Hansen, Frank-Peter: Einstein liest Nietzsche, 28.09.2015

Einstein liest Nietzsche … Bitte?! Die Nietzschephilologen und -forscher greifen sich an den Kopf. Worauf soll das hier hinaus?, mögen sie sich fragen. Das Inkom­mensurable kommensurabel zu machen, mag in der Mathematik ja noch hin­gehen. Wenngleich … Doch das steht auf einem anderen Blatt. Aber wenn behauptet wird, der Genius der theoretischen Physik habe den unzeitge­mäßen Kul­tur- und Geschichtskritiker auch nur flüchtig zur Kenntnis genom­men, sich gar ernsthaft mit ihm beschäftigt … Also nein! Wir lassen uns doch nicht verhoh­nepiepeln, und das geht entschieden zu weit! Unwilliges Kopf- und selbst Fäus­teschütteln macht sich breit. Unverhohlen ärgerliches Gemurmel er­füllt den Raum. Der Sturm der Entrüstung ist kurz davor loszu­brechen.

Gemach, liebe Freunde. Was folgt, ist ein Scherz, aber ein ernster. Ja, es mag schon so sein, dass der erzgescheite Südwestdeutsche nie auch nur einen Blick in das hy­persensible Schriftgut des gebürtigen Sachsen geworfen hat. Insofern ist das, was folgt, nichts weiter als Dichtung. Dass die fingierte Rahmenhand­lung aber in ihrem innersten Kern mehr als lediglich ein Körnchen Wahrheit beinhaltet, das zu be­haupten habe ich die Stirn. Denn ansonsten hätte ich mich, so dreist bin ich denn doch nicht, nie getraut, mit dem Nachfolgenden den öf­fentlichen Raum zu betre­ten und mich dem strengen Urteil der Fachwelt auszu­setzen. Welche Versicherung, ich weiß, lediglich eine petitio principii ist.

Behaupten lässt sich Vieles. Dem kombinatorischen Einfallsreichtum sind keine oder fast keine Grenzen gesetzt. Credo, quia absurdum?! Nein, so denn doch nicht. Bleiben wir halbwegs seriös. Es muss vielmehr so lauten: credo ut in­tellegam. Des­wegen bitte ich um die Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. Der Leser schlucke fürs Erste seinen Ärger hinunter. Er konzentriere sich auf das, was kommen wird. Er folge mir an der Seite des sanftmütig Blickenden in ein Ber­liner Kaffeehaus zu Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Als sich bereits abzuzeichnen begann, dass nicht nur seines Bleibens in der Noch-Republik Ziel und Grenze gesetzt war. Man leiste mir Gesellschaft an einem Nachbartisch und beobachte, un­ter meiner Führung, was sich zu ereignen im Begriffe steht. Ich werde Ein­blicke gewähren in den Gedankenhaushalt Des­jenigen, der sich gleich, wie es seine Art ist, in einen Zustand der geistig-intel­lektuellen Entrückung verabschieden wird.

Er hat Platz genommen. Tun wir es ihm gleich. Geben auch wir un­sere Be­stellung auf. Da! Der entscheidende Moment ist gekommen. Er zückt den Schmöker, den er soeben in einer am Gen­darmenmarkt gelegenen traditions­reichen Buchhandlung erstanden hat, aus der Seitentasche seines Mantels, den er achtlos über die jugendstilverschnörkelte Lehne des Nachbarstuhls geworfen hat. Er be­dankt sich artig für den gereichten Mocca bei der ihn freundlich anlä­chelnden weib­lichen Bedienung.

Schlägt die erste Seite auf und beginnt mit seiner Lektüre …

Damit ein Ereignis Größe habe, muß zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben. An sich hat kein Ereignis Größe. Es kommt aber auch vor, daß ein gewaltiger Mensch einen Streich führt, der an einem harten Gestein wirkungslos niedersinkt; ein kurzer scharfer Widerhall, und alles ist vorbei. Die Geschichte weiß auch von solchen gleichsam abgestumpften Ereignissen beinahe nichts zu melden. So überschleicht einen jeden, welcher ein Ereignis herankommen sieht, die Sorge, ob die, welche es erleben, seiner würdig sein werden. Auf dieses Sich-Entspre­chen von Tat und Empfänglichkeit rechnet und zielt man immer, wenn man han­delt, im kleinsten wie im größten; und der, welcher geben will, muß zusehen, dass er die Nehmer findet, die dem Sinne seiner Gabe genugtun. Eben deshalb hat auch die einzelne Tat eines selbst großen Menschen keine Größe, wenn sie kurz, stumpf und unfrucht­bar ist; denn in dem Augenblicke, wo er sie tat, muß ihm jedenfalls die tiefe Einsicht gefehlt ha­ben, dass sie gerade jetzt notwendig sei: er hatte nicht scharf genug gezielt, die Zeit nicht bestimmt genug erkannt und gewählt: der Zufall war Herr über ihn geworden, während groß sein und den Blick für die Notwendigkeit haben streng zusammengehört.

Er sieht auf und fährt sich mit der Hand über die Stirn. Sein Blick verliert sich im Un­gefähren. Das Stimmengewirr, das die Räumlichkeiten des gut besuchten Kaf­fee­hauses erfüllt, dringt kaum bis an die Schwelle seines Bewusstseins vor. Denn der, der das Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben hatte, musste dabei an ihn gedacht haben. Oder an seinesgleichen. Obgleich … So ganz stimmte das nicht, oder traf jedenfalls nicht auf ihn und seine Situation zu Beginn dieses Jahrhunderts zu.

Denn ja, sein Sinn war groß gewesen, als ihm der entscheidende Einfall ge­kommen war, dass der Grund zum Newtonschen Gedankengebäude eine Schicht tiefer ge­legt werden müsse. Die terrestrische hatte durch eine Physik mit univer­salem An­spruch ersetzt zu werden. Paradoxerweise dadurch, dass die Absolut­heit der Zeit und des Raumes aufgehoben werden mussten. Alles eine Frage der Geschwin­digkeit und ihres absoluten Grenzwertes, an dem die Zeit stillstand und der Raum seiner Ausdehnung verlustig ging. Die Lichtgeschwin­digkeit im Vakuum ist unab­hängig vom Bewegungszustand des emittierenden Körpers. Über sie gibt es kein Hinaus und folglich nichts zu addieren. Absurd das alles, aber die einzige phy­sikalisch logische Konsequenz. Messgenauigkeit, die gerade dadurch zustande kam und je­derzeit – er muss schmunzeln – herzu­stellen war, dass Raum und Zeit zu Ver­änderlichen, Variablen herabgesetzt wurden. Eine absolute Gleichzeitigkeit für alle Inertialsysteme gibt es nicht. Jedes System be­sitzt eine Eigenzeit, die von der eines relativ zu ihm bewegten Systems verschie­den ist.

Wenn er sich nicht intensiv mit den schier unglaublichen Einsichten des Mitbe­gründers der neuen Physik, der auch sein Scherflein zur Grundlegung der Ana­lysis beigetragen hatte, auseinandergesetzt hätte, er wäre nie auf die Lücke in dessen Ab­leitungen gestoßen, die zu schließen sein Verdienst gewesen war. Und das heißt, dass die, die, im übertragenen Sinne gesprochen, nur Zeitungen lesen und wenn’s hoch geht, Bücher zeitgenössischer Autoren, sich wie hochgradig Kurzsichtige verhalten, die es ver­schmähen, Augengläser zu tragen. Sie sind ab­hängig von den Vorurteilen und Moden ihrer Zeit, denn sie bekommen nichts anderes zu sehen und zu hören. Und was einer, da gibt es nichts daran zu deu­teln, selbständig denkt ohne Anlehnen an das Denken und Erleben anderer, ist auch im besten Falle ziemlich ärmlich und monoton. Denn, da beißt in letzter Konsequenz die Maus keinen Faden ab, bei der Relativitätstheorie handelt es sich keineswegs um einen revolutionären Akt, sondern um eine natürliche Fort­entwicklung einer durch Jahrhunderte verfolg­baren Linie.

Was heißt schon groß? Oder anders gefragt, im Sinne des luziden Kulturkriti­kers, dessen frühe Schrift zu lesen er gerade begonnen hat, ist es tatsächlich angezeigt, dass zweierlei zusammenkommen muss, damit die vollbrachte revo­lutionäre Tat wirklich groß und bahnbrechend ist? Nein! Das muss es nicht. Denn sie bleibt ex­zeptionell selbst dann, wenn niemand, nicht einmal Physiker von Profession, sie als solche zu würdigen bereit, willens, oder ganz einfach nicht in der Lage sind. Weil ihnen der Sinn und die Sensibilität für die Durch­schlagskraft des ganz und gar un­geheuren Gedankens abgeht: nämlich festen Grund zu gewinnen dadurch, dass man die vermeintliche Stabilität zweier physi­kalischer Grundgrößen als abhängige Variable zu verstehen lernt. Diesen in sich widersprüchlichen und doch einzig kon­sequenten Gedanken in seiner ungeheu­ren Konsequenz nachzuvollziehen und zu begreifen, was das heißt, war eigent­lich bloß einer in der Lage gewesen. Aber an­sonsten hatte zunächst niemand aus der physikalischen Szene aufgemerkt oder sich zu Wort gemeldet. Alles schien beim Alten geblieben zu sein. Weil der Sinn derer, an deren Adres­se seine im Umfang unscheinbare kleine Schrift gerichtet war, eben nicht groß gewesen war.

Doch, sein fulminanter Einfall von damals hatte Größe besessen, auch wenn er nur einen Teilaspekt des Gesamtproblems ins Visier genommen hatte. Die Kom­plet­tierung, Universalisierung und rechnerische Durchführung des Kerngedan­kens hatte noch einmal gut und gern zehn Jahre extremster, kräftezehrender ge­dank­licher Arbeit in Anspruch genommen. Weil er seinen doch recht mediokren ma­thematischen Kenntnisstand mit Hilfe seines Freunde Marcel Großmann hatte gehörig aufpäppeln müssen. Großmann, hatte er dem damals in Zürich lehren­den Freund geschrieben, Du mußt mir helfen, sonst werd’ ich verrückt!

Am Polytechnikum in Zürich hätte er, das stimmte, eine fundierte mathemati­sche Ausbildung erfahren können. Hurwitz und Minkowski waren Koryphäen ihres Fachs! Dennoch, dass er die Mathematik bis zu einem gewissen Grade ver­nachlässigte, hatte nicht nur den Grund, daß das naturwissenschaftliche Inter­esse stärker war als das mathematische, sondern vor allem die Tatsache, daß die Mathe­matik in viele Spezialgebiete gespalten war, deren jedes diese kurze uns vergönnte Lebenszeit weg­nehmen konnte. Er hatte sich wie Burridans Esel gefühlt, der sich nicht für ein besonderes Bündel Heu entschließen konnte. Dies lag offenbar daran, daß seine Intuition auf mathemati­schem Ge­biet nicht stark genug war, um das Fundamental-Wichtige, Grundlegende sicher von dem Rest der mehr oder weniger entbehrlichen Gelehrsamkeit zu unterscheiden. Außer­dem war aber auch das Interesse für die Naturerkenntnis unbedingt stärker; und es wurde ihm als Student nicht klar, daß der Zugang zu den tieferen prin­zipiellen Erkenntnissen in der Physik an die fein­sten mathematischen Methoden gebunden war. Dies dämmerte ihm erst allmählich nach Jahren selbständiger wissenschaftlicher Arbeit. Aber wie auch immer, er hatte, derart gerüstet, von kräftefreien Bewegungszuständen in den physikalisch letztlich einzig relevanten Bereich von Kräfte- und/oder Beschleunigungsverhältnissen durchstoßen müs­sen.

Was, erneut, als ganz und gar unmöglich von berufener Seite abgetan worden war. Ausgeschlossen, die Vielzahl der Variablen in die schlichte Einfachheit mathema­tischer Formel- und Gesetzessprache zu überführen. Du verplemperst deine Zeit, mein Lieber … Von wegen! Diese Erweiterung hatte das physikali­sche Verständnis des anorganischen Makrokosmos’ in seiner formvollendeten Gesetzmäßigkeit und, wie er es empfand, überirdischen Schönheit, erst komplett und in sich geschlossen gemacht. Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundge­fühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.

Diese durch summa summarum zehn Jahre getrennten Ergebnisse höchster denke­rischer Kraftanstrengung hatten Größe, egal wie sich der Rest der Welt dazu stellte oder gestellt hatte. Und im übrigen, hätte er sich nach dem Urteil der an­deren Fachgenossen gerichtet, nie hätten diese grundstürzenden Einsichten das Licht der Welt erblickt. Nein, einem ernst zu nehmenden Wissenschaftler muss es in jederlei Hinsicht egal sein, ob er sich mit seinem geistigen Treiben außer- oder innerhalb seiner Zeit befindet. Nur so kann er hoffen, einen oder vielleicht mehrere Schritte hinaus über die bisherige Grenze der Erkenntnis zu tun. Und ob ihm die anderen dabei nachfolgen werden, das hat ihn nicht zu in­teressieren. Darauf darf er keine Rücksicht nehmen. Denn selbst wenn sein Streich wirkungslos niedergesunken wäre … Was läge daran? Was hätte daran gelegen? Er wusste und weiß es besser. Und die, die ihm nachzufolgen bereit und in der Lage gewesen wa­ren, die hatten auch längst verstanden, welch großer Doppelwurf ihm in diesen Jahren vor dem Weltkrieg gelungen war.

Man muss es kennen und am eigenen Leibe erlebt haben, was es heißt, das ahnungs­volle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehn­sucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung und seinem endlichen Durchbruch zur Klarheit. Wer sie kennt reißt sich nicht danach. Wie hatte es noch in einem Brief an seinen Freund Ehrat ge­heißen? Ja, genauso: Jetzt weiß ich, warum es so viele Leute gibt, die gern Holz spalten. Bei dieser Tätigkeit sieht man nämlich immer sofort den Erfolg!

Es war an Absurdität kaum noch zu überbieten gewesen, als er 1907 an der Uni­ver­sität Bern die 1905 verfasste, alles in der physikalischen Wissenschaft auf eine neue Basis hebende, Arbeit Elektrodynamik bewegter Körper als Habilita­tionsschrift einge­reicht hatte und einer der Ordinarien, es war, wenn er sich recht erinnerte, Professor Aimé Forster gewesen, ihm die fulminante, 30 Druckseiten umfassende Schrift mit den Worten zu­rückgegeben hatte: Was Sie da geschrie­ben haben, verstehe ich überhaupt nicht. Gegen wen sprach das? Etwa gegen ihn?!

Er fährt sich mit der Hand durch sein leicht gewelltes, immer noch vergleichs­weise volles ergrautes Haar. Hatte er nicht vielleicht doch, wenn er ehrlich war, Sorge em­pfunden, ob die, welche seine Texte zur Kenntnis nehmen würden, sei­ner wür­dig sein würden? Nein!, allenfalls, nachdem der entscheidende Schritt getan und der Beweis mit dem schlichten, fast unscheinbaren Formelapparat zu Papier gebracht worden war, hatte er kurz innegehalten und sich gefragt, ob sei­ner auf leisen Sohlen daherkommenden Großtat die ihr entsprechende Aufmerk­samkeit zuteil werden würde. Denn sie selbst war nicht allein notwendig, son­dern so, wie die physika­lischen Dinge damals gelegen hatten, auch ganz und gar an der Zeit gewesen. In ei­nem überpersönlichen Sinne also gab es die Entspre­chung. Weil die Zeit reif ge­wesen war für diesen Schritt über das mit vermeint­lichen Konstanten operierende Denken der klassischen Physik.

Voraussetzungsloses Denken? Womöglich jenseits oder außerhalb der Zeit? Im Elfenbeinturm? Pah! Alles hatte seine notwendige Bedingungskette im Rücken. Und er war lediglich der gewesen, der, als das Problem spruchreif geworden war und, freilich von Niemandem bemerkt, auf der Tagesordnung gestanden hatte, das erlösende Wort der Lösung gesprochen hatte.

Selbst die Unzeitgemäßen Betrach­tungen des Röckener Alleszerstörers waren an der Zeit gewesen. Die passende grüblerische Ant­wort eines hochsensiblen, künstlerisch begabten Menschen, der ein Gespür dafür gehabt hatte, was sich hinter der glän­zenden Fassade des neuen, gerade erst gegründeten kleindeut­schen Reiches unter der kompromisslosen Führerschaft des auf Macht und nichts sonst verses­senen Kanzlers und seiner berechnenden antikatholischen Kulturkampfeu­phorie in Wahr­heit verbarg. Mediokres Philistertum und eine Gesellschaftsordnung, die mit ihrem preußischen Drill, ihrer kirchlich-höfisch basierten Hierarchie und ihrer biedermän­nischen Staatsfrömmigkeit selbst den Gelehrtenstand geistig domestiziert hatte. Wie hatte er sich an anderer Stelle mit beißendem Spott über die deutsche Gelehr­tenzunft lustig gemacht?! Er hatte von den in ihren Staat vergnügten Universitätspro­fessoren gesprochen, die er auf Grund ihrer zur zweiten Natur gewor­denen Devot­heit herzlich verachtet hatte. Denn was ist die Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine …Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des ‚Reichs’ zusammenfällt: beide Tatsachen beweisen ein und dasselbe – Ge­horsam und lange Beine. – Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Recht so! Wenngleich es so aussieht, als ob gerade jetzt eine Steigerung dieses widerwärtigen deutschen Superlativs unmittelbar vor der Tür steht. O wie einem nunmehr der Genuß zuwider ist, der grobe, dumpfe, braune Genuß, wie ihn sonst die Genießenden, unsre ‚Gebildeten’, unsre Rei­chen und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem großen Jahrmarkts-Bumbum zu­hören, mit dem sich der ‚gebildete’ Mensch und Großstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu ‚geistigen Genüssen’, unter Mithilfe geistiger Getränke, notzüch­tigen lässt! Den Herrschen­den nach dem Mund zu reden jedenfalls kann bloß in den geistigen Ruin führen!

So ist zum Beispiel das Gebäude der Erziehung als morsch erkannt, und überall finden sich einzelne, welche in aller Stille schon das Gebäude verlassen haben. Könnte man die, welche tat­sächlich schon jetzt tief mit ihm unzufrieden sind, nur einmal zur offenen Empörung und Er­klärung treiben! Könnte man sie des verzagenden Unmuts berauben! Ich weiß es: wenn man gera­de den stillen Bei­trag dieser Naturen von dem Ertrage unseres gesamten Bildungswesens ab­striche, es wäre der empfindlichste Aderlaß, durch den man dasselbe schwächen könnte. Von den Gelehr­ten zum Beispiel blieben unter dem alten Regimente nur die durch den politischen Wahn­witz An­gesteckten und die literatenhaften Men­schen aller Art zurück. Das widerliche Gebilde, welches jetzt seine Kräfte aus der Anlehnung an die Sphären der Gewalt und Ungerechtigkeit, aus Staat und Gesellschaft, nimmt und seinen Vorteil dabei hat, diese immer böser und rück­sichts­loser zu machen, ist ohne diese Anlehnung etwas Schwächliches und Er­müdetes: man braucht es nur recht zu verachten, so fällt es schon über den Haufen.

Schön! Sehr schön! Doch freilich, legt sich ein Schatten der Trauer über ihn, wenn das alles so einfach wäre … Aber das ist es nun einmal leider nicht.

Etwas Dunkles schiebt sich in sein Gesichtsfeld. Jemand tippt auf seine Schul­ter. Nicht jetzt! Man stört. Immer zur Unzeit. Unwillkürlich macht er eine kaum wahr­nehmbare Ausweichbewegung. Umsonst. Er wird angesprochen. Er be­schließt, nicht zu reagieren. Ich bin nicht da, denkt er. Hält sich den Schmöker ganz dicht vor seine birnenförmige Nase. Die ergrauten Haare seines Schnurr­barts schaben über das vergilbte Papier. Es hilft alles nichts. Der, der ihn aus seinen der Vergan­genheit zugewandten Gedanken schamlos aufgeschreckt hat, hält ihm ein aufge­klapptes Buch vors Gesicht. In der anderen Hand befindet sich ein schwarz glän­zender Füllfederhalter. Wie er sie hasst, diese unterwürfig-auf­dringlichen Auto­grammjäger! Die sich auf diese erbärmlich-nichtswürdige Art wichtig machen. Glauben, allein dadurch ihrem trostlosen Leben etwas Schwere und Gewicht geben zu können, dass sie sich, verbürgt durch eine Unterschrift, im Dunstkreis von Per­sonen des sogenannten öffentlichen Interesses aufgehalten haben. Duckmäuser, nichtswürdige! Mediokres Pack! Um so zu sein oder zu werden, muss man nicht einmal an einer deutschen Universität lehren. Diese Geisteshaltung eines spin­tisierenden Flohknackers beherrscht auch der gemeine Mann von der Straße aus dem Effeff. Seine Devise hingegen hat, so lange er zurückdenken kann, schon immer gelautet: Was an der eigenen Existenz bedeut­sam ist, wird uns selber kaum bewußt und sollte die Mitmenschen gewiß nicht kümmern. Was weiß ein Fisch vom Wasser, in dem er sein Lebtag herum­schwimmt? Sein höchstes Ziel eben ist es, Abstand von sich selbst, ja, im äu­ßersten Extrem und soweit das überhaupt menschenmöglich ist, Befreiung vom Persönlichen zu gewinnen. Das Biographische ist der belangloseste Teil eines Er­denbürgers. Auch wenn das die Großen der menschlichen Spezies oder die, die sich irrtümlicherweise dafür halten, ganz anders sehen.

Ein Schmunzeln huscht über sein von Falten zerfurchtes Gesicht. Und kritzelt achtlos mit einem schabenden Geräusch sein verschnörkeltes, leicht verwasche­nes A. Einstein in die äußerste rechte untere Ecke des ersten Blattes des Druck­werks. Schmöker und Crayon wechseln erneut den Besitzer. Den wort­reichen Dank hört er bereits nicht mehr. Oder nur von ganz weit weg. Wie das unange­nehme Sirren eines lästigen Insekts, das man mit einem flüchtigen, ärgerlichen Wedeln der Hand auf Abstand zu halten sucht.

Der Schüler steht vor seinem geistigen Auge. Sein Hass auf den täglichen Drill. Seine Abneigung gegen ein mechanisches Auswendiglernen selbst in den Wis­sens­gebieten, wo es nichts verloren hat. In der Schule wird die Freude, die hei­lige Neugier des Forschens erdrosselt. Denn der Heranwachsende bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit. Es ist ein unverzeihlicher Irrtum, zu glau­ben, dass Freude am Lernen durch den Zwang zur Pflicht gefördert wird. Dass er von seinen Lehrern stets scheel angesehen wurde hatte wohl letztlich daran gelegen, dass er so eine Art Va­gabund und Eigenbrödler gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Er misstraut jeder Autorität. Das ist die Einstel­lung, die ihn nicht wieder verlassen hat. Und der, den er gerade zu lesen begon­nen hat, hat das, so weit er weiß, ganz genauso em­pfunden. Seine Schulzeit in Schulpforta hat der genialische junge Mensch, der Stür­mer und Dränger der zweiten Gene­ration, auch stets als Zumutung empfunden. Auch wenn sein gei­stiger Hintergrund ein anderer gewesen ist. Klassische Antike. Die Humaniora. Literatur und, vor al­lem und immer wieder im Schlepptau des Erz­romantikers Schopen­hauer, die zwangsläufig der Nachtseite zugewandte Zauber­welt der Tonkunst. Die roman­tischste aller Künste. Die ihre verklärende Vollen­dung in dem zunächst bewunder­ten Meister mit seinem Drang zum musikalischen Ge­samtkunstwerk ge­funden hat. Bevor der Unzeitgemäße in dem zunächst abgöt­tisch Verehrten und Angehimmelten, dem, das war zu viel gewesen, grauenhaf­ten Erz­katholiken, und wahrscheinlich auch in sich den Décadent par excellence ent­deckt und unerbittlich bekämpft hat. Allein das ist schon selbstzerstörerisch gewesen. Von allem anderen einmal abgesehen. Aber, gleichviel. Die Gründe für den Ab­scheu vor den schuli­schen geisttötenden Anforderungen sind bei ihnen die glei­chen gewesen. Denn auch das Leben und Weben in der (Theorie der) Musik und Lite­ratur ist auf einige wenige Grundkenntnisse angewiesen; vor allem aber auf ein lei­denschaftliches Sich­verlieren in den Labyrinthen wort- und klanggewaltigen menschlichen Ausdrucks. Obwohl er selbst viel mehr mit der heilig-nüchternen Strenge und Klarheit eines Johann Sebastian Bach bei seinem mehr als bloß halb­professionellen Violinspiel an­zufangen weiß.

So auch, wenn auch ganz anders, in der Mathematik. Der Physik. Oder der Che­mie. Kurz, in allen naturwissenschaftlichen Fächern. Gut. Grundlagenkenntnisse sind hier wie sonst unverzichtbar. Axiomatik, Dimensionenlehre, Protonen- und Neu­tronenzahlen, Kernbausteine, Anzahl der diversen Elektronen auf den Scha­len. Elektronensprünge, Massenverluste und noch einiges mehr. Aber dann heißt es, seinen Kopf anzustrengen und aus den Gegebenheiten etwas zu machen. Nach Möglichkeit etwas Schlüssiges, in sich Zusammenhängendes, Gesetzmä­ßiges und Notwendiges. Das sämtlichen jeweils gegebenen Aspekten nicht bloß standhält, sondern sie in eine kristallklare Ordnung bringt, in der jedes Teilchen seine unver­rückbare Ordnung findet. Denn die Naturwelt des Physikers ist die in Formeln gebrachte objektive Ordnung des realen Seins. Deswegen ist ihm die gegenwärtig grassierende Wahrscheinlichkeitsmystik und die Abkehr von der Realität ein Gräuel. Nein, Messungen machen nur dann Sinn, wenn etwas exis­tiert, das gemes­sen werden kann. Sie konstituieren ihren Gegenstand nicht. Und wenn die Zahl der in Frage kommenden Faktoren bei einem komplexen Phäno­men der Natur zu groß wird, dann heißt das noch lange nicht, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst und lediglich noch der Zufall regiert. Selbst die Ergebnisse der Wahrscheinlichkeits­rechnung mit ihrer sprichwörtlichen großen Zahl deuten noch auf so etwas wie ei­ne regelmäßige Verteilung hin. Nehme man beispiels­weise das Wetter, dann sei eine sichere Vorhersage für zwei oder drei Tage zwar nicht bis ins Letzte möglich. Nicht aber, weil den Erscheinungen des Wetters kein Kausalzusammenhang, keine Ord­nung und Gesetzlichkeit zugrunde liege, sondern weil mannigfaltige, uns unbe­kannte Faktoren mitwirken.

Das Buch des im Grundlegenden Gleichgesinnten rutscht ihm aus der Hand. Fällt zu Boden. Die Seiten rascheln. Er bückt sich. Hebt es auf. Zurück auf Los.

Daß ein einzelner, im Verlaufe eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas durchaus Neues hin­stellen könne, mag wohl alle die empören, welche auf die Allmählichkeit aller Entwicklung wie auf eine Art von Sitten-Gesetz schwören: sie sind selber langsam und fordern Langsamkeit – und da sehen sie nun einen sehr Geschwinden, wissen nicht, wie er es macht, und sind ihm böse.

Donnerwetter, ja! Schon wieder zückt er einen Stift und markiert die Stelle. Ist zwar auf den verehrten Tonkünstler gemünzt. Aber wer, wenn nicht er, soll sich durch diese Zeilen angesprochen fühlen?!

Es wäre sonderbar, wenn das, was jemand am besten kann und am liebsten tut, nicht auch in der gesamten Gestaltung seines Lebens wieder sichtbar würde; vielmehr muß bei Menschen von her­vorragender Befähigung das Leben nicht nur, wie bei jedermann, zum Abbild des Charakters, sondern vor allem auch zum Abbild des Intellektes und seines eigensten Vermögens werden.

Auch das ist wahr und trifft auf ihn ohne jede Einschränkung zu. Allerdings be­schleicht ihn ein ungutes Gefühl. Wer derart, und sei es auch bloß im Gedanken an einen anderen, ins Schwärmen und preisende Schwadronieren gerät, läuft un­wei­gerlich Gefahr, all das Richtige in einer hochgepuschten Eitelkeit und lobhu­delnden Selbstverliebtheit zu ersäufen. Und das ist dann wieder der doch sonst stets ver­achtete Philisterhabitus. Der Ausnahmemensch gerät vor allem dann, wenn er auf diese schleichende Gefahr nicht ausdrücklich reflektiert, zur Karika­tur des Geni­alen: einem aufgeblasenen Wichtigtuer und hohl-gestikulierenden Schaum­schläger. Ohnehin haben die meisten Menschen … einen heiligen Res­pekt vor Worten, die sie nicht be­greifen können, und betrachten es als ein Zei­chen der Oberflächlichkeit eines Autors, wenn sie ihn begreifen können. Er wird das fatale Gefühl nicht los, dass der Autor bei allem Über­schwang des Lobprei­sens des verehrten Meisters dabei immer auch mehr als bloß ein wenig sich selbst aufs Schild gehoben hat. Zuerst hypertropher Enthusias­mus, der dann, fast wie aus dem Nichts, in sein genaues Gegenteil umschlägt. Und in eben dem, dem unbändigen Hass auf den Décadent – der Nihilismus als Logik der Deka­denz –, als dessen Spezialisten, Propheten und Opfer er sich je länger desto mehr sah, ist der Hass auf sich selbst, den pessimistischen Falschmünzer, wie selbstverständlich immer mit einge­schlossen.

Es geht gefährlich und verzweifelt zu im Lebenswege jedes wahren Künstlers, der in die modernen Zeiten geworfen ist. Man denke ihn sich in eine Beamtung hinein – so wie Wagner das Amt eines Kapellmeisters an Stadt- und Hoftheatern zu versehen hatte; man empfinde es, wie der ernsteste Künstler mit Gewalt da den Ernst erzwingen will, wo nun einmal die modernen Einrichtungen fast mit grundsätzlicher Leichtfertigkeit aufgebaut sind und Leichtfertigkeit fordern, wie es ihm zum Teil gelingt und im ganzen immer mißlingt, wie der Ekel ihm naht und er flüchten will, wie er den Ort nicht findet, wohin er flüchten könnte, und er immer wieder zu den Zigeunern und Ausgestoßenen unsrer Kultur als einer der Ihrigen zurückkehren muß.

Die Kinder sind’s bei ihm. Weil sie, in der Regel, noch unverbildet sind. Weil sie sich im Abseits ihrer phantastischen Welten schlafwandlerisch sicher ver­lieren. Und wohin er ihnen nicht allein, wann immer es geht, liebend gerne folgt, sondern, der Schalk treibt ihn an, auch auf eigene Faust neue, unbetretene Wege bahnt. Nein, sich unter ein Diktat zu beugen, Regeln des Benimm an seiner Per­son zu voll­strecken … Das will er nicht. Hat es nie gewollt. Da streckt er lieber wie ein kleiner Junge die Zunge heraus und gebärdet sich wie ein Narr. Wie ei­ner, der sich unter keine gesellschaftlichen Konventionen beugt und beugen lässt. Weil ihm das mo­derne Kunst-Lügenwesen von Grund auf verhasst ist. Weil es ihn davor wie vor nichts sonst ekelt.

So nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Kon­vention hinzu, das heißt des Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Übereinkommen des Gefühls. …Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er sich, nach der Art unserer ‚Kunstfreunde’, einem trügerischen Behagen und einer stillen Trunksucht überantwortete!

Apropos Trunksucht … Er winkt der Bedienung, sie möge ihm noch einen Mocca bringen. Und ja, gerne auch einen Cognac im Schwenker. Um sich auch somatisch auf ein höheres Energieniveau zu begeben.

Im Weiterlesen fingert er aus der Seitentasche seines Jacketts seine Rauchuten­silien hervor. Das Pfeifenrauchen sorgt für Atmosphäre. Mit flinken Fingern stopft er den zart nach Pflaumen riechenden Knaster in den Pfeifenkopf und entzündet paffend den vom häufigen Gebrauch fast schwarz verfärbten Knösel. Jetzt ist er ganz bei sich. Noch jeweils ein Schluck von dem inzwischen bereit­gestellten Stark­getränk und dem warm-schweren Branntwein und er fährt, zu­frieden lächelnd, in der Lektüre fort. Sollte ihn jetzt noch jemand stören, wehe ihm …

Wagner, so liest er, bannt und schließt zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medizinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringie­rende Kraft: insofern gehört er zu den ganz großen Kulturgewalten. Er waltet über den Künsten, den Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ord­nenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammen­gebrachten, ein Vereinfacher der Welt.

Ja, das ist er auch geworden, mit seiner Doppeleinsicht. Obwohl, nein!, so stimmt das nicht. Nicht er hat die Welt vereinfacht. Sie gehorcht von sich aus, ganz ohne sein Zutun, diesen in ihrer paradoxen Einfachheit von ihm als so wunderschön em­pfundenen Gesetzen. Und an ihm war es lediglich, ihr ihr Ge­heimnis, das tatsäch­lich eines der Vereinfachung und Vereinheitlichung war, abzulauschen. Und weil das so ist, weil er, in dem Sinne, nichts erfunden, son­dern lediglich etwas, das vor aller Menschen Augen liegt und sich unentwegt abspielt, gedanklich bewältigt hat, ist er auch schlecht zu sprechen auf das er­kenntnis- und wissenschafts­theoretische Metagewese der philosophischen Wis­senschaft seines sonst so verehrten österrei­chischen Lehrers Ernst Mach, dem sich alles in letztlich fiktionale Erscheinungs- und Vorstellungsbilder, freie Er­findungen des mensch­lichen Geistes, auflöst. Wie kommt …ein ordentlich be­gabter Naturforscher überhaupt dazu, sich um Erkenntnistheorie zu küm­mern? Gibt es in seinem Fache nicht wertvollere Arbeit? Da­ran jedenfalls ist nicht zu rütteln: Erkenntnistheorie ohne Kontakt zur Naturwis­senschaft, die ihrerseits von einer unabhängig für sich beste­henden Welt realer und gesetzmäßig verbun­dener Zusammenhänge ausgeht, gerät zum leeren Schema. Denn was ist Natur­wissenschaft? Sie ist der Versuch einer nachträglichen Rekonstruktion alles Sei­enden im Prozeß der begrifflichen Erfassung. Sie ist nichts weiter als eine Ver­feinerung unseres alltäglichen Denkens. Jawohl! So und nicht anders!

Sein Knösel glüht. Der Qualm steigt senkrecht in die Höhe, bevor er sich sacht verwirbelt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen zu bilden begonnen. Der Cognac dämpft das Brennen auf seiner Zunge merklich herab.

Was auf ihn stark wirkte, das wollte und konnte er auch machen; von seinen Vorbildern verstand er auf jeder Stufe ebensoviel als er auch selber bilden konn­te, er zweifelte nie daran, das auch zu können, was ihm gefiel. Vielleicht ist er hierin eine noch ‚präsumtuösere’ Natur als Goethe, der von sich sagte: ‚immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst’.

Ein Sonntagskind des Lebens. Das war Wagner für Nietzsche gewesen. So, er weiß es, lautet auch das Selbstverständnis eines der größten Romanciers dieses Jahr­hunderts. Und ja, obwohl er sich selbst für vergleichsweise uneitel hält, auch er war nie frei gewesen von dem Gefühl, dass es mit ihm stets nur gut und zu seiner Zu­friedenheit ausgehen könne. Was er erreicht hatte, stand ihm auch zu. Nicht, weil es ihm in den Schoß gefallen war. Nein, weiß Gott nicht! Er hatte es sich hart erar­beiten müssen. Er hat ebenso unablässig darnach gestrebt, sich die schwersten Gesetze auf­zuerlegen, als andre nach Erleichterung ihrer Last trach­ten; das Leben und die Kunst drücken ihn, wenn er nicht mit ihren schwierigsten Problemen spielen kann. Man muss das Brett dort bohren, wo es am dicksten ist. Keine Frage. Aber wenn dann der Gipfel erklom­men ist, erwartet einen dort oben niemand anders als man selbst. Und wie fühlt sich das an? Wie jene gold­helle durch­gegorne Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe, be­trachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit. Genau so! Denn so ist die Stimmung eines wahr­haft frei gewordnen Könnens, das nie den Atem verliert, nie keuchend an sein Ziel kommt.

Von seinem Erlebnis aus verstand er die ganze schmachvolle Stellung, in wel­cher die Kunst und die Künstler sich befinden: wie eine seelenlose oder seelen­harte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und Künstler zu ihrem sklavischen Gefolge zählt, zur Be­friedigung von Schein­bedürfnissen. Die moderne Kunst ist Luxus: das begriff er ebenso wie das andre, daß sie mit dem Rechte einer Luxus-Gesellschaft stehe und falle … Die ganze ästhetische Schreib- und Schwatzseligkeit brach wie ein Fieber unter den Deutschen aus, man maß und fingerte an den Kunstwerken, an der Person des Künstlers herum, mit jenem Mangel an Scham, welcher den deutschen Gelehr­ten nicht weniger als den deutschen Zeitungsschreibern zu eigen ist.

Und nicht bloß denen! Seit er eine Berühmtheit war, stellte man ihm nach. Machte sich anheischig, die Größe seines Gehirns und die Anzahl von dessen Windungen zu vermessen. Physiognomik und Schädellehre auf dem allernied­rigsten Stand. Oder man trug ihm an, seine Seele zergliedern zu lassen. Platz zu nehmen auf der Couch. Es sich, womöglich liegend, bequem zu machen, um sein Innerstes nach Außen zu kehren. Um der Psyche eines Genies, für das man ihn hielt, ihr abgrün­diges Geheimnis abzulauschen Dabei bedurfte es doch bloß eines geringen ge­danklichen Aufwandes, um zu begreifen, dass die Psychoana­lyse die Krankheit war, für dessen Therapie sie sich irrtümlicherweise hielt.

Aber er will sich nicht mehr ärgern. Zumal ihm die nächste Stelle ins Auge fällt, die seinem Selbstverständnis voll und ganz entspricht. Es kühn in Worte fasst, wie aller Mühsal gedanklicher Extrembeanspruchung zum Trotz das Ergebnis dieses unent­wegten, zähen Ringens nichts anderes ist als ein schwebend leichtes, ganz und gar in sich stimmiges logisch-reales Luftgebilde.

Man erwäge dann wiederum die Einordnung einer solchen singenden Leiden­schaft in den ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein Wun­derding von überwundenen Schwierig­keiten kennen zu lernen: seine Erfindsam­keit hierbei, im kleinen und großen, die Allgegenwart seines Geistes und seines Fleißes ist derart, daß man beim Anblick einer Wagnerschen Partitur glauben möchte, es habe vor ihm gar keine rechte Arbeit und Anstrengung gegeben. Es scheint, daß er auch in bezug auf die Mühsal der Kunst hätte sagen können, die eigentliche Tugend des Dramatikers bestehe in der Selbstentäußerung; aber er würde wahrscheinlich entgegnen: es gibt nur eine Mühsal, die des noch nicht Freigewordenen; die Tugend und das Gute sind leicht.

Oder auch so: frei und leicht wie aus dem Nichts entsprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick. Das ist sogar noch tiefer gedacht, weil es die Mühsal nicht unterschlägt, sondern bloß, im Ergebnis, vergessen macht. Kunst, die Na­tur zu sein scheint. Kristallklare Erkenntnis, die kein Aber zulässt, weil alles in sich stimmig ist, seine unverrückbare Stelle hat und mithin passt.

Und genau so kommt es auch hier. Gleich im Anschluss. Denn er liest mit einem sich immer mehr ausbreitenden und sein Gesicht schließlich erstrahlen lassen­den Lächeln …

Als Künstler im ganzen betrachtet, so hat Wagner, um an einen bekannteren Typus zu erinnern, etwas von Demosthenes an sich: den furchtbaren Ernst um die Sache und die Gewalt des Griffs, so daß er jedes Mal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Augenblick, und sie hält fest, als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener seine Kunst oder macht sie vergessen, indem er zwingt, an die Sache zu denken; …seine Kunst wirkt als Natur, als hergestellte, wiedergefundene Natur.

Das Naive ist das Sentimentalische, denkt er. Goethe und Schiller sind eins. Und diesen beiden Dioskuren aus Weimar fühlt er sich so nah in diesem Moment tag­heller Erleuchtung wie lange nicht mehr.

Er hält inne. Seine Pfeife, die er in seiner Rechten hält, ist längst erloschen. Der Mocca ist nicht einmal mehr lauwarm. Nur der Weinbrand, den er nun bis zur Neige austrinkt, rinnt warm-sanft durch seine ausgetrocknete Kehle.

Weiter! Immer weiter zieht der andere ihn mit sich fort! Während es draußen sacht zu schneien begonnen hat.

Selbst das Gute, liest er, indem er leicht zu nicken beginnt, weil es ihm aus dem Her­zen gesprochen ist, in der Kunst ist überflüssig und schädlich, wenn es aus der Nachahmung des Besten entstand. Und ja, der Weise verkehrt im Grunde mit lebenden Menschen nur so weit …, als er durch sie den Schatz seiner Er­kenntnis zu mehren weiß … Wenngleich er, gerade im Umgang mit seinen Stu­denten, gelernt hat, sich auf deren Schwierigkeiten des geistigen Nachvollzugs der bisweilen hochgradig komplizierten Materie mit Engels­geduld einzulassen. Obwohl, auch darin ist er sich mit dem von dem Anderen bewunderten Tonset­zer einig, von dem der Satz überliefert ist: Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist im Irrtum.

Und trotzdem, und erst recht gilt, dass im allgemeinen …der hilfreiche Drang des schaf­fenden Künstlers zu groß ist, der Horizont seiner Menschenliebe zu umfänglich, als daß sein Blick an den Umzäunungen des nationalen Wesens hängen bleiben sollte. Seine Gedanken sind … überdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der Zukunft.

Genau das ist auch sein Glaube und seine Zuversicht, selbst wenn die politi­schen Zeichen inzwischen auf Sturm stehen, und er ernstlich darüber nachzu­denken be­gonnen hat, Deutschland den Rücken zuzukehren. So wie die Dinge liegen, ist hier in der Hauptstadt des Deutschen Reiches seines Bleibens nicht länger mehr. So schwer es ihn ankommt. Er wird den Weg in die Fremde antre­ten müssen. Hinaus aus der von völkischen Widerwärtigkeiten verstockten, stickig-provinziellen, von roher Gewalt schwangeren Atmos­phäre.

Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf!
Fern dämmre schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf!

Möge es so kommen! Und möge er durch sein unablässiges Streben seinen Teil da­zu beitragen, daß die Menschheit irgendwann einmal endgültig ideale Ord­nungen finden werde.

Freund, denkt er, Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?

Er verstaut seine Rauchutensilien und den Schmöker, winkt die Bedienung heran, begleicht die Rech­nung, streift sich seinen knielangen, zweireihigen hellgrauen Mantel über und tritt beschwingt in die froststarre Kälte des in dichtem Schneege­stöber verschwimmenden Januartages hinaus.

Über „Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven“ von Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hg.)

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • NÜNNING, Ansgar/ NÜNNING, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. J. B. Metzler, Stuttgart u. Weimar 2008. ISBN 978-3-476-02237-0.

Wer diese Einführung liest riskiert, endgültig seinen Verstand zu verlieren. Das klingt hart, begründet sich aber wie folgt. Zum einen werden hier lediglich noch dazu „multiperspektivische Interpretationsmodelle“ mit unglaublich viel Terminologie und Neologismen angeboten. Warum? Weil, zum wievielten Male eigentlich?, die Geisteswissenschaften in eine Krise geraten sind oder sein sollen. Langsam möchte man vorschlagen: Wenn das ganze Unternehmen so krisenanfällig ist, warum in Gottes Namen legt man den ganzen Krempel nicht endlich zu den Akten? Weil man dazu entschlossen ist, mehr oder weniger wie gehabt weiter zu machen. Darum! Dies zumal dann, wenn man des weiteren erfährt, daß keiner so genau weiß, was die Kulturwissenschaft eigentlich genau ist. Also bastelt man weiter an seinem Selbstverständnis, wenn auf annähernd 400 Seiten über etwas verhandelt wird, von dem die mit ihm Beschäftigten nicht zu sagen wissen, was es ist. Soviel nur soll sicher und über jeden Zweifel erhaben sein: Die Kulturwissenschaftler gibt es, sie treiben etwas, aber die „Konturen“ und das „Profil“ ihres Treibens sind „trotz (oder wegen?) der Fülle von Publikationen noch recht unscharf“. Man möchte den in dieses heillose Tun Involvierten zurufen: Setzt euch hin, denkt nach, und wenn ihr dann etwas Gescheites herausgefunden habt, bringt es zu Papier und veröffentlicht es, wenn ihr dafür einen Verlag findet! Daß sie allerdings nie etwas Gescheites herausfinden werden hat mit ihrem Verständnis von Wissenschaft zu tun. Man erfährt, daß Wissenschaft ausnahmslos „selbstreferentiell“ ist. Sie ist, im Verständnis der Beiträger dieses Bandes, ein „diskursives Konstrukt“, „das auf unterschiedlichste Weise problematisiert, erforscht und beschrieben“ werden kann. Ist das nun die oben beschworene Krise? Oder ein Mittel dagegen? Oder beides? Egal und wie auch immer, viel wichtiger ist: Der wissenschaftlichen Befassung würdige Gegenstände existieren nicht etwa, sondern sie werden „nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, theoretischer Vorannahmen und Modelle durch konzeptuelle und terminologische Differenzierungen konstruiert bzw. ‚erfunden‘.“ Diesen Satz muß man sich ganz einfach auf der Zunge zergehen lassen. Denn was steht geschrieben? Kurz und bündig: Wissenschaft ist eine Ansammlung von Vorurteilen, mittels derer man herausfindet, was man herausfinden will, bzw. sich seinen Gegenstand willkürlich konstruiert oder auch ganz einfach erfindet. Wenn das stimmt, bleibt allerdings zu fragen, warum immerzu von diesen Konstruktionsbeflissenen über die Unbestimmtheit und Krisenanfälligkeit dieser Nicht-Disziplin gejammert wird, wo sie doch, ihrer wissenschaftstheoretischen Prämisse gemäß, von ihnen erfindungsreich und selbstreferentiell, tagaus, tagein ins Werk gesetzt wird. Denn: „Eine Wissenschaft spricht nicht über Gegenstände, sondern über Phänomene und Probleme. Und diese gibt es nicht ‚an sich‘, sondern nur für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.“ Stimmt! Also kein Lamento über Krisen, Unbestimmtheit des Gegenstandes, den ihr euch doch, so euer eigenes Selbstverständnis, nur zu geben braucht, um ihn, in welcher Gestalt auch immer, für den jeweiligen Eigenbedarf zu haben. Im Vergleich zu diesem wüsten Treiben sind Spiele von einer geradezu unglaublichen Exaktheit, weil man sich für gewöhnlich beim Spielen an das vorgeschriebene Regelwerk hält. Also noch einmal: Diesem „Begriffsbeben, das die Wissenschaft erregt“ – steht genauso geschrieben, und zwar ohne jede Selbstironie – sollte man sich nicht freiwillig überlassen. Es sei denn, man will seinen Verstand verlieren und/oder in diesen (Nicht-) Disziplinen, warum auch immer, seinen Abschluß machen. Aber das hatten wir bereits.

 

Hansen, Frank-Peter: Was es bei Heidegger zu bemängeln gibt, 15.06.09

Die Existenzphilosophie Martin Heideggers wird von AVINUS-Autor Frank-Peter Hansen einer grundlegenden Kritik unterzogen. Der Vorwurf: Je universeller und allumfassender die Begrifflichkeiten Heideggers sich wähnen, als desto hohler und leerer erweisen sie sich.

„Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“

Auf das Lob der „Vergessenen Bücher“ folgt der Tadel der Mangelerscheinungen des wissenschaftlichen Geistes. Als erstes habe ich mir den Großmeister philosophischer Sinnsucherei, den Seinsbeschwörer aus Meßkirch vorgenommen, wobei einmal nicht auf seine immer wieder als anrüchig empfundene politische Vergangenheit mißbilligend gedeutet, sondern auf seine gedanklichen Fehler die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Das scheint immer noch und vor allem heute wieder geboten, weil intellektfeindliches Orakeln sich auf seine Gedankenlosigkeit etwas zugute und für der Weisheit letzten Schluß hält. Es ist es nicht, wie im folgenden gezeigt werden soll, was natürlich nicht nur eingefleischte Heideggerianer, sondern vermutlich Akademiker jeglicher Couleur gegen das Dargebotene aufbringen wird, sofern sie es überhaupt zur Kenntnis nehmen. Bestenfalls wird man der Befassung mit dem Gebotenen dadurch ausweichen, daß man mir eine undifferenzierte Herangehensweise vorwirft, weil ich den „Denkweg“ dieses großen Philosophen unberücksichtigt gelassen habe. Dem widerspreche ich nicht, möchte aber darauf hinweisen, daß diese Begründung eines prinzipiellen Desinteresses nichts weiter als eine leicht durchschaubare Ausflucht ist, sich mit dem, was Heidegger an hier zur Diskussion gestellten Ansichten tatsächlich und nachgewiesenermaßen wann auch immer vertreten hat nicht befassen zu wollen. Irgendetwas läßt sich allenthalben geltend machen, nicht zur Sprache gekommen zu sein, wenn man es denn geltend machen will, um den Verfasser an dieser Auslassung zu blamieren und deswegen für nicht der Befassung würdig zu befinden. Exempla docent. Überdem ist es ohnehin einer der beliebtesten Abwehrtechniken in gedanklichen Dingen, einer Kritik dadurch auszuweichen, daß man sich auf Formfragen oder Fragen des wissenschaftlichen Benimm kapriziert, um durch derartige Erwägungen den inhaltlichen, sachhaltigen Argumenten auszuweichen. Anders gesagt, ich prätendiere gar nicht, eine umfassende Darstellung seiner geistigen Entwicklung zu geben, sondern will an Hand einiger ausgewählter Beispiele dann aber doch auf das prinzipiell Verfehlte der Argumentationsweise der Fundamentalontologie hinweisen. Und daß diese philosophische Richtung vom Sein in seiner Differenz zum Seienden her argumentiert, werden selbst seine Parteigänger nicht bestreiten können, sie mögen schimpfen und/oder sich in Schweigen hüllen.

Wer im übrigen etwas selbstverständlich auch Kritisches über Heideggers „Denkweg“ von mir lesen will, der konsultiere das erste Kapitel der 2008 erschienenen Arbeit „Nicolai Hartmann – erneut durchdacht“. (S. 9-19) Heldenverehrenden Legendenbildungen wird freilich auch hier nicht Vorschub geleistet. Weder wird von den zukunftsweisenden Taten des jungen Genies Martin berichtet noch von der zerknirschten, selbstkritischen Weisheit des geläuterten Alters, eben weil nichts dergleichen, sondern viel eher, wie man hört, ein durch nichts zu bekehrender „Altersstarrsinn“, wie es beschönigend und verharmlosend von interessierter Seite, also von derjenigen seiner durch nichts zu beirrenden Adepten heißt, überliefert ist. Heidegger ist seinem sei’s existential-, sei’s fundamentalontologischen Seinsgefummel und -geraune inklusive den daran hängenden radikalen politischen Implikationen zeitlebens treu geblieben, Kehre hin, Denkweg her.

Da aber das Irrationale nicht allein bei den Heideggerianern hoch im Kurs steht – und mit Parteigängern dieser Einstellung läßt sich, was zu erwähnen eigentlich überflüssig ist, rational nicht streiten – soll in dieser geplanten Serie auch auf andere Formen dieses Dauerbrenners eingegangen werden, der selbst dort seine Blüten treibt, wo man ihn am wenigsten erwartet: im Bereich des aussagenlogisch gestützten und mathematisch unterlegten logischen Positivismus‘ etwa. Das hat, um dies flüchtig anzureißen, hauptsächlich damit zu tun, daß die Grundposition der Mathematik darin besteht, ganz frei und aus sich heraus auf der Grundlage von selbstgegebenen Axiomen Mannigfaltigkeiten zu schöpfen und zu setzen, weil sie sich nicht an Sachhaltigem zu messen braucht. Logische Positivisten setzen nämlich, in Anlehnung an Wittgensteins Traktat, die empirische Wahrheit oder Falschheit der sogenannten Elementarsätze einfach voraus, und die Wahrheit oder Falschheit der Satzkomplexe wird nach Regeln berechnet, die zuvor durch die Wahrheitstafeln willkürlich festgelegt worden sind. Das empirisch Gegebene, das sich unmittelbar zeigen soll, wird in eine logische Idealsprache gekleidet, aus der dann alles weitere nach den selbstgegebenen Regeln der (Aussagen-) Logik berechnet werden kann. Man hat es also in diesen Gedankengespinsten mit einer Manipulation zweier Größen, der Wahrheit und Falschheit, nach vorab zu bestimmenden Regeln, den sogenannten Wahrheitsfunktionen, zu tun. Das Ganze degeneriert ersichtlich zu einem bloßen Spiel mit nichts bezeichnenden Zeichen, da ja, wie gesagt, die Wahrheit und Falschheit der kombinatorisch zu rangierenden Elementarsätze postuliert beziehungsweise als bekannt vorausgesetzt worden ist. Die Wahrheit und Falschheit der aus ihnen zu ziehenden molekularen Satzkomplexe hängt ausschließlich von diesen Werten ab und kann rein mechanisch, und ohne daß man sich bei ihnen irgend etwas denken kann, oder muß geistlos nach den Festlegungen in den Wahrheitswertetabellen berechnet werden. Auf diese Weise ergibt sich dann die beliebige Definitionsmöglichkeit von komplexen Ausdrücken innerhalb einer so konzipierten Aussagenlogik. Sie wird dadurch zu einer reinen Definitionslehre von komplexen Wahrheits-Falschheits-Ausdrücken. Die Aussagenlogik ist folglich nichts weiter als ein inhaltsleeres und gedankenloses Zeichenspiel.

Darin besteht das irrationelle und unvernünftige und letztlich sogar willkürliche Prinzip der mathematischen Ableitungen, so es denn damit seine Richtigkeit hat. Dass man das alles auch ganz anders sehen kann, ist gleichfalls meinem oben namhaft gemachten Buch über Hartmann zu entnehmen, wo, unter Rückgriff auf den kritischen Ontologen über das ideale Sein mathematischer Gegenstände ausführlich auf den Seiten 49-65 nachgedacht worden ist. – Doch zunächst sollen ein paar der gedanklichen Fehler in Augenschein genommen werden, die dem Existential- und Fundamentalontologen in seinem bemühten Forschen unterlaufen sind. Wenn ich von Existential- und Fundamentalontologie in einem Atemzug spreche, kann ich mich im übrigen auf Heidegger selbst berufen, der in späten Jahren betont hat, daß schon das Interesse von „Sein und Zeit“ letztlich dem Sein und nicht der Existenz gegolten habe.

Den Hintergrund dieser Serie bildet aber, um dies gleich vorweg zu sagen, die Kritik an den diversen Formen einer sich in den meisten Fällen wissenschaftlich gerierenden Wissenschaftsfeindschaft, wie sie besonders schön an Heidegger, der deswegen als erstes inspiziert wird, zu studieren ist.

Ontologie und das Bedürfnis danach ist das Ergebnis eines Überdrusses an erkenntnistheoretischen Fragestellungen. In ihnen ist sozusagen das Wetzen des Messers zum Selbstzweck geworden, wenn ein methodologisch zugerichtetes Denken nur noch auf sein eigenes Vermögen reflektiert, also darauf, wie Gegenstände von Akten des Bewußtseins konstituiert werden. Heutzutage ist es umgekehrt allerdings schon längst wieder angesagt und guter Brauch, Objekte der Wissenschaft wie wissenschaftliche Gegenstände, also nicht als vorgefunden anzusehen, sondern, ein Rückfall in die Zeiten der Bekenntnisse zu den Vorurteilen der Methodologie, nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, theoretischer Vorannahmen und Modelle durch terminologische Differenzierungen, wie es heißt, zu konstruieren bzw. zu erfinden. Wissenschaftler sprechen nicht über Gegenstände, sondern über Probleme, die sie mehr oder weniger willkürlich kreiert haben. Und die gibt es selbstredend nicht an sich, sondern nur für die Konstrukteure aus der Forschergemeinde selbst, für die sich ansonsten entsprechend auch niemand sonst zu interessieren braucht. Dabei ist es ersichtlich ein Fehler bzw. eine Unmöglichkeit, das Erkennen vor dem Erkennen erkennen zu wollen, weil sich das Erkennen nur erkennend durchführen läßt. Man müßte sich schon im Besitz desselben befinden, um sich über sein Funktionieren Rechenschaft ablegen oder es kritisieren zu können. Anders gesagt, Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie kann erst im Anschluß an das konkrete Erkennen der Wissenschaften sinnvollerweise praktiziert werden, etwa in Form einer Onto-Logik, die sich des Allgemeinen des wissenschaftlich tätig gewordenen Gedankens nachträglich vergewissert. Vor dem Erkennen mit dem Erkennen ins reine zu kommen kann nur heißen, sich auf es nicht einlassen zu wollen.

Ontologie als ein „zurück zu den Sachen!“ bei Heidegger, was ihre anfängliche Anziehungskraft auf den akademischen Nachwuchs ausgemacht haben mag, wird aber nolens volens selbst zur Erkenntnistheorie, weil auch sie sich auf die Suche nach dem Ursprung begibt, den sie nun allerdings nicht in methodologischen Vorüberlegungen ausfindig macht, sondern indem sie in Form der Seinsfrage nach etwas Ausschau hält, was den Axiomen und Grundsätzen der Einzelwissenschaften zugrunde liegen soll. Mit dem Sein ist an etwas gedacht, das die Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken konstituieren soll. Die Wissenschaften befassen sich, diesem Verständnis zufolge, mit jeweils wie auch immer bestimmtem Seienden. Die Ontologie hingegen befaßt sich mit dem unbestimmten Sein, das aber ganz ausdrücklich nicht ein Begriff und somit das Ergebnis einer verallgemeinernden Abstraktion sein soll. Es soll überhaupt nichts mit dem Denken zu tun haben, und zwar weder in seiner konkreten noch abstrakten Beschaffenheit. Der Seinsphilosoph ist und begreift sich weder als einen Einzelwissenschaftler noch als einen (Formal-) Logiker oder Wissenschaftstheoretiker.

In diesem Kontext schafft die sogenannte „ontologische Differenz“ klare Verhältnisse. Jedenfalls auf den ersten Blick. Die Wissenschaften und das Bewußtsein des Alltagsverstandes werden der Seinsvergessenheit geziehen, weil sie sich nur und ausschließlich mit bestimmtem Seienden, also irgendwelchen in ihrer jeweiligen Eigenart zu identifizierenden Gegenständen befassen. Hier wird also einerseits an der Bestimmtheit der gedanklichen Arbeit Anstoß genommen. Das Sein soll aber andererseits auch kein Begriff, keine Abstraktionsleistung des denkend sich Rechenschaft ablegenden Intellekts sein, sondern etwas, was jedem denkenden Bestimmen voraus liegt. Und das ist ein Schwindel, weil das Sein das bestimmungslose Allgemeine schlechthin, also Abstraktion pur ist, bei der man sich nichts denken kann, weil es der Gedanke kat exochen ist. Und gerade weil es bei dem gänzlich Unbestimmten nichts zu denken gibt, kann von Heidegger in es etwas hineingeheimnist und mit einem unaussprechbaren Sinn ausgestattet werden, weil es dafür oder dawider ohnehin nichts zu vermelden gibt. Genauer gesagt: Dieses Bestimmungslose ist der allem zugrunde liegende Sinn schlechthin. Und das ist ungemein trickreich, weil sich der Ontologe auf diese Weise unangreifbar gemacht hat. Unaussprechbar ist der allem zugrunde liegen sollende Sinn deswegen, weil Sein im Sinne einer creatio ex nihilo Welt aus sich entspringen lassen soll. Das kann freilich deswegen nicht funktionieren, weil aus einer bestimmungslosen Identität, die Sein ist, nichts Bestimmtes folgen kann. Dem Fundamentalontologen bereitet diese erhabene Leere des Seins aber nicht nur keine Schwierigkeiten, sondern er verbucht dieses Nichts des Seins als den eigentlichen Gewinn seines Abstrahierens. Seine ganze Anstrengung ist darauf gerichtet, jede Spur einer Reminiszenz an Seiendes zu vernichten und zu tilgen, auch auf die Gefahr hin, daß das Ergebnis seiner Reduktion schließlich darin besteht, daß eigentlich nichts mehr übrig bleibt, über das sich etwas anderes aussagen ließe, als die Tautologie, daß es es selbst sei.

Darüber hinaus besteht die Kunst des Hinterfragens alles Bestehenden und Seienden darin, daß gar nichts mehr in Angriff genommen wird. Heidegger fragt derart radikal, kapriziert sich auf eine unbedingte Suche nach dem Ursprünglichen, daß die Realität, in der wir leben im Verhältnis zu jeder möglichen Antwort auf eine solche Frage bedeutungslos und gleichgültig ist. Und diese Differenz wird noch dadurch vergrößert, daß gesagt wird, daß es ohnehin bloß auf das Fragen ankomme, und daß sich jede mögliche Antwort an dem Tiefsinn der Frage und ihrer Aura vergehe. Auf jeden Fall sei es eine unzulässige Verflachung der Frage, wenn sie beantwortet, oder man auch nur versuchen würde, sie zu beantworten. Statt also gedanklich sich über irgend welche Vorkommnisse theoretisch Klarheit zu verschaffen, um sich ihnen gegebenenfalls praktisch stellen zu können, plädiert Heidegger für Unterwerfung pur, wenn er davon spricht, daß man nicht etwa dem Staat, in dem zu leben man gezwungen ist, sondern dem Sein quasi schicksalhaft „hörig“ sein müsse. Und der Sinn des Seins, dem man sich bedingungslos unterzuordnen habe, sei kein anderer als die sinnlose, nämlich geworfene und ins Nichts hinausgehaltene Existenz. Negativität als solche ist das eigentlich Positive und Sinnvolle des Seins.

Absurd ist diese Verselbständigung des Seins zu einem eigenständigen Subjekt aber auch deshalb, weil einerseits unterschlagen worden ist, daß es sich bei ihm um ein gedankliches Konstrukt handelt. Von diesem Konstrukt oder philosophischen Entwurf wird dann andererseits so getan, als ob es unmittelbar das Sein wäre. Und ihm wird dann drittens eine Potenz des Subjekts angeheftet, indem ihm ein aktivisches Vermögen unterstellt wird, dergestalt, daß es sich als eine unmittelbare Einflußnahme auf diejenigen äußere, die es mit ihren Abstraktionsleistungen doch überhaupt erst in Gedanken erschaffen haben. Diese Verselbständigung des Erschaffenen zu einem eigenständigen Subjekt ist aber deswegen vorgenommen worden, um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt umzukehren, das Subjekt zum Produkt seines Produktes zu verfälschen, dem es sich bedingungslos auszuliefern und zu unterwerfen habe: Sein als auf sich zu nehmendes blindes Fatum oder Geschick. Auch so kann ein metaphysisch ausgepinseltes Plädoyer für Abhängigkeit pur aus der Taufe gehoben werden. Und so versteht es sich auch, daß Heidegger vor der Blindheit dieses Seins nur eine einzige Haltung für die angemessene hält: eine blinde Unterwerfung in Form des Existentials der „Hörigkeit“.

Dies bedacht leuchtet es nicht mehr ein, Heideggers sogenannte und damit bereits verharmloste politische Exzentrizitäten wie den Wildwuchs eines orientierungslos gewordenen Denkers kleinzureden, um durch diese verschämte Generalabsolution sich dann umso unbefangener an der puren Weisheit der reinen Lehre zu erbauen. Solche Formulierungen wie diejenige, daß das Sein der Führer sei, sind nichts weiter als Konsequenzen aus dem propagierten Begriff des Seins. Und daß Heidegger nach dem Krieg auch noch auf eine andere Weise als faschistisch adaptiert werden konnte hat damit zu tun, daß dieser Seinsphilosoph Geschichte auf der einen Seite ontologisiert hat, um sie auf der anderen Seite selber wie Natur in ihrem blinden Vollzug zu vergotten. So kann man, je nach Bedarf und politischer Einstellung, das Sein überall dort ausfindig machen, wo es als Geschick einen jeweils gerade hin verschlagen hat. Seinsphilosophie ist, um es auf den Punkt zu bringen, eine Philosophie für geistige Opportunisten.

Zu bedenken ist fernerhin, daß der Fundamentalontologe das der stets etwas Bestimmtes aussagenden Sprache gegenüber Anderen und, wie unterstellt wird, sich im Begriff nicht Erschöpfende nie anders als mittels des Begriffs zu entwickeln vermag. Er kann, allein dadurch, daß er sich zu Wort meldet, nicht den Anspruch durchhalten, sich dem begrifflichen Denken von Anfang an entgegengesetzt und entzogen zu haben, weil er nämlich, wie unbeholfen und verdreht auch immer, stets für sein Sein argumentiert. Und das weiß Heidegger selbst am besten, wenn er zuzugeben gezwungen ist, daß auch das Sein letztlich ein Begriff ist, wodurch alles Reden über das Sein zu einem vermittelten wird. Also bedient sich der derart in die Klemme Geratene des Mittels des Ausweichens, das als eines der Tiefe daher kommt, wenn er sich dieser sich aufdrängenden Frage wie folgt entzieht:

Weil das Ideal der Ursprünglichkeit verloren zu gehen droht, führt er eine andere – sprachphilosophische – Unterstellung ein: Seine Sprache soll unmittelbar eins sein mit dem, was sie ausdrückt. Diese unterstellt Unmittelbarkeit des sprachlichen Zugangs manifestiert sich dann in solchen kabbalistischen Wendungen wie der, daß das Sein sich in der Sprache „lichte“ oder „entberge“. Die Logik dieses Tuns ist es, dem Ausgangsdilemma auszuweichen, das darin besteht, daß Sein weder ein begrifflich Allgemeines noch ein Seiendes sein soll. Und da bietet es sich an, zu unterstellen, daß, da Sein nicht anders als in der Sprache ausgedrückt werden kann, der Sprache selbst ontologische Dignität zuzusprechen ist. Sprache, so wie Heidegger sie versteht, ist dann nichts anderes als die Erscheinung dessen, was in ihr gemeint ist. Es wird also so getan, als koinzidiere sie unmittelbar mit ihrem Anderen, das in ihr zu Sprache komme oder sich in ihr „lichte“. Und das ist deswegen Unfug, weil in jeder Sprache das mit ihr nicht von vornherein Identische gedanklich in die Verfügungsgewalt des Subjekts per vorzunehmender Identifizierung zu bringen versucht wird. Die Dinge reden weder von sich aus, noch geben sie ihre Identität unmittelbar zu erkennen, weil sie nämlich zunächst das dem Intellekt Fremde sind. Und diese jedem Sprechen anzusehende Differenz hebt Heidegger ganz einfach auf, weil es ihm um das unmittelbare Entsprechungsverhältnis seines Redens mit dem Sein geht.

Ohnehin kommen selbstverständlich auch Vertreter der nominalistischen oder positivistischen Philosophie ohne Begriffe nicht aus. Daß sie ohne diese nicht auskommen, verweist darauf, daß die Reduktion des Begriffs auf Seiendes genausowenig möglich ist wie umgekehrt die Reduktion des Seienden auf das Sein. Besteht also der Fehler Heideggers darin, die Verallgemeinerung des Seins von den Vermittlungen durch Seiendes frei zu halten, dann ist es der Fehler des Positivismus, des Seienden als solchen, ohne die Vermittlung durch den Begriff habhaft werden zu wollen. Heidegger hypostasiert das Sein, seine vermeintlichen Antipoden hypostasieren das auf seine begreifende Durchdringung Verzicht leistende Seiende, wenn sie sich gedankenloserweise als gedankenlose Empiriker aufführen.

Darüber hinaus macht sich Heidegger mit seinem Sein einer petitio principii schuldig. Weil er der prinzipiellen Vergänglichkeit des zeitlich Seienden entgehen will, wenn er die Ursprünglichkeit eines nicht zu bestimmenden Seins anvisiert, siedelt er dieses gesollte Sein dort an, wo die Zeit nicht hinreicht und gibt dieses dann für ein Ursprüngliches aus. Damit ist dann aber bereits, ohne daß dafür auch nur ein Argument ins Feld geführt worden wäre, entschieden, daß dem Seienden das Sein ontologisch vorgeordnet sein soll, weil es nur als nicht dem Zeitfluß ausgeliefertes grundlegend sein kann. Eigentlich geht es allenthalben nur darum, die im Sinne eines Vorurteils inthronisierte Position gebetsmühlenartig immer nur zu wiederholen, daß nämlich das Sein dem Seienden gegenüber das Vorgängige sei, ohne daß diese Behauptung argumentativ abgeleitet würde. Sie kann dies aber deswegen nicht, weil im Zuge dieser Begründung das Sein in irgendeiner Weise bestimmt werden müsste, um so seine Vorgängigkeit dem Seienden gegenüber zu begründen. Geschähe dies aber, würde das Sein, der unkritisch gemachten Vorgabe gemäß, selbst zu einem bedingten Seienden, das es, bei Strafe des eigenen Untergangs, auf gar keinen Fall sein darf. Womit man wieder da angelangt wäre, wo sich der Seinsphilosoph von Anfang an befindet. Bei dem supponierten Unmittelbaren der „ontologischen Differenz“. Das Sein soll weder das Abstraktum des Allgemeinbegriffs noch das bestimmte, unter einen Allgemeinbegriff befaßte bestimmte Seiende sein.

Weil also das Sein Heideggers diesen nicht mehr zu überbietenden Grad an Allgemeinheit hat, ist mit ihm weder argumentativ etwas anzufangen noch ist ihm mit Argumenten und kritischen Einwänden zu begegnen, weil nämlich jeder Einwand über es etwas Bestimmtes aussagen müßte. Genau das aber ist prinzipiell und von vornherein ausgeschlossen worden. Man kann also eigentlich nur daran glauben oder auch nicht, je nach Geschmack und Einstellung. Und weil dem so ist, ist damit auch erklärt, warum die Position des Existentialontologen eine intellekt- und wissenschaftsfeindliche sein muß: Gedankenlose Gedanken sind nämlich ansonsten und prinzipiell ein Widerspruch in sich und darüber hinaus unaussprechbar, was aber nicht für, sondern gegen sie spricht. Anders gesagt: Heidegger macht aus Armut pur einen nichts beinhaltenden Reichtum, einen Reichtum aus Armut. Und in dieser Haltung kommt er aufs Schönste überein mit der religiösen Grundeinstellung: Dem Dünkel des Glaubenden, der aus seiner Demut und Nichtswürdigkeit resultiert. Gerade auf seine Verworfenheit bildet sich der Glaubende alles ein.

Der Reichtum aus Armut hat aber darin seinen Grund, daß Heideggers Philosophie eine ganz und gar unkritische ist. Wortgeschichtlich gesehen leitet sich der Begriff Kritik nämlich aus dem Begriff des Scheidens ab. Das griechische „Krinin“ heißt unterscheiden. Gegen das für jedes Denken unverzichtbare Unterscheiden hat sich Heidegger aber der Bestimmungslosigkeit seines Seins zuliebe stets und unmißverständlich ausgesprochen. Die Sünde des Denkens soll das Unterscheiden sein, dasjenige also, ohne das kein Denken auskommt oder auch nur stattfinden kann. Deswegen war oben davon die Rede, daß Heideggers Philosophieren von Grund auf intellektfeindlich und irrational ist. Es muß dies sein, weil es sich nur so in seiner gewollten Reinheit des Seins einrichten kann. Da das Sein aber weder das Seiende noch ein wie auch immer Begriffliches sein soll, bleibt nur übrig, es als ein jedem Unterschied Vorgängiges und damit Archaisches in Szene zu setzen.

Vor diesem Hintergrund begreift man auch, weshalb der späte Heidegger von dem Menschen als dem „Hirten des Seins“ gesprochen hat. Damit und mit den ausgelatschten Schuhen einer Bäuerin soll ein vorrationaler, dabei ganz und gar bornierter metaphysischer Ursachverhalt getroffen werden, der auf primitive, voragrarische Verhältnisse einer Vieh züchtenden Gesellschaft zurückverweist. Die Faszination aber, die von Heideggers Denken bis heute ausgeht, ist, so gesehen, die Unbildung, die zu predigen dieser dem Denken abschwörende Denker sich gefällt. – Sein ist bzw. soll demzufolge dasjenige sein, in dem die Differenz zwischen Seiendem und Sein noch gar nicht besteht. Und dieses Unreflektierte oder Naive eines vorbegrifflichen archaischen Denkens – wenn man es denn so nennen will – wird dem Ursprünglichen und deswegen als höher Bewerteten gleichgesetzt. Diese Begeisterung für die Ununterschiedenheit eines vorrationalen Einfachen macht den immer wieder herausgestrichenen Antiintellektualismus dieser Philosophie aus, der also systematisch motiviert ist. Das heißt, daß diese Philosophie das Scheidende und Unterscheidende deshalb abwehrt, weil es der Unterschiedslosigkeit des Seins in die Parade fährt. Da aber das Scheiden und Unterscheiden eine unverzichtbare Funktion des sich betätigenden Intellekts ist, so muß mit der Abwertung dieses Vermögens auch der Verstand selbst abgewertet und als der rückgängig zu machende Sündenfall hingestellt werden.

Hiermit hat es auch zu tun, daß dieser erhabene Dünkel des Nichtwissens so etwas wie ein Surrogat für Menschen bietet, die in der Realität ihres wirklichen Lebens zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sind. Mit Hilfe der Weiten des Heideggerschen Ungedankens gelingt es ihnen, dasjenige zu leisten und freiwillig auf sich zu nehmen, was ihnen an Notwendigem im täglichen Einerlei aufgebürdet wird. Ja noch mehr, sie werden von Heidegger und den Seinen geradezu dazu ermutigt, das ihnen Auferlegte und scheinbar Unumgängliche in dem Bewußtsein auf sich zu nehmen, daß sie auf eine indirekte Weise durch diese erbärmliche und jämmerliche Verzichtshaltung des Eigentlichen teilhaftig werden, worin sich spätestens der religiöse Hintergrund dieses areligiösen Predigers offenbart.

Der von Heidegger favorisierte Seinsbegriff entzieht sich aber der Frage nach der Wahrheit oder Falschheit der Sätze über Sein deswegen, weil er jede Bestimmung von sich weist. Darüber hinaus wird konsequenterweise das Denken diffamiert, weil nur es diese Unterscheidung durchzuführen vermag. Außerdem und als Folge dieser Diffamierung kommt es dann zu einer vollkommenen Verarmung, weil es das supponierte Absolute ja nur deswegen ist, weil es als das bestimmungs- und unterschiedslose deklariert worden ist, bei dem man sich im prägnanten Sinne nichts mehr denken kann. Und diese Kargheit der eigenen Würde wird dadurch jeglicher Kritik entzogen, daß diese Unbestimmtheit zum Eigentlichen deklariert wird, wenn beispielsweise von dem „Abstieg des Denkens in die Armut seines vorläufigen Wesens“ die Rede ist. Heidegger tut gerade so, als sei die von ihm propagierte Armut die Frucht einer heilsamen Askese, weil nur so das Denken sich einerseits von den oberflächlichen und fassadenhaften Bestimmungen reinigen könne, um dann ausgerechnet in der gedanklichen Ödnis dieser freiwilligen Zurückgezogenheit einer wie auch immer beschaffenen Fülle teilhaftig zu werden. Schade ist freilich, daß dieses Versprechen, gerade in der heilsamen Armut die Fülle zu entdecken ein frommer Wunsch bleiben muß, weil jeder Versuch, dieses Sein zu bestimmen es auf der einen Seite dem Begriff und auf der anderen Seite dem Seienden ausliefern würde. Also wird man mit Begriffen vertröstet, die nicht, wie es einzig sinnvoll wäre, als Begriffe durch ein anderes bestimmt sind, sondern mit begriffslosen Begriffen, die lediglich noch sich selbst bedeuten. Letztlich wird man mit Formeln abgespeist, die monoton hergebetet werden (können).

Überhaupt ist die Haltung verräterisch, mit der das alles vorgetragen wird. Es liegt dem Versprechen, auf den Grund des Seins vorzustoßen, das Prinzip der Vertröstung zugrunde. Wer immer und vor allem auch in der Politik davon redet, daß dasjenige, was versprochen wurde, irgendwann einmal eingelöst werden wird, hat dies entweder nie vorgehabt oder ist dazu, wie im Falle Heideggers, prinzipiell unvermögend. Dieses Versprechen soll also lediglich darüber hinweg täuschen, daß eine Erfüllung auf Grund der gemachten Voraussetzung ganz und gar ausgeschlossen ist. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der sprichwörtlichen Faktenhuberei der empirischen Soziologie, die ja auch stets behauptet, man müsse erst unendlich viel Material mittleren begrifflichen Niveaus und Umfangs zusammenlesen, bevor man dann irgendwann einmal möglicherweise zu der Voraussetzung einer gescheiten Theorie der Gesellschaft sich durchgeläutert habe. Eine Theorie der Gesellschaft ist aber etwas gänzlich anderes als das Aufhäufen unzähliger Einzelbeobachtungen und ihrer anschließenden Klassifikation. Mit diesem Ansatz kann der Begriff der Gesellschaft nicht nur nicht erreicht werden, sondern ist vom Ansatz her ausgeschlossen. Hier steht diesem Versprechen die schiere Unendlichkeit des empirischen Details im Weg. Dort die Armut des Seins, in die sich das Denken zurückbegeben müsse, um ausgerechnet dort der Fülle des Seins zu begegnen. Anders gesagt, diese unterschiedlichen Ausweichmanöver machen stets aus der Not eine Tugend, wenn aus Mängeln der Theorie, aus etwas Negativem eine höhere Form der Positivität verfertigt wird. Also hinsichtlich des Seins des Fundamentalontologen wird so getan, als ob die Abstraktheit, die die unumgehbare Aporie des Seins ausmacht in Wirklichkeit sich in größerer Nähe zu der wirklichen Fülle dessen befinde, was das Eigentliche ist.

Aber auch rein geschichtlich betrachtet geht Heidegger fehl. Denn sein Sein, das er philosophiehistorisch als das vorgedankliche Erste ausgibt, ist bereits das Ergebnis einer Reflexion und eines Abstraktionsvorganges. Genau genommen ist es sogar die Abstraktion schlechthin, eben weil sich bei dem Sein nichts Bestimmtes denken läßt. Die griechischen Denker wie beispielsweise und vor allem Parmenides hatten nicht zunächst die von Heidegger ihnen unterstellte pure Seinserfahrung, sondern das Sein, das sie meinten, war das Ergebnis des Nachdenkens über ein zunächst unverstandenes Seiendes, das sie mit Hilfe ihrer General-Abstraktion einer wie auch immer fragwürdigen Erklärung zuführen wollten. Also ist es genau anders herum, als Heidegger uns glauben machen will: Nicht ein ursprüngliches, intellektfreies Sein stand am Anfang, an dem sich dann seit Plato die verkopfte Philosophie vergangen hat, sondern eine als chaotisch erfahrene Welt sollte mit solchen Prinzipien, die der Intellekt sich hat einfallen lassen, in eine halbwegs plausible Ordnung überführt werden. Heidegger will also, kurz gesagt, eine Verfallsgeschichte konstruieren, und ist auch hierin dem religiösen Geschichtsverständnis kongenial: ein harmonischer, intellektfreier Urzustand wurde von einem durch den Intellekt herbeigeführten Abfall abgelöst, wofür der Mensch qua Mensch immer und in alle Ewigkeit in Sack und Asche zu gehen hat. Oder auch nicht, gesetzt er wird dem Sein hörig oder der Hirt des Seins …

Die Gedankenbestimmung des Seins eines Parmenides jedoch ist deswegen von so besonderes hohem Wert, weil mit ihr erstmals in der Geschichte des abendländischen Geistes ein Abstraktionsniveau erreicht worden ist, mit Hilfe dessen man sich konkrete Vorgänge in der Natur etwa verständlich und begreiflich machen kann. Diese Bestimmung des Gedankens ist das Ergebnis eines Gefühls der Insuffizienz oder der Anstoßnahme daran, daß sich die frühen Naturphilosophen zunächst mit einzelnen, mehr oder weniger willkürlich ausgedachten Prinzipien oder Stoffen auf der Welt eben nicht zurechtgefunden hatten. Diese Erklärungsversuche der Mannigfaltigkeit des Erscheinenden waren gedankenlos. Und diesem Mißstand hat in der Tat Parmenides abgeholfen, wenn er das Prinzip der Erklärung des Seienden im Sein, also in der Verallgemeinerung des Gedankens als solchem ausfindig machte. Daß ihm darüber die per Differenzierung zu bestimmenden Besonderheiten der Dinge oder das Unterscheiden abhanden gekommen sind, ist allerdings der sein abstraktes Denken charakterisierende Mangel, worauf dann Platon und Aristoteles in ihrer Kritik aufmerksam gemacht haben.

Denn daß es nachfolgend um die Konkretisierung dieser Abstraktion gegangen ist, also darum, jeweils bestimmte Gedanken zu denken, und damit die vermittelte Unmittelbarkeit des ersten, notwendig abstrakten Gedankens hinter sich zu lassen, ist den Bemühungen um bestimmte (ethische) Verallgemeinerungen eines Sokrates, Platon oder vor allem des Aristoteles zu entnehmen. Sie ruhten sich weder auf diesem gedankenleeren Abstraktionsniveau eines in seinem Anfang bereits zu seinem Ende gekommenen Nichts noch auf der wahrnehmungsgestützten und folglich nichts erklärenden Verdoppelung der Welt mit ihren vier vermeintlichen Elementen aus, sondern machten beide Einseitigkeiten – die des puren, gedankenarmen Empirismus und die des nichts denkenden, weil identitätslogisch ausgehöhlten Idealismus – zum Ausgangspunkt ihrer geistigen Arbeit, in der es um die Bestimmung der wirklichen Eigenarten irgendwelcher Gegenstände ging. Und in diesem Anliegen sind ihnen dann, ca. 2000 Jahre später, die Begründer der empirisch untermauerten mathematischen Naturwissenschaften in Gestalt Galileis, Keplers und Newtons etwa gefolgt. Damit ist auch noch einmal klargestellt, daß das Sein erstens nicht ein Unmittelbares, sondern ein Vermitteltes ist, und daß es zweitens nur insofern als ein Unmittelbares apostrophiert werden kann, als mit ihm die intellektuelle Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit der zunächst als fremd und feindlich erfahrenen Welt anhob.

Daß Parmenides dabei ein gedanklicher Fehler unterlaufen ist, soll hier noch extra vermerkt werden. Er ist nämlich folgendem Irrtum aufgesessen: Weil die unverstandene Mannigfaltigkeit immer mehr angewachsen war, hielt er es für notwendig, diesem schier unendlichen Material mit Hilfe eines Prinzips einen Erklärungsgrund für Alles unterzuschieben, und verkannte dabei, dass ein Erklärungsgrund, der alles erklären soll, eben darum nichts erklärt. Das Alles ist genau so viel oder so wenig wie das Nichts. Aber weil ihm genau dieser alles erklären sollende Grund vorschwebte, verfiel er auf das Sein, das, als die General-Abstraktion, nichts mehr erklärt, und exakt deswegen das gesuchte allgemeine Prinzip ist. Nur: Es ist als Unmittelbares ein ganz und gar Vermitteltes, was Heidegger nie hat wahrhaben wollen, und es leistet genau das nicht, was es leisten sollte: Alles zu erklären. Erklärungswert haben ausnahmslos bestimmte Gedanken, die an der Bestimmtheit das Kriterium ihrer Überprüfbarkeit besitzen. Umgekehrt folgt daraus: Wo es kein Kriterium gibt, ist der argumentativen Überprüfbarkeit der Boden entzogen worden.

Und darin kommen Parmenides und Heidegger dann doch wieder überein, daß ihr Prinzip nichts erklären kann, auch wenn der eine mit ihm, als purer Abstraktion, alles erklärt haben wollte, der andere es vor aller Erklärung als das Voraussetzungslos-Ursprüngliche inthronisiert hatte, dem man sich nur, wie dem Göttlichen, in der ahnenden und begeisterten Schau des eingeweihten Sehers in Form gestammelter Archaismen und Neologismen nähern kann, indem man es auf gar keinen Fall soll rational benennen dürfen. Anders gesagt, der eine kreiert aus dem Bedürfnis einer dem Wandel nicht mehr unterworfenen Erklärung eine oberste Abstraktion, die, weil sie von allem bestimmten Seienden absieht, nichts anderes mehr ist als der reine Gedanke des Seins oder pures Denken. Und der andere operiert zwar mit derselben Abstraktion und will nur nicht zugeben, daß sie eine solche ist, weil sie dadurch ihrer unterstellten und gesollten Ursprünglichkeit verlustig ginge und als ein Vermittlungsprodukt des Denkens in Erscheinung träte, womit der Anspruch auf das Ursprüngliche und nicht durch den Intellekt zerredete blamiert wäre.

Und in dieser Aporie, einerseits das Unsagbare nicht sagen zu können, dies aber bei Strafe der Sprachlosigkeit doch immer wieder tun zu müssen, indem im Zweifelsfall nur Tautologien oder Metaphern im geistfeindlichen Angebot sind, besteht das Spezifikum der Heideggerschen Philosophie für Eingeweihte, die sich auf ihren Ausstieg in die Gedankenlosigkeit oder den Abstieg in die geistige Armut auch noch wer weiß wie viel zugute halten. Denn, um es noch einmal zu sagen, weil das Sein weder das Seiende noch eine, und sei es auch gedankenlose, gedankliche Bestimmung und Abstraktion sein soll, ausgedrückt in der Copula oder dem Satzteilverbinder jeglichen logischen Urteils, bleibt lediglich das Konstrukt eines Seins übrig, von dem es buchstäblich nichts mehr zu sagen gibt, als daß es es selbst sei. Denn, wie sagt der Meister in der Schrift „Brief über den ‚Humanismus‘“? „Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“ Eine explizite Nicht-Aussage als Aussage … So etwas, eine contradictio in adjecto, muß man – voluntaristisch – einleuchtend finden wollen. Wer dem nicht folgen kann, wird der Seinsvergessenheit geziehen, was auch nicht weiter schlimm ist, da es ja, der Tautologie sei Dank, nichts zu begreifen gibt.

Dieses Denken jedenfalls steht der traditionellen Bestimmung des Geredes gar nicht so fern, als es Begriffe verwendet, die sich der denkenden Erfüllung verweigern, indem die einzige Bestimmtheit, die es zu bieten vermag, das Unbestimmte des gänzlich Abstrakten und Leeren ist. Das absolut Unausdrückbare, weil allen Prädikaten Entrückte wird bei Heidegger als Sein zum ens realissimum. Und hierin behält Hegel recht, wenn er von dieser Abstraktion zu Beginn seiner Logik demonstriert, daß es nicht mehr oder weniger als das Nichts ist. Umgekehrt aber bezichtigt es gerade dasjenige Denken der Niedrigkeit und der Alltäglichkeit, das es sich zur Aufgabe macht, daß sein Reden tatsächlich bestimmten Gedanken zum Ausdruck verhilft. Und weil dies die Stoßrichtung des Meßkircher Philosophen ist, ist sein Denken ein ganz und gar unwissenschaftliches, wenn es die unbedingte Nihilität als Positivum zu Gehör bringt. Denn um es ein letztes Mal zu sagen: Sein Nicht-Denken-Können des Seins resultiert daraus, daß es in der Unbestimmtheit, die es verlangt, sich gar nicht denken läßt. Und dies ist der deutlichste Hinweis auf den Antiintellektualismus dieser Nichtwissenschaft, was, dies die Ironie der Geschichte, Heidegger der letzte wäre zu bestreiten.

Hansen, Frank-Peter: Vergessene Bücher X: Der philosophische Kritizismus. Geschichte und System von Alois Riehl, 24.02.09

Kant, auf den Alois Riehl im ersten Band dieses nach der zweiten Auflage zitierten Dreiteilers Bezug nimmt, sagt in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft: „‘alle Bedingungen, die der Verstand jederzeit bedarf, um etwas als notwendig einzusehen, vermittelst des Wortes: unbedingt wegwerfen, macht mir noch lange nicht begreiflich, ob ich alsdann durch meinen Begriff eines unbedingt Notwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts denke‘“ (I, 569). Und Alois Riehl respondiert: „Auf der Höhe der Abstraktion drehen wir uns mit dem Dogmatiker ewig im leeren Kreise der Begriffe, erst durch die Beziehung auf das Wirkliche wird unser Wissen zum Beurteilen von etwas, was da ist, wird das jungfräuliche Denken durch gegenständlichen Inhalt befruchtet, und damit allererst Erkenntnis“ (I, 182).

Alois Riehl, dessen Art es nie war, wie ‚in der Diplomatie üblich, die Sprache nur zu gebrauchen, um seine wahre Meinung zu verbergen‘ (I, 190), hat es sich stets angelegen sein lassen, die realistische Seite des Transzendentalismus Kants herauszustreichen. Genauso wie der Denker vom Pregel stand er der ‚fanatischen‘ Anschauung der Apostel des Absoluten skeptisch gegenüber, deswegen nämlich, weil „‘die anschauende Kenntnis der anderen Welt allhier nur erlangt werden (kann, F.-P.H.), indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man für die gegenwärtige nötig hat‘“ (I, 321). So auch in seinem Hauptwerk, das im ersten, historisch angelegten Band sowohl die geschichtlichen Voraussetzungen der kritischen Philosophie Kants – also vor allem Locke, Hume und Wolff – als auch die kritische Philosophie des Königsberger Philosophen bis zur Kritik der reinen Vernunft in ihrem theoretischen Teil behandelt. Insgesamt gilt Riehls Interesse dem theoretischen Bereich wissenschaftlichen Forschens, so daß Fragen moralphilosophischen Inhalts allenfalls im dritten Teil relativ stiefmütterlich auf ca. 60 Seiten gestreift werden.

In der Tendenz folgt diese Darstellung der Vorgabe anderer Theoretiker des Neukantianismus, die auch bereits die ganze neuere Philosophie seit Descartes als wie auch immer gelungene oder vorläufige Hinführung zur kritischen Philosophie Kants verstanden wissen wollten. Aus seiner Aktualisierungsabsicht macht Riehl denn auch keinen Hehl, wenn er sich – pars pro toto – beispielsweise wie folgt äußert: „Jener glückliche Gedanke („zuvor das Vermögen unseres Verstandes zu prüfen“, F.-P.H.) enthielt den Keim der kritischen Philosophie; er eröffnete die Reihe der Betrachtungen, die von Locke zu Kant führen und durch diesen bis zur Gegenwart reichen“ (I, 25). Dieser Absicht kontrastieren freilich die hübschen und beherzigenswerten Bemerkungen, daß man sich abgewöhnen sollte, „eingewurzelte falsche Auffassungen für Kants eigene Meinungen auszugeben und sehr überflüssigerweise als solche zu bekämpfen“ (I, 448). „Es gibt immer Ausleger, die, sooft sich ihre Begriffe verwirren, dem Autor einen Widerspruch anrechnen“ (I, 535).

Laut Riehl kann theoretische Philosophie nach der beginnenden Verselbständigung der diversen Wissenschaftsdisziplinen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nur noch Grundlagenforschung im Sinne einer kritischen Wissenschaftstheorie sein. Sie hat sich von dem ihr von alters her charakteristischen Anspruch, Gesamtwissenschaft zu sein, zu verabschieden und sich als eine Allgemeinwissenschaft oder Wissenschaftslehre zu etablieren, „die sich als solche von den Einzelwissenschaften bestimmt unterscheidet, ohne doch aus dem Zusammenhange mit diesen herauszutreten“ (I, 2). Daß Riehl nicht nur in dieser Publikation den ständigen gedanklichen Austausch mit den Naturwissenschaften sucht, macht diesen Dreiteiler zu mehr als einer im Formellen und Methodischen verharrenden Grundlagenforschung und darum lesenswert. Denn was ist Wissenschaftstheorie normalerweise heutzutage, wofür Kant sie übrigens bereits zum gut Teil damals hielt? Sie „‘sieht aus wie eine Art von Gespenst, das, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst und zwar hiervon auch nur die Hand, die darnach hascht, vor sich findet‘“ (I, 406).

Jede Form des Idealismus macht die Grenzen ihres jeweiligen Begreifens zu Grenzen der Dinge. Das gilt sowohl für den Okkasionalismus und Probabilismus als auch für die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik. Dieser Theorie zufolge ist die Welt der Quanten nicht auf eine bestimmte Weise, sondern sie hängt von den Bedingungen ab, unter denen wir die Welt beobachten. Dagegen gilt: Nur unter der Voraussetzung der empirischen Realität der Dinge, und darin stimmt Riehl mit dem kritischen Ontologen Nicolai Hartmann überein, die unabhängig von unserem Anschauen und Denken Bestand haben, ist die Erkenntnis überhaupt ein Problem, wohingegen sie in allen anderen denkbaren Fällen zu einem bloßen Konstrukt verkommt. Denn „Urteile sind nicht lediglich begriffliche Vereinigungen von Vorstellungen, sie gelten auch, sie bedeuten etwas vom Gegenstande, der durch sie beurteilt wird, mit einem Worte: sie sind Erkenntnisse. Die Beziehung auf ein Objekt ist dem Urteil wesentlich und muß daher in seine Realdefinition aufgenommen werden. Nicht jeder Satz ist ein Urteil, sondern nur derjenige ist es, bei welchem Wahrheit oder Falschheit stattfinden kann, bemerkte schon Aristoteles, und es ist ein Fehler der formalistischen Logik, sich diese Bemerkung des Aristoteles nicht zunutze gemacht zu haben. Wir können Begriffe willkürlich und zugleich in formal richtiger Weise verbinden, ohne durch diese Verbindung etwas zu erkennen oder auch nur erkennen zu wollen, d.i. ohne in Wahrheit zu urteilen. Schon die bloße Behauptung von Existenz und ebenso das Wiedererkennen eines Dinges auf Grund seiner früheren, nunmehr zur Vorstellung gewordenen Wahrnehmung zeigen diese dem Urteil unerläßliche Beziehung auf einen Gegenstand“ (I, 411). – In diesem Kontext hat eine witzige Bemerkung Lockes ihre Stelle: „‘wer so skeptisch ist, daß ihm die Wirklichkeit der Dinge, die er sieht und fühlt, ungewiß zu sein scheint, möge mit seinen bloßen Vorstellungen anfangen was ihm beliebt, mit mir wird er nie Streit bekommen, kann er doch nie gewiß sein, ob wirklich ich es bin, der seine Meinung bestreitet‘“ (I, 86 f.).

Umgekehrt freilich gilt ebenso, daß das Bestreben, „‘alle Erkenntnis auf Empirie zu gründen, … in der Leugnung aller Möglichkeit von objektiver Erkenntnis‘“ endet (I, 202). In dieser einem Mißverständnis vorbeugenden Ansicht ist sich Riehl mit dem Naturwissenschaftler und Entdecker des Satzes von der Erhaltung der Energie Hermann von Helmholtz einig. Die begriffliche Allgemeinheit ist nämlich von anderer Art als die empirische. Empirische Erkenntnisse haben lediglich eine komparative Allgemeinheit. Selbst dann nämlich, wenn, was in der Praxis de facto auszuschließen ist, eine Durchmusterung und Vergleichung aller Fälle möglich sein sollte, fehlte es doch immer noch an dem für die wissenschaftliche Einsicht Entscheidenden: der Grund ihres übereinstimmenden Verhaltens bliebe nach wie vor im Verborgenen. „Schon die empirische Forschung kennt zur Feststellung allgemeiner Tatsachen zwei Wege: außer der Induktion durch Vergleichung vieler Fälle die vollständige Analyse eines Falles. Der erste Weg, es ist der Weg der generalisierenden Abstraktion, führt zu Regeln der Übereinstimmung, zu empirischen Regeln, der zweite allein, die analytische Methode, verhilft uns zur Erkenntnis einfacher Tatsachen, zur Erkenntnis von Gesetzen der Natur, und die Verallgemeinerung tritt hier an das Ende des Verfahrens. So zerlegt der Chemiker eine zusammengesetzte Substanz in ihre Elemente und stellt sie aus diesen durch Verbindung wieder her; durch Analyse und ihre Umkehrung, die Synthese, erforscht er den chemischen Aufbau eines Körpers und überträgt, was er so durch sorgfältige Einzeluntersuchung gefunden, auf alle Stoffe der gleichen Art“ (I, 444 f.).

Im Erkennen wird also, allgemein gesprochen, das Veränderliche auf das Unveränderliche und mit sich Identische zurückgeführt, nämlich auf beharrliche Elemente und ihre beständig sich gleichbleibenden Beziehungen, die als Naturgesetze zu apostrophieren sind. Soweit dies gelingt, sind die gesetzmäßigen Abläufe der Natur in ihren wissenschaftlichen Begriff überführt. Konkret gesprochen: es „gibt außer den Empfindungen einzelner Töne von bestimmter Höhe und Stärke nicht noch ein Tonempfinden überhaupt, nicht ein Sehen im allgemeinen, das neben den besonderen Licht- und Farbempfindungen, oder diesen übergeordnet, bestünde“ (II, 74). Und sollten philosophierende Naturforscher das alles auch ganz anders, nämlich beispielsweise so sehen, daß unsere Empfindungen die wirklichen Dinge selbst seien, dann ist das Beispiel Machs „geeignet, zu zeigen, wie gering der Einfluß ist, den erkenntnistheoretische Grundanschauungen auf die Praxis der Naturforschung zu nehmen pflegen“ (II, 42). Die Sinnlichkeit ist keine Schranke des Erkennens; sie ist in Wahrheit vielmehr eine Erkenntnisbedingung. Im Begriff des Erkennens aber liegt es, „daß Objekt und Subjekt für dasselbe auseinander treten müssen, um aufeinander bezogen werden zu können“ (III, 23).

Wissenschaftshistorisch lernt man bei Gelegenheit der Lektüre dieses Wälzers einiges. Beispielsweise, daß „Gauß durch die räumliche Deutung der komplexen Zahlen auf die Hypothese von mehr als dreidimensionalen Räumen verfiel“ (I, 325). Darüber hinaus, daß „von Kries schon 1882 gegen die Meßbarkeit intensiver Größen und damit gegen jede psychophysische Maßformel“ Einspruch erhoben hat, so daß „von einer Messung der Empfindungen nicht länger die Rede sein“ kann. „Meßbar im Sinne der exakten Wissenschaft sind immer nur Objekte, nicht Empfindungen, extensive Größen und Größenbeziehungen, nicht Intensitäten“ (II, 59). Und auch dieses historische Kurzresümee ist der Kenntnisnahme wert: „Gründe der Methode bestimmten die exakte Naturwissenschaft nach dem Vorbilde ihres Urhebers Galilei, nur eine Seite der Wirklichkeit, die der Messung und Berechnung zugängliche Seite, in Betracht zu ziehen. Die logische Voraussetzung für die Anwendung der messenden und rechnenden Methode ist die Gleichartigkeit der Größen. Also muß die theoretische Naturforschung von der Ungleichartigkeit der Qualitäten abstrahieren und kann von ihren Objekten nur die allgemeinen mechanischen Eigenschaften, genauer: nur deren Form berücksichtigen. Denn auch aus diesen Eigenschaften läßt sie alles weg, was dabei zur Empfindung gehört: Druck und Widerstandsempfindung, Andrang und Gegenstrebung. Nach dieser Abstraktion besteht die Welt der exakten Naturwissenschaft aus materiellen Einheiten, Elektronen und Atomen, ausgestattet mit bloßen Formen von Eigenschaften, mit Gestalt und Größe und einer selbst nur abstrakten Wirkungsweise, der Bewegung“ (II, 81). Pars pro toto sei noch erwähnt, daß nach „Plancks Quantentheorie … die Emission von Strahlen in bestimmten Energieelementen“ erfolgt, „deren Größe im Verhältnis zur Schwingungsfrequenz wächst“ (II, 98). Mit einem Bonmot sei diese Aufzählung beschlossen: Nach Poincaré soll „unsere Geometrie nicht einmal ‚wahr‘ sein und ihr Vorzug lediglich in ihrer größeren Bequemlichkeit bestehen. Sollen wir also wirklich glauben, von unseren halbtierischen Vorfahren seien nur allein diejenigen zur Auslese und Fortpflanzung gelangt, die ‚zu bequem‘ waren, den Raum anders als Euklidisch vorzustellen, die prähistorischen Ahnen eines Gauß und Lobatschewsky dagegen in der Konkurrenz ums Dasein unterlegen, – vielleicht nur, weil es eine Konkurrenz um mathematische Lehrstühle noch nicht gegeben hätte?“ (II, 110).

Was die wissenschaftlichen Einsichten der systematisch angelegten Bände zwei und drei seines Hauptwerkes betrifft, in dessen zweiten Teil es sich genau genommen um eine Psychologie, oder, besser, eine Logik der Intelligenz handelt, scheinen mir folgende Einsichten der denkenden Betrachtung und Aufnahme wert: An „Kindern“ ist „die allmähliche Hervorbildung des Selbst- und des davon untrennbaren Objektbewußtseins, an Gestörten seine Rückbildung und unter Umständen seine Regenerierung“ zu beobachten. „Das Spiel der Empfindungen unmittelbar vor dem Einschlafen gibt uns ein Beispiel für das Vorhandensein eines Bewußtseins, dessen einzigen Inhalt neutrale Empfindungen und unbezogene Gefühle bilden“ (II, 88). „Fälle von nahezu reiner Wirkung der Assoziation sind das Kommen und Gehen der Vorstellungen vor dem Einschlafen und die allerdings pathologisch affizierte Ideenflucht im Irresein“ (II, 152), in dem der ordnende Verstand im Extremfall ausgeschaltet ist. „Sein und Erkennen haben nämlich wirklich in dem Augenblicke aufgehört, entgegengesetzt zu sein, in welchem das Bewußtsein in Bewußtlosigkeit übergegangen ist. Wer aus einer Ohnmacht zu sich kommt, oder aus einem traumlosen Schlafe erwacht, kommt aus dem Reich der ‚Dinge an sich‘ her; er ist aus dem Zustande des bloßen Seins (des Seins für andere) in den des empfundenen und gewußten Seins (des Seins auch für sich selbst) übergegangen“ (III, 30).

Der Erwähnung wert ist auch, daß Riehl, wie später dann Nicolai Hartmann, an einer Auffassung der Zeit Kritik geübt hat, wie sie für die relativistische Physik des 20. Jahrhunderts insgesamt charakteristisch werden sollte. Ihm zufolge fällt nämlich kein Vorgang, mag es sich nun um den „Fluß der Ideen“ oder die „Geschwindigkeit der Lichtbewegung“ handeln, mit der Zeit selbst zusammen. Umgekehrt gilt: „ein jeder wird vielmehr als Bestimmung, als Teil der Zeit, durch sie also und in ihr vorgestellt“ (II, 103). Auch der Raum ist von den einzelnen „Raumverhältnissen“ der „Lage und Gestalt“ unabhängig. Er ist kein bloßes „Aggregat ausgedehnter Dinge oder die Summe reiner Koexistenzverhältnisse“ (II, 130). Zum Problem der Infinitesimalrechnung erfährt der Leser, daß nur „diskrete Mannigfaltigkeiten … numerisch bestimmbar“ sind. Das „Stetige dagegen setzt der exakten Darstellung durch Zahlen eine Grenze, die durch das ‚Kontinuum‘ der reellen Zahlen nicht aufgehoben wird. Dies Zahlenkontinuum ist immer noch eine diskrete Mannigfaltigkeit“ (II, 117). Hätte freilich die Mathematik „nur die Aufgabe, auf die Hilbert sie beschränken will, nämlich ‚reine Symbole zu kombinieren und daraus Schlüsse zu ziehen, ohne sich um ihre Bedeutung zu kümmern‘, so müßte das Wort, das Russel wohl nur im Scherze äußerte, im Ernste von ihr gelten: sie sei ‚die Wissenschaft, bei der man nicht weiß, wovon man redet und ob, was man sagt, richtig ist‘“ (II, 119).

„Die Kausaliät“, so erfährt man des weiteren, „ist die Anwendung des Satzes vom Grunde auf die zeitliche Veränderung der Erscheinungen, oder kurz: das Prinzip des Grundes in der Zeit“ (II, 274). Damit hat es genauso seine Richtigkeit wie mit dem kritischen Hinweis darauf, daß durch „das Hineintragen praktischer Begriffe, namentlich des Begriffs des Zwecks, in die äußere Natur … die Erkenntnis derselben verdorben, ja unmöglich gemacht“ wird (III, 19). „Denn die Wissenschaft als solche kennt den Begriff der Norm und des Sollens nicht“ (III, 20). Man kann nämlich „nicht aus ethischen Gründen glauben, was man aus wissenschaftlichen für falsch erkannt hat“ (III, 342). Und auch dagegen ist nichts einzuwenden, daß „die Wahrnehmung der Sinne … nichts weniger als eine durchgehende Regelmäßigkeit in der Abfolge der Erscheinungen“ zeigt, „und statt die Überzeugung vom ursächlichen Zusammenhange der Dinge, könnte man mit weit mehr Grund den Glauben an Gesetzlosigkeit und Wunder, welcher noch gegenwärtig bei der Mehrzahl der Menschen vorherrscht, als vererbte Erfahrung der Gattung erklären“ (III, 80). Diesem Wunder- und Gespensterglauben aber tritt der (Natur-) Forscher dadurch entgegen, daß er „die Erscheinung, die er erklären will, selbst hervorruft und künstlich neue Umstände einführt, um sie vollständig kennenzulernen. Zwischen diesen beiden Stufen Erfahrung zu machen liegt die gesamte, ihrer selbst bewußte, bisherige Denkarbeit der Menschheit“ (III, 81).

Daß aber Riehl ein Aufklärer im besten Sinne des Wortes ist, geht am schönsten wohl aus folgenden Einwänden gegen die abgehobenen Ismen der ihren Geist und den anderer parteilich-willkürlich bornierenden Weltanschauungs- und Glaubenspropheten hervor: „So ist es immer irgendein einzelner, hervorstechender Charakterzug, es sei des Denkens oder der Wirklichkeit, der mit Ausschluß der übrigen Beschaffenheiten der Dinge und Richtungen des Denkens zur metaphysischen Idee erhoben und zur Alleinherrschaft im Systeme berufen wird. Es kommt bei metaphysischen Erklärungen das meiste, wenn nicht alles, auf die Kunst der Auslegung oder besser Zurechtlegung an, – und man könnte wirklich über die Wahl einer metaphysischen Hypothese statt Neigung oder Geschmack auch das Los entscheiden lassen. – Ein angesehener metaphysischer Denker unserer Zeit fordert uns auf, unsere Erfahrung von der Welt durch die Anschauung einer der Erfahrung entzogenen übersinnlichen Fortsetzung der Welt zu ergänzen und die Verknüpfungen der Dinge nach einem Plane, nach einer Idee zu interpretieren, die wir doch seinem eigenen Geständnis zufolge nicht kennen sollen. Was bedeutet hier das Wort Anschauung und woher wußte Lotze so genau, daß das Unbekannte gerade eine Idee sein müsse, woher nahm er das Recht, das systematische Bedürfnis der Vernunft nicht bloß zu idealisieren, sondern überdies zu personifizieren, indem er die Idee in eine einheitliche intelligente Macht verwandelte? Zugegeben, daß sich das geistige Sein und Wirken nicht aus der Materie erklären läßt – und welcher wissenschaftliche Denker würde dies nicht zugeben? – folgt daraus, daß die Materie aus dem Geiste erklärt werden muß? Metaphysische Hypothesen sind Opiate für den Verstand; sie betäuben denselben, statt ihn zu beleben und aufzuklären. Sie erzeugen den Schein eines allumfassenden Wissens, das, wenn man Wunsch und Erfüllung für einerlei halten will, nicht einmal schwer zu erlangen ist“ (III, 86; vgl. ebenso 97 f., 103 f., 107, 110 ff. u. passim).

Der aufmerksame Leser merkt, daß sich der Kreis dieser Kurzdarstellung damit wieder geschlossen hat. Deshalb bietet es sich an, diese Empfehlung mit den Worten eines anderen Aufklärers – gemeint ist Hume – zu beschließen. „‘Die größte Torheit nächst derjenigen, eine evidente Wahrheit zu leugnen, ist die, wenn man sich zu viele Mühe gibt, sie zu verteidigen‘“ (III, 166), nicht ohne zum hoffentlich vorläufig letzten Mal den bedenkenswerten Worten des Autors dieses Dreiteilers nachzudenken: „Es ist, wie ich glaube, weder eine billige noch die richtige Beurteilung einer Theorie, wenn man ihren Wert nach demjenigen bemißt, was sie noch nicht zu erklären vermochte, statt ihn darnach zu bestimmen, was sie tatsächlich erklärt hat“(III, 320).

„Der philosophische Kritizismus“ bestellen.

Hansen, Frank-Peter: Wer ist oder was macht eigentlich einen guten Erzähler?, 15.11.08

Kennen Sie Tschechow? Nein? Sie sollten ihn kennen (lernen). Warum? Weil dieser sozial engagierte russische Autor und Arzt, dieser Meister der kleinen Form wie kaum ein anderer Autor in die Ab- und Hintergründe der Seele des Menschen geschaut hat. Ich erinnere vor allem an die Meistererzählung über die Ehebrecherin Agafja, in der die Zerrissenheit, das Nicht-ein-noch-aus-Wissen der Protagonistin ähnlich intensiv, hautnah und bedrückend wie die gehobene und kriecherische Lust am Quälen und Drangsalieren der in Abhängigkeit gehaltenen Kreatur im Tobias Mindernickel von Thomas Mann vergegenwärtigt wird. Dabei werden die letzten Dinge bei Tschechow oft in schwebender Ungewißheit gelassen, ab und an etwas zu sehr. Hören wir zu: „Agafja drehte sich um und erhob sich auf ein Knie … Ich sah, wie sie litt … Eine halbe Minute lang drückte ihre Gestalt, soviel ich in der Dunkelheit erkennen konnte, inneres Ringen und Schwanken aus. Es gab einen Augenblick, da sie, gleichsam erwachend, ihren Leib aufrichtete, um ganz aufzustehen, aber eine unbezwingliche und unerbittliche Kraft zog ihren Körper wieder zu Boden, und sie sank neben Savka hin. „Hol ihn der Teufel“, sagte sie mit wildem, tief aus der Brust kommendem Lachen. Aus diesem Lachen sprachen besinnungslose Entschlossenheit, Machtlosigkeit und Schmerz … Agafja sprang plötzlich auf, schüttelte den Kopf und ging auf ihren Mann zu. Man sah, daß sie alle Kraft zusammennahm und einen Entschluß gefaßt hatte.“ Welchen? Das herauszufinden überläßt Tschechow der Phantasie des Lesers.

Von ihm stammt die beherzigenswerte Äußerung, der Autor müsse seine Figuren lieben, ohne daß man ihm diese Liebe anmerkt. Darin paart sich emotionale Tiefe mit nüchterner Sachlichkeit, wie sie dem Naturforscher, der Tschechow auch war, eigen ist. Es ist ein Balanceakt, das eigentlich nicht Zusammenpassende zu vereinen. Tschechow gelingt dies oft. Kühle und tiefes Mitempfinden, wie sie in dieser Zusammenstellung einem Arzt gut zu Gesicht stehen.

Hier hat folgende Beobachtung ihre Stelle: Ein guter Roman hat auch viel von einem musischen Geschehen, das also auch die affektiven und praktischen Seiten der Seele durchzieht. Auf dieser Klaviatur der ganzen Seele spielen gute Autoren in allen epischen Dramen wie große Meister. So ähnlich hat sich Thomas Bernhard über gute Romane, von denen es seiner Meinung nach nur wenige, etwa eine Handvoll gab, geäußert. Wenn ich mich recht erinnere in dem ironisch-bitteren Kunst- und Kulturverriß Alte Meister. Tschechow zählte meines Wissens merkwürdigerweise nicht dazu, ganz gewiß nicht Tolstoi mit seinem religiös gefärbten Moralismus. Dafür aber Nikolai Gogol, der Autor von Tschitschikows Reiseerlebnissen oder Die Toten Seelen. Eine Romangroteske und Gesellschaftssatire vom Feinsten. Absurdeste Dialoge auf allerhöchstem Niveau. Sie ist zum Totlachen, diese großangelegte Narretei und wahnwitzige Landpartie. Vorgeführt werden Geiz, Habsucht, Hinterlist, Übervorteilen und andere betrügerische Bösartigkeiten mit einem ganz leichten, verspielten Ton. Diesen leichten, humorvoll-beschwingten Ton gibt es auch in Thomas Bernhards Art der Gesellschaftssatire, darüber hinaus jedoch das, was seine Romane so unverwechselbar macht: Das Bittere, Herbe, die obsessive, ausweglose, ans Verzweifelte angrenzende Besessenheit.

Vor allem jedoch den Zwang zur Wiederholung und das erbarmungslose Herumreiten auf dem Immergleichen, was bis in die Erzählstruktur zutrifft. Überspitzt formuliert: Kennt man einen seiner Romane, kennt man sie, abgesehen von der insgesamt objektiver, allem bedrückenden Irr- und Aberwitz zum Trotz distanziert berichtend daher kommenden Ausnahme Das Kalkwerk, alle. Das hat – auch – damit zu tun, daß Bernhard der Meinung war, man müsse einen Roman nicht auslesen, ein paar Seiten seien mehr als genug. Auf ihn selbst übertragen bedeutet dies, daß man lediglich ganz wenig, ein paar Sätze nur, die, pars pro toto, für den Rest stehen, zur Kenntnis zu nehmen braucht. Das ist eine Ökonomie der aufs äußerste verkürzten Weitschweifigkeit, eine unheimlich zurückgenommene, dabei bodenlose Beredsamkeit, eine besessene Redseligkeit mit schlechtem Gewissen und, trotz aller auftrumpfenden, schimpfenden Direktheit, permanenter Selbstrelativierung.

Etwas von dieser Besessenheit gibt es übrigens auch bei Dostojewski, so sehr, daß der Autor in Der Idiot den Überblick darüber verliert, was seine Protagonisten antreibt. Das ist selbstredend eine Ausflucht und genaugenommen ein Armutszeugnis, wenn die Motive der dramatis personae demjenigen, der sie geschaffen hat, dunkel sind. Mit dieser Ausflucht eines vermeintlichen Eigenlebens geht Dostojewski in diesem Roman gleich zweimal in die Offensive, was die Sache nicht besser, sondern umso auffälliger macht. Dieser freilich zentrale Einwand nimmt nichts von denjenigen Passagen fort, die man nur als gelungen bezeichnen kann. Einerseits das existentiell Bedrückende derjenigen Szene, in der die aus eigenem Erleben gespeisten Minuten vor der Hinrichtung dem Leser körperlich nahe gebracht werden. Andererseits das Gespür Dostojewskis für die unverstellte, mit unmittelbarem Leben volle Wunderwelt der Kinder, die auch die seines unbedarften „Idioten“ und heiligen Eigenbrötlers ist, der sich mehr treiben läßt als daß er handelt.

Ich schweife ab. Was sind mögliche Kriterien für einen guten und, umgekehrt, einen nicht so guten bis schlechten Roman? Er soll gefallen, gewiß. Doch gefallen die zugespitzten Mental-Metzeleien Thomas Bernhards? Ich zweifle. Er soll unterhalten, Freude bereiten. Selbstverständlich. Aber wie ist es mit der Containerdramatik eines Beckett? Vielleicht unterhält sie einige Wenige, aber bereitet sie Freude? Wohl eher nicht. Oder, ein anderes Beispiel, der Lyriker Brecht wird geschätzt, während man ihn für seine der political correctness zuwiderlaufenden, als politisch anrüchig verschrienen, tendenziösen Lehr- und Theaterstücke verachtet, jedenfalls sie nur unter weitestgehenden Vorbehalten rezipiert.

Gar nicht so einfach, sich hier zurechtzufinden. Deswegen die Frage: Was sind, gegebenenfalls, Kriterien, die an der erzählenden Kunst, und womöglich nicht bloß an ihr, Stich halten?

Wie ist es, kann durch sprachliches Brillierenwollen um jeden Preis die zu erzählende Geschichte an ihrem Gehalt und Gewicht, sofern vorhanden, Schaden nehmen? Sind die, technisch-formal gesehen, versiertesten Sprachkünstler und Schöpfer außergewöhnlicher Wendungen letztlich schlechte Geschichtenerzähler? Weil sie nämlich das womöglich tief zu empfindende Wesen einer Fabel in ihrem Sprachfeuerwerk ertränken, jenes diesem zum Opfer bringen?! Das Wesen als die abhängige Variable des Wortes. Das Wort steht nicht, wie es doch sollte, jenem zu Diensten. Und das Ergebnis ist, daß das Ganze, so gekonnt es sein mag, ja gerade auf Grund dieser aufdringlichen Gekonntheit ein Blendwerk ist. Es wirkt gewollt, prätentiös und gesucht.

Zeitgenössische Autoren von dieser gewollt gekonnten Art sind, meiner Meinung nach, Sven Regener und Dietrich Schwanitz. Bei dem letztgenannten herrscht in Der Campus eine bemühte Leichtigkeit vor, die zweifelsohne unterhält. Aber dieser Autor, das merkt man von der ersten Zeile an, will gefallen, und folglich tendieren seine aufs Außergewöhnliche zielenden Sprachschöpfungen in die Richtung von Kabinettstückchen und verraten einen Hang zur Attitüde und zur Effekthascherei. Das Auffallende, Blendende prädestiniert diesen Erzähler zum Erfolgsautor.

Allerdings mache ich folgende Einschränkung: Nach dem Sturz der Tochter, Resultat des Handgemenges der Eltern, ändert sich schlagartig der Ton. Kein Sprachgewitter mehr, kein Trommelfeuer von außergewöhnlich sein sollenden Wendungen und extraordinären Formulierungen, sondern der unmittelbaren Betroffenheit über das unverhofft Geschehene angepaßte ruhige, still-betroffene Worte der anteilnehmenden Sorge. Dieser (unwillkürliche?) Stilwechsel hat mich letztlich doch für diesen Autor eingenommen, hat aus einer story dann irgendwie doch eine Geschichte werden lassen, an deren aus diesem dramatischen Vorkommnis resultierenden Ende der Lug und Trug und das böse Treiben berechnender Verschlagenheit in Form eines kühnen, gefaßten und klaren Monologs des angeklagten Anklägers erschöpfend bloßgestellt wird.

Sven Regeners Geschichten um den Unglücksraben und hochsympathischen Lebenskünstler Herrn Lehmann haben, bei aller, wiederum extrem unterhaltsamen Dramatik, einen nicht ganz so aufgeregten Ton, wie er für den Campus von Schwanitz charakteristisch ist. Hier erschlägt der Ton die Geschichte nicht so sehr, ist der gefühlten Atmosphäre und dem gesamten Ambiente angepaßt. Dennoch, es wirkt manieriert und affektiert, weil es nämlich aufmerken lassen soll, wenn das Stilmittel „dachte er“, „dachte Frank“ etc. wie eine Lawine über den Leser kommt, auch dann, wenn man sich irgendwann daran gewöhnt hat und es wie ein Anhängsel von Lehmanns schnoddriger Kauzigkeit zu akzeptieren bereit ist. Keine Frage, Regener versteht es, diesem vagierenden Außenseiter und Versager ganz viel Leben einzuhauchen, und auch im Auspinseln von Situationskomik ist dieser Autor mitreißend. Köstlich und zum Tränenlachen das Verweigerungsgespräch mit dem burschikosen und auf eine spezielle Art liebenswerten Vorgesetzten, der in Neue Vahr Süd auf eine ungemein humorvolle Weise ausgerechnet Lehmanns Verweigerungsgesuch unterstützt und bei dieser bis zur Neige ausgekosteten Gelegenheit seinen Untergebenen dazu auffordert, sich – man glaubt es kaum – an der Niete Frank ein Beispiel zu nehmen. Das führt, wer will es ihm verdenken, auf der Seite des Gemaßregelten zu nicht geringen Irritationen. Grandios! Aber dadurch, daß Regener das, was er kann und beherrscht, unentwegt einsetzt, verliert das Ganze und nutzt sich ab. Einen dritten Teil wird es – hoffentlich – nicht mehr geben!

So geht es auch, was Wunder, anderen Autoren. Schwer, gerade seine Stärken nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern sich ausgerechnet hier in Zurückhaltung zu üben und sie wohldosiert einzusetzen. Damit tun sich, jeder auf seine Art, auch Robert Menasse und der sonst doch so großartige Erzähler Christoph Ransmayr in Morbus Kitahara schwer.

Menasses Geschichte um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in Selige Zeiten, brüchige Welt driftet zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle ab. Dieser Österreicher nämlich läßt seinen Protagonisten mit der von ihm reproduzierten Die Theorie des Romans von Georg Lukács reüssieren. Mit der inversen Phänomenologie des Geistes Hegels indessen hat dieser Epigone kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen von den Füßen auf den Kopf gestellten Hegel im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Dichtung und Wahrheit gehen bei diesem Autor für meinen Geschmack zu unvermittelt und abrupt ineinander über. Die Einfälle sind einfach zu weit hergeholt und sollen wohl frappieren, zumal sie ohnehin bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Des anderen Österreichers Sprachkunstwerk, die Rede ist von Christoph Ransmayr, befindet sich ganz nahe am Kitsch, von Pascal Mercier in Nachtzug nach Lissabon trefflich in folgende Worte gefaßt: „Kitsch ist das tückischste aller Gefängnisse … Die Gitterstäbe sind mit dem Gold vereinfachter, unwirklicher Gefühle verkleidet, so daß man sie für die Säulen eines Palastes hält.“ Konkret: Nicholas Sparks, der in seinen Romanen unentwegt pastellfarbenen Kitsch für Akademiker und Menschen mit Niveau zu Papier bringt.

Wohlgemerkt, Ransmayrs absonderlich präzise und eigentümlich durchdringende, unverwechselbare Sätze sind wirklich wie die „Säulen eines Palastes“. Aber sie sind mit dem Gold hin und wieder unwirklich und sonderbar geschraubt und gestelzt anmutender Gefühle verkleidet. Absicht? Sicherlich. Und beeindruckend gekonnt gemacht. Aber man merkt sie, die Absicht, und ist verstimmt, wie Goethe sagt.

Apropos Goethe. Viele seiner Werke machen ganz den Eindruck, vollkommene Exemplare ihrer jeweiligen Gattung zu sein, wenn man nämlich Schillers in der Nachfolge Kants geäußerten Überlegungen zu akzeptieren bereit ist. Demnach gilt: Ein Werk der Kunst muß wie ein absichtslos sich aus sich heraus entwickelndes Gebilde der (organischen) Natur erscheinen. Es ist oder sollte die Gestalt gewordene Zweckmäßigkeit ohne erkennbaren Zweck sein. Das bis ins letzte Detail sorgfältig Geplante und absichtsvoll und möglicherweise in angespanntester Konzentration Konstruierte und Komponierte muß den Anschein erwecken, als habe es sich wie von selbst, frei entfaltet. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick (Schiller).

Ist dies Ausdruck höchster Vollkommenheit in der Kunst? Wenn ja, dann heißt das für den Leser, daß er sich womöglich in einem Zustand interesselosen Wohlgefallens (Kant) befindet, der nach Schiller, dasselbe ist wie der – ästhetische – Zustand unendlich freier Bestimmbarkeit. Die Worte „Selbstvergessenheit“ und „Gehobenheit“ treffen das Gemeinte wohl noch am ehesten. Hinsichtlich der Werke, die für diese spezifisch schwerelose Freiheit einstehen, bedeutet das nichts anderes, als daß in ihnen der gewählte Ton und der Gehalt, die Stimmlage des Stils und der Geschichte aufs trefflichste zusammenstimmen und harmonieren.

Diesen Wechsel der Töne (Hölderlin), der gute Literaten ausmacht, findet man, um die wichtigsten deutschsprachigen zu nennen, bei Goethe, Thomas Mann, Robert Musil, bei Neueren, abgeschwächt, fallen mir auf Anhieb Daniel Kehlmann, Pascal Mercier, O.P. Zier, Markus Werner und die Wassermusik des Amerikaners T.C. Boyle ein.

Goethe spielt auf der Klaviatur der Stilformen ähnlich meisterlich wie Thomas Mann. Im Werther wird tiefes Empfinden in die intime Unmittelbarkeit des freundschaftlichen Briefwechsels gekleidet. Die verteufelte Humanität (Schiller) der Iphigenie hat darin ihren Grund, daß das gestörte Empfinden des verschmähten Liebhabers Thoas und des gemütskranken Bruders Orest durch die in den ruhigen Fluß des fünfhebigen Jambus gegossene emotionale Gefaßt- und offene Besonnenheit der Hohepriesterin Dianens (er-) lösend aufgehoben wird. Iphigenie als verkörperte, bis in die Sprache hinein personifizierte Harmonie vor dunkelstem, von Wahnsinn gezeichnetem Hintergrund. Die dem postrevolutionären Tumult kontrastierte stille, ruhiges Glück atmende Liebe in Hermann und Dorothea wird im freilich nicht nur aus heutiger Sicht unzeitgemäß und altertümlich-komisch wirkenden Versmaß des klassischen Hexameters manifest. Der West-östliche Divan ist ein leichtes, schwebendes, spielerisches Hin und her von zwischen dem Orient und Okzident vermittelnden Tonarten. Die nüchtern-abgeklärte Prosa von Wilhelm Meisters Wanderjahren schließlich ist der Reflex der Sprache auf die Grundhaltung des in sich gefestigten, zur Ruhe gekommenen Entsagthabens innerhalb dieses episch breit dahinfließenden, mit eingestreuten Intermezzi aufgelockerten Hoheliedes auf das tätige Leben.

Goethes stets, allen Variationen zum Trotz, objektiv wirkender, unaufgeregter Stil, der hin und wieder unpersönlich kalt wirken kann und wohl auch ist, ist das eigentliche Geheimnis der Ausgewogenheit seiner späteren literarischen Kompositionen.

Das Geheimnis eines anderen komponierenden Erzählers und Zauberers großen Stils, den Handlungsvordergrund und den strukturellen Hintergrund einer Erzählung fugenlos ineinanderzupassen, ist die an Richard Wagner geschulte Leitmotivtechnik bei Thomas Mann. In seinen Werken gibt es, sozusagen, keine freie, beziehungslose Note, kein überflüssiges Wort. Alles hängt mit allem wohldurchdacht zusammen, weist vor, zurück, aber der gefangen- und mitgenommene Leser merkt es nicht. Die Substruktur ist das Ganze, aber das Ganze wirkt so leicht, absichts- und schwerelos, als sei es frei von jeder formgebenden Berechnung und dem ordnenden Kalkül. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, wie es oben mit Schiller hieß. Ist dies Meisterschaft, dann ist Der Zauberberg ein Meisterwerk.

Er ist es aber, u.a., auch noch deswegen, weil es Thomas Mann in diesem Roman wie vielleicht in keinem anderen gelungen ist, ganze Wissensgebiete so in die Handlung zu integrieren, daß man spielerisch lernt, lernend spielt, ganz so wie Hans Castorp, der unheldische Held dieser Hochgebirgsgeschichte, dessen – ironischer – Wahlspruch lautet: placet experiri. Es ist eine hochunterhaltsame Freude, ein extremer Spaß, wie hier, auf circa 2000 Metern Höhe, bereits oberhalb der Baumgrenze, mit den Potenzen des Humanus auf eine unverbindlich-verbindliche Art jongliert wird, so daß sich alle Beteiligten, die inner-, aber auch die außerhalb der Buchdeckel Versammelten auf eine schwerelos dahingleitende Art die Zeit vertreiben. Soll Kunst Freude bereiten, dann tut dies Der Zauberberg wie kaum ein anderer aller mir bekannten Romane.

Aber das ist noch nicht alles. Mann ist, wie Goethe, ein Meister des Stilwechsels, mehr noch übrigens als Robert Musil, dem mit seinem Fragment gebliebenen Der Mann ohne Eigenschaften ein ironisch getöntes Sittengemälde über das kaiserliche, dekadente, an sich selbst überdrüssig gewordene Vorkriegsösterreich gelungen ist, mit Die Verwirrungen des Zöglings Törleß eine verstörende psychologische Studie über den Sadismus, die es an Intensität ohne weiteres mit dem Tobias Mindernickel Thomas Manns oder Tschechows Agafja aufnehmen kann. In der Joseph-Trilogie sieht der erstaunte Leser sich unversehens in die altägyptische Kultur der Pharaonen versetzt, wobei in die flinke Rede der gewollt oder ungewollt in Josephs Geschichte Involvierten, ein köstlicher Spaß, ab und an französischsprachige (!) Brocken eingestreut sind. Ein Zeichen beginnender Weit- und Weltläufigkeit. Der Fragment gebliebene Felix Krull, ein Früh-Spät-Werk, ist eine humorvolle Groteske voll schwebender Leichtigkeit über dem dunklen Grund fleischlich-lustvoller Verfallenheit. Die andere Humoreske mit ähnlichem Hintergrund ist die sozusagen auch sprachlich in Indien angesiedelte Geschichte von triebhafter Liebe, Die vertauschten Köpfe mit Namen, mit der wahnwitzigen Episode des unerschrockenen Asketen und heilig-ausgemergelten Einsiedlers Kamadamana, dessen demonstrativer Mut, sich dem lustdurchtränkten Lebensdunst seiner emotional und physisch überforderten Besucher gegen alle scheinbaren inneren Widerstände zu stellen zum Totlachen ist.

Lediglich, das sei kritisch angemerkt, im Doktor Faustus scheint mir Thomas Mann gegen Tschechows „Liebesverbot“ verstoßen zu haben, zum Nachteil für die tragische Geschichte vom Tonsetzer Adrian Leverkühn. Das Leiden des fingierten Erzählers Zeitblom an Deutschlands Niedergang ist doch ziemlich penetrant, zumal es auch dasjenige Manns war. Und die Verquickung des Politischen mit dem Persönlichen macht die Sache auch nicht besser, sondern womöglich, auf Grund seiner gesteigerten Larmoyanz, eher schlimmer. Diese doppelt veranlaßte unglückliche Liebe ist fragwürdig und ärgerlich, wenngleich er, das sei dem Autor zugute gehalten, von der ersten Seite an unentwegt auf das Mißliche dieser hochgradigen, affektgeladenen Betroffenheit reflektiert.

Einen ähnlich souveränen Stilwechsel von Werk zu Werk bringt von den mir bekannten lebenden Autoren allenfalls Daniel Kehlmann zustande. In Die Vermessung der Welt wird das liebenswürdig Schrullige und Versponnene des dann doch auch wieder heldenhaften Gebarens der beiden Protagonisten bis in die Dialoge hinein formvollendet in Sprache gegossen. Das Abenteuer des Wissens spielt sich sowohl in der lebensgefährlichen Weite von Sumpfgebieten und kühnen Hochgebirgsszenarien ab als auch ist es, wundersamerweise, in der bornierten Enge kleinstaatlicher, deutscher Biedermeierei präsent, ohne deswegen, auf Grund seiner ulkig-verdrehten und aberwitzig spekulativen Art, weniger abenteuerlich zu sein. Am Ende gelingt Kehlmann eine schwebend leichte Synthese, die zeigt, daß reine Mathematik und angewandte naturwissenschaftliche Forschung in Wahrheit zwei Seiten derselben Medaille sind und im Grunde genommen ein und dasselbe. Chapeau! In Ich und Kaminski wird das Geplänkel und Kräftemessen verschlagener Eitelkeiten und der schließliche Verzicht auf Seiten des Kritikers lakonisch-humorvoll dargeboten. Was außerdem auffällt: Kehlmann ist äußerst kenntnisreich nicht allein auf dem Gebiet der Wissenschaften, wofür im übrigen auch der gleich noch zu erwähnende kleine Roman Mahlers Zeit steht, sondern auch im Bereich der bildenden Kunst versteht er es virtuos, Gemaltes beschreibend für den gebannten Leser zu visualisieren. In Mahlers Zeit wird das Thema Zeitreisen mit Blick auf den Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre und die Möglichkeit der Aufhebung der Entropie wie in einem Science-Fiction-Roman in bedrängenden, verstörenden Sequenzen präsentiert. Es handelt sich, so gesehen, um nicht weniger als den Kollaps, die Rücknahme des physikalisch-wissenschaftlichen Weltverständnisses, an dessen Ende das völlige Scheitern des sozusagen unzeitgemäßen Helden steht.

Pascal Mercier ist mit seinem Nachtzug nach Lissabon eine ruhige, gefaßte und auf eine sonderbar unaufgeregte Art bewegte, vergebliche Suche nach dem (verlorenen oder nie gehabten?) unstillbar lebenshungrigen Selbst der beiden über die Jahrzehnte hinweg verbundenen Hauptpersonen gelungen. Eine Variante zu Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wenn man so will.

Der Salzburger O.P. Zier präsentiert mit seiner Himmelfahrt, in der das klassische mundus vult decipi ironisch zu späten Ehren kommt, lebensvolle Charaktere, und vor allem der unerschrockene Draufgänger, Trendsetter und Frauenheld Alex, der (er-) lebt, was sein Freund, der Erzähler, lediglich beschreiben kann, ist von einer unglaublichen Präsenz und läßt überbordende Lebensfreude aufblitzen.

Martin Suters meisterhafte Art schließlich, spielerisch schwebend, unaufdringlich schwerelos, dabei präzise und wohldosiert knapp Spannung aufzubauen, verliert allerdings ein wenig durch ihre Monotonie. Der Ton ist irgendwie immer der gleiche oder wirkt so, wobei allerdings, genug der unpassenden Mäkelei, der dezente, mit Zwischentönen jonglierende Humor aus seinem Erstling Small World schlechterdings mitreißend ist. Und wie Suter sich in die verwirrte Psyche des vertauschten Alzheimerpatienten Tomikoni Langkoch einfühlt ist nur noch brillant. Ein Meisterstück! Also gilt für Suter doch nur sehr bedingt, was das Generalhandicap so vieler Autoren ist: Im Stilistisch-Formalen zu Nachahmern ihrer selbst zu werden.

Es mag noch viel, unendlich viel Gutes, wenn auch nicht wirklich Vortreffliches und zeitlos Klassisches in der erzählenden Literatur geben. Dem Schweizer Markus Werner beispielsweise ist in Am Hang eine mitreißende, dabei im Ton unaufgeregte psychologische Studie und spannende Bestandsaufnahme unterschiedlich motivierter Liebe mit doppeltem bis dreifachem Boden gelungen. Und, um auch noch zwei amerikanische Gegenwartsautoren zu erwähnen, deren Stil allerdings so gut wie gar keine Variationen kennt, T.C. Boyle hat in Wassermusik die (Kehlmann läßt grüßen, genauer, Kehlmann hat sich´s gesagt sein lassen) durch nichts aufzuhaltende, urgewaltige Leidenschaft des historischen Afrikaforschers Mungo Park in phantastischer Drastik und wahnsinniger Dramatik, die einem vor allem zum jagenden Ende hin den Atem verschlägt, hingezaubert. Außerdem erinnere ich en passant an John Irvings ruhige und leise, traurig-schöne, trotz allem dem Leben zugewandte Waisenhaus- und Abtreibungsgeschichte um den drogenabhängigen, ungeheuer anrührenden und hochsympathischen Anstaltsleiter Doktor Wilbur Larch und seinen sensiblen Gehilfen wider Willen und schließlich kongenialen Nachfolger Homer Wells in Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Diese Fähigkeit, mitzureißen und/oder zu berühren geht, bei zugegebenermaßen ganz anderen, sei´s psychologisch-metaphysischen, sei´s politischen Themenstellungen, der absichtsvollen Schwere und surrealistischen Verschrobenheit einerseits eines Milan Kundera vollkommen ab. Aber er wie andererseits Günter Grass mit seiner gewollten, gesuchten, immer wieder etwas geschraubt-holprigen, moralinsauren, angestrengt-anstrengenden und summa summarum parteibuchgeschwängerten Polit-Prosa verfolgen offenbar mit ihrer Literatur andere Ziele, denen ich aber meinesteils als (des-) interessierter Leser weder formal noch inhaltlich übermäßig gern gefolgt bin. Ehrlich und gerade heraus gesagt: Diese Lektüre war stets eine elende Quälerei. Gemocht aber wird und Freunde hat selbstverständlich auch so etwas, dem man allerorten und unentwegt die Absicht anmerkt, was Verstimmung zur Folge haben kann.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft1

Helmut Pulte, Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur Mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • PULTE, Helmut: Axiomatik und Empirie : eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005. Edition Universität. ISBN 3-534-15894-6.

Man muß kein Prophet sein, um zu prognostizieren, daß sich dieses Buch, das man immer wieder lesen und/oder als Nachschlagewerk zu Rate ziehen kann, als Standardwerk etablieren wird oder bereits etabliert hat. Es bietet eine Analyse der Newtonschen Mechanik in ihrer mehr als 200jährigen, speziell – „bedingt durch die Konzeption reiner Mathematik“ (358) – deutschsprachigen Entwicklung. Im Zentrum steht die Frage nach ihrer Modernisierung vor dem Hintergrund der Frage nach dem Wandel im Verhältnis zwischen Axiomatik und Empirie. Sein wichtigstes Ziel sieht Pulte darin, „die Auflösung des axiomatischen Denkens der KMN (Klassische Mathematische Naturphilosophie, F.-P.H.) im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu analysieren“ (76). Der Übergang „von einem ‚axiomatisch-deduktiven‘ zu einem ‚hypothetisch-deduktiven‘ Theorieverständnis“ (81) soll nachvollzogen werden. Behandelt werden, um nur die wichtigsten Theoretiker zu nennen, I. Newton, L. Euler, J. Lagrange, I. Kant, J. Fries, C. G. J. Jacobi, B. Riemann und C. Neumann. Für an Fragen der reinen und angewandten Mathematik, der Physik und Wissenschaftstheorie (-geschichte) Interessierte ist diese Arbeit gleichermaßen lesenswert.

Für Newton, den Begründer des Mechanischen Euklidianismus, sind, so erfährt man, Axiome „die weitestgehenden Verallgemeinerungen von Erfahrung, die über die Bewegung materieller Körper gewonnen werden können“ (98). Das bedeutet, umgekehrt, daß es in Newtons mathematischer Theorie der Bewegung „eben nicht um die Bereitstellung einer formalen Struktur“ geht, „der nachträglich (durch Korrespondenzregeln) empirische Bedeutung verliehen wird. Vielmehr ist nach seinem Verständnis die Mathematik selber empirisch bedeutungsvoll …“ (111).

Ein anderes, hiermit in direktem Zusammenhang stehendes Beispiel: Der Mathematiker Leonhard Euler ist der Vertreter einer sensualistischen Ideenlehre. Alle Gedanken, inklusive der mathematischen Allgemeinbegriffe gehen auf die sinnliche Wahrnehmung zurück. Der Verstand macht, per Abstraktion, aus den aufs Einzelne bezogenen Vorstellungen der Wahrnehmung allgemeine Begriffe. Da also alle Allgemeinbegriffe, unter die auch die mathematischen der Zahl und der Ausdehnung fallen, auf Sinneswahrnehmung beruhen, entfällt für Euler, wie übrigens auch für D‘Alembert (vgl. 139 f.), die Schwierigkeit jeglichen Apriorismus‘: Aus dem Formalen etwas empirisch Reales zu machen. Weil die wie auch immer bestimmten Formen aus dem in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Einzelnen abgeleitet sind, ist die Beziehung eine per se lückenlose. „Euler wendet sich daher (…) emphatisch dagegen, abstraktiv gewonnene mathematische Allgemeinbegriffe und physische Einzeldinge nach dem Schema ‚Idealität-Realität‘ zu unterscheiden. Die Eigenschaften der Allgemeinbegriffe der Mathematik müssen sich immer in den spezielleren, mit physikalischen Einzeldingen korrespondierenden Ideen wiederfinden, so daß auch für Euler (…) ein ‚Anwendungsproblem‘ im modernen Sinne nicht existiert: „Alles, was einem allgemeinen Begriff zukömmt, kömmt auch den untergeordneten zu, und alle die Eigenschaften, die mit ihm verbunden sind, sind auch nothwendig mit den unter ihm begriffenen Individuis verbunden“. ‚Mathematische‘ Ausdehnung etwa ist kein idealer, für die Physik unbrauchbarer Begriff, sondern ist real in dem Sinne, daß die Eigenschaften, die die Mathematik von ihr aussagt, auch von (notwendig ausgedehnten) physischen Körpern ausgesagt werden können. Eulers bevorzugtes (weil auf Leibniz‘ Monadenlehre abzielendes) Beispiel hierfür ist die unendliche Teilbarkeit der Ausdehnung: Sie ist mathematisch möglich und also auch physisch. Wären solche Schlüsse nicht erlaubt, würde die Geometrie eine „ganz unnütze und vergebliche Spekulation“ sein; diejenigen, die „zwischen den abstrakten und wirklichen Gegenständen“ unterscheiden, „erwägen nicht, daß keine einzige Folgerung, kein einziger Schluß mehr gelten würde, wenn es nicht erlaubt wäre, von jenen auf diese zu schließen; denn was thun wir in allen unsern Schlüssen anders, als daß wir die besondern Begriffe für die allgemeinen setzen““ (181). Zusammengefaßt: Mechanische Axiome sind für Euler „auch als mathematische Sätze nicht a priori gültig, denn die Mathematik insgesamt ist keine Wissenschaft a priori in dem Sinne, daß ihre Axiome und (qua Übertragung Eulerscher ‚logischer Wahrheit‘) Theoreme unabhängig von jeder Erfahrung gelten würden“ (ebd.).

Aufschlußreich auch Lagranges, „vom modernen Standpunkt“, wie es heißt, „durchaus befremdliche Vorstellung“ – man ahnt den konventionalistischen Generalvorbehalt –, daß die „intrinsische mathematische Struktur der Natur (…) gleichsam abgebildet (wird, F.-P.H.) auf den mathematischen Kalkül, der seinerseits diese Struktur offenlegt. (…) Lagrange unternimmt hier den Versuch, die Symbole der abstrakten Algebra an konkrete, erfahrungsmäßig gegebene Bewegungen anzubinden und so als realitätsvermittelnd auszuweisen – ein Versuch, der vergleichbar ist mit Newtons genetischer Anbindung seiner Fluxionsrechnung an die mechanische Bewegung“ (208; vgl. ebenso 281).

Der Name des Mathematikers Carl. G. J. Jacobi steht für den Bruch mit dem axiomatischen Denken der Klassischen Mathematischen Naturphilosophie. Ihr „Certismus und ‚Evidentialismus‘ wird letztlich durch eine Auffassung reiner Mathematik („im Sinne bloßer symbolischer Konstruktion nach Gesetzen des Denkens“ (379), F.-P.H.) zu Fall gebracht, die ihre Grenzen genau zu bestimmen sucht, um innerhalb dieser Grenzen strengere Kriterien mathematischer Gewißheit und Evidenz zur Geltung zu bringen. Zugleich eröffnet diese Mathematikauffassung die Möglichkeit alternativer Prinzipienformulierungen (beispielsweise in Gestalt Riemannscher nichteuklidischer, und später auch n-dimensionaler Geometrien, F.-P.H.) – und stellt damit die Forderung der KMN nach Einzigartigkeit bzw. Eindeutigkeit der Systembildung zur Disposition – die in nichts anderem als der Kreativität der Mathematiker und der Autonomie der Mathematik selber angelegt ist: Die Möglichkeiten reiner Mathematik werden durch die Erfahrung nicht hinreichend restringiert, um das System der Mechanik eindeutig zu bestimmen. Aus diesen Gründen spreche ich hier von einer ‚rein mathematischen‘ Auflösung der KMN“ (330).

Riemanns auch wissenschaftstheoretisch moderner Standpunkt gewinnt Kontur, wenn man ihm den Standpunkt Newtons kontrastiert: „Für Newton konnte das Trägheitsprinzip zugleich ein empirisch verifiziertes Naturgesetz und ein mathematisches Axiom sein, weil für ihn die Euklidische Geometrie (und damit Euklidische Geradlinigkeit) die evidente und eindeutige Struktur des Raumes abgab. Riemann löst diesen einförmigen Zusammenhang gleichsam ‚von beiden Enden‘ her auf: Er hypothesiert das Trägheitsprinzip von der empirischen Seite her, und zugleich eröffnet er von mathematischer Seite andere Optionen, d.h. er problematisiert die für Newton selbstverständliche Eindeutigkeit. Diese zweite Seite stelle ich in die Tradition der (in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts Platz greifenden, F.-P.H.) reinen Mathematik, und sie findet in Riemanns ‚allgemeinem Begriff der mehrfach ausgedehnten Grösse‘ ihren deutlichsten Ausdruck“ (368 f.).

Für den Mathematiker Carl Neumann schließlich sind „mathematische und logische Sätze und Theorien (…) zwar inhaltsleer, aber sicher und wahr; die mathematische Physik jedoch partizipiert hieran nurmehr qua ‚Ableitungssicherheit‘ und nicht mehr auf der Ebene der Prinzipien selber, wie es in der KMN der Fall ist. Ein Certismus bezüglich Mathematik und Logik und ein Prinzipienfallibilismus bezüglich der mathematischen Physik (und empirischen Theorien im allgemeinen) kennzeichnen Neumanns Wissenschaftstheorie in den Principien der Galilei-Newton‘schen Theorie (1869, F.-P.H.)“ (414).

Das Fazit lautet: „Die Mathematik führt nicht nur keine materiale Wahrheit ‚von oben‘ in das wissenschaftliche System ein, wie es die ältere KMN wollte, sie eröffnet zudem ganz verschiedene Möglichkeiten, deduktive wissenschaftliche Systeme über den gleichen Erfahrungsbereich zu errichten. Die Mathematik selber zeigt nach Neumann auf, „wie ausserordentlich gross der Spielraum ist für die willkührlich zu wählenden Principien“; es zeigt sich, „dass das Gebiet abstracter Untersuchungen, welches sich hier dem Mathematiker bietet, ein unendliches ist“. Neumanns Principien der Galilei-Newton‘schen Theorie artikulieren deutlicher als jede andere Quelle der zweiten Jahrhunderthälfte die Auflösung der KMN ‚von oben‘, um die es in dieser Untersuchung geht, und sie liefern zugleich einen wichtigen Beleg für den bisher ‚verborgenen‘ Einfluß Jacobis. Die Mathematik, in der KMN der eigentliche Garant wissenschaftlicher Objektivität, ist zu reich an Möglichkeiten und zu unabhängig von Erfahrung, um nur einen ‚Spiegel‘ der physikalischen Realität abzugeben“ (417 f.).

Wenn allerdings laut Neumann mathematisch-physikalische Theorien bloß den Stellenwert subjektiver Gestaltungen haben, „welche (von willkührlich zu wählenden Principien aus, in streng mathematischer Weise entwickelt) ein möglich treues Bild der Erscheinungen zu liefern bestimmt sind“ (418), dann stellt sich zunächst die wissenschaftstheoretisch harmlose Frage: Wie, wenn nicht in theoretischer Be- und Verarbeitung bieten sich die Erscheinungen dar? Anders, in polemischer, weil der Position Neumanns angemessener Absicht formuliert: Eine Theorie, die sich, ihres Formalismus‘ und ihrer ausdrücklichen Willkür halber von so ziemlich allem, nur nicht ihrem abstrakt-autarken Regelwerk absolviert, kann nicht mehr ernsthaft nach der Adäquatheit ihrer Konstruktionen fragen. Sie ist ja, die gemachten Voraussetzungen stehen dafür, per se und a priori gegeben. Anders denn als logisch-mathematisch zugerichtete vermag eine derartige Theorienschwemme ihre Erscheinungen zugegebenermaßen überhaupt nicht mehr zu denken.

Dennoch, und dem gleich anschließend mitgeteilten zweiten Einwand zum trotz: Pultes wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung ist ungemein fundiert, genau und umfassend recherchiert und sprachlich exakt, klar, ich möchte sagen, souverän formuliert.

Schwer, bei dem Inhaltsreichtum dieser Arbeit eine halbwegs zufriedenstellende und repräsentative Auswahl zu treffen. Was ist der Erwähnung wert, auf welche Zusammenhänge ist unbedingt hinzuweisen und auf welche kann notfalls verzichtet werden? In der durch den Umfang einer Rezension ohnehin gebotenen Beschränkung zeigt sich der Meister.

Noch, en passant, eine unerhebliche Korrektur: Köhnkes Vorname ist nicht Karl, sondern Klaus, genauer, Klaus Christian.

Aber: In dieser Publikation wird das moderne, empirisch und/oder formal verfahrende, auf Erkenntnisgewißheit Verzicht leistende probabilistische und prinzipienfallibilistische Wissenschaftsverständnis lediglich referiert und beispielsweise dem induktiv abgesicherten „Prinzipiencertismus“ eines Newton – „there is no other way of doing any thing with certainty than by drawing conclusions from experiments & phaenomena untill you come at general Principles & then from those Principles giving an account (Erklärung, F.-P.H.) of Nature“ (134) – als eine ernst zu nehmende Alternative kontrastiert (vgl. 66 f., 72, 74 f., 111, 132 u. passim). Über den Sinn oder Unsinn dieser für Bescheidenheit plädierenden Haltung moderner Wissenschaftstheoretiker wird man, was wohl auch nicht ihre Aufgabe ist, in dieser historisch angelegten Arbeit leider nicht aufgeklärt. Deshalb seien hier abschließend, unter Berücksichtigung eines klassischen Vertreters gegenwärtiger Wissenschaftsauffassung, auf den sich auch Pulte als einen Gewährsmann regelmäßig und am Ende seiner Untersuchung gehäuft (414 ff., 419, 429 ff.) beruft, über diese Theorie, die eben keine Theorie der Wissenschaft, sondern ein einziger in polemischer Absicht vorgetragener Etikettenschwindel ist, ein paar sachdienliche Überlegungen nachgereicht.

Wissenschaftliche Exaktheit wird in Karl Poppers Erkenntnistheorie lediglich von logischen Sätzen erreicht, die, ihrer identitätslogisch untermauerten Abstraktheit wegen, nichts über die Wirklichkeit aussagen. Sie sind folglich zusammengefaßt in Theorien, die, weil sie von jeglichem Bezug auf einen Gegenstand losgesprochen sind, explizit den Stellenwert von „Erfindungen“ und „kühnen Vermutungen“ oder auch, weniger wohlwollend, von „schlecht durchdachten Mutmaßungen“ haben. Ihnen kontrastieren die empirischen Wissenschaften, deren ausnahmslos eingeschränkt gültigen Aussagen über die Wirklichkeit prinzipiell die Frage aufwerfen, ob sie zutreffen. Wissen ist also laut Popper weder im Bereich formallogischer Axiomatik zu erreichen noch in demjenigen induktiv und folglich gedankenlos (s.u.) zu erschließender Empirie. Womit er zweifelsohne recht hat. Nur, was hat dieses doppelt basierte Wissenschaftskonzept eigentlich mit Wissenschaft zu tun?

Popper diskreditiert den Anspruch von Wissenschaft(en) auf die Objektivität ihrer Einsichten dadurch, daß er einen Pappkameraden kreiert, an dem sich genau dieser Anspruch blamieren soll. Dieser zu widerlegende Pappkamerad heißt „Induktionsschluß“, wobei es sich um einen Schluß handelt, den es gar nicht gibt, der aber, als widerlegter, dazu herhalten muß, die Unmöglichkeit gesicherter Erkenntnis zu beweisen. Wie also funktioniert er?

In ihm wird „von besonderen Sätzen, die z.B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien geschlossen“, was, wie bei Pulte nachgelesen werden kann, bereits das methodologische Vorgehen Newtons gewesen ist. Die Allgemeinheiten allerdings, auf die es Popper, anders als Newton, die bei ihm für in ihrer Gesetzmäßigkeit begriffene Abläufe der Natur standen, abgesehen hat, sind insofern verräterisch, als er in ihnen nichts anderes zu sehen vermag als die Häufigkeit eingetretener Fälle. Das Allgemeine wird wie selbstverständlich durch ein numerisches Alle ersetzt. Das aber ist alles andere als selbstverständlich, sondern der erkenntnisbekrittelnden Absicht geschuldet. „Nun ist es aber nichts weniger als selbstverständlich, daß wir logisch berechtigt sein sollen, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele (!, F.-P.H.), auf allgemeine Sätze zu schließen. Ein solcher Schluß kann sich ja immer als falsch erweisen: Bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, daß alle Schwäne weiß sind“ (Logik der Forschung, 2. Aufl., Tübingen 1966, S. 3).

Es stimmt, der allgemeine Satz Poppers ist keine gesicherte Erkenntnis. Zum einen, weil man in ihm nichts über die Eigenart eines jeweils besonderen Gegenstandes erfährt, da er, zum anderen, nichts weiter leisten soll, als ein stets vervielfältigbares, da quantitativ gestütztes und folglich problematisches Alle zu projektieren. Und drittens denkt die Biologie nicht über die Farbe des Federkleides von Wasservögeln nach. Warum nicht? Weil die Farbe nichts über gattungsspezifische Merkmale dieses Tieres aussagt.

Die Wissenschaft(en) gehen anders vor. Sie lösen eine Gattung aus gutem Grund nicht in die Allheit ihrer einzelnen Mitglieder auf, weil sie sich gerade für das Allgemeine interessieren, das diese Einzelnen zu Mitgliedern dieser Gattung macht. Um das Herausarbeiten der Bestimmungsstücke des solcherart verstandenen Allgemeinen bemühen sich die Wissenschaften. Um bei dieser Anstrengung erfolgreich zu sein, wird einerseits von den zufälligen Bestimmungen der in Frage stehenden Sache abstrahiert, und andererseits werden in den Prädikaten ihrer Urteile gattungsspezifische, für das Objekt wesentliche Bestimmungen ausgesagt, wozu die Farbe ganz sicher nicht gerechnet wird. Über sie mag der wissenschaftlich ungeschulte Verstand von Kindern ins Grübeln kommen, der sich gegebenenfalls darüber irritiert zeigt, daß Jungschwäne ein dunkelgraues Federkleid haben, und deswegen den Jungschwan nicht als zur Art dieser Wasservögel gehörig zu identifizieren in der Lage ist.

Kurz gesagt: Die Allgemeinheit des Urteilens, die Popper in der sozusagen kindlichen Manier eines sich begriffsstutzig anstellenden Erwachsenen anzweifeln möchte, kommt nicht durch das gedankenlose Aufhäufen von Beobachtungen zustande. Selbst Kinder im übrigen lernen, indem sie zu sprechen anfangen, den gesehenen Einzelfall zu verallgemeinern, worin ein begründeter Anlaß zur Freude besteht, der sich darin äußert, daß sie das Verstandene unablässig wiederholen. Darüber hinaus: Popper weiß, er mag sich so gezielt engstirnig anstellen wie er will, offensichtlich um die fragliche Identität der majestätischen Langhälse, wenn er sie an ihrem Federkleid blamieren will. Anders formuliert, der kritische Rationalist stellt sich hier womöglich vorsätzlich dumm, um nämlich seinen prinzipiellen Einwänden gegen gesicherte wissenschaftliche Einsichten und seinem Plädoyer für bescheidene Behutsamkeit beim bemühten Forschen einen Schein von Plausibilität zu geben.

 

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft 2

Hansen, Frank-Peter: Vergessene Bücher V: Beiträge zur Logik von Alois Riehl, 26.09.08

Der nachfolgende Text hätte als nächstes im Marburger Forum unter der Rubrik „Vergessene Bücher“ erscheinen sollen. Möglicherweise geschieht dies auch noch. Ich weiß es nicht. – Daß ich ihn jetzt an dieser Stelle publiziere hat einzig und allein damit zu tun, daß ich mich in dieser Form von Max Lorenzen, dem Herausgeber des Forums und Mitinitiator dieser Reihe, verabschieden möchte. Er ist am 24. August an Herzversagen gestorben. Max Lorenzen war für mich ein stets freundlicher, aufmerksamer und zuvorkommender Gesprächspartner auch über die Entfernung der Städte hinweg, wofür ich mich – zu spät – an dieser Stelle bedanken möchte.

Von Alois Riehl stammt der beherzigenswerte Satz: „Nur wer sein Denken vorzugsweise an Sprachen erzogen und an die Regeln der Grammatik gewöhnt hat, mag auch von den Regeln des Geschehens in der Natur Ausnahmen für möglich halten oder die Naturgesetze bloß als Text-Interpretationen der Naturforscher betrachten“ (Ders.: Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1903, S. 264 f.). Ist dies die ahnungsvoll vorweggenommene Position des Wiener Kreises, dann kontrastiert dieser Mischung von Impressionismus und Formalismus bei dem Realisten Riehl die Einschätzung, daß das „Gesetz der Gravitation … mit allen Bewegungen der Himmelskörper und irdischen Fallerscheinungen (zwar, F.-P.H.) noch nicht gegeben (sei, F.-P.H.), obgleich es in jeder Fallbewegung enthalten ist. Kein Gesetz kann in eine Tatsache rein aufgehen, keines mit der bloßen Summe von Tatsachen gegeben sein, obschon es von allen Tatsachen gilt, die unter ihm stehen. Jedes Gesetz ist ein Satz mit einem Wenn: zwei Massenpunkte würden sich genau nach dem Gesetze ihrer Gravitation annähern, wenn sie allein in der Welt wären“ (S. 260).

Doch nicht um diese zweifelsohne lesenswerte Publikation soll es hier gehen und auch nicht um sein zweibändiges Hauptwerk Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, sondern um die kleinen, unscheinbaren Beiträge zur Logik, die in zweiter Auflage 1912 bei O.R. Reisland in Leipzig erschienen sind. Sie haben es faustdick hinter den Ohren, wie zu demonstrieren sein wird. Und außerdem: wer liest schon gern 1000 und mehr Seiten im Stück?! Bei Romanen mag das ja noch hingehen. Aber wissenschaftliche Fachliteratur in zwei bis drei stattlichen Bänden … Und dann ausgerechnet auch noch Wissenschaftstheoretisches und Logisches … Unwillkürlich schreckt man zurück und schiebt die Scharteken achselzuckend zurück ins Regal. So in diesem speziellen Fall nicht. Denn das Bändchen umfaßt lediglich 68 Seiten. Das ist locker zu bewältigen und zwar mit unverhältnismäßig großem Gewinn, heißt mit spürbarem Erkenntniszuwachs.

Zuvor jedoch: Wer war Alois Riehl? Er kam am 27.4.1844 bei Bozen in Südtirol zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Bozen und der Matura studierte er Philosophie, Geographie und Geschichte an den Universitäten Wien, München, Innsbruck und Graz. 1866 legte er das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. 1868 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Innsbruck, 1870 Habilitation an der Universität Graz. Dort war er bis 1873 Privatdozent und hatte danach eine a.o. Professur für Philosophie inne. 1870 erschien die Untersuchung Realistische Grundzüge. 1871 folgte die Abhandlung Moral und Dogma und 1872 Über Begriff und Form der Philosophie. 1878 wurde Riehl zum o. Professor für Philosophie an der Universität Graz berufen. Seit 1882 war er der Nachfolger von Wilhelm Windelband an der Universität Freiburg. 1876 und 1879 erschienen die Bände I und II,1 seines Hauptwerks Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. 1887 folgte abschließend der Band II,2. Mit diesem Grundlagenwerk, das sich mit der Geschichte und Methode des philosophischen Kriticismus, den sinnlichen und logischen Grundlagen der Erkenntnis und schließlich mit Fragen der Wissenschaftstheorie und Metaphysik auseinandersetzte, verfolgte Riehl die Absicht, Philosophie als reine Wissenschaft unter Ablehnung metaphysischer Spekulation durchzuführen. Die Metaphysik sollte durch die positiven Wissenschaften ersetzt werden. Riehl hatte in Freiburg einen schweren Stand, weil die Metaphysikkritik seines Zweiteilers in der katholischen Bischofsstadt als kirchenfeindlich bewertet wurde und entsprechend auf wenig Gegenliebe stieß. Konzessionen und Rücksichtnahmen aber hielt er in der Wissenschaft für genauso fehl am Platz wie zu befolgende Anstands- und Benimmregeln der akademischen und/oder konfessionell gebundenen Sittenwächter und Verlagszensoren, die, in der einen Variante, heute freilich mehr als damals den Ton in der Szene angeben und gegen den zu verstoßen nicht selten für den davon Betroffenen einem Verschwinden in der Versenkung und einem Vergessenwerden im intellektuellen Niemandsland gleichkommt. – 1896 erfolgte ein Ruf nach Kiel, 1898 die Berufung nach Halle/Saale. 1905 trat er die Nachfolge Wilhelm Diltheys auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin an. 1903 erschien Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 1904 Immanuel Kant. Alois Riehl ist am 21.11.1924 in Neubabelsberg bei Berlin verstorben. – Goethes Credo war auch dasjenige Riehls: „Die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Beharrlichkeit, es auszuführen.“ (Vgl. zum Folgenden auch meine Geschichte der Logik des 19. Jahrhunderts. Eine kritische Einführung in die Anfänge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000, S. 171-175)

Daß die Regeln der Grammatik nicht auch diejenigen der Natur und ihrer Wissenschaften sind, ist dem einleitenden Zitat zu entnehmen. Daß es darüber hinaus angezeigt ist, „die logische Gliederung einer Aussage von dem grammatischen Aufbau des Satzes zu unterscheiden“ hat damit zu tun, daß beispielsweise die Kopula einerseits bloß die „sprachliche Funktion“ hat, „der Aussage die Form eines Satzes zu geben“ (1). Andererseits besteht die logische Bedeutung der Kopula in ihrer prädikativen Natur. Schließt nämlich das bloße Bindewort „keineswegs die Behauptung der Existenz des Subjektes (und der davon abhängigen des Prädikates) des Satzes ein“, dann besteht die logische Bedeutung des Wörtchens „ist“ in dem „Wirklichsein oder Wahrsein“ (20) des ausgesagten Sachverhalts. Außerdem kommt im Urteilsakt „zur bloßen Vorstellung eines Begriffsverhältnisses die weitere Auffassung hinzu, daß dieses Verhältnis allgemeingültig und notwendig sei“ (21). Im Urteil wird von einer bloßen Vorstellung behauptet, daß sie eine Beschaffenheit des Wirklichen sei. Indem wir urteilen, schreiben wir „dem Inhalte Unabhängigkeit von unserem Vorstellen zu, sofern dieses lediglich als subjektive Tätigkeit betrachtet wird. Sooft wir urteilen, urteilen wir im Namen Aller, sei es, daß wir den Inhalt unseres Vorstellens auf die gemeinschaftliche, von unserem Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit beziehen oder ihm allgemeine, für jedes denkende Subjekt verbindliche Gültigkeit zuerkennen“ (17): Objektivität, Allgemeinheit und Notwendigkeit. Diese drei Bestimmungsstücke sind auf jeden Fall für wissenschaftliches Urteilen charakteristisch.

Bevor man urteilt, muß man jedoch nach Möglichkeit gedacht haben. Wie verhält es sich hiermit? Laut Riehl folgendermaßen: „Im Gegensatz zu den anschaulichen, konkreten und darum individuellen Vorstellungen der Sinne und der Einbildungskraft sind die Begriffe gedankliche, abstrakte und daher allgemeine Vorstellungen, welche in unserem Bewußtsein die Stelle der anschaulichen vertreten. Diese Sonderung gedanklicher Vorstellungen von den anschaulichen, den Wahrnehmungen und Erinnerungsbildern, wird durch die Sprache ermöglicht“ (2). Wort und Bedeutung sind, anders als später dann von Wittgenstein vertreten, untrennbar verbunden. Um also den Sinn einer Rede zu erfassen, bedarf es keiner Rückübersetzung in Bilder der Phantasie. Und stets sind es Begriffe und eben keine Anschauungsbilder, die in Rede und Schrift mitgeteilt werden. „Zwar klingen gleichsam die sinnlichen Vorstellungen, deren Stelle das bedeutsame Zeichen vertritt, in unserem Bewußtsein nach oder begleiten wie Schatten die Bewegung unseres Denkens. Man könnte das Zeichen als den Ausstrahlungsmittelpunkt für die betreffenden anschaulichen Vorstellungen betrachten. Müßten aber diese letzteren jedesmal über die Schwelle des Bewußtseins gehoben werden, um das Verständnis der Zeichen zu vermitteln, so würden wir niemals zu jener abgekürzten, verdichteten und darin der Wahrnehmung und Phantasie so überlegenen Art des Vorstellens befähigt sein, die wir, im Unterschied vom Anschauen, Denken nennen. Während die anschaulichen Vorstellungen so verschieden sind wie die Umstände ihrer Erwerbung, sind die begrifflichen, vorausgesetzt nur, daß sie hinlänglich definiert, d.i. durch andere, bekannte Begriffe erklärt werden, für jedermann dieselben“ (3).

Sprachliche Zeichen aber sind für die Bildung von Begriffen auch deswegen unverzichtbar, weil ohne jene diese im Bewußtsein nicht festgehalten werden könnten. Er „würde schon im Entstehen wieder verschwinden, nämlich von den anschaulichen Vorstellungen verdrängt werden“ (4).

Die „Quelle“ und der „Träger“ abstrakter Vorstellungen oder Begriffe ist also laut Riehl die Sprache. Begriffe sind allgemein. Zwar kann der Gegenstand eines Begriffs konkret sein, er selbst jedoch kann es nicht, obwohl beispielsweise jedes einmalige historische Ereignis zum Gegenstand begrifflicher Erkenntnis werden kann. Man hat sich dann eben gedanklich der Notwendigkeit seines Ablaufs versichert, was durch einfaches Hinsehen nicht zu bewerkstelligen ist. „Die Begriffe bleiben somit abstrakt und allgemein, mag auch ihr Gegenstand individuell, ja einzig in seiner Art sein“ (6).

Die Begriffsbildung beruht auf der Tätigkeit des Verallgemeinerns. Darüber hinaus setzt sie „Unterscheidungsfähigkeit“ voraus. Denken nämlich „ist etwas wesentlich anderes als sich unvollständig erinnern. Nicht durch Übersehen der Unterschiede, durch Absehen von den Unterschieden wird das begrifflich Allgemeine gewonnen“ (7). Mithin ist das Bilden der Begriffe einerseits zwar eine Befreiung von den Fesseln der Anschauung, andererseits gewinnt die Unübersichtlichkeit des bloß Angeschauten durch sie eine klare Kontur. In summa: „Außer dem Universum seiner Wahrnehmungen und anschaulichen Vorstellungen gibt es sonach für den Menschen ein Universum von Bedeutungen, das er sich selbst geschaffen hat. Das Mittel dazu war ihm die Sprache. Die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen bildet sein Erkennen“ (8).

Man sollte sich allerdings davor hüten, die empirische Allgemeinheit mit der begrifflichen zu verwechseln. Zur ersteren „gelangen wir durch generalisierende Abstraktion, durch Hervorhebung des Übereinstimmenden in einer Mehrzahl von Fällen, die dadurch zu einem Begriffe zusammengefaßt werden“: sogenannte All-Sätze. Die „begriffliche Allgemeinheit“ hingegen „wird durch analysierende Abstraktion erreicht, durch Zurückführung des in der Vorstellung Gegebenen auf das Einfache und Denknotwendige. (…) Empirisch-allgemeine Sätze sind als Ausdruck übereinstimmend wiederkehrender Beobachtungen und Erfahrungen material (= die Häufigkeit der weißgefiederten Schwäne Sir Karl Poppers innerhalb seines additiv-falsifikatorischen Wissenschaftsverständnisses, F.-P.H.), begrifflich-allgemeine formal; sie dienen zur Erklärung der Erscheinungen, und ist mit ihrer Hilfe eine bestimmte einzelne Erscheinung zum Verständnis gebracht, so haben wir damit auch schon das Verständnis aller Erscheinungen derselben Art erzielt“ (34).

Mit Folgendem hat übrigens – ein Anachronismus – der Frühgeborene Riehl dem Spätgeborenen Popper eine präzise und knappe erklärende Korrektur hinsichtlich seiner desolaten Wissenschaftsauffassung ins Stammbuch geschrieben: „Aus der empirischen Allgemeinheit läßt sich die begriffliche auf direktem Wege nicht herleiten. Selbst die erschöpfende Aufzählung der Fälle, wo diese überhaupt möglich ist, gibt unserem Urteile noch keine strenge Allgemeingültigkeit“. Das sah auch Popper so, allerdings sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen, weil er, unter unkritischer Zugrundelegung der empirischen Allgemeinheit, die streng begriffliche gar nicht erst ins Auge zu fassen vermochte. Es „bedarf“, so fährt Riehl fort, „dazu jederzeit der Unterordnung der Fälle unter einen begrifflichen Satz, ein mathematisches Naturgesetz; haben wir aber einmal einen solchen Satz, so ist wieder die Aufzählung der Fälle entbehrlich geworden“ (ebd.). Empirisch unterfütterte All-Sätze sagen also lediglich aus, daß eine in ihrer Eigenart übrigens nach wie vor unverstandene Tatsache wie auch immer eingeschränkt und folglich bloß vorbehaltlich gültig ist. Begriffliche Verallgemeinerungen wissen, auf Grund der vorgenommenen Identifizierung ihres Gegenstandes, den Grund seiner Begreiflichkeit auszumachen und zu benennen. Sie drücken nichts anderes als das Gesetz aus, „das alles Besondere, das sich aus ihm entwickeln läßt, zugleich in sich enthält“ (37). Folglich gilt die „gewöhnliche Regel, daß Verminderung des Inhaltes gleichbedeutend ist mit Vergrößerung des Umfanges eines Begriffes (…) nur von der äußerlichen, mechanischen Abstraktionsweise durch Wegdenken, nicht von jener wesenhaften Abstraktion, die das einheitliche Gesetz zusammengehöriger Begriffe und Objekte hervorhebt“ (ebd.).

Hinsichtlich mathematischer Objekte, wie nicht allein Riehl sie versteht, sondern wie auch die moderne Mathematik sie zu fassen gewohnt ist, gilt also, daß dort, wo „wir die Objekte unserer Begriffe selbst erzeugen, – richtiger: wo es sich gar nicht um die Objekte selbst handelt, sondern um die Vorstellungsart von Objekten überhaupt, wie in der Mathematik, da beherrschen wir eben dadurch auch alle Bedingungen der Spezifikation des höheren Begriffes in seine niederern, und alle Aussagen über diese Begriffe sind (selbstredend, ist man geneigt zu sagen, F.-P.H.) notwendig von eben derselben strengen Allgemeingültigkeit“ (ebd.). Nur konsequent, daß Riehl vor diesem Hintergrund dafür plädiert, den „Logikkalkül, die Verwandlung alles Schließens in Rechnen“ als „einen neuen Zweig der Mathematik“ anzusehen und nicht als das, „was er nach der Meinung seiner Urheber sein soll, eine allgemeine Theorie der Schlußfolgerungen“ (59 f.).

Hinsichtlich naturwissenschaftlicher Objekte und ihrer eingesehenen Gesetzmäßigkeiten schließlich gilt etwas ganz anderes: „Wären uns auch sämtliche Planeten (und planetarische Körper wie Monde u. dgl.) bekannt, und ließen sich unsere Beobachtungen ins Unendliche vervielfältigen – eine Voraussetzung, die in ihren beiden Teilen nicht zutrifft –, noch immer würden wir nicht berechtigt sein, zu sagen: was ein Planet ist, muß sich nach den Keplerschen Gesetzen um die Sonne bewegen. Das Newtonsche Anziehungsgesetz dagegen macht diese Folgerung auch ohne Vollständigkeit der Erfahrung notwendig. Dieses Gesetz, ein Lehrsatz der theoretischen Mechanik, welcher die Wurfbewegung eines Körpers aus ihren elementaren Antrieben konstruiert, steht vor aller weiteren Erfahrung fest, weil es nicht von zahllosen einzelnen Erfahrungen abstrahiert, sondern durch Zerlegung des in jeder möglichen, hierher gehörigen Erfahrung Wesentlichen ermittelt ist. Es befähigt uns daher zur Voraussage, daß es überall gelten werde, wo seine Bedingungen erfüllt sind, und in der Art, in welcher sie erfüllt sind; hat also absolute, von der Zahl der Fälle seiner Anwendung unabhängige Allgemeingültigkeit“ (36).

Über „Tote Saison“ von O.P. Zier

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • ZIER, O.P.: Tote Saison. Residenz Verlag, St. Pölten; Salzburg 2007. ISBN 978-3-7017-1485-8 Pick It! .

Womit sieht sich der Leser dieses Kriminalromans von Anfang an konfrontiert? Mit dem ganz normalen Wahnsinn und der fanatischen Scheinheiligkeit einer durch und durch verkehrten Welt. Mit einer bizarren Farce über den Parteienfilz im Salzburger Land. Mit der geballten Niedertracht von zu jeder Schandtat bereiten Parteioberen und ihren liebedienernden Chargen, die für ihre Kariere alles zu tun bereit sind. Mit dem menschlichen Müll und Ausschuß, den die brutalisierte bürgerliche Gesellschaft in Hülle und Fülle nicht nur produziert, sondern in selbstdarstellerischer Absicht ihren abgründigen Zwecken dienstbar zu machen weiß. Mit Verschwörungen, ihren Machern und ihren schmarotzenden Theoretikern und wohlmeinenden interpretierenden Auslegern.

Womit also? O.P. Zier sagt es ohne Umschweife und gerade heraus: „Mit erkennbarer Verbitterung führte der Altlandeshauptmann, den in seiner Jugend die Ideen der christlichen Soziallehre begeistert hatten, aus, dass das größte Interesse der Partei momentan darin liege, eine Wirtschaftspolitik zu etablieren, bei der ein Unternehmen keine Mitarbeiter mehr kenne, sondern einzig und allein unerfreuliche Faktoren auf der Kostenebene, die seitens des Managements unter keinen Umständen mehr als menschliche Wesen gesehen werden dürften, weil sich solche Sentimentalitäten nur negativ auf die Bilanzen auswirkten. Um die daraus entstandene schiefe Optik auszugleichen, planten der Wirtschaftsflügel und befreundete Unternehmen groß angelegte Humanitäts-Events, konzipiert von professionellen PR-Beratern“. Es gehe nämlich letztlich darum, „das karitative Image der Partei … in den Menschen (zu) verfestigen, wenn man ihnen schon keinerlei soziale Sicherheiten mehr zugestehen könne.“ (383)

Das kommt einem seltsam vertraut vor, auch dann, wenn man mit den Ideen des sogenannten Neoliberalismus nicht gleich etwas anzufangen weiß … Denn wer kennt sie nicht oder hat jedenfalls von ihnen gehört, den „Chefleuten, die misstrauisch jedes Quäntchen Energie, das nach Dienstschluss noch in ihren Mitarbeiterinnen steckte, in die Nähe eines Diebstahls rückten. Kraft für sein eigenes Leben schien so ein halbes Kind in den Augen seiner Dienstgeber abends mitzunehmen wie unrechtmäßig vom Arbeitsplatz Entwendetes.“ (198) Und auch das gehört zum Altagsgeschäft jedes Politprofis, ganz unabhängig davon, welcher Partei er sich gerade zurechnet, seine Ausübung von Macht als eine „neue riesige Herausforderung auf sich“ zu nehmen, „um auch auf diesem Platz in großer Demut und mit ganzer Kraft und Hingabe“ beispielsweise Deutschland „zu dienen“. (385) „‚Und wie wurde Franz zum hoch dotierten Leiter dieser Einrichtung? Ahnungslose aufpassen!‘“ (233)

Das alles klingt sehr nach einem moralisch-angestrengten und anstrengenden, womöglich selbstgerechten Strafgericht. Ist es aber nicht, wie schon die frohgemut und launig angekündigte Aufklärung verdeutlicht. Denn in diesem Roman macht der Ton die Musik. Und dieser Ton hat es, die oben angeführten Beispiele belegten dies bereits, in sich und faustdick hinter den Ohren. Er ist betont kühl und sachlich, dabei jedoch getragen von schwebender und leichter Ironie. Dann wieder, vor allem im ersten Viertel, vernimmt man, dezent abgemildert, Anklänge an Thomas Bernhards besessenes und vernichtendes Daherschwadronieren vor dem Hintergrund eines wiederum und auch hier politisch motivierten Absurditätenkabinetts und eines in abscheulichster Verlogen- und Abgefeimtheit praktizierten und gehässig inszenierten Psychoterrors.

Genau hierin liegt das Geheimnis des Gelingens dieses ‚Schlüsselromans‘. Zwar permanent anzuklagen ohne zu klagen. Kühlen Kopfes und nüchtern eine, man mag es kaum glauben, lebensvolle Allegorie – wo Allegorien es normalerweise doch an sich haben, kühl, frostig und lebensfern zu sein – auf die Machenschaften der politisch Mächtigen und ihrer berechnenden Erfüllungsgehilfen aufs Papier gebracht zu haben. Das hat was, ist lehrreich und unterhält trotzdem prächtig.

Aber dieser spektakuläre Mordfall in der „toten Saison“, also im nieselig-tristen Alpenvorwinter, mit dem skandalöserweise wirtschaftlich so gar nichts los ist, hat vom Autor noch eine Dimension verpaßt bekommen, die einen sofort an Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ denken läßt, genauer an die in seinem ersten Teil im Zentrum stehende „Parallelaktion“. Unter diesem Decknamen, dies sei in Hinblick auf diejenigen resümiert, die diesen unglaublichen Roman eines anderen Österreichers (noch) nicht gelesen haben, verbergen sich die Vorbereitungen hochgestellter Persönlichkeiten, die das für 1918 zu erwartende 70-jährige Regierungsjubiläum des „Friedenskaisers“ Franz Josef gegenüber dem gleichzeitigen bloß 30-jährigen Kaiser Wilhelms II. zu glanzvollem Ausdruck und einem nie dagewesenen Event ausgestalten wollen. Eine Idee muß her, eine Jahrhundert- oder, besser noch, eine Jahrtausendidee, die alle bisher dagewesenen Ideen als läppisch und lachhaft erscheinen läßt und ausnahmslos in den Schatten stellt. Sie wird, so viel sei verraten, nicht wirklich gefunden. Das ganze verläuft sich irgendwie oder wird von der Realität eingeholt, nämlich der wüsten Begeisterung für die als groß empfundenen Begleitumstände des Weltkriegs Numero Eins. Denn ohne daß die Beteiligten und heillos Involvierten es zunächst selbst so recht bemerken, werden all ihre grotesk anmutenden, wichtigtuerisch-aufgeblasenen Bemühungen um das Finden der „erlösenden Idee“ in den enthusiastisch begrüßten Ausbruch des ‚Ringens der Völker‘ münden. Und das geplante „Weltösterreichjahr“ 1918 wird sich ironischerweise als das des Zusammenbruchs beider Monarchien erweisen. Was für ein Jokus. Es ist zum Totlachen, wenn es nicht so aberwitzig traurig wäre.

Genau diese Atmosphäre tieftraurigen Gelächters herzustellen ist auch O.P. Zier gelungen. Depravierten Charakteren, die einzig und allein die Größe des eigenen Landes und – mitlaufend – ihre eigene in ihren Köpfen haben, ist vieles zuzutrauen. Unter anderem auch dies, das Gebirgsmassiv der Hohen Tauern auszuschaben oder auszuhöhlen, um den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten der toten Saison machtvoll begegnen zu können. „‚Liebe FT-Mitglieder, vergesst das niemals: Alle Vorgaben, die aus dem MKZ des FT kommen, sind ab sofort für die Menschheit bindend!‘“ (311) Der Leser reibt sich die Augen und fragt: ‚Wie dies?‘ ‚Wovon, um Himmels willen, ist hier die Rede?‘ ‚Wer spricht? Ein Politiker der Alpenrepublik oder etwa einer von jenseits des Atlantik? …‘

Ganz einfach: Das „Macht- und Kompetenzzentrum – oder eben kurz: MKZ“ des FT – was sich hinter diesem Kürzel verbirgt wird hier nicht verraten, weil das Fahnden nach dessen Bedeutung den in diesen Irrsinn verstrickten Erzähler und unschuldig des Mordes schuldig Gewordenen selbst fast irrsinnig werden läßt („Alles konnte Zufall sein – aber auch das Gegenteil davon! Und wer jedes Ereignis in seinem Alltagsleben zwanghaft dahingehend hinterfragte, wurde mit Sicherheit – verrückt“ (188)) – hat eine Jahrtausendidee ausgeheckt, die Österreich zur Weltmachtführungsnation promovieren soll: Die „Rettung der alpinen Tourismus-Ökonomie“ per Vierjahreszeitenvereinheitlichung … Da geht es „um die Ausschaltung jahreszeitlich bedingter Konjunkturschwankungen zugunsten permanenter ökonomischer Spitzenresultate. Und so nebenbei werde die architektonische Idee der Entkernung in völlig neuartiger Weise in tiefste Tiefen vorangetrieben. Darüber hinaus werde in diesem geheimen Think-Tank (die Rede ist von dem MKZ des FT) der Stadtpartei St. Johann, einem exemplarischen Macht- und Kompetenzzentrum, an Überlebensstrategien für die christlich-soziale Partei von sensationeller Neuartigkeit gearbeitet.“ (390) Wahnsinn!! Und der Wahnsinn wird zur politischen Kraft, so daß Köpfe rollen müssen, selbst unter denen, die gar nichts anderes im Schilde führen und dasselbe selbst so oder so ähnlich auch immer schon gewollt haben.

Aber auch die halten sich auf altbewährte Art schadlos, indem sie ihren politischen und moralischen Niedergang als Dienst am großen Ganzen verkaufen. Mord und daraus reusultierender politischer Selbstmord als medienwirksame Selbstbeweihräucherung. Das kennt man und daran hat man sich, leider!, längst gewöhnt. Und auch O.P. Zier wird es mit dieser wunderbaren Gesellschaftssatire nicht gelingen, daß den Lesern vor dem Normalen dieses Wahnsinns, in dem beispielsweise einer einen Fallschirmsprung in den Freitod als letzte politische Selbstinszenierung seiner ach so wertvollen Politikerpersönlichkeit, die sich für die Partei und damit selbstredend auch für sein Land aufopfert, aufbereitet, speiübel wird.

Wer den Mord an Barbara Lochner denn nun eigentlich begangen hat?, fragen die kriminalistisch Interessierten unter den Lesern. Die Antwort auf diese Frage zögert der Romancier auf äußerst kunstvolle Weise bis kurz vor das nicht wirklich überraschende Ende hinaus. Denn, wie gesagt: Politikern ist, wenn es ihnen um ihre, Pardon: unsere Sache und damit immer auch ein wenig um sich selbst geht, einiges zuzutrauen.

 

Erstmals erschienen in: Marburger Forum, Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart, Jg. 8 (2007), Heft 6

Über „Abendland“ von Michael Köhlmeier

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • KÖHLMEIER, Michael: Abendland. Hanser, München 2007. ISBN 978-3-446-20913-8 Pick It!.

Zu Beginn überlegt man: woher kenne ich das Motiv? Wo ist es mir bereits begegnet? Man liest weiter und grübelt beim Lesen: Wo ist mir etwas ähnliches schon einmal untergekommen? Da, plötzlich, die Erleuchtung! Die traurig-heitere, anrührend-schöne Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Winston Groom „Forrest Gump“ mit Tom Hanks in der Titelrolle ist eine teilweise skurrile, burleske Reise durch die wahnwitzige amerikanische Geschichte des letzten Jahrhunderts. Köhlmeiers „Abendland“ ist das (nicht nur) europäische Pendant dazu. Im Unterschied zum amerikanischen ‚Original‘ allerdings agieren in diesem Roman neben so vielen anderen drei Hauptpersonen und die eine, ein Schriftsteller, ist darüber hinaus der von seinem väterlichen Freund, Paten und Mäzen in berechnender Absicht engagierte Erzähler.

Ich lese weiter und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Irgendwie wirkt das alles aufgesetzt, überladen und extrem gewollt. Berühmte Namen und ihre Träger aus Politik, Wissenschaft, Sport, Kunst, der Musikszene, Göring samt Nürnberger Prozeß, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und ihr Selbstmord in Stammheim etc. tauchen auf und verschwinden wieder (die letzte Fortsetzungs-Episode mit den Opfern Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hanns-Martin Schleyer berührt besonders peinlich). Es ist ein unablässiges Kommen und Gehen, die Zelebritäten drücken sich gegenseitig die Klinke in die Hand, und ich halte irgendwann inne und konstatiere einigermaßen ungehalten: Köhlmeier will einen Jahrhundertroman in des Wortes doppelter Bedeutung schreiben, und damit wird er scheitern.
Denn Historisches und Fiktives in Einklang bringen zu wollen muß zwangsläufig in bemühten Konstruktionen und weit hergeholten Kombinationen enden. Machbar ist allenfalls eine stark persönlich gefärbte Geschichte mit ausschließlich historischem Personal. Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und T.C. Boyles „Wassermusik“ fallen mir ein. Das funktioniert deswegen so prächtig, weil es den beiden Autoren gelungen ist, den Originalen wirkliches Leben, eine anrührende Seele, die unglaublich intensiv berührt, einzuhauchen. Aber dieser Fall hier liegt anders. Erfundene Personen interagieren mit realen, wie eben im „Forrest Gump“. Erdichtete Individualgeschichte mit Zeitgeschichte durchsetzt et vice versa. Und dieses Ingrediens soll das Ganze bedeutend, eventuell zeitlos machen. Sehr riskant und immer auf dem Sprung in die Peinlichkeit.
Aber da ist noch etwas anderes in diesem Roman, was dazu führt, daß man sich in seinen verschlungenen Pfaden wirklich gerne, nämlich unwillkürlich verliert. Köhlmeier ist im Kleinen, persönlich Unscheinbaren brillant und außerordentlich feinfühlig; im zeitgeschichtlich Unbedeutenden ist dieser Autor einfach grandios! Beispiele gefällig? Bitteschön: „Bestenfalls, dachte Carl, kann er nicht logisch denken, schlimmstenfalls ist er paranoid.“ (25) Oder dies hier: „Darmstadt, Darmstadt. – Die Zuhörer glaubten zuerst an ein technisches Gebrechen. Daß irgend etwas mit dem Abspielgerät nicht stimmte. Nach einer halben Minute schaltete Ernst Thomas das Gerät ab und versuchte, den Tonkopf zu säubern. Aber daran lag es nicht. Mein Vater sagte nichts, er saß auf seinem Sessel, die Arme hochverschränkt und starrte grimmig in (!) die Wand. … In der allgemeinen Ratlosigkeit meldete sich einer der Seminarteilnehmer zu Wort. Wenn man leider schon nicht hören könne, was Herr Lukasser komponiert habe, ob er wenigstens bereit wäre, quasi als Ersatz, etwas auf der Gitarre vorzuspielen. Dieser Herr war der einzige, der hier offensichtlich genug von Jazz verstand, um zu wissen, daß mein Vater in dieser Sparte – einst – ein großer Mann gewesen war. Alle waren erleichtert, niemand wünschte sich eine Blamage.“ ( 597 f.) Oder wie ist es hiermit?: „Das haben Metaphern nämlich so an sich: daß sie größenwahnsinnig sind. Sie sind die geistige Lieblingsspeise der Jugend. Als junger Mathematiker (es dreht sich übrigens vieles um die Mathematik in diesem Roman, und auch deswegen drängt sich der Kehlmann-Bezug auf, F.-P.H.) hat man den Ehrgeiz, sich ausschließlich mit jenem Bereich seiner Wissenschaft zu befassen, der auch philosophische Relevanz besitzt. Schau sie dir an, wie sie alle Gödels Theorem verehren. Die meisten, weil sie nichts davon verstehen. Sie plappern falsch nach: Ein System könne aus sich selbst heraus nicht bewiesen werden. Etwas kann sich selbst nicht verstehen. Das gilt ihnen als Rechtfertigung ihrer eigenen Dummheit und Ignoranz, aus der heraus sie dem gesunden Menschenverstand jegliche Erkenntnisfähigkeit absprechen. Die Metapher ist das Opium des Hochnäsigen. Metaphern sind Idiotenleim. Sie haben die Tendenz, sich zum Sinnbild für alles aufzuschwingen. Tatsächlich für alles!“ (649) Und, schließlich, das hier: „Er (Georg Lukasser, der musikalisch hochbegabte Vater des Erzählers Sebastian Lukasser, F.-P.H.) hatte meine Meinung immer ernst genommen. Schon als ich zehn war, hatte er mit mir gesprochen wie mit einem klügeren Bruder. Wenn überhaupt, hätte er sich nur von mir etwas sagen lassen. ‚Glaubst du inzwischen wirklich, daß es eine tolle Idee ist?‘ fragte er. ‚Es ist eine tolle Idee‘, antwortete ich, und weil ich ja wußte, daß er, wann immer er selbst Zweifel an einer Sache hatte, sie damit vertrieb, indem er Wortwiederholungsschleifen knüpfte, sagte ich: ‚Es ist eine tolle Idee, ja, es ist eine tolle Idee, es ist wirklich eine tolle Idee, ja, ich denke, es ist eine tolle Idee, doch, es ist eine tolle Idee‘.“ (404)
Und irgendwann ist es dann doch soweit. Man hält inne und begreift, daß diesem Romancier tatsächlich etwas Großes gelungen ist. Er hat einen Bildungs- bzw. Erziehungsroman geschrieben, der sich über das Lebensschicksal seiner in hohem Maße bedrohten und angefochtenen, unheldischen Helden einen dann doch wieder überzeugenden Weg durch die Geschichte eines unglaublich gewaltträchtigen Jahrhunderts bahnt. Denn im Hintergrund von all diesen Ab- und Irrwegen stehen die zwei Fragen danach, wie es, zum einen, ist, (persönliche aber auch politische) Macht zu haben und sie entsprechend einzusetzen, und was es, zum anderen, heißt, (nicht) mit der alles bezwingenden Macht des Genies begabt oder geschlagen zu sein.
Weil Köhlmeier das Zeitgeschichtliche durch den persönlichen Bezug verlebendigt, und das Persönliche durch den permanenten Zeitbezug bedeutend macht, gewinnt dieser Roman von beiden Seiten das Gewicht, das ihn zu einem Ereignis macht. Wenn der Stümper immer nach dem besonderen Wort sucht, dann findet der Könner stets das treffende. Denn „nicht die Begebenheit, gleichgültig, ob schwerwiegend oder nebensächlich …, entscheide über Tiefe und Weite des Raumes in der Vergangenheit, der erzählend mit Sinn erfüllt wird, sondern die Frage, wie viele andere Begebenheiten, also: wieviel Welt diese eine Begebenheit unter ihr Diktat zwinge“. (183) Ein enorm hoher Anteil ist hier ‚bezwungen‘ worden, ein ähnlich hoher wie in T.C. Boyles „Wassermusik“, dessen unverwechselbaren Stil Köhlmeier übrigens meisterlich nachzuahmen und gekonnt einzusetzen versteht (so, beispielsweise, auf den Seiten 732 und 746 in der in Südwestafrika spielenden Episode des vollkommen unmotiviert und kalten Blutes schlachtenden Serienmörders Hanns Alverdes), genauso wie denjenigen Dostojewskis in der vermeintlich tödlich endenden Episode mit dem Denunzianten Pontrjagin (285 ff.), und, vor allem, in dem unerreichten Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann.
Mein Entschluß steht fest: Ich werde den Rat des großen Sohnes der Hansestadt Lübeck befolgen und auch diesen Roman ein zweites Mal lesen, weil sich vermutlich erst dann der sachliche und strukturell-kompositorische Beziehungsreichtum wirklich entdecken und entsprechend würdigen läßt.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft 6

Über „Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen“ von Max Lorenzen

Besprochenvon Frank-Peter Hansen

  • LORENZEN, Max: Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007. ISBN 978-3-8260-3607-1.

Seltener Fall, daß ein Erzähler souverän unterschiedliche Stilformen beherrscht. Thomas Mann war ein Meister darin. Dann noch, selbstredend, Goethe. Lessing verstand sich darauf. Kein Wunder bei diesem unglaublich feinfühligen, leiseste gedankliche Differenzierungen sprachlich exakt nachzeichnenden Spätaufklärer. Und selbstverständlich der heute leider viel zu selten gelesene Göttinger Mathematiker, Astronom und Begründer des deutschen Aphorismus, Georg Christoph Lichtenberg. Sein „Göttinger Taschen Calender“ enthält Perlen deutscher Prosa. Beispiel gefällig? „Durch strikte Aufmerksamkeit auf seine Gedanken und Gefühle, durch individualisierendes Ausdrücken derselben, durch sorgfältig gewählte Worte lernen wir uns selbst kennen, unsere Gedanken werden fest und zusammenhängend. Unser Sprechen in Gesellschaft erhält eine gewisse Eigenheit wie die Gesichter, welches bei dem Kenner sehr empfiehlt, und dessen Mangel eine böse Wirkung tut. Nicht alle Reichen sind es durch Glück geworden, sondern viele durch Sparsamkeit.“ Vorzüglich gesagt. Genau so verhält es sich. Reichtum aus Sparsamkeit, darin zeigt und beweist sich große Kunst.
Ziehen wir noch einmal den Liebling der Musen, Goethe zu Rate. War er bloß Liebling? Wohl kaum. Denn wie heißt es bei ihm?

„So ist‘s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“

Max Lorenzen ist kein ungebundner Geist. Er ist reich aus Sparsamkeit, und das Gesetz hat ihm Freiheit gegeben. Welches Gesetz? Dasjenige, über das bereits Goethe und Schiller in angestrengtestes Nachdenken verfielen. Welcher Ton paßt zu welchem Gehalt, welcher Stimmung korrespondiert welches Stilmittel? Wo ist der Knotenpunkt, in dem die Fäden zusammenlaufen? Ich behaupte, bei diesem Erzähler ist es die Sympathie und die Fähigkeit Mitleid zu empfinden. Vielleicht ist der mitleidigste Mensch nicht der beste Mensch. Wer weiß? Aber er bringt die entscheidende Voraussetzung mit, Literatur zu schreiben, die unter die Haut geht, weil sie trifft. Und wohlgemerkt: Mitleid heißt nicht automatisch Lamento. In diesem Fall schon gar nicht. Sympathie versteht es vielmehr, in die unterschiedlichsten Situationen und Seelenlagen sich mit Delikatesse hineinzuversetzen und … den entsprechenden Ton zu treffen. Darum und um nichts anderes geht es hier.
Lorenzen verfügt über ein immenses Zartgefühl für diskrepante Stimmungslagen und Charaktere und, ich wiederhole mich, der Stil ist jedesmal danach.
Nehmen wir die erste Erzählung. Sie ist traurig schön in ihrer Gefaßtheit, mit der dem Doppelausbruch einer Gehirnerkrankung – ist es wirklich in beiden Fällen dieselbe Krankheit, oder ist etwa Sympathetisches aus schlechtem Gewissen im Spiel? – seitens der Ich-Erzählerin begegnet wird. Unwillkürlich dachte ich beim Lesen an die berühmte Charakteristik der Laokoongruppe durch Johann Joachim Winckelmann. Das Geheimnis ihrer außerordentlichen ästhetischen Wirkung ist: Sie strahlt Ruhe aus, obwohl, oder gerade weil der Sturm der Verzweiflung tobt. Stille Größe, das ist ihr Nährboden und der dieser Erzählung. Und auch wenn die letztere hier und da ein wenig überanstrengt und bemüht in ihrer gedankenreichen Tiefe wirkt: Was soll’s, reflektierter, möglicherweise auch überspannter Tiefsinn, Ausdruck von Ratlosigkeit einer gerade erst Neunzehnjährigen, ist vor dem Hintergrund einer Krankheit zum Tode allemal angebrachter als wohlfeile Verhaltensmaßregeln, die nicht bereit oder fähig sind, sich dem Bitteren, weil Hilf- und Ausweglosen zu stellen.
Wie anders wirkt der bigotte Sadismus in der treffend „Kälte“ titulierten zweiten Geschichte, in die der Erzähler, ein interessanter und überraschender Einfall, einen unvermittelten Perspektivenwechsel eingebaut hat. Wer diese Geschichte liest, wird an der entsprechenden Stelle merken, wie es gemeint ist. Die lakonisch-berichthafte Sprache dieses Bekenntnisses erzeugt eine unglaublich beklemmende Atmosphäre. Schulterklopfend und selbstgefällig meldet sich das berechnend-skrupellose und machtgestützte, ins Aberwitzige aufgeblähte kalte Kontrollbedürfnis des geistigen Hirten auf eine erschreckend nahe und authentische Weise zu Wort. Der „Tobias Mindernickel“ Thomas Manns und „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil sind ähnlich bestürzend und bedrängend in ihrer punktgenauen Knappheit.
Das trifft, der Kontrast schärft den Blick, so nicht auf Robert Menasses Roman um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in „Selige Zeiten, brüchige Welt“ zu. Rücksichtsloses Dominierenwollen um jeden Preis und bis zum letalen Ende auch hier. Aber der Autor bringt sich und den Leser um die beabsichtigte Wirkung, weil, je länger je mehr, das ganze zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle abdriftet. Vielleicht jedoch ist genau dies der Zweck der Übung?! Will Menasse seine Virtuosität und seinen Einfallsreichtum unter Beweis stellen, wenn er beispielsweise seinen Protagonisten mit dem Klassiker „Die Theorie des Romans“ von Georg Lukács reüssieren läßt? Mit der inversen „Phänomenologie des Geistes“ Hegels, einer „Phänomenologie der Entgeisterung“ als einer „Geschichte vom verschwindenden Wissen“ indessen hat dieser Epigone und Machtmensch kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen gegen den Strich gebürsteten und von Grund auf gedankenlosen Hegel der abstraktesten Bewußtseinsstufe im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Derlei Einfälle sind extrem weit hergeholt und sollen offensichtlich stutzig machen und aufhorchen lassen, obwohl sie doch bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Menasse will frappieren, Lorenzen frappiert.
Der ruhige, gehaltene, sachte Ton der „Unsterblichkeit“ überschriebenen letzten Erzählung stimmt den Leser, nach dem Wahnsinn der zurückliegenden Hölle, unverhofft auf die unberührte Stille der italienischen Voralpenwelt ein. Eine Idylle, die nie ins Kitschige abdriftet. Die Ruhe des Tons, der das Aufgesetzte und Überschwängliche meidet, verhindert dies. Und wie ganz anders wirkt das Intime der sexuellen Vereinigung hier im Vergleich zur Brutalität einer sich an sich selbst aufgeilenden und berauschenden pornographischen Folter dort.
Also ein letztes Mal: An dem souverän und sparsam durchgeführten Wechsel der Töne hängt hier, wie auch sonst in der Literatur, alles. Die Weisheit des Künstlers im Ausdrucke besteht eben darin, viel mit wenigem und nicht, wie der Stümper, Dilettant und Pfuscher, wenig mit viel anzudeuten. So ähnlich steht es in Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums“ geschrieben.
Etwas unglücklich allerdings ist der Einfall, das ganze unter die Überschrift „Nachmoderne Ästhetik“ zu stellen. Wer dies tut, läuft Gefahr, daß seine Literatur als Programmliteratur (miß-)verstanden wird. Denn alle anderen Bedenken, die sich hieran anschließen, einmal beiseite gelassen. Der Erzähler sollte davon Abstand nehmen, sein eigener Exeget und Theoretiker zu sein. Niemand wußte das besser als Goethe. Kunst, die sich selbst interpretiert, weil sie es offenbar nötig hat, ist keine Kunst mehr. Diese drei Erzählungen jedenfalls haben diesen Notbehelf ganz entschieden nicht nötig.
Im übrigen, wer wissen will, was genau sich in diesen Erzählungen zuträgt, möge sie, das versteht sich eigentlich von selbst und nach dem Gesagten ohnehin, lesen. Es kann nicht die Aufgabe des Rezensenten sein, auch wenn manch einer es anders sieht und hält, wie ein Pennäler nachzuerzählen. Mit Surrogaten ist dem nicht gedient, der wirklich(e) Kunst genießen will. Wer aus Bequemlichkeit Abkürzungen sucht, ist bestenfalls ein Bildungsphilister.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg 8 (2007), Heft 4