonne oder um einen anderen Körper – einen Planeten oder Asteroiden – kreist. Der Status von Pluto ändert nichts an unseren Forschungen. Auf einer anderen Ebene ist die Prager Entscheidung sehr wichtig. Viele Leute haben jahrelang dafür plädiert, auch die anderen bislang entdeckten drei plutoähnlichen Himmelskörper als Planeten zu bezeichnen. Es handelt sich um den die Asteroiden Ceres, der im 19.Jahrhundert als Planet betrachtet wurde, und UB313 sowie um den Plutomond Charon. Sie zu Planeten zu machen hätte uns in große Schwierigkeiten gebracht, da man daraufhin Gründe finden würde, mehr und mehr Himmelskörper zu der Gruppe der planetarischen Körper zu zählen. Durch die Entscheidung der IAU in Prag ist diese Gefahr vermieden worden.

Dieses Interview ist zum ersten Mal in der kolumbianischen Tageszeitung EL PAÍS erschienen.