Über „Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen“ von Max Lorenzen

Besprochenvon Frank-Peter Hansen

  • LORENZEN, Max: Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007. ISBN 978-3-8260-3607-1.

Seltener Fall, daß ein Erzähler souverän unterschiedliche Stilformen beherrscht. Thomas Mann war ein Meister darin. Dann noch, selbstredend, Goethe. Lessing verstand sich darauf. Kein Wunder bei diesem unglaublich feinfühligen, leiseste gedankliche Differenzierungen sprachlich exakt nachzeichnenden Spätaufklärer. Und selbstverständlich der heute leider viel zu selten gelesene Göttinger Mathematiker, Astronom und Begründer des deutschen Aphorismus, Georg Christoph Lichtenberg. Sein „Göttinger Taschen Calender“ enthält Perlen deutscher Prosa. Beispiel gefällig? „Durch strikte Aufmerksamkeit auf seine Gedanken und Gefühle, durch individualisierendes Ausdrücken derselben, durch sorgfältig gewählte Worte lernen wir uns selbst kennen, unsere Gedanken werden fest und zusammenhängend. Unser Sprechen in Gesellschaft erhält eine gewisse Eigenheit wie die Gesichter, welches bei dem Kenner sehr empfiehlt, und dessen Mangel eine böse Wirkung tut. Nicht alle Reichen sind es durch Glück geworden, sondern viele durch Sparsamkeit.“ Vorzüglich gesagt. Genau so verhält es sich. Reichtum aus Sparsamkeit, darin zeigt und beweist sich große Kunst.
Ziehen wir noch einmal den Liebling der Musen, Goethe zu Rate. War er bloß Liebling? Wohl kaum. Denn wie heißt es bei ihm?

„So ist‘s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“

Max Lorenzen ist kein ungebundner Geist. Er ist reich aus Sparsamkeit, und das Gesetz hat ihm Freiheit gegeben. Welches Gesetz? Dasjenige, über das bereits Goethe und Schiller in angestrengtestes Nachdenken verfielen. Welcher Ton paßt zu welchem Gehalt, welcher Stimmung korrespondiert welches Stilmittel? Wo ist der Knotenpunkt, in dem die Fäden zusammenlaufen? Ich behaupte, bei diesem Erzähler ist es die Sympathie und die Fähigkeit Mitleid zu empfinden. Vielleicht ist der mitleidigste Mensch nicht der beste Mensch. Wer weiß? Aber er bringt die entscheidende Voraussetzung mit, Literatur zu schreiben, die unter die Haut geht, weil sie trifft. Und wohlgemerkt: Mitleid heißt nicht automatisch Lamento. In diesem Fall schon gar nicht. Sympathie versteht es vielmehr, in die unterschiedlichsten Situationen und Seelenlagen sich mit Delikatesse hineinzuversetzen und … den entsprechenden Ton zu treffen. Darum und um nichts anderes geht es hier.
Lorenzen verfügt über ein immenses Zartgefühl für diskrepante Stimmungslagen und Charaktere und, ich wiederhole mich, der Stil ist jedesmal danach.
Nehmen wir die erste Erzählung. Sie ist traurig schön in ihrer Gefaßtheit, mit der dem Doppelausbruch einer Gehirnerkrankung – ist es wirklich in beiden Fällen dieselbe Krankheit, oder ist etwa Sympathetisches aus schlechtem Gewissen im Spiel? – seitens der Ich-Erzählerin begegnet wird. Unwillkürlich dachte ich beim Lesen an die berühmte Charakteristik der Laokoongruppe durch Johann Joachim Winckelmann. Das Geheimnis ihrer außerordentlichen ästhetischen Wirkung ist: Sie strahlt Ruhe aus, obwohl, oder gerade weil der Sturm der Verzweiflung tobt. Stille Größe, das ist ihr Nährboden und der dieser Erzählung. Und auch wenn die letztere hier und da ein wenig überanstrengt und bemüht in ihrer gedankenreichen Tiefe wirkt: Was soll’s, reflektierter, möglicherweise auch überspannter Tiefsinn, Ausdruck von Ratlosigkeit einer gerade erst Neunzehnjährigen, ist vor dem Hintergrund einer Krankheit zum Tode allemal angebrachter als wohlfeile Verhaltensmaßregeln, die nicht bereit oder fähig sind, sich dem Bitteren, weil Hilf- und Ausweglosen zu stellen.
Wie anders wirkt der bigotte Sadismus in der treffend „Kälte“ titulierten zweiten Geschichte, in die der Erzähler, ein interessanter und überraschender Einfall, einen unvermittelten Perspektivenwechsel eingebaut hat. Wer diese Geschichte liest, wird an der entsprechenden Stelle merken, wie es gemeint ist. Die lakonisch-berichthafte Sprache dieses Bekenntnisses erzeugt eine unglaublich beklemmende Atmosphäre. Schulterklopfend und selbstgefällig meldet sich das berechnend-skrupellose und machtgestützte, ins Aberwitzige aufgeblähte kalte Kontrollbedürfnis des geistigen Hirten auf eine erschreckend nahe und authentische Weise zu Wort. Der „Tobias Mindernickel“ Thomas Manns und „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil sind ähnlich bestürzend und bedrängend in ihrer punktgenauen Knappheit.
Das trifft, der Kontrast schärft den Blick, so nicht auf Robert Menasses Roman um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in „Selige Zeiten, brüchige Welt“ zu. Rücksichtsloses Dominierenwollen um jeden Preis und bis zum letalen Ende auch hier. Aber der Autor bringt sich und den Leser um die beabsichtigte Wirkung, weil, je länger je mehr, das ganze zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle abdriftet. Vielleicht jedoch ist genau dies der Zweck der Übung?! Will Menasse seine Virtuosität und seinen Einfallsreichtum unter Beweis stellen, wenn er beispielsweise seinen Protagonisten mit dem Klassiker „Die Theorie des Romans“ von Georg Lukács reüssieren läßt? Mit der inversen „Phänomenologie des Geistes“ Hegels, einer „Phänomenologie der Entgeisterung“ als einer „Geschichte vom verschwindenden Wissen“ indessen hat dieser Epigone und Machtmensch kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen gegen den Strich gebürsteten und von Grund auf gedankenlosen Hegel der abstraktesten Bewußtseinsstufe im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Derlei Einfälle sind extrem weit hergeholt und sollen offensichtlich stutzig machen und aufhorchen lassen, obwohl sie doch bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Menasse will frappieren, Lorenzen frappiert.
Der ruhige, gehaltene, sachte Ton der „Unsterblichkeit“ überschriebenen letzten Erzählung stimmt den Leser, nach dem Wahnsinn der zurückliegenden Hölle, unverhofft auf die unberührte Stille der italienischen Voralpenwelt ein. Eine Idylle, die nie ins Kitschige abdriftet. Die Ruhe des Tons, der das Aufgesetzte und Überschwängliche meidet, verhindert dies. Und wie ganz anders wirkt das Intime der sexuellen Vereinigung hier im Vergleich zur Brutalität einer sich an sich selbst aufgeilenden und berauschenden pornographischen Folter dort.
Also ein letztes Mal: An dem souverän und sparsam durchgeführten Wechsel der Töne hängt hier, wie auch sonst in der Literatur, alles. Die Weisheit des Künstlers im Ausdrucke besteht eben darin, viel mit wenigem und nicht, wie der Stümper, Dilettant und Pfuscher, wenig mit viel anzudeuten. So ähnlich steht es in Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums“ geschrieben.
Etwas unglücklich allerdings ist der Einfall, das ganze unter die Überschrift „Nachmoderne Ästhetik“ zu stellen. Wer dies tut, läuft Gefahr, daß seine Literatur als Programmliteratur (miß-)verstanden wird. Denn alle anderen Bedenken, die sich hieran anschließen, einmal beiseite gelassen. Der Erzähler sollte davon Abstand nehmen, sein eigener Exeget und Theoretiker zu sein. Niemand wußte das besser als Goethe. Kunst, die sich selbst interpretiert, weil sie es offenbar nötig hat, ist keine Kunst mehr. Diese drei Erzählungen jedenfalls haben diesen Notbehelf ganz entschieden nicht nötig.
Im übrigen, wer wissen will, was genau sich in diesen Erzählungen zuträgt, möge sie, das versteht sich eigentlich von selbst und nach dem Gesagten ohnehin, lesen. Es kann nicht die Aufgabe des Rezensenten sein, auch wenn manch einer es anders sieht und hält, wie ein Pennäler nachzuerzählen. Mit Surrogaten ist dem nicht gedient, der wirklich(e) Kunst genießen will. Wer aus Bequemlichkeit Abkürzungen sucht, ist bestenfalls ein Bildungsphilister.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg 8 (2007), Heft 4