von Frank-Peter Hansen
Zu Beginn überlegt man: woher kenne ich das Motiv? Wo ist es mir bereits begegnet? Man liest weiter und grübelt beim Lesen: Wo ist mir etwas ähnliches schon einmal untergekommen? Da, plötzlich, die Erleuchtung! Die traurig-heitere, anrührend-schöne Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Winston Groom „Forrest Gump“ mit Tom Hanks in der Titelrolle ist eine teilweise skurrile, burleske Reise durch die wahnwitzige amerikanische Geschichte des letzten Jahrhunderts. Köhlmeiers „Abendland“ ist das (nicht nur) europäische Pendant dazu. Im Unterschied zum amerikanischen ‚Original‘ allerdings agieren in diesem Roman neben so vielen anderen drei Hauptpersonen und die eine, ein Schriftsteller, ist darüber hinaus der von seinem väterlichen Freund, Paten und Mäzen in berechnender Absicht engagierte Erzähler.
Ich lese weiter und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Irgendwie wirkt das alles aufgesetzt, überladen und extrem gewollt. Berühmte Namen und ihre Träger aus Politik, Wissenschaft, Sport, Kunst, der Musikszene, Göring samt Nürnberger Prozeß, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und ihr Selbstmord in Stammheim etc. tauchen auf und verschwinden wieder (die letzte Fortsetzungs-Episode mit den Opfern Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hanns-Martin Schleyer berührt besonders peinlich). Es ist ein unablässiges Kommen und Gehen, die Zelebritäten drücken sich gegenseitig die Klinke in die Hand, und ich halte irgendwann inne und konstatiere einigermaßen ungehalten: Köhlmeier will einen Jahrhundertroman in des Wortes doppelter Bedeutung schreiben, und damit wird er scheitern.
Denn Historisches und Fiktives in Einklang bringen zu wollen muß zwangsläufig in bemühten Konstruktionen und weit hergeholten Kombinationen enden. Machbar ist allenfalls eine stark persönlich gefärbte Geschichte mit ausschließlich historischem Personal. Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und T.C. Boyles „Wassermusik“ fallen mir ein. Das funktioniert deswegen so prächtig, weil es den beiden Autoren gelungen ist, den Originalen wirkliches Leben, eine anrührende Seele, die unglaublich intensiv berührt, einzuhauchen. Aber dieser Fall hier liegt anders. Erfundene Personen interagieren mit realen, wie eben im „Forrest Gump“. Erdichtete Individualgeschichte mit Zeitgeschichte durchsetzt et vice versa. Und dieses Ingrediens soll das Ganze bedeutend, eventuell zeitlos machen. Sehr riskant und immer auf dem Sprung in die Peinlichkeit.
Aber da ist noch etwas anderes in diesem Roman, was dazu führt, daß man sich in seinen verschlungenen Pfaden wirklich gerne, nämlich unwillkürlich verliert. Köhlmeier ist im Kleinen, persönlich Unscheinbaren brillant und außerordentlich feinfühlig; im zeitgeschichtlich Unbedeutenden ist dieser Autor einfach grandios! Beispiele gefällig? Bitteschön: „Bestenfalls, dachte Carl, kann er nicht logisch denken, schlimmstenfalls ist er paranoid.“ (25) Oder dies hier: „Darmstadt, Darmstadt. – Die Zuhörer glaubten zuerst an ein technisches Gebrechen. Daß irgend etwas mit dem Abspielgerät nicht stimmte. Nach einer halben Minute schaltete Ernst Thomas das Gerät ab und versuchte, den Tonkopf zu säubern. Aber daran lag es nicht. Mein Vater sagte nichts, er saß auf seinem Sessel, die Arme hochverschränkt und starrte grimmig in (!) die Wand. … In der allgemeinen Ratlosigkeit meldete sich einer der Seminarteilnehmer zu Wort. Wenn man leider schon nicht hören könne, was Herr Lukasser komponiert habe, ob er wenigstens bereit wäre, quasi als Ersatz, etwas auf der Gitarre vorzuspielen. Dieser Herr war der einzige, der hier offensichtlich genug von Jazz verstand, um zu wissen, daß mein Vater in dieser Sparte – einst – ein großer Mann gewesen war. Alle waren erleichtert, niemand wünschte sich eine Blamage.“ ( 597 f.) Oder wie ist es hiermit?: „Das haben Metaphern nämlich so an sich: daß sie größenwahnsinnig sind. Sie sind die geistige Lieblingsspeise der Jugend. Als junger Mathematiker (es dreht sich übrigens vieles um die Mathematik in diesem Roman, und auch deswegen drängt sich der Kehlmann-Bezug auf, F.-P.H.) hat man den Ehrgeiz, sich ausschließlich mit jenem Bereich seiner Wissenschaft zu befassen, der auch philosophische Relevanz besitzt. Schau sie dir an, wie sie alle Gödels Theorem verehren. Die meisten, weil sie nichts davon verstehen. Sie plappern falsch nach: Ein System könne aus sich selbst heraus nicht bewiesen werden. Etwas kann sich selbst nicht verstehen. Das gilt ihnen als Rechtfertigung ihrer eigenen Dummheit und Ignoranz, aus der heraus sie dem gesunden Menschenverstand jegliche Erkenntnisfähigkeit absprechen. Die Metapher ist das Opium des Hochnäsigen. Metaphern sind Idiotenleim. Sie haben die Tendenz, sich zum Sinnbild für alles aufzuschwingen. Tatsächlich für alles!“ (649) Und, schließlich, das hier: „Er (Georg Lukasser, der musikalisch hochbegabte Vater des Erzählers Sebastian Lukasser, F.-P.H.) hatte meine Meinung immer ernst genommen. Schon als ich zehn war, hatte er mit mir gesprochen wie mit einem klügeren Bruder. Wenn überhaupt, hätte er sich nur von mir etwas sagen lassen. ‚Glaubst du inzwischen wirklich, daß es eine tolle Idee ist?‘ fragte er. ‚Es ist eine tolle Idee‘, antwortete ich, und weil ich ja wußte, daß er, wann immer er selbst Zweifel an einer Sache hatte, sie damit vertrieb, indem er Wortwiederholungsschleifen knüpfte, sagte ich: ‚Es ist eine tolle Idee, ja, es ist eine tolle Idee, es ist wirklich eine tolle Idee, ja, ich denke, es ist eine tolle Idee, doch, es ist eine tolle Idee‘.“ (404)
Und irgendwann ist es dann doch soweit. Man hält inne und begreift, daß diesem Romancier tatsächlich etwas Großes gelungen ist. Er hat einen Bildungs- bzw. Erziehungsroman geschrieben, der sich über das Lebensschicksal seiner in hohem Maße bedrohten und angefochtenen, unheldischen Helden einen dann doch wieder überzeugenden Weg durch die Geschichte eines unglaublich gewaltträchtigen Jahrhunderts bahnt. Denn im Hintergrund von all diesen Ab- und Irrwegen stehen die zwei Fragen danach, wie es, zum einen, ist, (persönliche aber auch politische) Macht zu haben und sie entsprechend einzusetzen, und was es, zum anderen, heißt, (nicht) mit der alles bezwingenden Macht des Genies begabt oder geschlagen zu sein.
Weil Köhlmeier das Zeitgeschichtliche durch den persönlichen Bezug verlebendigt, und das Persönliche durch den permanenten Zeitbezug bedeutend macht, gewinnt dieser Roman von beiden Seiten das Gewicht, das ihn zu einem Ereignis macht. Wenn der Stümper immer nach dem besonderen Wort sucht, dann findet der Könner stets das treffende. Denn „nicht die Begebenheit, gleichgültig, ob schwerwiegend oder nebensächlich …, entscheide über Tiefe und Weite des Raumes in der Vergangenheit, der erzählend mit Sinn erfüllt wird, sondern die Frage, wie viele andere Begebenheiten, also: wieviel Welt diese eine Begebenheit unter ihr Diktat zwinge“. (183) Ein enorm hoher Anteil ist hier ‚bezwungen‘ worden, ein ähnlich hoher wie in T.C. Boyles „Wassermusik“, dessen unverwechselbaren Stil Köhlmeier übrigens meisterlich nachzuahmen und gekonnt einzusetzen versteht (so, beispielsweise, auf den Seiten 732 und 746 in der in Südwestafrika spielenden Episode des vollkommen unmotiviert und kalten Blutes schlachtenden Serienmörders Hanns Alverdes), genauso wie denjenigen Dostojewskis in der vermeintlich tödlich endenden Episode mit dem Denunzianten Pontrjagin (285 ff.), und, vor allem, in dem unerreichten Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann.
Mein Entschluß steht fest: Ich werde den Rat des großen Sohnes der Hansestadt Lübeck befolgen und auch diesen Roman ein zweites Mal lesen, weil sich vermutlich erst dann der sachliche und strukturell-kompositorische Beziehungsreichtum wirklich entdecken und entsprechend würdigen läßt.
Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft 6