Hansen, Frank-Peter: Einstein liest Nietzsche, 28.09.2015

Einstein liest Nietzsche … Bitte?! Die Nietzschephilologen und -forscher greifen sich an den Kopf. Worauf soll das hier hinaus?, mögen sie sich fragen. Das Inkom­mensurable kommensurabel zu machen, mag in der Mathematik ja noch hin­gehen. Wenngleich … Doch das steht auf einem anderen Blatt. Aber wenn behauptet wird, der Genius der theoretischen Physik habe den unzeitge­mäßen Kul­tur- und Geschichtskritiker auch nur flüchtig zur Kenntnis genom­men, sich gar ernsthaft mit ihm beschäftigt … Also nein! Wir lassen uns doch nicht verhoh­nepiepeln, und das geht entschieden zu weit! Unwilliges Kopf- und selbst Fäus­teschütteln macht sich breit. Unverhohlen ärgerliches Gemurmel er­füllt den Raum. Der Sturm der Entrüstung ist kurz davor loszu­brechen.

Gemach, liebe Freunde. Was folgt, ist ein Scherz, aber ein ernster. Ja, es mag schon so sein, dass der erzgescheite Südwestdeutsche nie auch nur einen Blick in das hy­persensible Schriftgut des gebürtigen Sachsen geworfen hat. Insofern ist das, was folgt, nichts weiter als Dichtung. Dass die fingierte Rahmenhand­lung aber in ihrem innersten Kern mehr als lediglich ein Körnchen Wahrheit beinhaltet, das zu be­haupten habe ich die Stirn. Denn ansonsten hätte ich mich, so dreist bin ich denn doch nicht, nie getraut, mit dem Nachfolgenden den öf­fentlichen Raum zu betre­ten und mich dem strengen Urteil der Fachwelt auszu­setzen. Welche Versicherung, ich weiß, lediglich eine petitio principii ist.

Behaupten lässt sich Vieles. Dem kombinatorischen Einfallsreichtum sind keine oder fast keine Grenzen gesetzt. Credo, quia absurdum?! Nein, so denn doch nicht. Bleiben wir halbwegs seriös. Es muss vielmehr so lauten: credo ut in­tellegam. Des­wegen bitte ich um die Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. Der Leser schlucke fürs Erste seinen Ärger hinunter. Er konzentriere sich auf das, was kommen wird. Er folge mir an der Seite des sanftmütig Blickenden in ein Ber­liner Kaffeehaus zu Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Als sich bereits abzuzeichnen begann, dass nicht nur seines Bleibens in der Noch-Republik Ziel und Grenze gesetzt war. Man leiste mir Gesellschaft an einem Nachbartisch und beobachte, un­ter meiner Führung, was sich zu ereignen im Begriffe steht. Ich werde Ein­blicke gewähren in den Gedankenhaushalt Des­jenigen, der sich gleich, wie es seine Art ist, in einen Zustand der geistig-intel­lektuellen Entrückung verabschieden wird.

Er hat Platz genommen. Tun wir es ihm gleich. Geben auch wir un­sere Be­stellung auf. Da! Der entscheidende Moment ist gekommen. Er zückt den Schmöker, den er soeben in einer am Gen­darmenmarkt gelegenen traditions­reichen Buchhandlung erstanden hat, aus der Seitentasche seines Mantels, den er achtlos über die jugendstilverschnörkelte Lehne des Nachbarstuhls geworfen hat. Er be­dankt sich artig für den gereichten Mocca bei der ihn freundlich anlä­chelnden weib­lichen Bedienung.

Schlägt die erste Seite auf und beginnt mit seiner Lektüre …

Damit ein Ereignis Größe habe, muß zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben. An sich hat kein Ereignis Größe. Es kommt aber auch vor, daß ein gewaltiger Mensch einen Streich führt, der an einem harten Gestein wirkungslos niedersinkt; ein kurzer scharfer Widerhall, und alles ist vorbei. Die Geschichte weiß auch von solchen gleichsam abgestumpften Ereignissen beinahe nichts zu melden. So überschleicht einen jeden, welcher ein Ereignis herankommen sieht, die Sorge, ob die, welche es erleben, seiner würdig sein werden. Auf dieses Sich-Entspre­chen von Tat und Empfänglichkeit rechnet und zielt man immer, wenn man han­delt, im kleinsten wie im größten; und der, welcher geben will, muß zusehen, dass er die Nehmer findet, die dem Sinne seiner Gabe genugtun. Eben deshalb hat auch die einzelne Tat eines selbst großen Menschen keine Größe, wenn sie kurz, stumpf und unfrucht­bar ist; denn in dem Augenblicke, wo er sie tat, muß ihm jedenfalls die tiefe Einsicht gefehlt ha­ben, dass sie gerade jetzt notwendig sei: er hatte nicht scharf genug gezielt, die Zeit nicht bestimmt genug erkannt und gewählt: der Zufall war Herr über ihn geworden, während groß sein und den Blick für die Notwendigkeit haben streng zusammengehört.

Er sieht auf und fährt sich mit der Hand über die Stirn. Sein Blick verliert sich im Un­gefähren. Das Stimmengewirr, das die Räumlichkeiten des gut besuchten Kaf­fee­hauses erfüllt, dringt kaum bis an die Schwelle seines Bewusstseins vor. Denn der, der das Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben hatte, musste dabei an ihn gedacht haben. Oder an seinesgleichen. Obgleich … So ganz stimmte das nicht, oder traf jedenfalls nicht auf ihn und seine Situation zu Beginn dieses Jahrhunderts zu.

Denn ja, sein Sinn war groß gewesen, als ihm der entscheidende Einfall ge­kommen war, dass der Grund zum Newtonschen Gedankengebäude eine Schicht tiefer ge­legt werden müsse. Die terrestrische hatte durch eine Physik mit univer­salem An­spruch ersetzt zu werden. Paradoxerweise dadurch, dass die Absolut­heit der Zeit und des Raumes aufgehoben werden mussten. Alles eine Frage der Geschwin­digkeit und ihres absoluten Grenzwertes, an dem die Zeit stillstand und der Raum seiner Ausdehnung verlustig ging. Die Lichtgeschwin­digkeit im Vakuum ist unab­hängig vom Bewegungszustand des emittierenden Körpers. Über sie gibt es kein Hinaus und folglich nichts zu addieren. Absurd das alles, aber die einzige phy­sikalisch logische Konsequenz. Messgenauigkeit, die gerade dadurch zustande kam und je­derzeit – er muss schmunzeln – herzu­stellen war, dass Raum und Zeit zu Ver­änderlichen, Variablen herabgesetzt wurden. Eine absolute Gleichzeitigkeit für alle Inertialsysteme gibt es nicht. Jedes System be­sitzt eine Eigenzeit, die von der eines relativ zu ihm bewegten Systems verschie­den ist.

Wenn er sich nicht intensiv mit den schier unglaublichen Einsichten des Mitbe­gründers der neuen Physik, der auch sein Scherflein zur Grundlegung der Ana­lysis beigetragen hatte, auseinandergesetzt hätte, er wäre nie auf die Lücke in dessen Ab­leitungen gestoßen, die zu schließen sein Verdienst gewesen war. Und das heißt, dass die, die, im übertragenen Sinne gesprochen, nur Zeitungen lesen und wenn’s hoch geht, Bücher zeitgenössischer Autoren, sich wie hochgradig Kurzsichtige verhalten, die es ver­schmähen, Augengläser zu tragen. Sie sind ab­hängig von den Vorurteilen und Moden ihrer Zeit, denn sie bekommen nichts anderes zu sehen und zu hören. Und was einer, da gibt es nichts daran zu deu­teln, selbständig denkt ohne Anlehnen an das Denken und Erleben anderer, ist auch im besten Falle ziemlich ärmlich und monoton. Denn, da beißt in letzter Konsequenz die Maus keinen Faden ab, bei der Relativitätstheorie handelt es sich keineswegs um einen revolutionären Akt, sondern um eine natürliche Fort­entwicklung einer durch Jahrhunderte verfolg­baren Linie.

Was heißt schon groß? Oder anders gefragt, im Sinne des luziden Kulturkriti­kers, dessen frühe Schrift zu lesen er gerade begonnen hat, ist es tatsächlich angezeigt, dass zweierlei zusammenkommen muss, damit die vollbrachte revo­lutionäre Tat wirklich groß und bahnbrechend ist? Nein! Das muss es nicht. Denn sie bleibt ex­zeptionell selbst dann, wenn niemand, nicht einmal Physiker von Profession, sie als solche zu würdigen bereit, willens, oder ganz einfach nicht in der Lage sind. Weil ihnen der Sinn und die Sensibilität für die Durch­schlagskraft des ganz und gar un­geheuren Gedankens abgeht: nämlich festen Grund zu gewinnen dadurch, dass man die vermeintliche Stabilität zweier physi­kalischer Grundgrößen als abhängige Variable zu verstehen lernt. Diesen in sich widersprüchlichen und doch einzig kon­sequenten Gedanken in seiner ungeheu­ren Konsequenz nachzuvollziehen und zu begreifen, was das heißt, war eigent­lich bloß einer in der Lage gewesen. Aber an­sonsten hatte zunächst niemand aus der physikalischen Szene aufgemerkt oder sich zu Wort gemeldet. Alles schien beim Alten geblieben zu sein. Weil der Sinn derer, an deren Adres­se seine im Umfang unscheinbare kleine Schrift gerichtet war, eben nicht groß gewesen war.

Doch, sein fulminanter Einfall von damals hatte Größe besessen, auch wenn er nur einen Teilaspekt des Gesamtproblems ins Visier genommen hatte. Die Kom­plet­tierung, Universalisierung und rechnerische Durchführung des Kerngedan­kens hatte noch einmal gut und gern zehn Jahre extremster, kräftezehrender ge­dank­licher Arbeit in Anspruch genommen. Weil er seinen doch recht mediokren ma­thematischen Kenntnisstand mit Hilfe seines Freunde Marcel Großmann hatte gehörig aufpäppeln müssen. Großmann, hatte er dem damals in Zürich lehren­den Freund geschrieben, Du mußt mir helfen, sonst werd’ ich verrückt!

Am Polytechnikum in Zürich hätte er, das stimmte, eine fundierte mathemati­sche Ausbildung erfahren können. Hurwitz und Minkowski waren Koryphäen ihres Fachs! Dennoch, dass er die Mathematik bis zu einem gewissen Grade ver­nachlässigte, hatte nicht nur den Grund, daß das naturwissenschaftliche Inter­esse stärker war als das mathematische, sondern vor allem die Tatsache, daß die Mathe­matik in viele Spezialgebiete gespalten war, deren jedes diese kurze uns vergönnte Lebenszeit weg­nehmen konnte. Er hatte sich wie Burridans Esel gefühlt, der sich nicht für ein besonderes Bündel Heu entschließen konnte. Dies lag offenbar daran, daß seine Intuition auf mathemati­schem Ge­biet nicht stark genug war, um das Fundamental-Wichtige, Grundlegende sicher von dem Rest der mehr oder weniger entbehrlichen Gelehrsamkeit zu unterscheiden. Außer­dem war aber auch das Interesse für die Naturerkenntnis unbedingt stärker; und es wurde ihm als Student nicht klar, daß der Zugang zu den tieferen prin­zipiellen Erkenntnissen in der Physik an die fein­sten mathematischen Methoden gebunden war. Dies dämmerte ihm erst allmählich nach Jahren selbständiger wissenschaftlicher Arbeit. Aber wie auch immer, er hatte, derart gerüstet, von kräftefreien Bewegungszuständen in den physikalisch letztlich einzig relevanten Bereich von Kräfte- und/oder Beschleunigungsverhältnissen durchstoßen müs­sen.

Was, erneut, als ganz und gar unmöglich von berufener Seite abgetan worden war. Ausgeschlossen, die Vielzahl der Variablen in die schlichte Einfachheit mathema­tischer Formel- und Gesetzessprache zu überführen. Du verplemperst deine Zeit, mein Lieber … Von wegen! Diese Erweiterung hatte das physikali­sche Verständnis des anorganischen Makrokosmos’ in seiner formvollendeten Gesetzmäßigkeit und, wie er es empfand, überirdischen Schönheit, erst komplett und in sich geschlossen gemacht. Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundge­fühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.

Diese durch summa summarum zehn Jahre getrennten Ergebnisse höchster denke­rischer Kraftanstrengung hatten Größe, egal wie sich der Rest der Welt dazu stellte oder gestellt hatte. Und im übrigen, hätte er sich nach dem Urteil der an­deren Fachgenossen gerichtet, nie hätten diese grundstürzenden Einsichten das Licht der Welt erblickt. Nein, einem ernst zu nehmenden Wissenschaftler muss es in jederlei Hinsicht egal sein, ob er sich mit seinem geistigen Treiben außer- oder innerhalb seiner Zeit befindet. Nur so kann er hoffen, einen oder vielleicht mehrere Schritte hinaus über die bisherige Grenze der Erkenntnis zu tun. Und ob ihm die anderen dabei nachfolgen werden, das hat ihn nicht zu in­teressieren. Darauf darf er keine Rücksicht nehmen. Denn selbst wenn sein Streich wirkungslos niedergesunken wäre … Was läge daran? Was hätte daran gelegen? Er wusste und weiß es besser. Und die, die ihm nachzufolgen bereit und in der Lage gewesen wa­ren, die hatten auch längst verstanden, welch großer Doppelwurf ihm in diesen Jahren vor dem Weltkrieg gelungen war.

Man muss es kennen und am eigenen Leibe erlebt haben, was es heißt, das ahnungs­volle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehn­sucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung und seinem endlichen Durchbruch zur Klarheit. Wer sie kennt reißt sich nicht danach. Wie hatte es noch in einem Brief an seinen Freund Ehrat ge­heißen? Ja, genauso: Jetzt weiß ich, warum es so viele Leute gibt, die gern Holz spalten. Bei dieser Tätigkeit sieht man nämlich immer sofort den Erfolg!

Es war an Absurdität kaum noch zu überbieten gewesen, als er 1907 an der Uni­ver­sität Bern die 1905 verfasste, alles in der physikalischen Wissenschaft auf eine neue Basis hebende, Arbeit Elektrodynamik bewegter Körper als Habilita­tionsschrift einge­reicht hatte und einer der Ordinarien, es war, wenn er sich recht erinnerte, Professor Aimé Forster gewesen, ihm die fulminante, 30 Druckseiten umfassende Schrift mit den Worten zu­rückgegeben hatte: Was Sie da geschrie­ben haben, verstehe ich überhaupt nicht. Gegen wen sprach das? Etwa gegen ihn?!

Er fährt sich mit der Hand durch sein leicht gewelltes, immer noch vergleichs­weise volles ergrautes Haar. Hatte er nicht vielleicht doch, wenn er ehrlich war, Sorge em­pfunden, ob die, welche seine Texte zur Kenntnis nehmen würden, sei­ner wür­dig sein würden? Nein!, allenfalls, nachdem der entscheidende Schritt getan und der Beweis mit dem schlichten, fast unscheinbaren Formelapparat zu Papier gebracht worden war, hatte er kurz innegehalten und sich gefragt, ob sei­ner auf leisen Sohlen daherkommenden Großtat die ihr entsprechende Aufmerk­samkeit zuteil werden würde. Denn sie selbst war nicht allein notwendig, son­dern so, wie die physika­lischen Dinge damals gelegen hatten, auch ganz und gar an der Zeit gewesen. In ei­nem überpersönlichen Sinne also gab es die Entspre­chung. Weil die Zeit reif ge­wesen war für diesen Schritt über das mit vermeint­lichen Konstanten operierende Denken der klassischen Physik.

Voraussetzungsloses Denken? Womöglich jenseits oder außerhalb der Zeit? Im Elfenbeinturm? Pah! Alles hatte seine notwendige Bedingungskette im Rücken. Und er war lediglich der gewesen, der, als das Problem spruchreif geworden war und, freilich von Niemandem bemerkt, auf der Tagesordnung gestanden hatte, das erlösende Wort der Lösung gesprochen hatte.

Selbst die Unzeitgemäßen Betrach­tungen des Röckener Alleszerstörers waren an der Zeit gewesen. Die passende grüblerische Ant­wort eines hochsensiblen, künstlerisch begabten Menschen, der ein Gespür dafür gehabt hatte, was sich hinter der glän­zenden Fassade des neuen, gerade erst gegründeten kleindeut­schen Reiches unter der kompromisslosen Führerschaft des auf Macht und nichts sonst verses­senen Kanzlers und seiner berechnenden antikatholischen Kulturkampfeu­phorie in Wahr­heit verbarg. Mediokres Philistertum und eine Gesellschaftsordnung, die mit ihrem preußischen Drill, ihrer kirchlich-höfisch basierten Hierarchie und ihrer biedermän­nischen Staatsfrömmigkeit selbst den Gelehrtenstand geistig domestiziert hatte. Wie hatte er sich an anderer Stelle mit beißendem Spott über die deutsche Gelehr­tenzunft lustig gemacht?! Er hatte von den in ihren Staat vergnügten Universitätspro­fessoren gesprochen, die er auf Grund ihrer zur zweiten Natur gewor­denen Devot­heit herzlich verachtet hatte. Denn was ist die Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine …Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des ‚Reichs’ zusammenfällt: beide Tatsachen beweisen ein und dasselbe – Ge­horsam und lange Beine. – Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Recht so! Wenngleich es so aussieht, als ob gerade jetzt eine Steigerung dieses widerwärtigen deutschen Superlativs unmittelbar vor der Tür steht. O wie einem nunmehr der Genuß zuwider ist, der grobe, dumpfe, braune Genuß, wie ihn sonst die Genießenden, unsre ‚Gebildeten’, unsre Rei­chen und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem großen Jahrmarkts-Bumbum zu­hören, mit dem sich der ‚gebildete’ Mensch und Großstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu ‚geistigen Genüssen’, unter Mithilfe geistiger Getränke, notzüch­tigen lässt! Den Herrschen­den nach dem Mund zu reden jedenfalls kann bloß in den geistigen Ruin führen!

So ist zum Beispiel das Gebäude der Erziehung als morsch erkannt, und überall finden sich einzelne, welche in aller Stille schon das Gebäude verlassen haben. Könnte man die, welche tat­sächlich schon jetzt tief mit ihm unzufrieden sind, nur einmal zur offenen Empörung und Er­klärung treiben! Könnte man sie des verzagenden Unmuts berauben! Ich weiß es: wenn man gera­de den stillen Bei­trag dieser Naturen von dem Ertrage unseres gesamten Bildungswesens ab­striche, es wäre der empfindlichste Aderlaß, durch den man dasselbe schwächen könnte. Von den Gelehr­ten zum Beispiel blieben unter dem alten Regimente nur die durch den politischen Wahn­witz An­gesteckten und die literatenhaften Men­schen aller Art zurück. Das widerliche Gebilde, welches jetzt seine Kräfte aus der Anlehnung an die Sphären der Gewalt und Ungerechtigkeit, aus Staat und Gesellschaft, nimmt und seinen Vorteil dabei hat, diese immer böser und rück­sichts­loser zu machen, ist ohne diese Anlehnung etwas Schwächliches und Er­müdetes: man braucht es nur recht zu verachten, so fällt es schon über den Haufen.

Schön! Sehr schön! Doch freilich, legt sich ein Schatten der Trauer über ihn, wenn das alles so einfach wäre … Aber das ist es nun einmal leider nicht.

Etwas Dunkles schiebt sich in sein Gesichtsfeld. Jemand tippt auf seine Schul­ter. Nicht jetzt! Man stört. Immer zur Unzeit. Unwillkürlich macht er eine kaum wahr­nehmbare Ausweichbewegung. Umsonst. Er wird angesprochen. Er be­schließt, nicht zu reagieren. Ich bin nicht da, denkt er. Hält sich den Schmöker ganz dicht vor seine birnenförmige Nase. Die ergrauten Haare seines Schnurr­barts schaben über das vergilbte Papier. Es hilft alles nichts. Der, der ihn aus seinen der Vergan­genheit zugewandten Gedanken schamlos aufgeschreckt hat, hält ihm ein aufge­klapptes Buch vors Gesicht. In der anderen Hand befindet sich ein schwarz glän­zender Füllfederhalter. Wie er sie hasst, diese unterwürfig-auf­dringlichen Auto­grammjäger! Die sich auf diese erbärmlich-nichtswürdige Art wichtig machen. Glauben, allein dadurch ihrem trostlosen Leben etwas Schwere und Gewicht geben zu können, dass sie sich, verbürgt durch eine Unterschrift, im Dunstkreis von Per­sonen des sogenannten öffentlichen Interesses aufgehalten haben. Duckmäuser, nichtswürdige! Mediokres Pack! Um so zu sein oder zu werden, muss man nicht einmal an einer deutschen Universität lehren. Diese Geisteshaltung eines spin­tisierenden Flohknackers beherrscht auch der gemeine Mann von der Straße aus dem Effeff. Seine Devise hingegen hat, so lange er zurückdenken kann, schon immer gelautet: Was an der eigenen Existenz bedeut­sam ist, wird uns selber kaum bewußt und sollte die Mitmenschen gewiß nicht kümmern. Was weiß ein Fisch vom Wasser, in dem er sein Lebtag herum­schwimmt? Sein höchstes Ziel eben ist es, Abstand von sich selbst, ja, im äu­ßersten Extrem und soweit das überhaupt menschenmöglich ist, Befreiung vom Persönlichen zu gewinnen. Das Biographische ist der belangloseste Teil eines Er­denbürgers. Auch wenn das die Großen der menschlichen Spezies oder die, die sich irrtümlicherweise dafür halten, ganz anders sehen.

Ein Schmunzeln huscht über sein von Falten zerfurchtes Gesicht. Und kritzelt achtlos mit einem schabenden Geräusch sein verschnörkeltes, leicht verwasche­nes A. Einstein in die äußerste rechte untere Ecke des ersten Blattes des Druck­werks. Schmöker und Crayon wechseln erneut den Besitzer. Den wort­reichen Dank hört er bereits nicht mehr. Oder nur von ganz weit weg. Wie das unange­nehme Sirren eines lästigen Insekts, das man mit einem flüchtigen, ärgerlichen Wedeln der Hand auf Abstand zu halten sucht.

Der Schüler steht vor seinem geistigen Auge. Sein Hass auf den täglichen Drill. Seine Abneigung gegen ein mechanisches Auswendiglernen selbst in den Wis­sens­gebieten, wo es nichts verloren hat. In der Schule wird die Freude, die hei­lige Neugier des Forschens erdrosselt. Denn der Heranwachsende bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit. Es ist ein unverzeihlicher Irrtum, zu glau­ben, dass Freude am Lernen durch den Zwang zur Pflicht gefördert wird. Dass er von seinen Lehrern stets scheel angesehen wurde hatte wohl letztlich daran gelegen, dass er so eine Art Va­gabund und Eigenbrödler gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Er misstraut jeder Autorität. Das ist die Einstel­lung, die ihn nicht wieder verlassen hat. Und der, den er gerade zu lesen begon­nen hat, hat das, so weit er weiß, ganz genauso em­pfunden. Seine Schulzeit in Schulpforta hat der genialische junge Mensch, der Stür­mer und Dränger der zweiten Gene­ration, auch stets als Zumutung empfunden. Auch wenn sein gei­stiger Hintergrund ein anderer gewesen ist. Klassische Antike. Die Humaniora. Literatur und, vor al­lem und immer wieder im Schlepptau des Erz­romantikers Schopen­hauer, die zwangsläufig der Nachtseite zugewandte Zauber­welt der Tonkunst. Die roman­tischste aller Künste. Die ihre verklärende Vollen­dung in dem zunächst bewunder­ten Meister mit seinem Drang zum musikalischen Ge­samtkunstwerk ge­funden hat. Bevor der Unzeitgemäße in dem zunächst abgöt­tisch Verehrten und Angehimmelten, dem, das war zu viel gewesen, grauenhaf­ten Erz­katholiken, und wahrscheinlich auch in sich den Décadent par excellence ent­deckt und unerbittlich bekämpft hat. Allein das ist schon selbstzerstörerisch gewesen. Von allem anderen einmal abgesehen. Aber, gleichviel. Die Gründe für den Ab­scheu vor den schuli­schen geisttötenden Anforderungen sind bei ihnen die glei­chen gewesen. Denn auch das Leben und Weben in der (Theorie der) Musik und Lite­ratur ist auf einige wenige Grundkenntnisse angewiesen; vor allem aber auf ein lei­denschaftliches Sich­verlieren in den Labyrinthen wort- und klanggewaltigen menschlichen Ausdrucks. Obwohl er selbst viel mehr mit der heilig-nüchternen Strenge und Klarheit eines Johann Sebastian Bach bei seinem mehr als bloß halb­professionellen Violinspiel an­zufangen weiß.

So auch, wenn auch ganz anders, in der Mathematik. Der Physik. Oder der Che­mie. Kurz, in allen naturwissenschaftlichen Fächern. Gut. Grundlagenkenntnisse sind hier wie sonst unverzichtbar. Axiomatik, Dimensionenlehre, Protonen- und Neu­tronenzahlen, Kernbausteine, Anzahl der diversen Elektronen auf den Scha­len. Elektronensprünge, Massenverluste und noch einiges mehr. Aber dann heißt es, seinen Kopf anzustrengen und aus den Gegebenheiten etwas zu machen. Nach Möglichkeit etwas Schlüssiges, in sich Zusammenhängendes, Gesetzmä­ßiges und Notwendiges. Das sämtlichen jeweils gegebenen Aspekten nicht bloß standhält, sondern sie in eine kristallklare Ordnung bringt, in der jedes Teilchen seine unver­rückbare Ordnung findet. Denn die Naturwelt des Physikers ist die in Formeln gebrachte objektive Ordnung des realen Seins. Deswegen ist ihm die gegenwärtig grassierende Wahrscheinlichkeitsmystik und die Abkehr von der Realität ein Gräuel. Nein, Messungen machen nur dann Sinn, wenn etwas exis­tiert, das gemes­sen werden kann. Sie konstituieren ihren Gegenstand nicht. Und wenn die Zahl der in Frage kommenden Faktoren bei einem komplexen Phäno­men der Natur zu groß wird, dann heißt das noch lange nicht, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst und lediglich noch der Zufall regiert. Selbst die Ergebnisse der Wahrscheinlichkeits­rechnung mit ihrer sprichwörtlichen großen Zahl deuten noch auf so etwas wie ei­ne regelmäßige Verteilung hin. Nehme man beispiels­weise das Wetter, dann sei eine sichere Vorhersage für zwei oder drei Tage zwar nicht bis ins Letzte möglich. Nicht aber, weil den Erscheinungen des Wetters kein Kausalzusammenhang, keine Ord­nung und Gesetzlichkeit zugrunde liege, sondern weil mannigfaltige, uns unbe­kannte Faktoren mitwirken.

Das Buch des im Grundlegenden Gleichgesinnten rutscht ihm aus der Hand. Fällt zu Boden. Die Seiten rascheln. Er bückt sich. Hebt es auf. Zurück auf Los.

Daß ein einzelner, im Verlaufe eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas durchaus Neues hin­stellen könne, mag wohl alle die empören, welche auf die Allmählichkeit aller Entwicklung wie auf eine Art von Sitten-Gesetz schwören: sie sind selber langsam und fordern Langsamkeit – und da sehen sie nun einen sehr Geschwinden, wissen nicht, wie er es macht, und sind ihm böse.

Donnerwetter, ja! Schon wieder zückt er einen Stift und markiert die Stelle. Ist zwar auf den verehrten Tonkünstler gemünzt. Aber wer, wenn nicht er, soll sich durch diese Zeilen angesprochen fühlen?!

Es wäre sonderbar, wenn das, was jemand am besten kann und am liebsten tut, nicht auch in der gesamten Gestaltung seines Lebens wieder sichtbar würde; vielmehr muß bei Menschen von her­vorragender Befähigung das Leben nicht nur, wie bei jedermann, zum Abbild des Charakters, sondern vor allem auch zum Abbild des Intellektes und seines eigensten Vermögens werden.

Auch das ist wahr und trifft auf ihn ohne jede Einschränkung zu. Allerdings be­schleicht ihn ein ungutes Gefühl. Wer derart, und sei es auch bloß im Gedanken an einen anderen, ins Schwärmen und preisende Schwadronieren gerät, läuft un­wei­gerlich Gefahr, all das Richtige in einer hochgepuschten Eitelkeit und lobhu­delnden Selbstverliebtheit zu ersäufen. Und das ist dann wieder der doch sonst stets ver­achtete Philisterhabitus. Der Ausnahmemensch gerät vor allem dann, wenn er auf diese schleichende Gefahr nicht ausdrücklich reflektiert, zur Karika­tur des Geni­alen: einem aufgeblasenen Wichtigtuer und hohl-gestikulierenden Schaum­schläger. Ohnehin haben die meisten Menschen … einen heiligen Res­pekt vor Worten, die sie nicht be­greifen können, und betrachten es als ein Zei­chen der Oberflächlichkeit eines Autors, wenn sie ihn begreifen können. Er wird das fatale Gefühl nicht los, dass der Autor bei allem Über­schwang des Lobprei­sens des verehrten Meisters dabei immer auch mehr als bloß ein wenig sich selbst aufs Schild gehoben hat. Zuerst hypertropher Enthusias­mus, der dann, fast wie aus dem Nichts, in sein genaues Gegenteil umschlägt. Und in eben dem, dem unbändigen Hass auf den Décadent – der Nihilismus als Logik der Deka­denz –, als dessen Spezialisten, Propheten und Opfer er sich je länger desto mehr sah, ist der Hass auf sich selbst, den pessimistischen Falschmünzer, wie selbstverständlich immer mit einge­schlossen.

Es geht gefährlich und verzweifelt zu im Lebenswege jedes wahren Künstlers, der in die modernen Zeiten geworfen ist. Man denke ihn sich in eine Beamtung hinein – so wie Wagner das Amt eines Kapellmeisters an Stadt- und Hoftheatern zu versehen hatte; man empfinde es, wie der ernsteste Künstler mit Gewalt da den Ernst erzwingen will, wo nun einmal die modernen Einrichtungen fast mit grundsätzlicher Leichtfertigkeit aufgebaut sind und Leichtfertigkeit fordern, wie es ihm zum Teil gelingt und im ganzen immer mißlingt, wie der Ekel ihm naht und er flüchten will, wie er den Ort nicht findet, wohin er flüchten könnte, und er immer wieder zu den Zigeunern und Ausgestoßenen unsrer Kultur als einer der Ihrigen zurückkehren muß.

Die Kinder sind’s bei ihm. Weil sie, in der Regel, noch unverbildet sind. Weil sie sich im Abseits ihrer phantastischen Welten schlafwandlerisch sicher ver­lieren. Und wohin er ihnen nicht allein, wann immer es geht, liebend gerne folgt, sondern, der Schalk treibt ihn an, auch auf eigene Faust neue, unbetretene Wege bahnt. Nein, sich unter ein Diktat zu beugen, Regeln des Benimm an seiner Per­son zu voll­strecken … Das will er nicht. Hat es nie gewollt. Da streckt er lieber wie ein kleiner Junge die Zunge heraus und gebärdet sich wie ein Narr. Wie ei­ner, der sich unter keine gesellschaftlichen Konventionen beugt und beugen lässt. Weil ihm das mo­derne Kunst-Lügenwesen von Grund auf verhasst ist. Weil es ihn davor wie vor nichts sonst ekelt.

So nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Kon­vention hinzu, das heißt des Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Übereinkommen des Gefühls. …Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er sich, nach der Art unserer ‚Kunstfreunde’, einem trügerischen Behagen und einer stillen Trunksucht überantwortete!

Apropos Trunksucht … Er winkt der Bedienung, sie möge ihm noch einen Mocca bringen. Und ja, gerne auch einen Cognac im Schwenker. Um sich auch somatisch auf ein höheres Energieniveau zu begeben.

Im Weiterlesen fingert er aus der Seitentasche seines Jacketts seine Rauchuten­silien hervor. Das Pfeifenrauchen sorgt für Atmosphäre. Mit flinken Fingern stopft er den zart nach Pflaumen riechenden Knaster in den Pfeifenkopf und entzündet paffend den vom häufigen Gebrauch fast schwarz verfärbten Knösel. Jetzt ist er ganz bei sich. Noch jeweils ein Schluck von dem inzwischen bereit­gestellten Stark­getränk und dem warm-schweren Branntwein und er fährt, zu­frieden lächelnd, in der Lektüre fort. Sollte ihn jetzt noch jemand stören, wehe ihm …

Wagner, so liest er, bannt und schließt zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medizinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringie­rende Kraft: insofern gehört er zu den ganz großen Kulturgewalten. Er waltet über den Künsten, den Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ord­nenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammen­gebrachten, ein Vereinfacher der Welt.

Ja, das ist er auch geworden, mit seiner Doppeleinsicht. Obwohl, nein!, so stimmt das nicht. Nicht er hat die Welt vereinfacht. Sie gehorcht von sich aus, ganz ohne sein Zutun, diesen in ihrer paradoxen Einfachheit von ihm als so wunderschön em­pfundenen Gesetzen. Und an ihm war es lediglich, ihr ihr Ge­heimnis, das tatsäch­lich eines der Vereinfachung und Vereinheitlichung war, abzulauschen. Und weil das so ist, weil er, in dem Sinne, nichts erfunden, son­dern lediglich etwas, das vor aller Menschen Augen liegt und sich unentwegt abspielt, gedanklich bewältigt hat, ist er auch schlecht zu sprechen auf das er­kenntnis- und wissenschafts­theoretische Metagewese der philosophischen Wis­senschaft seines sonst so verehrten österrei­chischen Lehrers Ernst Mach, dem sich alles in letztlich fiktionale Erscheinungs- und Vorstellungsbilder, freie Er­findungen des mensch­lichen Geistes, auflöst. Wie kommt …ein ordentlich be­gabter Naturforscher überhaupt dazu, sich um Erkenntnistheorie zu küm­mern? Gibt es in seinem Fache nicht wertvollere Arbeit? Da­ran jedenfalls ist nicht zu rütteln: Erkenntnistheorie ohne Kontakt zur Naturwis­senschaft, die ihrerseits von einer unabhängig für sich beste­henden Welt realer und gesetzmäßig verbun­dener Zusammenhänge ausgeht, gerät zum leeren Schema. Denn was ist Natur­wissenschaft? Sie ist der Versuch einer nachträglichen Rekonstruktion alles Sei­enden im Prozeß der begrifflichen Erfassung. Sie ist nichts weiter als eine Ver­feinerung unseres alltäglichen Denkens. Jawohl! So und nicht anders!

Sein Knösel glüht. Der Qualm steigt senkrecht in die Höhe, bevor er sich sacht verwirbelt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen zu bilden begonnen. Der Cognac dämpft das Brennen auf seiner Zunge merklich herab.

Was auf ihn stark wirkte, das wollte und konnte er auch machen; von seinen Vorbildern verstand er auf jeder Stufe ebensoviel als er auch selber bilden konn­te, er zweifelte nie daran, das auch zu können, was ihm gefiel. Vielleicht ist er hierin eine noch ‚präsumtuösere’ Natur als Goethe, der von sich sagte: ‚immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst’.

Ein Sonntagskind des Lebens. Das war Wagner für Nietzsche gewesen. So, er weiß es, lautet auch das Selbstverständnis eines der größten Romanciers dieses Jahr­hunderts. Und ja, obwohl er sich selbst für vergleichsweise uneitel hält, auch er war nie frei gewesen von dem Gefühl, dass es mit ihm stets nur gut und zu seiner Zu­friedenheit ausgehen könne. Was er erreicht hatte, stand ihm auch zu. Nicht, weil es ihm in den Schoß gefallen war. Nein, weiß Gott nicht! Er hatte es sich hart erar­beiten müssen. Er hat ebenso unablässig darnach gestrebt, sich die schwersten Gesetze auf­zuerlegen, als andre nach Erleichterung ihrer Last trach­ten; das Leben und die Kunst drücken ihn, wenn er nicht mit ihren schwierigsten Problemen spielen kann. Man muss das Brett dort bohren, wo es am dicksten ist. Keine Frage. Aber wenn dann der Gipfel erklom­men ist, erwartet einen dort oben niemand anders als man selbst. Und wie fühlt sich das an? Wie jene gold­helle durch­gegorne Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe, be­trachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit. Genau so! Denn so ist die Stimmung eines wahr­haft frei gewordnen Könnens, das nie den Atem verliert, nie keuchend an sein Ziel kommt.

Von seinem Erlebnis aus verstand er die ganze schmachvolle Stellung, in wel­cher die Kunst und die Künstler sich befinden: wie eine seelenlose oder seelen­harte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und Künstler zu ihrem sklavischen Gefolge zählt, zur Be­friedigung von Schein­bedürfnissen. Die moderne Kunst ist Luxus: das begriff er ebenso wie das andre, daß sie mit dem Rechte einer Luxus-Gesellschaft stehe und falle … Die ganze ästhetische Schreib- und Schwatzseligkeit brach wie ein Fieber unter den Deutschen aus, man maß und fingerte an den Kunstwerken, an der Person des Künstlers herum, mit jenem Mangel an Scham, welcher den deutschen Gelehr­ten nicht weniger als den deutschen Zeitungsschreibern zu eigen ist.

Und nicht bloß denen! Seit er eine Berühmtheit war, stellte man ihm nach. Machte sich anheischig, die Größe seines Gehirns und die Anzahl von dessen Windungen zu vermessen. Physiognomik und Schädellehre auf dem allernied­rigsten Stand. Oder man trug ihm an, seine Seele zergliedern zu lassen. Platz zu nehmen auf der Couch. Es sich, womöglich liegend, bequem zu machen, um sein Innerstes nach Außen zu kehren. Um der Psyche eines Genies, für das man ihn hielt, ihr abgrün­diges Geheimnis abzulauschen Dabei bedurfte es doch bloß eines geringen ge­danklichen Aufwandes, um zu begreifen, dass die Psychoana­lyse die Krankheit war, für dessen Therapie sie sich irrtümlicherweise hielt.

Aber er will sich nicht mehr ärgern. Zumal ihm die nächste Stelle ins Auge fällt, die seinem Selbstverständnis voll und ganz entspricht. Es kühn in Worte fasst, wie aller Mühsal gedanklicher Extrembeanspruchung zum Trotz das Ergebnis dieses unent­wegten, zähen Ringens nichts anderes ist als ein schwebend leichtes, ganz und gar in sich stimmiges logisch-reales Luftgebilde.

Man erwäge dann wiederum die Einordnung einer solchen singenden Leiden­schaft in den ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein Wun­derding von überwundenen Schwierig­keiten kennen zu lernen: seine Erfindsam­keit hierbei, im kleinen und großen, die Allgegenwart seines Geistes und seines Fleißes ist derart, daß man beim Anblick einer Wagnerschen Partitur glauben möchte, es habe vor ihm gar keine rechte Arbeit und Anstrengung gegeben. Es scheint, daß er auch in bezug auf die Mühsal der Kunst hätte sagen können, die eigentliche Tugend des Dramatikers bestehe in der Selbstentäußerung; aber er würde wahrscheinlich entgegnen: es gibt nur eine Mühsal, die des noch nicht Freigewordenen; die Tugend und das Gute sind leicht.

Oder auch so: frei und leicht wie aus dem Nichts entsprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick. Das ist sogar noch tiefer gedacht, weil es die Mühsal nicht unterschlägt, sondern bloß, im Ergebnis, vergessen macht. Kunst, die Na­tur zu sein scheint. Kristallklare Erkenntnis, die kein Aber zulässt, weil alles in sich stimmig ist, seine unverrückbare Stelle hat und mithin passt.

Und genau so kommt es auch hier. Gleich im Anschluss. Denn er liest mit einem sich immer mehr ausbreitenden und sein Gesicht schließlich erstrahlen lassen­den Lächeln …

Als Künstler im ganzen betrachtet, so hat Wagner, um an einen bekannteren Typus zu erinnern, etwas von Demosthenes an sich: den furchtbaren Ernst um die Sache und die Gewalt des Griffs, so daß er jedes Mal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Augenblick, und sie hält fest, als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener seine Kunst oder macht sie vergessen, indem er zwingt, an die Sache zu denken; …seine Kunst wirkt als Natur, als hergestellte, wiedergefundene Natur.

Das Naive ist das Sentimentalische, denkt er. Goethe und Schiller sind eins. Und diesen beiden Dioskuren aus Weimar fühlt er sich so nah in diesem Moment tag­heller Erleuchtung wie lange nicht mehr.

Er hält inne. Seine Pfeife, die er in seiner Rechten hält, ist längst erloschen. Der Mocca ist nicht einmal mehr lauwarm. Nur der Weinbrand, den er nun bis zur Neige austrinkt, rinnt warm-sanft durch seine ausgetrocknete Kehle.

Weiter! Immer weiter zieht der andere ihn mit sich fort! Während es draußen sacht zu schneien begonnen hat.

Selbst das Gute, liest er, indem er leicht zu nicken beginnt, weil es ihm aus dem Her­zen gesprochen ist, in der Kunst ist überflüssig und schädlich, wenn es aus der Nachahmung des Besten entstand. Und ja, der Weise verkehrt im Grunde mit lebenden Menschen nur so weit …, als er durch sie den Schatz seiner Er­kenntnis zu mehren weiß … Wenngleich er, gerade im Umgang mit seinen Stu­denten, gelernt hat, sich auf deren Schwierigkeiten des geistigen Nachvollzugs der bisweilen hochgradig komplizierten Materie mit Engels­geduld einzulassen. Obwohl, auch darin ist er sich mit dem von dem Anderen bewunderten Tonset­zer einig, von dem der Satz überliefert ist: Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist im Irrtum.

Und trotzdem, und erst recht gilt, dass im allgemeinen …der hilfreiche Drang des schaf­fenden Künstlers zu groß ist, der Horizont seiner Menschenliebe zu umfänglich, als daß sein Blick an den Umzäunungen des nationalen Wesens hängen bleiben sollte. Seine Gedanken sind … überdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der Zukunft.

Genau das ist auch sein Glaube und seine Zuversicht, selbst wenn die politi­schen Zeichen inzwischen auf Sturm stehen, und er ernstlich darüber nachzu­denken be­gonnen hat, Deutschland den Rücken zuzukehren. So wie die Dinge liegen, ist hier in der Hauptstadt des Deutschen Reiches seines Bleibens nicht länger mehr. So schwer es ihn ankommt. Er wird den Weg in die Fremde antre­ten müssen. Hinaus aus der von völkischen Widerwärtigkeiten verstockten, stickig-provinziellen, von roher Gewalt schwangeren Atmos­phäre.

Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf!
Fern dämmre schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf!

Möge es so kommen! Und möge er durch sein unablässiges Streben seinen Teil da­zu beitragen, daß die Menschheit irgendwann einmal endgültig ideale Ord­nungen finden werde.

Freund, denkt er, Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?

Er verstaut seine Rauchutensilien und den Schmöker, winkt die Bedienung heran, begleicht die Rech­nung, streift sich seinen knielangen, zweireihigen hellgrauen Mantel über und tritt beschwingt in die froststarre Kälte des in dichtem Schneege­stöber verschwimmenden Januartages hinaus.

Kunczik, Michael: Medien und Gesellschaft. Der Einfluss des Nationenimages auf internationale Kapitalflüsse, 17.11.09

AVINUS Magazin Sonderedition Nr.6, Berlin 2009.

Kompletter Artikel als PDF-Version: Medien und Gesellschaft. Der Einfluss des Nationenimages auf internationale Kapitalflüsse

Abstract:

Charakteristisch für die sozial- und kommunikations-wissenschaftliche Theoriediskussion ist das allgemeine Klagen über den Mangel an Theorie bzw. die Unzulänglichkeiten der bisherigen Theoriebildung. Problematisch ist eine Abgrenzung des Problemfeldes Medien und Gesellschaft, wenn Kommunikation als Grundphänomen jedweder Gesellschaft verstanden wird, als der soziale Basisprozess, der alle Bereiche menschlichen Lebens durchdringt und nicht nur alle Formen und Medien menschlicher Kommunikation in der Gesellschaft beinhaltet, sondern auch den gesamten Prozess der Kommunikation von der Aussageentstehung über die Inhalte und das Publikum bis zur Wirkung. Eine große Gefahr bei der Theoriebildung besteht darin, zu umfassende Aussagen machen zu wollen. Im Anti-Dühring schreibt Friedrich Engels: „Wer … auf endgültige Wahrheiten letzter Instanz, auf echte, überhaupt nicht wandelbare Wahrheiten Jagd macht, wird wenig heim tragen, es sei denn Plattheiten und Gemeinplätze der ärgsten Art.“

Dass Theorien bzw. Paradigmen Wahrnehmungen bestimmen können und nicht umgekehrt die Tatsachen darüber entscheiden, was wir wahrnehmen und welche Theorien wir konstruieren, stellte Albert Einstein in einem Brief an Heisenberg im Jahre 1926 heraus: „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“ Damit ist nichts anderes ausgesagt, als dass die Art und Weise etwas zu betrachten zugleich impliziert, etwas anderes bzw. andere Aspekte eines Phänomens nicht zu betrachten. Im Folgenden werden in Anlehnung an Hans Albert Theorien als umfassende Systeme von Hypothesen verstanden, „die die Erklärung größerer Komplexe sozialer Tatbestände ermöglichen.“

Hansen, Frank-Peter: Was es bei Heidegger zu bemängeln gibt, 15.06.09

Die Existenzphilosophie Martin Heideggers wird von AVINUS-Autor Frank-Peter Hansen einer grundlegenden Kritik unterzogen. Der Vorwurf: Je universeller und allumfassender die Begrifflichkeiten Heideggers sich wähnen, als desto hohler und leerer erweisen sie sich.

„Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“

Auf das Lob der „Vergessenen Bücher“ folgt der Tadel der Mangelerscheinungen des wissenschaftlichen Geistes. Als erstes habe ich mir den Großmeister philosophischer Sinnsucherei, den Seinsbeschwörer aus Meßkirch vorgenommen, wobei einmal nicht auf seine immer wieder als anrüchig empfundene politische Vergangenheit mißbilligend gedeutet, sondern auf seine gedanklichen Fehler die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Das scheint immer noch und vor allem heute wieder geboten, weil intellektfeindliches Orakeln sich auf seine Gedankenlosigkeit etwas zugute und für der Weisheit letzten Schluß hält. Es ist es nicht, wie im folgenden gezeigt werden soll, was natürlich nicht nur eingefleischte Heideggerianer, sondern vermutlich Akademiker jeglicher Couleur gegen das Dargebotene aufbringen wird, sofern sie es überhaupt zur Kenntnis nehmen. Bestenfalls wird man der Befassung mit dem Gebotenen dadurch ausweichen, daß man mir eine undifferenzierte Herangehensweise vorwirft, weil ich den „Denkweg“ dieses großen Philosophen unberücksichtigt gelassen habe. Dem widerspreche ich nicht, möchte aber darauf hinweisen, daß diese Begründung eines prinzipiellen Desinteresses nichts weiter als eine leicht durchschaubare Ausflucht ist, sich mit dem, was Heidegger an hier zur Diskussion gestellten Ansichten tatsächlich und nachgewiesenermaßen wann auch immer vertreten hat nicht befassen zu wollen. Irgendetwas läßt sich allenthalben geltend machen, nicht zur Sprache gekommen zu sein, wenn man es denn geltend machen will, um den Verfasser an dieser Auslassung zu blamieren und deswegen für nicht der Befassung würdig zu befinden. Exempla docent. Überdem ist es ohnehin einer der beliebtesten Abwehrtechniken in gedanklichen Dingen, einer Kritik dadurch auszuweichen, daß man sich auf Formfragen oder Fragen des wissenschaftlichen Benimm kapriziert, um durch derartige Erwägungen den inhaltlichen, sachhaltigen Argumenten auszuweichen. Anders gesagt, ich prätendiere gar nicht, eine umfassende Darstellung seiner geistigen Entwicklung zu geben, sondern will an Hand einiger ausgewählter Beispiele dann aber doch auf das prinzipiell Verfehlte der Argumentationsweise der Fundamentalontologie hinweisen. Und daß diese philosophische Richtung vom Sein in seiner Differenz zum Seienden her argumentiert, werden selbst seine Parteigänger nicht bestreiten können, sie mögen schimpfen und/oder sich in Schweigen hüllen.

Wer im übrigen etwas selbstverständlich auch Kritisches über Heideggers „Denkweg“ von mir lesen will, der konsultiere das erste Kapitel der 2008 erschienenen Arbeit „Nicolai Hartmann – erneut durchdacht“. (S. 9-19) Heldenverehrenden Legendenbildungen wird freilich auch hier nicht Vorschub geleistet. Weder wird von den zukunftsweisenden Taten des jungen Genies Martin berichtet noch von der zerknirschten, selbstkritischen Weisheit des geläuterten Alters, eben weil nichts dergleichen, sondern viel eher, wie man hört, ein durch nichts zu bekehrender „Altersstarrsinn“, wie es beschönigend und verharmlosend von interessierter Seite, also von derjenigen seiner durch nichts zu beirrenden Adepten heißt, überliefert ist. Heidegger ist seinem sei’s existential-, sei’s fundamentalontologischen Seinsgefummel und -geraune inklusive den daran hängenden radikalen politischen Implikationen zeitlebens treu geblieben, Kehre hin, Denkweg her.

Da aber das Irrationale nicht allein bei den Heideggerianern hoch im Kurs steht – und mit Parteigängern dieser Einstellung läßt sich, was zu erwähnen eigentlich überflüssig ist, rational nicht streiten – soll in dieser geplanten Serie auch auf andere Formen dieses Dauerbrenners eingegangen werden, der selbst dort seine Blüten treibt, wo man ihn am wenigsten erwartet: im Bereich des aussagenlogisch gestützten und mathematisch unterlegten logischen Positivismus‘ etwa. Das hat, um dies flüchtig anzureißen, hauptsächlich damit zu tun, daß die Grundposition der Mathematik darin besteht, ganz frei und aus sich heraus auf der Grundlage von selbstgegebenen Axiomen Mannigfaltigkeiten zu schöpfen und zu setzen, weil sie sich nicht an Sachhaltigem zu messen braucht. Logische Positivisten setzen nämlich, in Anlehnung an Wittgensteins Traktat, die empirische Wahrheit oder Falschheit der sogenannten Elementarsätze einfach voraus, und die Wahrheit oder Falschheit der Satzkomplexe wird nach Regeln berechnet, die zuvor durch die Wahrheitstafeln willkürlich festgelegt worden sind. Das empirisch Gegebene, das sich unmittelbar zeigen soll, wird in eine logische Idealsprache gekleidet, aus der dann alles weitere nach den selbstgegebenen Regeln der (Aussagen-) Logik berechnet werden kann. Man hat es also in diesen Gedankengespinsten mit einer Manipulation zweier Größen, der Wahrheit und Falschheit, nach vorab zu bestimmenden Regeln, den sogenannten Wahrheitsfunktionen, zu tun. Das Ganze degeneriert ersichtlich zu einem bloßen Spiel mit nichts bezeichnenden Zeichen, da ja, wie gesagt, die Wahrheit und Falschheit der kombinatorisch zu rangierenden Elementarsätze postuliert beziehungsweise als bekannt vorausgesetzt worden ist. Die Wahrheit und Falschheit der aus ihnen zu ziehenden molekularen Satzkomplexe hängt ausschließlich von diesen Werten ab und kann rein mechanisch, und ohne daß man sich bei ihnen irgend etwas denken kann, oder muß geistlos nach den Festlegungen in den Wahrheitswertetabellen berechnet werden. Auf diese Weise ergibt sich dann die beliebige Definitionsmöglichkeit von komplexen Ausdrücken innerhalb einer so konzipierten Aussagenlogik. Sie wird dadurch zu einer reinen Definitionslehre von komplexen Wahrheits-Falschheits-Ausdrücken. Die Aussagenlogik ist folglich nichts weiter als ein inhaltsleeres und gedankenloses Zeichenspiel.

Darin besteht das irrationelle und unvernünftige und letztlich sogar willkürliche Prinzip der mathematischen Ableitungen, so es denn damit seine Richtigkeit hat. Dass man das alles auch ganz anders sehen kann, ist gleichfalls meinem oben namhaft gemachten Buch über Hartmann zu entnehmen, wo, unter Rückgriff auf den kritischen Ontologen über das ideale Sein mathematischer Gegenstände ausführlich auf den Seiten 49-65 nachgedacht worden ist. – Doch zunächst sollen ein paar der gedanklichen Fehler in Augenschein genommen werden, die dem Existential- und Fundamentalontologen in seinem bemühten Forschen unterlaufen sind. Wenn ich von Existential- und Fundamentalontologie in einem Atemzug spreche, kann ich mich im übrigen auf Heidegger selbst berufen, der in späten Jahren betont hat, daß schon das Interesse von „Sein und Zeit“ letztlich dem Sein und nicht der Existenz gegolten habe.

Den Hintergrund dieser Serie bildet aber, um dies gleich vorweg zu sagen, die Kritik an den diversen Formen einer sich in den meisten Fällen wissenschaftlich gerierenden Wissenschaftsfeindschaft, wie sie besonders schön an Heidegger, der deswegen als erstes inspiziert wird, zu studieren ist.

Ontologie und das Bedürfnis danach ist das Ergebnis eines Überdrusses an erkenntnistheoretischen Fragestellungen. In ihnen ist sozusagen das Wetzen des Messers zum Selbstzweck geworden, wenn ein methodologisch zugerichtetes Denken nur noch auf sein eigenes Vermögen reflektiert, also darauf, wie Gegenstände von Akten des Bewußtseins konstituiert werden. Heutzutage ist es umgekehrt allerdings schon längst wieder angesagt und guter Brauch, Objekte der Wissenschaft wie wissenschaftliche Gegenstände, also nicht als vorgefunden anzusehen, sondern, ein Rückfall in die Zeiten der Bekenntnisse zu den Vorurteilen der Methodologie, nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, theoretischer Vorannahmen und Modelle durch terminologische Differenzierungen, wie es heißt, zu konstruieren bzw. zu erfinden. Wissenschaftler sprechen nicht über Gegenstände, sondern über Probleme, die sie mehr oder weniger willkürlich kreiert haben. Und die gibt es selbstredend nicht an sich, sondern nur für die Konstrukteure aus der Forschergemeinde selbst, für die sich ansonsten entsprechend auch niemand sonst zu interessieren braucht. Dabei ist es ersichtlich ein Fehler bzw. eine Unmöglichkeit, das Erkennen vor dem Erkennen erkennen zu wollen, weil sich das Erkennen nur erkennend durchführen läßt. Man müßte sich schon im Besitz desselben befinden, um sich über sein Funktionieren Rechenschaft ablegen oder es kritisieren zu können. Anders gesagt, Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie kann erst im Anschluß an das konkrete Erkennen der Wissenschaften sinnvollerweise praktiziert werden, etwa in Form einer Onto-Logik, die sich des Allgemeinen des wissenschaftlich tätig gewordenen Gedankens nachträglich vergewissert. Vor dem Erkennen mit dem Erkennen ins reine zu kommen kann nur heißen, sich auf es nicht einlassen zu wollen.

Ontologie als ein „zurück zu den Sachen!“ bei Heidegger, was ihre anfängliche Anziehungskraft auf den akademischen Nachwuchs ausgemacht haben mag, wird aber nolens volens selbst zur Erkenntnistheorie, weil auch sie sich auf die Suche nach dem Ursprung begibt, den sie nun allerdings nicht in methodologischen Vorüberlegungen ausfindig macht, sondern indem sie in Form der Seinsfrage nach etwas Ausschau hält, was den Axiomen und Grundsätzen der Einzelwissenschaften zugrunde liegen soll. Mit dem Sein ist an etwas gedacht, das die Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken konstituieren soll. Die Wissenschaften befassen sich, diesem Verständnis zufolge, mit jeweils wie auch immer bestimmtem Seienden. Die Ontologie hingegen befaßt sich mit dem unbestimmten Sein, das aber ganz ausdrücklich nicht ein Begriff und somit das Ergebnis einer verallgemeinernden Abstraktion sein soll. Es soll überhaupt nichts mit dem Denken zu tun haben, und zwar weder in seiner konkreten noch abstrakten Beschaffenheit. Der Seinsphilosoph ist und begreift sich weder als einen Einzelwissenschaftler noch als einen (Formal-) Logiker oder Wissenschaftstheoretiker.

In diesem Kontext schafft die sogenannte „ontologische Differenz“ klare Verhältnisse. Jedenfalls auf den ersten Blick. Die Wissenschaften und das Bewußtsein des Alltagsverstandes werden der Seinsvergessenheit geziehen, weil sie sich nur und ausschließlich mit bestimmtem Seienden, also irgendwelchen in ihrer jeweiligen Eigenart zu identifizierenden Gegenständen befassen. Hier wird also einerseits an der Bestimmtheit der gedanklichen Arbeit Anstoß genommen. Das Sein soll aber andererseits auch kein Begriff, keine Abstraktionsleistung des denkend sich Rechenschaft ablegenden Intellekts sein, sondern etwas, was jedem denkenden Bestimmen voraus liegt. Und das ist ein Schwindel, weil das Sein das bestimmungslose Allgemeine schlechthin, also Abstraktion pur ist, bei der man sich nichts denken kann, weil es der Gedanke kat exochen ist. Und gerade weil es bei dem gänzlich Unbestimmten nichts zu denken gibt, kann von Heidegger in es etwas hineingeheimnist und mit einem unaussprechbaren Sinn ausgestattet werden, weil es dafür oder dawider ohnehin nichts zu vermelden gibt. Genauer gesagt: Dieses Bestimmungslose ist der allem zugrunde liegende Sinn schlechthin. Und das ist ungemein trickreich, weil sich der Ontologe auf diese Weise unangreifbar gemacht hat. Unaussprechbar ist der allem zugrunde liegen sollende Sinn deswegen, weil Sein im Sinne einer creatio ex nihilo Welt aus sich entspringen lassen soll. Das kann freilich deswegen nicht funktionieren, weil aus einer bestimmungslosen Identität, die Sein ist, nichts Bestimmtes folgen kann. Dem Fundamentalontologen bereitet diese erhabene Leere des Seins aber nicht nur keine Schwierigkeiten, sondern er verbucht dieses Nichts des Seins als den eigentlichen Gewinn seines Abstrahierens. Seine ganze Anstrengung ist darauf gerichtet, jede Spur einer Reminiszenz an Seiendes zu vernichten und zu tilgen, auch auf die Gefahr hin, daß das Ergebnis seiner Reduktion schließlich darin besteht, daß eigentlich nichts mehr übrig bleibt, über das sich etwas anderes aussagen ließe, als die Tautologie, daß es es selbst sei.

Darüber hinaus besteht die Kunst des Hinterfragens alles Bestehenden und Seienden darin, daß gar nichts mehr in Angriff genommen wird. Heidegger fragt derart radikal, kapriziert sich auf eine unbedingte Suche nach dem Ursprünglichen, daß die Realität, in der wir leben im Verhältnis zu jeder möglichen Antwort auf eine solche Frage bedeutungslos und gleichgültig ist. Und diese Differenz wird noch dadurch vergrößert, daß gesagt wird, daß es ohnehin bloß auf das Fragen ankomme, und daß sich jede mögliche Antwort an dem Tiefsinn der Frage und ihrer Aura vergehe. Auf jeden Fall sei es eine unzulässige Verflachung der Frage, wenn sie beantwortet, oder man auch nur versuchen würde, sie zu beantworten. Statt also gedanklich sich über irgend welche Vorkommnisse theoretisch Klarheit zu verschaffen, um sich ihnen gegebenenfalls praktisch stellen zu können, plädiert Heidegger für Unterwerfung pur, wenn er davon spricht, daß man nicht etwa dem Staat, in dem zu leben man gezwungen ist, sondern dem Sein quasi schicksalhaft „hörig“ sein müsse. Und der Sinn des Seins, dem man sich bedingungslos unterzuordnen habe, sei kein anderer als die sinnlose, nämlich geworfene und ins Nichts hinausgehaltene Existenz. Negativität als solche ist das eigentlich Positive und Sinnvolle des Seins.

Absurd ist diese Verselbständigung des Seins zu einem eigenständigen Subjekt aber auch deshalb, weil einerseits unterschlagen worden ist, daß es sich bei ihm um ein gedankliches Konstrukt handelt. Von diesem Konstrukt oder philosophischen Entwurf wird dann andererseits so getan, als ob es unmittelbar das Sein wäre. Und ihm wird dann drittens eine Potenz des Subjekts angeheftet, indem ihm ein aktivisches Vermögen unterstellt wird, dergestalt, daß es sich als eine unmittelbare Einflußnahme auf diejenigen äußere, die es mit ihren Abstraktionsleistungen doch überhaupt erst in Gedanken erschaffen haben. Diese Verselbständigung des Erschaffenen zu einem eigenständigen Subjekt ist aber deswegen vorgenommen worden, um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt umzukehren, das Subjekt zum Produkt seines Produktes zu verfälschen, dem es sich bedingungslos auszuliefern und zu unterwerfen habe: Sein als auf sich zu nehmendes blindes Fatum oder Geschick. Auch so kann ein metaphysisch ausgepinseltes Plädoyer für Abhängigkeit pur aus der Taufe gehoben werden. Und so versteht es sich auch, daß Heidegger vor der Blindheit dieses Seins nur eine einzige Haltung für die angemessene hält: eine blinde Unterwerfung in Form des Existentials der „Hörigkeit“.

Dies bedacht leuchtet es nicht mehr ein, Heideggers sogenannte und damit bereits verharmloste politische Exzentrizitäten wie den Wildwuchs eines orientierungslos gewordenen Denkers kleinzureden, um durch diese verschämte Generalabsolution sich dann umso unbefangener an der puren Weisheit der reinen Lehre zu erbauen. Solche Formulierungen wie diejenige, daß das Sein der Führer sei, sind nichts weiter als Konsequenzen aus dem propagierten Begriff des Seins. Und daß Heidegger nach dem Krieg auch noch auf eine andere Weise als faschistisch adaptiert werden konnte hat damit zu tun, daß dieser Seinsphilosoph Geschichte auf der einen Seite ontologisiert hat, um sie auf der anderen Seite selber wie Natur in ihrem blinden Vollzug zu vergotten. So kann man, je nach Bedarf und politischer Einstellung, das Sein überall dort ausfindig machen, wo es als Geschick einen jeweils gerade hin verschlagen hat. Seinsphilosophie ist, um es auf den Punkt zu bringen, eine Philosophie für geistige Opportunisten.

Zu bedenken ist fernerhin, daß der Fundamentalontologe das der stets etwas Bestimmtes aussagenden Sprache gegenüber Anderen und, wie unterstellt wird, sich im Begriff nicht Erschöpfende nie anders als mittels des Begriffs zu entwickeln vermag. Er kann, allein dadurch, daß er sich zu Wort meldet, nicht den Anspruch durchhalten, sich dem begrifflichen Denken von Anfang an entgegengesetzt und entzogen zu haben, weil er nämlich, wie unbeholfen und verdreht auch immer, stets für sein Sein argumentiert. Und das weiß Heidegger selbst am besten, wenn er zuzugeben gezwungen ist, daß auch das Sein letztlich ein Begriff ist, wodurch alles Reden über das Sein zu einem vermittelten wird. Also bedient sich der derart in die Klemme Geratene des Mittels des Ausweichens, das als eines der Tiefe daher kommt, wenn er sich dieser sich aufdrängenden Frage wie folgt entzieht:

Weil das Ideal der Ursprünglichkeit verloren zu gehen droht, führt er eine andere – sprachphilosophische – Unterstellung ein: Seine Sprache soll unmittelbar eins sein mit dem, was sie ausdrückt. Diese unterstellt Unmittelbarkeit des sprachlichen Zugangs manifestiert sich dann in solchen kabbalistischen Wendungen wie der, daß das Sein sich in der Sprache „lichte“ oder „entberge“. Die Logik dieses Tuns ist es, dem Ausgangsdilemma auszuweichen, das darin besteht, daß Sein weder ein begrifflich Allgemeines noch ein Seiendes sein soll. Und da bietet es sich an, zu unterstellen, daß, da Sein nicht anders als in der Sprache ausgedrückt werden kann, der Sprache selbst ontologische Dignität zuzusprechen ist. Sprache, so wie Heidegger sie versteht, ist dann nichts anderes als die Erscheinung dessen, was in ihr gemeint ist. Es wird also so getan, als koinzidiere sie unmittelbar mit ihrem Anderen, das in ihr zu Sprache komme oder sich in ihr „lichte“. Und das ist deswegen Unfug, weil in jeder Sprache das mit ihr nicht von vornherein Identische gedanklich in die Verfügungsgewalt des Subjekts per vorzunehmender Identifizierung zu bringen versucht wird. Die Dinge reden weder von sich aus, noch geben sie ihre Identität unmittelbar zu erkennen, weil sie nämlich zunächst das dem Intellekt Fremde sind. Und diese jedem Sprechen anzusehende Differenz hebt Heidegger ganz einfach auf, weil es ihm um das unmittelbare Entsprechungsverhältnis seines Redens mit dem Sein geht.

Ohnehin kommen selbstverständlich auch Vertreter der nominalistischen oder positivistischen Philosophie ohne Begriffe nicht aus. Daß sie ohne diese nicht auskommen, verweist darauf, daß die Reduktion des Begriffs auf Seiendes genausowenig möglich ist wie umgekehrt die Reduktion des Seienden auf das Sein. Besteht also der Fehler Heideggers darin, die Verallgemeinerung des Seins von den Vermittlungen durch Seiendes frei zu halten, dann ist es der Fehler des Positivismus, des Seienden als solchen, ohne die Vermittlung durch den Begriff habhaft werden zu wollen. Heidegger hypostasiert das Sein, seine vermeintlichen Antipoden hypostasieren das auf seine begreifende Durchdringung Verzicht leistende Seiende, wenn sie sich gedankenloserweise als gedankenlose Empiriker aufführen.

Darüber hinaus macht sich Heidegger mit seinem Sein einer petitio principii schuldig. Weil er der prinzipiellen Vergänglichkeit des zeitlich Seienden entgehen will, wenn er die Ursprünglichkeit eines nicht zu bestimmenden Seins anvisiert, siedelt er dieses gesollte Sein dort an, wo die Zeit nicht hinreicht und gibt dieses dann für ein Ursprüngliches aus. Damit ist dann aber bereits, ohne daß dafür auch nur ein Argument ins Feld geführt worden wäre, entschieden, daß dem Seienden das Sein ontologisch vorgeordnet sein soll, weil es nur als nicht dem Zeitfluß ausgeliefertes grundlegend sein kann. Eigentlich geht es allenthalben nur darum, die im Sinne eines Vorurteils inthronisierte Position gebetsmühlenartig immer nur zu wiederholen, daß nämlich das Sein dem Seienden gegenüber das Vorgängige sei, ohne daß diese Behauptung argumentativ abgeleitet würde. Sie kann dies aber deswegen nicht, weil im Zuge dieser Begründung das Sein in irgendeiner Weise bestimmt werden müsste, um so seine Vorgängigkeit dem Seienden gegenüber zu begründen. Geschähe dies aber, würde das Sein, der unkritisch gemachten Vorgabe gemäß, selbst zu einem bedingten Seienden, das es, bei Strafe des eigenen Untergangs, auf gar keinen Fall sein darf. Womit man wieder da angelangt wäre, wo sich der Seinsphilosoph von Anfang an befindet. Bei dem supponierten Unmittelbaren der „ontologischen Differenz“. Das Sein soll weder das Abstraktum des Allgemeinbegriffs noch das bestimmte, unter einen Allgemeinbegriff befaßte bestimmte Seiende sein.

Weil also das Sein Heideggers diesen nicht mehr zu überbietenden Grad an Allgemeinheit hat, ist mit ihm weder argumentativ etwas anzufangen noch ist ihm mit Argumenten und kritischen Einwänden zu begegnen, weil nämlich jeder Einwand über es etwas Bestimmtes aussagen müßte. Genau das aber ist prinzipiell und von vornherein ausgeschlossen worden. Man kann also eigentlich nur daran glauben oder auch nicht, je nach Geschmack und Einstellung. Und weil dem so ist, ist damit auch erklärt, warum die Position des Existentialontologen eine intellekt- und wissenschaftsfeindliche sein muß: Gedankenlose Gedanken sind nämlich ansonsten und prinzipiell ein Widerspruch in sich und darüber hinaus unaussprechbar, was aber nicht für, sondern gegen sie spricht. Anders gesagt: Heidegger macht aus Armut pur einen nichts beinhaltenden Reichtum, einen Reichtum aus Armut. Und in dieser Haltung kommt er aufs Schönste überein mit der religiösen Grundeinstellung: Dem Dünkel des Glaubenden, der aus seiner Demut und Nichtswürdigkeit resultiert. Gerade auf seine Verworfenheit bildet sich der Glaubende alles ein.

Der Reichtum aus Armut hat aber darin seinen Grund, daß Heideggers Philosophie eine ganz und gar unkritische ist. Wortgeschichtlich gesehen leitet sich der Begriff Kritik nämlich aus dem Begriff des Scheidens ab. Das griechische „Krinin“ heißt unterscheiden. Gegen das für jedes Denken unverzichtbare Unterscheiden hat sich Heidegger aber der Bestimmungslosigkeit seines Seins zuliebe stets und unmißverständlich ausgesprochen. Die Sünde des Denkens soll das Unterscheiden sein, dasjenige also, ohne das kein Denken auskommt oder auch nur stattfinden kann. Deswegen war oben davon die Rede, daß Heideggers Philosophieren von Grund auf intellektfeindlich und irrational ist. Es muß dies sein, weil es sich nur so in seiner gewollten Reinheit des Seins einrichten kann. Da das Sein aber weder das Seiende noch ein wie auch immer Begriffliches sein soll, bleibt nur übrig, es als ein jedem Unterschied Vorgängiges und damit Archaisches in Szene zu setzen.

Vor diesem Hintergrund begreift man auch, weshalb der späte Heidegger von dem Menschen als dem „Hirten des Seins“ gesprochen hat. Damit und mit den ausgelatschten Schuhen einer Bäuerin soll ein vorrationaler, dabei ganz und gar bornierter metaphysischer Ursachverhalt getroffen werden, der auf primitive, voragrarische Verhältnisse einer Vieh züchtenden Gesellschaft zurückverweist. Die Faszination aber, die von Heideggers Denken bis heute ausgeht, ist, so gesehen, die Unbildung, die zu predigen dieser dem Denken abschwörende Denker sich gefällt. – Sein ist bzw. soll demzufolge dasjenige sein, in dem die Differenz zwischen Seiendem und Sein noch gar nicht besteht. Und dieses Unreflektierte oder Naive eines vorbegrifflichen archaischen Denkens – wenn man es denn so nennen will – wird dem Ursprünglichen und deswegen als höher Bewerteten gleichgesetzt. Diese Begeisterung für die Ununterschiedenheit eines vorrationalen Einfachen macht den immer wieder herausgestrichenen Antiintellektualismus dieser Philosophie aus, der also systematisch motiviert ist. Das heißt, daß diese Philosophie das Scheidende und Unterscheidende deshalb abwehrt, weil es der Unterschiedslosigkeit des Seins in die Parade fährt. Da aber das Scheiden und Unterscheiden eine unverzichtbare Funktion des sich betätigenden Intellekts ist, so muß mit der Abwertung dieses Vermögens auch der Verstand selbst abgewertet und als der rückgängig zu machende Sündenfall hingestellt werden.

Hiermit hat es auch zu tun, daß dieser erhabene Dünkel des Nichtwissens so etwas wie ein Surrogat für Menschen bietet, die in der Realität ihres wirklichen Lebens zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sind. Mit Hilfe der Weiten des Heideggerschen Ungedankens gelingt es ihnen, dasjenige zu leisten und freiwillig auf sich zu nehmen, was ihnen an Notwendigem im täglichen Einerlei aufgebürdet wird. Ja noch mehr, sie werden von Heidegger und den Seinen geradezu dazu ermutigt, das ihnen Auferlegte und scheinbar Unumgängliche in dem Bewußtsein auf sich zu nehmen, daß sie auf eine indirekte Weise durch diese erbärmliche und jämmerliche Verzichtshaltung des Eigentlichen teilhaftig werden, worin sich spätestens der religiöse Hintergrund dieses areligiösen Predigers offenbart.

Der von Heidegger favorisierte Seinsbegriff entzieht sich aber der Frage nach der Wahrheit oder Falschheit der Sätze über Sein deswegen, weil er jede Bestimmung von sich weist. Darüber hinaus wird konsequenterweise das Denken diffamiert, weil nur es diese Unterscheidung durchzuführen vermag. Außerdem und als Folge dieser Diffamierung kommt es dann zu einer vollkommenen Verarmung, weil es das supponierte Absolute ja nur deswegen ist, weil es als das bestimmungs- und unterschiedslose deklariert worden ist, bei dem man sich im prägnanten Sinne nichts mehr denken kann. Und diese Kargheit der eigenen Würde wird dadurch jeglicher Kritik entzogen, daß diese Unbestimmtheit zum Eigentlichen deklariert wird, wenn beispielsweise von dem „Abstieg des Denkens in die Armut seines vorläufigen Wesens“ die Rede ist. Heidegger tut gerade so, als sei die von ihm propagierte Armut die Frucht einer heilsamen Askese, weil nur so das Denken sich einerseits von den oberflächlichen und fassadenhaften Bestimmungen reinigen könne, um dann ausgerechnet in der gedanklichen Ödnis dieser freiwilligen Zurückgezogenheit einer wie auch immer beschaffenen Fülle teilhaftig zu werden. Schade ist freilich, daß dieses Versprechen, gerade in der heilsamen Armut die Fülle zu entdecken ein frommer Wunsch bleiben muß, weil jeder Versuch, dieses Sein zu bestimmen es auf der einen Seite dem Begriff und auf der anderen Seite dem Seienden ausliefern würde. Also wird man mit Begriffen vertröstet, die nicht, wie es einzig sinnvoll wäre, als Begriffe durch ein anderes bestimmt sind, sondern mit begriffslosen Begriffen, die lediglich noch sich selbst bedeuten. Letztlich wird man mit Formeln abgespeist, die monoton hergebetet werden (können).

Überhaupt ist die Haltung verräterisch, mit der das alles vorgetragen wird. Es liegt dem Versprechen, auf den Grund des Seins vorzustoßen, das Prinzip der Vertröstung zugrunde. Wer immer und vor allem auch in der Politik davon redet, daß dasjenige, was versprochen wurde, irgendwann einmal eingelöst werden wird, hat dies entweder nie vorgehabt oder ist dazu, wie im Falle Heideggers, prinzipiell unvermögend. Dieses Versprechen soll also lediglich darüber hinweg täuschen, daß eine Erfüllung auf Grund der gemachten Voraussetzung ganz und gar ausgeschlossen ist. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der sprichwörtlichen Faktenhuberei der empirischen Soziologie, die ja auch stets behauptet, man müsse erst unendlich viel Material mittleren begrifflichen Niveaus und Umfangs zusammenlesen, bevor man dann irgendwann einmal möglicherweise zu der Voraussetzung einer gescheiten Theorie der Gesellschaft sich durchgeläutert habe. Eine Theorie der Gesellschaft ist aber etwas gänzlich anderes als das Aufhäufen unzähliger Einzelbeobachtungen und ihrer anschließenden Klassifikation. Mit diesem Ansatz kann der Begriff der Gesellschaft nicht nur nicht erreicht werden, sondern ist vom Ansatz her ausgeschlossen. Hier steht diesem Versprechen die schiere Unendlichkeit des empirischen Details im Weg. Dort die Armut des Seins, in die sich das Denken zurückbegeben müsse, um ausgerechnet dort der Fülle des Seins zu begegnen. Anders gesagt, diese unterschiedlichen Ausweichmanöver machen stets aus der Not eine Tugend, wenn aus Mängeln der Theorie, aus etwas Negativem eine höhere Form der Positivität verfertigt wird. Also hinsichtlich des Seins des Fundamentalontologen wird so getan, als ob die Abstraktheit, die die unumgehbare Aporie des Seins ausmacht in Wirklichkeit sich in größerer Nähe zu der wirklichen Fülle dessen befinde, was das Eigentliche ist.

Aber auch rein geschichtlich betrachtet geht Heidegger fehl. Denn sein Sein, das er philosophiehistorisch als das vorgedankliche Erste ausgibt, ist bereits das Ergebnis einer Reflexion und eines Abstraktionsvorganges. Genau genommen ist es sogar die Abstraktion schlechthin, eben weil sich bei dem Sein nichts Bestimmtes denken läßt. Die griechischen Denker wie beispielsweise und vor allem Parmenides hatten nicht zunächst die von Heidegger ihnen unterstellte pure Seinserfahrung, sondern das Sein, das sie meinten, war das Ergebnis des Nachdenkens über ein zunächst unverstandenes Seiendes, das sie mit Hilfe ihrer General-Abstraktion einer wie auch immer fragwürdigen Erklärung zuführen wollten. Also ist es genau anders herum, als Heidegger uns glauben machen will: Nicht ein ursprüngliches, intellektfreies Sein stand am Anfang, an dem sich dann seit Plato die verkopfte Philosophie vergangen hat, sondern eine als chaotisch erfahrene Welt sollte mit solchen Prinzipien, die der Intellekt sich hat einfallen lassen, in eine halbwegs plausible Ordnung überführt werden. Heidegger will also, kurz gesagt, eine Verfallsgeschichte konstruieren, und ist auch hierin dem religiösen Geschichtsverständnis kongenial: ein harmonischer, intellektfreier Urzustand wurde von einem durch den Intellekt herbeigeführten Abfall abgelöst, wofür der Mensch qua Mensch immer und in alle Ewigkeit in Sack und Asche zu gehen hat. Oder auch nicht, gesetzt er wird dem Sein hörig oder der Hirt des Seins …

Die Gedankenbestimmung des Seins eines Parmenides jedoch ist deswegen von so besonderes hohem Wert, weil mit ihr erstmals in der Geschichte des abendländischen Geistes ein Abstraktionsniveau erreicht worden ist, mit Hilfe dessen man sich konkrete Vorgänge in der Natur etwa verständlich und begreiflich machen kann. Diese Bestimmung des Gedankens ist das Ergebnis eines Gefühls der Insuffizienz oder der Anstoßnahme daran, daß sich die frühen Naturphilosophen zunächst mit einzelnen, mehr oder weniger willkürlich ausgedachten Prinzipien oder Stoffen auf der Welt eben nicht zurechtgefunden hatten. Diese Erklärungsversuche der Mannigfaltigkeit des Erscheinenden waren gedankenlos. Und diesem Mißstand hat in der Tat Parmenides abgeholfen, wenn er das Prinzip der Erklärung des Seienden im Sein, also in der Verallgemeinerung des Gedankens als solchem ausfindig machte. Daß ihm darüber die per Differenzierung zu bestimmenden Besonderheiten der Dinge oder das Unterscheiden abhanden gekommen sind, ist allerdings der sein abstraktes Denken charakterisierende Mangel, worauf dann Platon und Aristoteles in ihrer Kritik aufmerksam gemacht haben.

Denn daß es nachfolgend um die Konkretisierung dieser Abstraktion gegangen ist, also darum, jeweils bestimmte Gedanken zu denken, und damit die vermittelte Unmittelbarkeit des ersten, notwendig abstrakten Gedankens hinter sich zu lassen, ist den Bemühungen um bestimmte (ethische) Verallgemeinerungen eines Sokrates, Platon oder vor allem des Aristoteles zu entnehmen. Sie ruhten sich weder auf diesem gedankenleeren Abstraktionsniveau eines in seinem Anfang bereits zu seinem Ende gekommenen Nichts noch auf der wahrnehmungsgestützten und folglich nichts erklärenden Verdoppelung der Welt mit ihren vier vermeintlichen Elementen aus, sondern machten beide Einseitigkeiten – die des puren, gedankenarmen Empirismus und die des nichts denkenden, weil identitätslogisch ausgehöhlten Idealismus – zum Ausgangspunkt ihrer geistigen Arbeit, in der es um die Bestimmung der wirklichen Eigenarten irgendwelcher Gegenstände ging. Und in diesem Anliegen sind ihnen dann, ca. 2000 Jahre später, die Begründer der empirisch untermauerten mathematischen Naturwissenschaften in Gestalt Galileis, Keplers und Newtons etwa gefolgt. Damit ist auch noch einmal klargestellt, daß das Sein erstens nicht ein Unmittelbares, sondern ein Vermitteltes ist, und daß es zweitens nur insofern als ein Unmittelbares apostrophiert werden kann, als mit ihm die intellektuelle Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit der zunächst als fremd und feindlich erfahrenen Welt anhob.

Daß Parmenides dabei ein gedanklicher Fehler unterlaufen ist, soll hier noch extra vermerkt werden. Er ist nämlich folgendem Irrtum aufgesessen: Weil die unverstandene Mannigfaltigkeit immer mehr angewachsen war, hielt er es für notwendig, diesem schier unendlichen Material mit Hilfe eines Prinzips einen Erklärungsgrund für Alles unterzuschieben, und verkannte dabei, dass ein Erklärungsgrund, der alles erklären soll, eben darum nichts erklärt. Das Alles ist genau so viel oder so wenig wie das Nichts. Aber weil ihm genau dieser alles erklären sollende Grund vorschwebte, verfiel er auf das Sein, das, als die General-Abstraktion, nichts mehr erklärt, und exakt deswegen das gesuchte allgemeine Prinzip ist. Nur: Es ist als Unmittelbares ein ganz und gar Vermitteltes, was Heidegger nie hat wahrhaben wollen, und es leistet genau das nicht, was es leisten sollte: Alles zu erklären. Erklärungswert haben ausnahmslos bestimmte Gedanken, die an der Bestimmtheit das Kriterium ihrer Überprüfbarkeit besitzen. Umgekehrt folgt daraus: Wo es kein Kriterium gibt, ist der argumentativen Überprüfbarkeit der Boden entzogen worden.

Und darin kommen Parmenides und Heidegger dann doch wieder überein, daß ihr Prinzip nichts erklären kann, auch wenn der eine mit ihm, als purer Abstraktion, alles erklärt haben wollte, der andere es vor aller Erklärung als das Voraussetzungslos-Ursprüngliche inthronisiert hatte, dem man sich nur, wie dem Göttlichen, in der ahnenden und begeisterten Schau des eingeweihten Sehers in Form gestammelter Archaismen und Neologismen nähern kann, indem man es auf gar keinen Fall soll rational benennen dürfen. Anders gesagt, der eine kreiert aus dem Bedürfnis einer dem Wandel nicht mehr unterworfenen Erklärung eine oberste Abstraktion, die, weil sie von allem bestimmten Seienden absieht, nichts anderes mehr ist als der reine Gedanke des Seins oder pures Denken. Und der andere operiert zwar mit derselben Abstraktion und will nur nicht zugeben, daß sie eine solche ist, weil sie dadurch ihrer unterstellten und gesollten Ursprünglichkeit verlustig ginge und als ein Vermittlungsprodukt des Denkens in Erscheinung träte, womit der Anspruch auf das Ursprüngliche und nicht durch den Intellekt zerredete blamiert wäre.

Und in dieser Aporie, einerseits das Unsagbare nicht sagen zu können, dies aber bei Strafe der Sprachlosigkeit doch immer wieder tun zu müssen, indem im Zweifelsfall nur Tautologien oder Metaphern im geistfeindlichen Angebot sind, besteht das Spezifikum der Heideggerschen Philosophie für Eingeweihte, die sich auf ihren Ausstieg in die Gedankenlosigkeit oder den Abstieg in die geistige Armut auch noch wer weiß wie viel zugute halten. Denn, um es noch einmal zu sagen, weil das Sein weder das Seiende noch eine, und sei es auch gedankenlose, gedankliche Bestimmung und Abstraktion sein soll, ausgedrückt in der Copula oder dem Satzteilverbinder jeglichen logischen Urteils, bleibt lediglich das Konstrukt eines Seins übrig, von dem es buchstäblich nichts mehr zu sagen gibt, als daß es es selbst sei. Denn, wie sagt der Meister in der Schrift „Brief über den ‚Humanismus‘“? „Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“ Eine explizite Nicht-Aussage als Aussage … So etwas, eine contradictio in adjecto, muß man – voluntaristisch – einleuchtend finden wollen. Wer dem nicht folgen kann, wird der Seinsvergessenheit geziehen, was auch nicht weiter schlimm ist, da es ja, der Tautologie sei Dank, nichts zu begreifen gibt.

Dieses Denken jedenfalls steht der traditionellen Bestimmung des Geredes gar nicht so fern, als es Begriffe verwendet, die sich der denkenden Erfüllung verweigern, indem die einzige Bestimmtheit, die es zu bieten vermag, das Unbestimmte des gänzlich Abstrakten und Leeren ist. Das absolut Unausdrückbare, weil allen Prädikaten Entrückte wird bei Heidegger als Sein zum ens realissimum. Und hierin behält Hegel recht, wenn er von dieser Abstraktion zu Beginn seiner Logik demonstriert, daß es nicht mehr oder weniger als das Nichts ist. Umgekehrt aber bezichtigt es gerade dasjenige Denken der Niedrigkeit und der Alltäglichkeit, das es sich zur Aufgabe macht, daß sein Reden tatsächlich bestimmten Gedanken zum Ausdruck verhilft. Und weil dies die Stoßrichtung des Meßkircher Philosophen ist, ist sein Denken ein ganz und gar unwissenschaftliches, wenn es die unbedingte Nihilität als Positivum zu Gehör bringt. Denn um es ein letztes Mal zu sagen: Sein Nicht-Denken-Können des Seins resultiert daraus, daß es in der Unbestimmtheit, die es verlangt, sich gar nicht denken läßt. Und dies ist der deutlichste Hinweis auf den Antiintellektualismus dieser Nichtwissenschaft, was, dies die Ironie der Geschichte, Heidegger der letzte wäre zu bestreiten.

Coulter, Gerry: After ‚Disciplined‘ Thought: Baudrillard and Poetic Resolution, 11.03.09

My impulse comes from a radical temperament which has more in common with poetry (Baudrillard, 1993:131).

I. Introduction

During the past twenty-five years concepts such as Truth, Meaning, and the Real (the capital letters represent universality), have been subjected to radical criticisms. Today many students of society are only comfortable with the terms truth, meaning, and the real (lower case) to represent an understanding that all knowledge exist along local and restricted horizons – as partial objects (see, for example, Baudrillard, 1994:108). Goethe understood, two centuries ago, that the self is the only criteria for truth we will ever know. Between Goethe and today stand a phalanx of „disciplined“ knowledge known as the social sciences. Leaders in the various fields who constitute the „police“ of each social science often deploy so called „scholarly journals“ to monitor and regulate discourse in their field. Sometimes, in recent years, a new term „multidisciplinarity“ has not necessarily represented a challenge to the police but merely operated as a kind of academic INTERPOL. We are able today to once again take seriously Goethe’s insight because open-access journals (such as AVINUS Magazine) work to frustrate the academic police while focusing on a very high quality of discourse. Among some of the more liberating aspects of the present is that it is now possible to turn to non-traditional approaches and methods of inquiry such as photography, film, visual culture, art, and poetry as inspirations for social thought. Few have accomplished this in terms of the poetic with the fierce commitment to radicallity than Jean Baudrillard.

In this essay I point to Baudrillard’s effort to seek a poetic, rather than empirical, resolution of the world. Specifically, I argue that such an approach opens new ways of non-disciplined thinking which are more indebted to art, literature, and poetry than to any traditional school or methodology. From Baudrillard I have learned that what is at stake is the future of radical thought as it exists beyond all politics. To enter into the poetic is to leave the world of politics behind. It is a world of theory where the very act of writing itself is a form of politics. It is not necessary that the reader of this paper has read Baudrillard although it may stimulate a greater interest in doing so. I offer my Baudrillard-inspired assessment of the place of the poetic in inquiry today to those who accept that we do indeed have much to learn from photographers, poets, and artists of all kinds.

II. Poetry As A Way Out of Voluntary Servitude

Theory is a core issue for thoughtful inquiry today. For Baudrillard „theory could even be poetry“ (1990:24). I have never known anyone who needed the poetic to live and write as much as he did. Baudrillard’s world was our world – one that frequently drifts into delirium. In a delirious world one strategy is to adopt a delirious point of view – one without homage to any principle of Truth or causality (2000:68). Baudrillard was very clear about not being a poet but he understood that poems, parables, stories, and fables (fiction) are as „real“ as anything else in this world. It was his deep respect and appreciation for these forms which allowed him to grant a poetic singularity to events and to subject them to powerful challenges which often ended in radical uncertainty (Ibid.).

Often a fable can be used to illustrate a point. I wonder if Baudrillard ever did so more poetically than in his use of „Death in Samarkand“ to illustrate the distractions that can be caused by even a single sign:

Consider the story of the soldier who meets Death at a crossing of the marketplace, and he believes he saw him make a menacing gesture in his direction. He rushes to the king’s palace and asks the king for his best horse in order that he might flee during the night far from Death, as far as Samarkand. Upon which the king summons Death to the palace and reproaches him for having frightened one of his best servants. ‚I didn’t mean to frighten him. It was just that I was surprised to see this soldier here, when we had a rendez-vous tomorrow in Samarkand‘ (1990d:72).

That one (or an entire society) can run towards one’s fate by attempting to avoid it is the kind of poetic irony that informs this kind of thinking. In Baudrillard we find references to Mandeville’s Fable of the Bees in at least nine of his books (1983; 1990c; 1993b; 1993c; 1995; 1998; 2001b; 2001c; 2005b). This fable is brought forward into our own time [Mandeville wrote it in the early 18th century] as a poetic way of understanding that corruption is vital to a society’s success – „the splendor of a society depends on its vices“ (1993b:102). This fable goes some distance in explaining America today. Baudrillard also draws on the fable of The Sorcerers Apprentice (1997b:24); Guido Ceronetti’s Incest Fable (1993b and 2001:93); and several fables from Borges: The Mirror People (1996:148); The Lottery in Babylon (1990d:150; 1996:91; 2001:93); and The Map and the Territory (1994:1; 1996:47; 2000:63). Such fables become poetic mirrors for Baudrillard about his own time. In the case of Borges‘ The Map and the Territory he says we need to turn this fable upside down:

We live as if inside Borges’s fable of the map and the territory; in this story nothing is left but pieces of the map scattered throughout the empty space of the territory. …Today there is nothing left but a map (the virtual abstraction of the territory), and on this map some fragments of the real are still floating and drifting (2000:63).

Also, at several junctures, Baudrillard cites Arthur C. Clarke’s parable The Nine Billion Names of God (1990c; 1993c; 1996; 1996b; and 1997b) to refer to our current circumstance. In it a community of Tibetan monks have been listing the many names of God for centuries. Growing tired they call in experts from IBM and the computers finish the job in a month. What the technicians did not know was the prophecy that once the nine billion names of God had been recorded the world would end. As they come down from the mountain the stars in the sky begin to disappear one by one (see Baudrillard, 2000:42). Fables such as this poetically point to the risks presented by techno-science.

Fiction (especially novels) also plays an enormous role in Baudrillard’s poetic thinking. He writes of the fiction of Western values with a poetic twist – arguing that it is not the presence of Western values that people outside of the West detest – as much as the West’s absence of values (2002b:65). Even the superpower America is reduced to a powerful fiction (1988:95, 1993:132) and he is never more poetic than in his assessment of Disneyland as a „deterrence machine for the rejuvenation of the fiction of reality“ (1994:13) because Disneyland exists to hide that all of „real“ America is Disneyland (Ibid.:12). America is his fiction about a powerful fiction – the land of „just as it is“ (1988:28) and „the last remaining primitive society“ – „the primitive society of the future“ (1988:7). Many Americans, especially the men of the Right, hated Baudrillard’s poetic and fictive America. It is interesting how they soon gave the world George W. Bush and a kind of „Baud-reality“ settled over international events. It is important also to remember that Baudrillard was not a proponent of such events, rather, he found them intolerable (1987b:107).

Baudrillard’s poetic sensibility led him to challenge us to probe the course of events and their possible meanings in non-traditional ways. This meant that an event like that which took place in New York on September 11, 2001 can be understood as peculiarly affirming of his poetic writing of the world [he posited, as an explanation of why the towers toppled, the suggestion that the twin towers may have committed suicide in response to the attacks of the suicide planes (2003:43)]. This is difficult poetry for many to accept but we should remember that its author was convinced that he lived in a time when „everything in the moral, political and philosophical spheres is heading towards the lowest common denominator“ (1998b:103). Perhaps the resonance of consternation his thought evoked was just loud enough to penetrate the nearly deafening cacophony of banal [mediated] explanations of the event.

Baudrillard’s poetic ear could discern the sounds of the „background noise of the universe“ (1996:2) and the „silent laugher of flowers, grass, plants and forest“ (2002:1). These sounds have been heard by almost no other students of society since the inception of modernity yet novelists, artists, and poets hear them everyday. Baudrillard’s writing demands of us a poetic sensibility and as this sensibility has been systematically denied by almost every stage of our education.

For the education systems of modernity it is difficult to imagine a more striking case of system failure than Baudrillard. His writings represent a system’s failure to integrate him despite the ruthless, comprehensive and compulsory regimes of education and socialization he, like each of us, face. Baudrillard is also an example of the kind of thinker who understands the irony of community and that the biggest battle any of us face, in being ourselves, is against any collective to which we belong. As a theorist he is closer to playwrights like Samuel Beckett or Harold Pinter who understand that each person is fundamentally at odds with the universe. This perspective, which is at the core of his poetic way of seeing, imbued Baudrillard with a profound suspicion of the real. In a time in which Truth „no longer affords a solution“… „perhaps“, says Baudrillard, „we can aim at a poetic resolution of the world“ (2000:68).

Poetic resolution can be a strategy of resistance to systematization while leaving open the possibility of radical thought. Radical thought is best practiced as a form of academic agnosticism – the notion that it is better to have things in which not to believe, than to believe. This includes raising questions concerning, for example, what kind of future people desire when they say they wish to end terrorism. To them Baudrillard asks „what kind of state would be capable of dissuading and annihilating all terrorism in the bud…? It would have to arm itself with such terrorism and generalize terror on every level“ (1990c:22).

This kind of assertion is very close to what we often refer to as poetic justice – the reversible. It forces us to look beyond current fears to the implications of our thoughts and actions. In a world which so often disappoints the young, a poetic approach is a far more generous gift to lay at their feet than is an empirical methodology. This is also one reason why so many traditional „social scientists“ loathe Baudrillard and seek to protect their students from him.

To adopt a poetic view of the world one must renounce empiricism. A poetic approach is much closer to metaphysics than it is to pragmatic epistemologies. In our time of the proliferation of everything, how many sense, as does Baudrillard, the poetic notion that „power emerges from absence“? (1997:9)

Baudrillard’s writing takes on the poetic quality of „slimming things down and reducing stocks“ – „to escape fullness you have to create voids between spaces so that there can be collisions and short-circuits“ (1993:38). He understood that poetry exists today everywhere but in poetry. The challenge is to find poetic power – the poetic function in its primal state“ (Ibid.) elsewhere – such as in theoretical writing or in the arts, which have, arguably, had a greater influence on theory in recent years than have the empirical sciences (see Coulter, 2008). If writing is to aim at a total resolution of the world then why should this not be a poetic resolution? (1996:100) It is for this reason that the kinds of writing which are obsessed with meaning (ideological and moral), are so unconcerned with the act of writing which, for Baudrillard, involves „the poetic, ironic, allusive force of language, …the juggling with meaning“ (Ibid.:103). Baudrillard believes that art [and for him theory is an art form] ought to be concerned with illusion – otherwise all it does is mirror the world around it and therefore serves no purpose. As an art, writing is concerned with the „poetic transfiguration of the world“ (1997:140). This could be very playful as in his poetic „fate-based unrealist analysis“ of the death of Diana:

On the one hand, if we assess all that would have had not to have happened for the event not to take place, then quite clearly it could not but occur. There would have to have been no Pont de l’Alma, and hence no Battle of the Alma. There would have had to have been no Mercedes, and hence no German car company whose founder had a daughter called Mercedes. No Dodi and no Ritz, nor all the wealth of the Arab princes and the historical rivalry with the British. The British Empire itself would have had to have been wiped from history. So everything combines, a contrario and in absentia, to demonstrate the urgent necessity of this death. The event therefore, is itself unreal, since it is made up of all that should not have taken place for it not to occur. And, as a result, thanks to all those negative probabilities, it produces and incalculable effect. (Baudrillard, 2001:136-37).

This passage demonstrates Baudrillard’s more mischievous understanding of his art – the art of writing (which is at the core of the art of theory), to „confront objects with the absurdity of their function, in a poetic unreality“ (1997b:13). Here the myth of linearity is exposed by its inversion. This includes a certain poetic confrontation with the art of writing theory itself as in this exquisite passage on human experience:

Everyday experience falls like snow. Immaterial, crystalline and microscopic, it enshrouds all the features of the landscape. It absorbs sounds, the resonance of thoughts and events; the wind sweeps across it sometimes with unexpected violence and it gives off an inner light, a malign fluorescence which bathes all forms in crepuscular indistinctness. Watching time snow down, ideas snow down, watching the silence of some aurora borealis light up, giving in to the vertigo of enshrouding and whiteness (1990:59).

Or this poetic passage written on the journey home in his America:

At 30,000 feet and 600 miles per hour, I have beneath me the ice-flows of Greenland, the Indes Galantes in my earphones, Catherine Deneuve on the screen, and an old man asleep on my lap. ‚Yes, I feel all the violence of love…‘ sings the sublime voice, from one time zone to the next. The people in the plane are asleep. Speed knows nothing of the violence of love. Between one night and the next, the one we came from and the one we shall land in, there will have been only four hours of daylight. But the sublime voice, the voice of insomnia travels even more quickly. It moves through the freezing, trans-oceanic atmosphere, runs along the long lashes of the actress, along the horizon, violet where the sun is rising, as we fly along in our warm coffin of a jet, and finally fades away somewhere off the coast of Iceland (1988:24).

A key aspect of the enigmatic quality of Baudrillard’s writing then is to be found in its poetic nature – he was a theorist who does not sacrifice the art of writing to the concepts he wrote about – if he did he would have produced merely sociology and therein reduced poetic enigmas to meaning. Poetry is a synonym for fiction and the fabulous. „Theory is“, after all, „never so fine as when it takes the form of a fiction or a fable“ (2006:11). The closing down of systemic Meaning opens new poetic ones (2005:71). The expression of the poetic depends on language and the role of language (recalling Lacan) „is to stand in for meaning“ which is eternally absent (1990b:6).

Baudrillard poetically wondered if we really want to have to choose between meaning and non-meaning today. He argued that we do not want this choice because while meaning’s absence is intolerable „it would be just as intolerable to see the world assume a definitive meaning“ (2001:128). This would be the end of thought, poetry and writing – a world where we could look up solutions in a book (a Bible, a Koran, etc.,) or a computer model. The computer model is the goal of every techno-science of our time which will ultimately challenge the human to the core:

If we discover that not everything can be cloned, simulated, programmed, genetically and neurologically managed, then whatever survives could be truly called „human“: some inalienable and indestructible human quality could finally be identified. Of course, there is always the risk, in this experimental adventure, that nothing will pass the test – that the human will be permanently eradicated (2000:15-16).

If Baudrillard preferred fiction to science it may well have been because fiction holds a greater power in the mind of one who’s hopes are fatal. „Night does not fall, objects secrete it at the end of day when, in their tiredness, they exile themselves into their silence“ (1990b:149).

One of the challenges faced by those inclined toward poetic resolution is to allow the poetic aspect of things to flow through him or her, just as it is the task of the painter to find the poetic light given off by objects from within (no such light is scientifically or empirically possible but all good painters and poets know it is there). For Baudrillard, the poetic sensibility also defines itself in an awareness of contradiction and reversibility – „when things contradict their very reality – this too is poetic“ (1996:59). The poetic is central to that which remains fundamentally radical in Baudrillard. Radical thought for him is a form of constant challenge – even to one’s most cherished ideas and sources. It is why he could never subject his writing to the limits of a politics.

The poetic (poems, fables, fiction, stories, parables) is for Baudrillard part of his deep appreciation of ambivalence and ambiguity (1993c:215) and is important to how he copes with the extermination of value (Ibid.:198). We do not discover anything in poetic enjoyment and this is a vital part of what makes the poetic a radical experience (Ibid.:208). The poetic involves an „insurrection of a language against its own laws“ (Ibid.:198) and it allows us to resist the „repressive interiorized space of language“ (Ibid.:234), providing the basis for the „mutual volitization of the status of the thing and discourse“ (Ibid.:235). He finds no room for poetry in psychoanalysis, in ideology, nor in morality – these are „brute forms of writing burdened with the concept“ (Ibid.:223). Poetry then is the place of the „redistribution of symbolic exchange in the very heart of words“ (Ibid.:205) and the „site of the extermination of value and the law“ (Ibid.:195).

His poetic approach allowed Baudrillard (who studied under Henri Lefebvre and Roland Barthes), eventually taking his degree and teaching sociology, to avoid the voluntary servitude that so many subject themselves to in the many non-poetic approaches to inquiry (empirical, politically motivated, techno-scientific and so on). As such he is a very important case in the development of an alternative approach to inquiry – one in which creativity and writing were powerful and central. Baudrillard’s effort to resolve the world poetically is not for everyone. For those who feel its seduction it is important to press on to assess the implications of this thought aimed at a poetic resolution of the world. Others may consider leaving this paper at this point for an immediate return to politics and/or traditional academe.

III. Hope In System Failure

From the passages cited above we see that Baudrillard managed to bring the explosive power of language to poetic resolution. To the end he remained suspicious of all efforts to perfect the world as he did efforts to explain it with certainty. On poetry he said: „the words refer to each other, creating a pure event, in the meantime they have captured a fragment of the world, even if they have no identifiable referent from which a practical instruction can be drawn“ (2005b:73). This is not a kind of thinking that is in the business of making the world more certain or more knowable:

Here, however, lies the task of philosophical thought: to go to the limit of hypotheses and processes, even if they are catastrophic. The only justification for thinking and writing is that it accelerates these terminal processes. Here, beyond the discourse of truth, resides the poetic and enigmatic value of thinking. For, facing a world that is unintelligible and enigmatic, our task is clear: we must make that world even more unintelligible, even more enigmatic (2000:83).

Baudrillard was somewhat melancholic but he was no Romantic. He spent a good deal of his time writing his frustrations with his times. He was intensely frustrated by what we gave up in „cancelling our metaphysical contract and making another more perilous one with things“ (2001b:36; see also 1983b:149). His poetic strategy against consumerism, militarism, globalism, and nationalism, was to have things in which not to believe as opposed to things in which to believe. Surrounded as we are today by fundamentalists such as George W. Bush and Osama bin Laden this is not a bad strategy. For Baudrillard (and this is also part of his early departure from Marxism), the death of god is the end of transcendence.

The end of transcendence and responsibility to another world beyond our own meant that transcendence became secular and the effort to make the world transparent and operational replaced it. For Baudrillard, the death of god is the root of modernities turn to techno-perfection as against earlier forms of spiritual perfection. In modernity the understanding of good and evil become split – and our efforts go into making the world better only to see it go from bad to worse (2004:105). Irony comes to the fore in modernity and thoughtful inquiry, when it turns to empiricism, loses sight of irony investing itself in system support. The attempt to perfect this world [through techno-science] will almost certainly lead to systemic collapse – Baudrillard’s fatal hope – and his fatal optimism in reversibility.

Baudrillard was disappointed but no thinker who writes does so without hope. What we get from Baudrillard is a fatal hope – an optimism about the reversibility of systems. Following the current period of the proliferation of information, security, and technology (the era of the perfect crime), Baudrillard hopes for a collapse. Baudrillard, living in extreme times, takes the problematic to a radical conclusion as we no longer have the same kind of hope in a distant future that someone living before the contemporary could more easily hold. Such is the uncertainty of our times which are invested in Baudrillard’s fatal hope of systemic collapse. For him the alternative to collapse was much worse – that the system would succeed resulting in a genuinely brave new world glittering with advanced technologies. In such a world we would live out our lives in total security where computers would generate the models of lives which would become as predictable as the weather. This would be a world in which evil, all negative events, disease, and uncertainty are removed. But this too will be a world of [distilled and slow] death for an adaptive and thoughtful species. Against such a world Baudrillard saw the poetic possibility of collapse. Thought (and writing), in this view, seeks poetic resolution to an unsatisfactory, uncertain, and ultimately (he hoped) unknowable world. The poetic function of thought and writing then is based on the belief that empiricism and the techno-rational societies it contributes to, would fail. Of course this failure can only be viewed as poetic from a Baudrillardian point of view as his was the poetics of reversion.

IV. Radical Optimism

…why not take the view that the fundamental rule is that of evil, and that any happy event throws itself into question? Is it not true optimism to consider the world a fundamentally negative event, with many happy exceptions? By contrast, does not true pessimism consist in viewing the world as fundamentally good, leaving the slightest accident, to make us despair of that vision? Such is the rule of a radical optimism, we must take evil as the basic rule, (Baudrillard, 1997:138).

Herodotus was the first we know to have considered reversibility seriously in his memory of those who were „great long ago“ but who have now „become small“ (Herodotus, 1998: Book I, v). We have called this aspect of human passage many things. Some call it poetic justice (such as the fall of great empires into small satellites of new empires); others have referred to it as the turning of the wheel of fortune. „Human happiness never remains long in the same place“ (Ibid.) For Baudrillard it is part of the most poetic thing we know – that which comes as close to justice as anything we ever experience as humans: reversibility – the poetic reversibility of one thing into another (1993c:220).

For Baudrillard reversibility is the fundamental rule (2005:41) but this does not imply a determinism in his thought – indeed, reversibility is an absolute weapon against determinism (1990c:82). Baudrillard notes that the reversibility of things, which is an ironic form today, does not entail a romantic viewpoint. Rather, it means that, for us: „a strange game is being played“ and we do not know all the rules of this game – in our time, indifference has become a strategic terrain (1993:175).

The poetic provided Baudrillard with the germ of an idea that might be his single greatest thought: reversibility. It is central to what Baudrillard calls „objective irony“ – the „strong probability, verging on a certainty, that systems will be undone by their own systematicity“ (2000:78; see also Coulter, 2004). For Baudrillard this applies to both technical and human systems (political, social, economic). The more a system advances toward its perfection, the more it is prone to deconstruct itself (Ibid.).

One of Baudrillard’s more poetic examples of this, for technical systems, is the computer virus: „the tiniest one is enough to wreck the credibility of computer systems, which is not without its funny side“ (2002b:6). This is extended by Baudrillard into his understanding of globalization and the New World Order as reversible: „the more the hegemony of the global consensus is reinforced, the greater the risk, or chances it will collapse“ (1995:86). That for Baudrillard would be the most poetic resolution of all: „all the philosophies of modernity will appear naïve when compared with the natural reversibility of the world“ (1996:10).

V. Conclusion

Philosophy would like to transform the enigma of the world into a philosophical question, but the enigma leaves no room for any question… the enigma of the world remains total (1996b:20).

The poetic plays a significant part in Baudrillard’s strategy to bring resolution, through thought and writing, to the unsatisfactory times in which he finds himself. Along with fables, countless literary and artistic references, poetry is Baudrillard’s great inspiration in his struggle against the forces of integral reality (2004:5). In his writing Baudrillard felt a radical opposition between a poetic, singular configuration, linked to the metamorphosis of forms, as against the kind of virtual reality that is prevalent today. In a poetic approach it is the forms which become – language as the passage of forms – a kind of inhabited void (2004:84). Poetic resolution – and nothing is more poetic for Baudrillard than reversibility – was a way out of the restrictions of the social sciences and political commitments to „improving“ our world until it was a technoscientific nightmare.

As we seek new approaches to inquiry we would do well to remember that we do not necessarily have to seek Meaning or Truth – but a more poetic way of living, writing and thinking. Beyond discourses of Truth, Baudrillard found his own way to make the world, which came to him as enigmatic and unintelligible – a little more enigmatic, a little more unintelligible. What he left to us was a gift far more precious than Truth – he pointed to its absence and in doing so he took us beyond the limits of established forms of inquiry. If he reminds us of Goethe it is because his approach valued Goethe’s insight. From Baudrillard we learn the poetry of accepting a world that is given to us as enigmatic and unintelligible and to push it to poetic, not empirical, resolution. If we are to avoid both of the twin nightmares of total systemic collapse and total systemic success new forms of inquiry have a lot at stake in poetic resolution of the kind Baudrillard practiced.

Baudrillard understood the power of language as few have. Writing for him was a precious „singularity“, „a resistance to real time“, „something that does not conform“, „an act of resistance“, the „invention of an antagonistic world“ rather than a „defence of a world that might have existed“ (1998b:32 ff.). Writing could never be sacrificed to politics and intellectuals should speak for themselves – not for others as it always leads to condescension (1993:79). He understood from the lived experience of his poetic perspective that theory (as poetry, fiction and fable) precedes the world. „Things appear to us only through the meaning we have given them“ (2004:91). For Baudrillard this meant seeking a poetic resolution of the world through challenge with an eye on system reversion. It kept his wisdom and writing joyful to the end despite everything. It also helped him to attain escape velocity from his contemporaries (especially Foucault) and propelled him beyond politics to a more joyous way of seeing. I offer it as one way of approaching Avinus Magazine as it takes its place on the world stage of ideas and discourse. It is the kind of thinking and writing (radical thought) that does not conform to the kind of inquiry which merely contributes to the building of an uninhabitable world. Baudrillard pointed to a poetic approach which may contribute to vastly different ways of seeing and knowing so long as we remember that truth and meaning exist only partially, along our local and restricted horizon. This is the kind of „undisciplined“ thought in which the likes of Goethe was able to participate. It is the basis of a respectful and challenging approach to the multi-vocality of human discourse and inquiry. For the first time in two centuries, the established academic police actually do have something to fear. One of the ways in which Avinus may thrive is in making their job all the more difficult.

Gerry Coulter’s essay „Jean Baudrillard and the Definitive Ambivalence of Gaming“ appeared in the SAGE journal Games and Culture (Volume 2, Number 4, December, 2007:358-365). His recent article: „Baudrillard and Hölderlin and Poetic Resolution“, in Nebula, Volume 5, Number 4, December 2008; An essay „A Way of Proceeding: Joseph Beuys, the Epistemological Break, and Radical Thought Today“ appears in Kritikos: A Journal of Postmodern Cultural Sound, Text, and Image (May – June, 2008): http://intertheory.org/gcoulter.htm; and his quarterly column for Euro Art (On-line) Magazine: „Kees van Dongen and the Power of Seduction“ (Spring 2008) is available at: http://www.euroartmagazine.com/new/?issue=13=1&content=156. Dr. Coulter’s teaching has been recognized on numerous occasions most recently by Bishop’s University’s highest award for teaching – the William and Nancy Turner Prize.

References

Enderle, Rubens: Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx, 23.10.08

Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx[1]

von Rubens Enderle

I

Bereits wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Grundlinien der Philosophie des Rechts[2] im Jahr 1820 kam der Hegelschen Staatstheorie für die politische Debatte innerhalb Deutschlands eine erhebliche Bedeutung zu. Die in zwei Gruppen geteilten Schüler Hegels – die Jung- bzw. Linkshegelianer und die Alt- bzw. Rechtshegelianer – entfesselten einen aufgeregten Streit um die politisch-theoretische Erbschaft des Meisters. Es handelte sich hauptsächlich um die Interpretation des Themas der Versöhnung des Vernünftigen mit dem Wirklichen. Für die Junghegelianer ging es um den Beweis, dass das Wirkliche nicht unmittelbar mit dem empirisch-positiv Bestehenden identifiziert werden dürfe, sondern durch die Arbeit des Negativen vermittelt auf eine höhere Stufe des Begriffs gehoben werden müsse. Damit verfolgten die Junghegelianer die – theoretische – Absicht, der Hegelschen Staatstheorie ihren humanistischen, emanzipatorischen Inhalt zurückzugeben. Praktisch bemühten sie sich als journalistisch Tätige um die Verwirklichung dieses vernünftig-begrifflichen Inhalts: Sie propagierten die Überführung der nach wie vor absolutistischen preußischen Monarchie in eine zumindest konstitutionelle Monarchie, wobei sie zunächst nicht offen demokratische Positionen vertraten. In diesem Bestreben sind sie seit 1841 noch bestärkt worden, als sich nämlich herausstellte, dass die von Friedrich Wilhelm IV. initiierte Verfassungsreform allenfalls ein halbherziger Kompromiss war. Die konstitutionelle Monarchie war nicht einmal ein Ausgleich zwischen den Interessen des (Feudal-) Adels und den Reformkräften, so dass die Junghegelianer sich gedrängt sahen, der Hegelschen Staatstheorie zugunsten einer Propagierung demokratischen Gedankenguts den Rücken zu kehren.

Obwohl Marx dem junghegelianischen Denken damals nahe stand, gab es doch auch gravierende Differenzen. Anfang 1841, anläßlich seiner Doktorarbeit, denunzierte er die Kritiker Hegels als „moralisch“ und „unphilosophisch“, wenn sie sich polemisch über Hegels sogenannte „Akkommodation“ äußerten. Sie vertraten irrtümlicherweise die Ansicht, Hegel habe sich aus taktischen Gründen und Opportunitätsrücksichten den politischen Gegebenheiten angepaßt und vergaßen darüber, dass Hegel – philosophisch gesprochen – in einem „unmittelbaren, substantialen, sie (hingegen, R.E.) in (einem, R.E.) reflectirten Verhältniß zu seinem System standen“. Anders gesagt, Hegels Fehler war der seines Systems und eben keine persönlich motivierte Vorsichtsmaßregel eines Ängstlichen. Eine wirkliche philosophische Kritik hätte Marx zufolge also folgendes zu leisten gehabt: zu demonstrieren, dass „die Möglichkeit dieser scheinbaren Accomodationen in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Princips selber ihre innerste Wurzel hat“, oder, noch prononcierter, dass die als eigentlich systemfremd beanstandete Akkommodation ans Bestehende das Prinzip der Philosophie Hegels sei. Also habe man die innerliche Entwicklung von Hegels Denken, seine ureigene Logik offenzulegen, die, metaphorisch gesprochen, „bis an deren äußerste Peripherie sein eigenstes geistiges Herzblut hinpulsirte“. Diese Rekonstruktion könne aber, ihrer Befangenheit wegen, keine moralisch fundierte Kritik leisten, sondern bloß eine, die am „Fortschritt des Wissens“ ihr Maß habe; die Rede ist von immanenter Kritik. „Es wird nicht das particulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform construirt, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben, und damit zugleich darüber hinausgegangen“.[3] Anstelle des mißbilligenden Deutens auf sogenannte Unzulänglichkeiten Hegelschen Denkens habe die wahre Kritik sie aus ihrem Grund heraus zu begreifen und damit an ihnen selbst als unwahr zu widerlegen.

Diese erste Marxsche Erklärung des Begriffs der „philosophischen Kritik“ ist 1842 in einen Artikel der Rheinischen Zeitung wiederaufgenommen und weiter entwickelt worden. In einer Art Glosse gegen die Historische Rechtsschule und ihren Vorläufer Gustav Hugo demonstrierte Marx den in Wahrheit romantischen Hintergrund von Hugos vermeintlichem Kantianismus und sprach in diesem Zusammenhang von einem „Betrug“. Darüber hinaus verglich er die „gemeine Skepsis“ der Historischen Rechtsschule mit der „Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts“, d.h. mit der skeptischen Note der durch Kant beeinflußten und ins Subjektive modifizierten Aufklärungsphilosophie. Während die Skepsis der Historischen Rechtsschule den Schein von Rationalität nur deswegen kritisiert, um sich dem bloß Positiven nur umso bedingungsloser auszuliefern, sucht die aufgeklärte Kritik das hinter diesem Schein verborgene Wesen sichtbar werden zu lassen. Dieses Wesen gibt sich dem geschichtlich geübten Blick als die „Loslösung des neuen Geistes von alten Formen, die nicht mehr werth und nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“, zu erkennen. Hier kann man einerseits mutmaßen, dass es sich um eine hegelianisierende Interpretation der Kantischen praktischen Philosophie handelt. Allerdings sollte man sich andererseits nichts vormachen: Marx vertritt keinesfalls einen Moralismus, dessen Spezifikum es ist, die Historie an noch dazu apriorischen Sollensmomenten zu blamieren. Nicht um eine abstrakte Idee der Vernunft, nicht um das Kantische Noumenon eines subjektiven Geistes geht es ihm, sondern darum, den Begriff der in sich notwendigen geschichtlichen Entwicklung zu erfassen. Die Skepsis des 18. Jahrhunderts zertrümmerte bloß das Zertrümmerte, verwarf das ohnehin Verworfene. Der „neue Geist“ hingegen befreite sich von den „alten Formen, die dank der eigenen Entwicklung dieses Geistes nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“. Kantisch an diesem durch Hegel vermittelten Standpunkt ist allenfalls noch die insgesamt aufklärerisch-kritische Grundeinstellung bei Marx. Ohne eine auch praktisch werdende Kritik gibt das „Verworfene“ dem „neuen Leben“ keinen Raum, der „neue Geist“ bleibt an die „alten Formen“ gebunden und man wird Zeuge der „Verfaulung“ einer Welt, die sich in diesem Zerfallsprozess „selbst genießt“.[4] Die Kritik, so läßt sich zusammenfassend sagen, ist keine, die die Welt an einer externen Rationalität blamieren möchte, sondern sie selbst ist nichts weiter als eine rationale Betrachtung geschichtlicher Abläufe, sozusagen deren Selbstbewusstwerden, wodurch, so die Unterstellung, der Boden bereitet wird für die Verwirklichung wahrer Rationalität.

In dem Manuskript Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie (ZKhR) und dem Briefwechsel von 1843, der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde, gibt Marx der Idee der „philosophischen Kritik“ ihre endgültige Gestalt. In der ZKhR kontrastiert er sie sowohl dem spekulativen Dogmatismus Hegels als auch dem „entgegengesetzten, dogmatischen Irrthum“ der „vulgären Kritik“, d.h. derjenigen der Berliner Gruppe der Freien, deren wichtigste Mitglieder Bruno Bauer und Max Stirner waren. Die „vulgäre Kritik“ nimmt in Hinblick auf die empirische Wirklichkeit eine arrogante Haltung ein. Sie befaßt sich mit den Widersprüchen des Bestehenden nur deswegen, um, in intellektuellem Hochmut, alles Reale und die in ihr beheimatete menschlich-sinnliche Praxis inklusive der sogenannten „Masse“ verachten zu können. Beschäftigt sich die „vulgäre Kritik“ beispielsweise mit der Verfassungsfrage, dann macht sie lediglich „auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc.“ und „findet überall Widersprüche“. Sie ist „selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft, so wie man früher etwa das Dogma der heiligen Dreieinigkeit durch den Widerspruch von 1 und 3 beseitigte“. Die „wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung“ dagegen „faßt“ die Widersprüche „in ihrer eigenthümlichen Bedeutung“, „begreift ihre Genesis, ihre Nothwendigkeit“, und „zeigt die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn“.[5]

Kurze Zeit später, in einem Brief vom September 1843, behauptet Marx, dass die „kritische Philosophie“ sich auf zwei Bereiche erstrecken müsse: den des Theoretischen von Religion und Wissenschaft und den des Praktischen der Politik. Ihre Aufgabe sei die „Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf“. Das Thema des „Selbstbewusstseins“ nimmt also immer noch einen zentralen Platz im Marxschen Denken ein. Das Neue im Vergleich zu den anderen Texten besteht hier allerdings in einem merklichen Einfluss Feuerbachs, der im Februar 1843 die Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie veröffentlicht hatte. Marx schreibt an Ruge: „Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.“[6] Es handelte sich letztlich darum, die Kritik über die Grenzen des Feuerbachschen Denkens hinauszuführen, da dieses in dem engen theoretischen Rahmen der Religion und Wissenschaft gefangen war. Zu bedenken freilich bleibt auch: Die Feuerbachsche Anthropologie wird dennoch zum entscheidenden Vorbild für die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie.

II

Mit der Waffe der Kritik ausgerüstet war Marx für seine Abrechnung mit der Staatsphilosophie Hegels gewappnet. Seit Ende 1841 hatte er angefangen, an einem gegen die Philosophie Hegels – besonders gegen seine Theorie des Staates – gerichteten Artikel zu arbeiten. Im März 1842 verspricht er Ruge einen Text zu liefern, dessen Kern „die Bekämpfung der constitutionellen Monarchie als eines durch und durch sich widersprechenden und aufhebenden Zwitterdings“[7] sei. Diesen Beitrag, der in den Deutschen Jahrbüchern oder in den Anekdota hätte erscheinen sollen, blieb Marx schuldig, was auf seine immer intensivere Mitarbeit – zuerst als Beiträger, ab Oktober 1842 als Chefredakteur – an der Rheinischen Zeitung zurückgeführt werden kann. Außerdem wurde ihm wohl bewusst, dass diese praktisch-politisch motivierte Tätigkeit ihn zu einer Auseinandersetzung mit Problemen führte, deren Lösung eine tiefere Untersuchung der bestehenden materiellen Verhältnisse verlangte. Die seit Oktober 1842, seit seiner Arbeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung zu konstatierende progressive Radikalisierung der Marxschen Kritik war auch verursacht durch seine Unzufriedenheit hinsichtlich seiner eigenen Einschätzung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Retrospektiv hat er diesen Zusammenhang 1859 in der Vorrede Zur Kritik der politischen Ökonomie notiert: „Im Jahr 1842-43, als Redakteur der ‚Rheinischen Zeitung‘, kam ich zuerst in die Verlegenheit über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen“. Marx beschloss, sich von „der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehn“, und fährt dann fort: Die „erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegel’schen Rechtsphilosophie“.[8]

Die namhaft gemachte Berücksichtigung der „materiellen Interessen“ kommt dann bereits in den im Oktober und November 1842 in der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Artikeln Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz zum Zuge. Hier ergreift er Partei für die Interessen der verarmten Teile der Bevölkerung, denen selbst das Sammeln des trockenen, von den Bäumen gefallenen sogenannten ‚Raffholzes‘ verboten worden war. Die bedingungslose Subsumtion des Einzelnen unter die Allgemeinheit des Staates und das verabsolutierte und keine Ausnahmen duldende Recht des Privateigentums wird scharf kritisiert. Dem zum Handlanger des Privateigentums pervertierten Staat wird die Idee eines Staates kontrastiert, der sich vor allem auch der Interessen der verarmten Klasse anzunehmen hätte. Dessen Gewohnheitsrecht, die gemeinsten Bedürfnisse des menschlichen Lebens zu befriedigen, werde ihm durch das Recht auf Privateigentum ganz prinzipiell streitig gemacht.

Eine eigentümliche Mischung von Moral und Kritik bestimmt Marx‘ Argumentation. Das Holzdiebstahlsgesetz setzt diejenigen ins Unrecht, die, aus purer Not, sich an dem Recht auf Privateigentum vergreifen. Anstatt nun aber gegen einen Staat zu polemisieren, der prinzipienfest die Drangsale der von seiner Gesetzgebung unmittelbar Betroffenen missachtet, erteilt Marx ihm überraschenderweise einen Rat: des „instinktiven Rechtssinns“ seiner verarmten Klasse eingedenk zu sein, sprich, den Gerechtigkeitssinn derselben zu instrumentalisieren, um sie so zur wirklichen Teilnahme am Gemeinschaftsleben zu motivieren.[9] Das institutionalisierte Elend wird politisiert und ausgerechnet einem Staat, der das Sterben gerade erst legalisiert hat, wird angetragen, er möge auch die positiven und legitimen Eigenarten der Sitten der Armen, zu denen eben das Holzsammeln gehört, juristisch anerkennen. Nichts ist leichter und vor allem, in des Wortes doppelter Bedeutung, billiger zu haben als das: Die Eingemeindung der Paupers in den gemeinsamen Wertehimmel.

Immerhin, eine derart affirmative Kritik schien Marx dann doch nicht zufriedenzustellen. Ihm wurde klar, dass er – spiegelverkehrt – den wirklichen Zustand der Gesellschaft zu einer abhängigen Variablen des Rechtswesens des Staates gemacht hatte. Armut ist danach kein soziales Faktum, sondern wird aus der Abwesenheit des politischen Oberaufsehers abgeleitet, wo sie doch, umgekehrt, gerade erst durch die staatliche Gesetzgebung für rechtens erklärt worden ist. Denn genau dafür steht, darüber hinaus, das von Marx selbst geforderte Gewohnheitsrecht der armen Klasse: Es läßt, ein bloß moralisches Palliativ, die Armut innerhalb der sozialen Wirklichkeit unverändert bestehen, indem es ihr lediglich eine politisch-gesetzliche Einkleidung gibt. Die bürgerliche Gesellschaft ist und bleibt eine Klassengesellschaft mit der „Abstraktheit des Staates“ als gesetzgebendem Oberaufseher auch und gerade dann, wenn er sich des Bodensatzes der Gesellschaft rechtsförmlich in der Art annimmt, dass er seine prinzipielle Benachteiligung dadurch festschreibt, daß er ihn unter die – partikulären – Interessen des Privateigentums subsumiert. Faktisch zu kurz gekommen kann der Schein gepflegt werden, als kämen auch die Bedürfnisse der ausnahmslos Unterlegenen zu ihrem Recht. Marx hat, m.a.W., inzwischen die Akkommodation an die ontologisch untermauerte Überlegenheit des Staates selbst durchschaut, deren partieller Fürsprecher er kurz zuvor noch gewesen war.

Im philosophiehistorischen Kontext liest sich das dann als eine Art Bekenntnis etwa so: „Meine Untersuchung mündete in das Ergebniß, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in der politischen Oekonomie zu suchen sei.“[10] Marx‘ Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie ist ein Dokument des Übergangs einer zum Teil idealistischen Position eines kritischen Materialisten, der sich in den 50er Jahren endgültig den ökonomischen Fragen des Kapitals zuzuwenden begann.

III

Nach seiner Zeit bei der Rheinischen Zeitung ist Marx nach Kreuznach übergesiedelt, wo er am Vormittag des 19. Juli 1843 Jenny von Westphalen heiratete. Sie sind beide bis Oktober des Jahres in Kreuznach geblieben. Während dieser Zeit wartete Marx auf Nachrichten von Ruge, der ihn über das Datum und den Ort der Veröffentlichung der Deutsch-Französischen Jahrbücher[11], an denen Marx als Beiträger und Mitverleger mitzuarbeiten sich verpflichtet hatte, unterrichten wollte. Unterdessen studierte er die Geschichte der Französischen Revolution und die Klassiker der politischen Philosophie und nahm eine „kritische Revision“ der Hegelschen Philosophie des Rechts vor. Aus dieser Auseinandersetzung mit Hegel ging ein Manuskript von 157 Seiten hervor, in dem Marx große Teile der Grundlinien der Philosophie des Rechts – es handelt sich dabei hauptsächlich um die §§ der dritten, dem Staate gewidmeten Abteilung – abschrieb und kommentierte.[12]

Das Hauptthema der Marxschen Kritik an der politischen Philosophie Hegels ist die für die Moderne charakteristische Behauptung eines Gegensatzes zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft und der Hegelsche Versuch, diese Extreme theoretisch nach dem Vorbild der preußischen konstitutionellen Monarchie zu versöhnen. Die Marxsche Kritik gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, die Widersprüche oder Akkommodationen Hegels lediglich zu benennen, und erschöpft sich ebensowenig in der Absicht, dem preußischen Staat die Vision eines idealen Gemeinwesens zu kontrastieren. Die „wahrhaft philosophische Kritik“ hat nach Marx vielmehr die „Genesis“ und die „Notwendigkeit“ der wirklichen Widersprüche zu erfassen, egal ob es sich um Widersprüche des preußischen Staates, des modernen Staates oder der Hegelschen Philosophie handelt. Die Widersprüche der Hegelschen Philosophie werden aus ihr selbst heraus erklärt, d.h. aus den ontologischen Voraussetzungen der Hegelschen Spekulation, die den zentralen Gegenstand der Marxschen Kritik bildet. Erst auf der Grundlage der Kritik der spekulativ-logischen Voraussetzungen kommt Marx zu dem hieraus abzuleitenden speziellen Fall der Hegelschen Staatsauffassung.

Die Kritik der Spekulation, womit das Manuskript beginnt, ist eine grundsätzliche, wenn man so will, ontologische Kritik. In dem § 262 bestimmt Hegel den Staat als die „wirkliche Idee“, als den „Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet (…)“. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind laut Marx „das Treibende“, die „conditio sine qua non“, die „Voraussetzungen“ des Staates: „Das Faktum ist, daß der Staat aus der Menge, wie sie als Familienglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft existire hervorgehe“. Spekulatives Denken spricht jedoch dieses Faktum „als That der Idee“ aus, „nicht als die Idee der Menge, sondern als That einer subjektiven von dem Factum selbst unterschiedenen Idee“, und verleiht ihm dadurch eine logisch-vernünftige, von der realen Tatsache unabhängige und verselbständigte Form. Die empirische Wirklichkeit „ist nicht vernünftig wegen ihrer eigenen Vernunft, sondern weil die empirische Thatsache in ihrer empirischen Existenz eine andre Bedeutung hat, als sich selbst“, da sie „nicht als solche, sondern als mystisches Resultat gefaßt“ wird.[13] Die Hegelsche Spekulation verkehrt das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat: „Die Bedingung wird aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Producirende wird als das Product seines Products gesetzt“. Die „wirklichen Subjekte“, Familie und bürgerliche Gesellschaft, werden in Prädikate der Idee verwandelt, während die Idee, das abstrakte Prädikat, „versubjektivirt“ wird. Wenn aber einerseits die Wirklichkeit, die „gewöhnliche Empirie“, „nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen“ wird, dann hat andererseits die versubjektivierte wirkliche Idee „nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein“[14]. Die von Hegel durchgeführte Verkehrung ist keine der empirischen Wirklichkeit – das wäre dann so etwas wie ein Wunder –, sondern allein ihrer „Betrachtungsweise“ oder „Sprechweise“. Hegel gibt der Wirklichkeit eine bloß „scheinbare Vermittlung“, „die Bedeutung einer Bestimmung“, „eines Resultats, eines Produkts“ der Idee, aber er lässt den Inhalt, die Wirklichkeit selbst völlig unberührt.

Die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie ist, wie bereits erwähnt, stark von Feuerbach beeinflusst worden. Dieser Einfluss wurde jedoch von den Kommentatoren oft falsch verstanden; Marx sollte lediglich die Positionen des Subjekts und des Prädikats mehr methodisch als urteilstheoretisch vertauscht und so Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt haben.[15] Marx privilegiert aber in Wahrheit nicht das methodologische Verfahren eines bloßen Austauschs von Subjekt und Prädikat, sondern er konzentriert sich vielmehr auf die Kritik der (onto-)logischen Voraussetzungen, die diesen Stellentausch provozieren. Er setzt also mit seiner Kritik eine Stufe tiefer an. Was Marx als das „Geheimnis“ der Hegelschen Spekulation denunziert ist, dass bei Hegel die Ontologisierung der Idee mit der Ent-Ontologisierung der empirischen Wirklichkeit Hand in Hand geht: Die Idee wird empirisch-real und die Realität wird zum logischen Setzungsakt eines imaginierten Geistes. Konkret gewendet: Die Idee des Staates ist der Schöpfer einer entsprechend vergeistigten Familie und bürgerlichen Gesellschaft. „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt“.[16] Der urteilstheoretischen Umkehrung des Subjekt-Prädikatsverhältnisses korrespondiert dann die ontologische Umkehrung zwischen den empirisch-realen und den idealen Bestimmtheiten, dem konkreten Inhalt und der abstrakten Idee oder, kurz, dem Sein und dem Denken. Die in ein wirkliches Subjekt verwandelte Idee hat dann konsequenterweise die Macht, aus sich selbst, einer creatio ex nihilo gleich, endliche Bestimmtheiten zu entlassen. Sie „erniedrigt sich nur in die ‚Endlichkeit’ der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre Aufhebung ihre Unendlichkeit zu genießen und hervorzubringen“. Das endliche Sein ist nach dieser im übrigen an den Gottesbeweisen der Scholastik orientierten Auffassung nichts weiter als das objektive Moment der unendlichen Idee, das endliche Prädikat des unendlichen Subjekts. Marx kontrastiert diesem theistischen Konstrukt, und zwar unter dem Einfluss Feuerbachs, ein wissenschaftlich zu erforschendes bestimmtes, reales Sein. Seine Logik soll durch die Arbeit des Gedankens erarbeitet werden. In Feuerbachs Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie liest sich das so: „Der Gedanke ist bei H[egel] das Sein; – der Gedanke das Subjekt, das Sein das Prädikat. (…) Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat.“[17]

Feuerbachs Kritik der Hegelschen Spekulation richtet sich also ebenfalls nicht gegen einen bloß methodologischen Fehler, sondern weist das Falsche innerhalb der ontologischen Bestimmung selbst nach, auf der die Methode beruht. Der Gott der Theologen ist folglich kein Geschöpf der wirklichen Menschen, sondern der Geschaffene wird, umgekehrt, zum Schöpfer stilisiert.[18] Das Abhängigkeitsverhältnis wird passenderweise nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch verkehrt. Die theoretische Akkommodation zeitigt unmittelbar, ganz im Sinne des Erfinders, praktische Folgen. Die logische Frage nach dem „Subjekt“ konzentriert sich dann auf die grundsätzliche ontologische Frage: „wer ist das Sein“, bzw. „das Wirkliche“. Die Antwort Feuerbachs auf dieses künstliche Dilemma lautet kurz und bündig: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche.“[19]

Auch Marx setzt sich, genau genommen, nicht nur mit Hegels Logik auseinander, sondern auch er konzentriert sich auf die dieser Gedankenwelt zugrundeliegenden realen Bestimmungen. Marx nimmt nicht vorrangig Anstoß an einer falschen Verwendung der Logik, und an einer Berichtigung derselben ist ihm allenfalls mitlaufend gelegen. Gerade weil sich bei Hegel die Logik letztlich gegen ihre realen Gründe verselbständigt hat, ist es nur konsequent, wenn sie, ein beliebig zu verwendendes Instrument des Gedankens, ein von den zu erkennenden Objekten getrenntes Eigenleben führt; sie weiß etwas, ohne sich auf die Gegenstände ihres Wissens eingelassen zu haben, eben weil es bloß diejenigen ihres Wissens sind. Freilich kann eine derartige formale Logik korrekt funktionieren, ja, sie muß es sogar, sofern man sich bei den jeweils vollzogenen Urteils- und Schlussformen regelkonform verhalten hat. Mit dem gedanklich zu erschließenden „spezifischen Wesen“ der empirischen Realität haben diese am Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs orientierten Formalismen allerdings überhaupt nichts zu tun. Eine Übereinstimmung zwischen den Formen des Gedankens und denen der Wirklichkeit ist hier purer Zufall und ein lediglich mögliches Resultat vorausgegangener Willkür. Ihr fehlt eben die Einsicht in die in der Sache begründete „Notwendigkeit“, weil sie nur, gemäß den Kriterien einer ausgewachsenen Vorurteilskunde, die Notwendigkeit des verselbständigten und anschließend objektivierten Gedankens reflektiert: „Hegel begnügt sich damit. Auf der einen Seite: Kategorie ‚Subsumtion’ des Besondern etc. Die muß verwirklicht werden. Nun nimmt er irgendeine der empirischen Existenzen des preußischen oder modernen Staats (wie sie ist mit Haut und Haar), welche unter anderm auch diese Kategorie verwirklicht, obgleich mit derselben nicht ihr spezifisches Wesen ausgedrückt ist. Die angewandte Mathematik ist auch Subsumtion etc. Hegel fragt nicht, ist dies die vernünftige, die adäquate Weise der Subsumtion? Er hält nur die eine Kategorie fest und begnügt sich damit, eine entsprechende Existenz für sie zu finden. Hegel gibt seiner Logik einen politischen Körper; er gibt nicht die Logik des politischen Körpers.“[20]

Was Hegel also fehlt, ist nicht eine wie auch immer brauchbare Logik nach dem Vorbild der Mathematik etwa, sondern die Einsicht in eine „vernünftige“, d.h. „adäquate Weise“ der „Subsumption“. Ihm ist ironischerweise beim Denken das Kriterium jeder logischen Kategorie abhanden gekommen: nichts weiter als ein Vehikel des theoretischen Einblicks in die wie auch immer geartete ontologische „Notwendigkeit“ zu sein. Folglich produziert sein sich selbst denkendes Denken immer bloß Denksetzungen oder kurz: Tautologien. Marx hingegen interessiert sich für gewisse Bereiche der von ihrer spekulativen Reduzierung auf ein bloßes Erscheinen der logischen Idee befreiten empirischen Realität, also in der Folgezeit beispielsweise für die Verwertungsformen des Kapitals.

In dieser, wenn man so will, neuerlichen kopernikanischen Revolution wird das Gravitationszentrum der Logik neu bestimmt. Der Gedanke der Sache hat einer der Sache und ihrer Bestimmungen zu sein.

IV

Der zweite Aspekt der Marxschen Kritik kreist um das Thema der politischen Entfremdung. Der politische Staat und seine Verfassung ist laut Marx der verselbständigte „Gattungswille“ des tatsächlichen Souveräns. Das Volk ist der „wirkliche Staat“, die Grundlage der Verfassung, weil es die konstituierende Gewalt ist; die Verfassung ist entsprechend nichts weiter als die konstituierte Gewalt. Die politische Entfremdung besteht folglich darin, dass sich das Volk seinem eigenen Werk unterwirft, bzw. ihm durch das Macht- und Gewaltmonopol des Staates unterworfen wird. Was das „Ganze“ war, wird jetzt zum bloßen funktionalen Anhängsel, und vice versa. Das Volk, das vorher der „wirkliche Staat“ war, wird seines Gattungsinhalts beraubt, der nunmehr auf der politischen Ebene hypostasiert wird. Das Ergebnis ist der Gegensatz des Staates und seiner Verfassung von der bürgerlichen Gesellschaft oder von politischem und unpolitischem Staat.

Dieser für den modernen Staat typische Gegensatz ist hinter dem Hegelschen Schleier der Spekulation nicht mehr wahrnehmbar. Der Staat ist für ihn die Verwirklichung des freien, vernünftigen Willens. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts verwirklicht sich der Staat dadurch, daß er die abstrakten Stufen der Familie und bürgerlichen Gesellschaft aufhebt und seine Einheit als konkrete Allgemeinheit realisiert. Der Staat ist der selbstbewusst gewordene freie Wille: „der freie Wille, der den freien Willen will“,[21] und der vernünftige Zweck des Menschen ist das restlose Aufgehen im Staat. In den drei Gewalten der Verfassung ist die Idee des Staates als eine Einheit von Gegensätzen begriffsadäquat verwirklicht.

Nach Marx jedoch ist die Verfassung „nichts als eine Akkommodation zwischen dem politischen und unpolitischen Staat”, ein „Traktat wesentlich heterogener Gewalten“. Sie ist ein Gegensatz von “wirklichen Extremen”, ein “mixtum compositum”.[22] Dieser Dualismus liegt Hegels Konstrukt der konstitutionellen Monarchie zugrunde: Die in der Person des Monarchen Gestalt gewordene fürstliche Gewalt, die der personifizierte Staat ist, abstrahiert von der Pluralität der „Personen“ – den vielen „Einzelheiten“, die das Volk bilden – (§§ 275-286). Die für die Regierungsgewalt tätige Bürokratie der Privilegierten bildet eine Korporation gegen die bürgerliche Gesellschaft (§§ 287-297). In der gesetzgebenden Gewalt schließlich tritt der Gegensatz zwischen der empirischen Einzelheit des Fürsten und der empirischen Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft offen hervor. Er setzt sich fort in der Differenz zwischen der Regierung und den Ständen, um schließlich in der leicht absurden Form der von den Majoratsherren gebildeten zweiten Kammer in Erscheinung zu treten (vgl. die §§ 298-313).

Die Verfassung ist laut Hegel, der hierin Montesquieu folgt, nicht etwa ein Kodex positiver Gesetze, sondern das Produkt des Volksgeistes, in den sich die hauptsächlichen Bestimmungen des vernünftigen Willens zusammenfassen. Um konsequent zu sein, sollte eine solche Auffassung Marx zufolge den Menschen zum „Prinzip der Verfassung“ machen, die „in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip hat, mit dem Bewußtsein fortzuschreiten“.[23] Als etwas Besonderes muss die Verfassung ein „Teil des Ganzen“, also ein Moment des „Gattungswillens“ sein. Insofern er das wahrhaft Allgemeine ist, muss er auch das Ganze sein. In der Hegelschen Spekulation jedoch werden diese zwei Bedeutungen durcheinandergebracht: obgleich Hegel die Verfassung als etwas Allgemeines zu behandeln vorgibt, entwickelt er sie vielmehr als etwas Besonderes. Genau deswegen hat das in einen subordinierten Teil der Verfassung verwandelte Volk kein Recht, „die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[24] Das entpolitisierte Volk ist, bar seines Gattungswesens, zu einer atomistischen Menge, einer gestaltlosen Masse pervertiert worden, die vom verselbständigten Staat eine seinem jeweiligen Kalkül gemäße politische Form verpaßt bekommt. Das Volk tritt entsprechend nicht als es selbst, als der „ganze Demos“ auf, sondern als die auf das ständische Moment reduzierte bürgerliche Gesellschaft. Das ist nach Marx die erste „ungelöste Kollision“ innerhalb des Verfassungsbegriffs: Die Kollision „zwischen der ganzen Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt“[25].

Die zweite Kollision, als direkte Folge der ersten, ist „die zwischen der gesetzgebenden und der Regierungsgewalt, zwischen dem Gesetz und der Exekution“. Durch sie verliert die gesetzgebende Gewalt ihre unterstellte Allgemeinheit und wird ein bloßer „Teil“ des Ganzen, eine besondere Gewalt neben anderen Gewalten: es ist „also dem Gesetz unmöglich, auszusprechen, daß eine dieser Gewalten, ein Teil der Verfassung, das Recht haben solle, die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[26] Der Konflikt zwischen dem Volk und dem politischen Staat stellt sich auf diese Weise als der Konflikt des „Volkes en miniature“ – der gesetzgebenden Gewalt – mit der Regierungsgewalt dar.

Die Marxsche Kritik an der politischen Entfremdung ist zu diesem Zeitpunkt im übrigen unauflöslich mit dem Denken Rousseaus verknüpft. Beide bemängeln, dass die Regierungsgewalt nicht mehr ein dem allgemeinen Willen unterworfener „Teil“ sei. Sie tritt diesem Willen als selbständige Gewalt entgegen, so dass der allgemeine Wille umgekehrt nichts weiter ist als die abhängige Variable der besonderen Gewalt des Staates. Mit der theoretischen Lösung dieses Problems ringt auch der Aufklärer Rousseau. Marx gibt ihm allerdings eine praktische Wendung: „Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist.“[27]

Folglich macht sich Marx in ZKhR für die Entwicklung einer Idee von Demokratie stark, die im Widerspruch steht zur Hegelschen Verteidigung der lediglich abgemilderten Souveränität des Monarchen. In der Monarchie, sowie in allen von der Demokratie abweichenden Staatsformen „hat dies Besondre, die politische Verfassung, die Bedeutung des alles Besondere beherrschenden und bestimmenden Allgemeinen“[28] In der Demokratie hingegen „ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er politische Verfassung ist“.[29] In der Demokratie ist die Macht des allgemeinen Willens nicht von derjenigen des politischen Staates entfremdet. Er verwandelt sich in ihr nicht in einen besonderen, vom Staat getrennten Inhalt: „In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt“.[30] Die Demokratie ist daher die „Wahrheit“, die „Gattung“, „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“.

Es ist allerdings zu beachten, dass in Marx‘ Gedankengang zwei Aspekte der „Demokratie“ unterschieden werden müssen: sie ist zum einen, als „Gattung“, die „wahre Demokratie“ und als „Spezies“ die „politische Republik“. Die „wahre Demokratie“ ist ein politisches Prinzip und nicht etwa ein real existierender Staat. Sie bedeutet die vollständige Verwirklichung des Staates als konkrete Allgemeinheit, die wahre Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. In der wahren Demokratie „geht der politische Staat” genauso „unter“ wie der unpolitische Staat, d.h. die bürgerliche Gesellschaft.[31] Mit dem Begriff „politische Republik“ dagegen charakterisiert Marx die Demokratie innerhalb des „abstrakten Staats“, also die bestehende, noch nicht völlig verwirklichte Demokratie. In diesem Staat, obwohl hier die Verfassung letztlich noch eine politische ist, hört sie doch auf, „nur politische Verfassung zu sein“, und das bedeutet, dass die unpolitischen Ebenen schon von dem politischen „Gattungsinhalt“ durchdrungen sind.

Innerhalb des abstrakten Staates tritt die Frage der politischen Entfremdung in der Form des Gegensatzes zwischen repräsentativer und ständischer Verfassung in Erscheinung. Gegen die bloße Repräsentation der Stände verteidigt Marx „die Ausdehnung und möglichste Verallgemeinerung der Wahl, sowohl des aktiven, als des passiven Wahlrechts“.[32] Hier trifft sich das Marxsche Denken wieder mit demjenigen Rousseaus. Der von der Besonderheit der Interessen geprägt Wille aller (volonté de tous) verwandelt sich in den allgemeinen Willen (volonté générale) vermittelst der „Differenzsumme“ dieser Interessen. Das Volk „will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht“.[33] Ein Quidproquo stellt sich in dem Augenblick ein, wenn sich Gesellschaften (Parteien, Vereinigungen) innerhalb des Volkes zu konsolidieren beginnen: „so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner“ und „die Differenzen werden weniger zahlreich und führen zu einem weniger allgemeinen Ergebnis“. Am Ende dieses Prozesses „gibt es keinen allgemeinen Willen mehr, und die Ansicht, die den Sieg davonträgt, ist trotzdem nur eine Privatansicht“. Gegen diese Fehlentwicklung gibt es, laut Rousseau, nur das eine Mittel, dass „es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll“.[34]

Bei Marx sollten entsprechend die Einzelnen nicht unter die politisch-ständische Form der gesetzgebenden Gewalt subsumiert werden, sondern als Einzelne (als der „ganze Demos“) an dem jeweiligen Staat vermittelst der nach Möglichkeit allgemeinen Wahl teilnehmen. Damit werde die „bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben“, also – mit Rousseau gesprochen – nicht mehr zu einem Konglomerat gegensätzlicher Privatinteressen, sondern zu einer „Differenzsumme“, die zur Bildung des allgemeinen Willens führe. Die Vollendung dieses Prozesses der Verallgemeinerung der bürgerlichen Gesellschaft sei die „Aufhebung“ der Abstraktion selbst: „Indem die bürgerliche Gesellschaft ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Andres, sein Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staats die Forderung seiner Auflösung, aber ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft.“[35]

Hegels Verteidigung der ständischen Verfassung hingegen beruht auf der Auffassung des Volkes als „einer formlosen Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich“ ist. Volk und Staat sind bei Hegel die zwei Extreme eines Syllogismus‘, dessen Vermittlung durch die Stände geschieht. Laut Marx sind die Stände jedoch keine Auflösung, sondern vielmehr die Verwirklichung des Gegensatzes innerhalb des politischen Staates.

Bei Gelegenheit der Kommentierung der §§ 302-304 denunziert Marx die Unzulänglichkeiten des Hegelschen Systems der Vermittlungen.[36] Erstens begeht Hegel Marx zufolge einen Paralogismus, da er die Bedeutung der Stände innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit jener Bedeutung identifiziert, die die Stände auf der politischen Ebene haben. Hegel begreift als reflexives Verhältnis, was laut Marx ein bloßes Abstraktionsverhältnis ist. Die politischen Stände sind für Marx kein Reflex der privaten Stände, also eines vermeintlich Anderen, sondern sie sind nichts weiter als die Abstraktion dieser Stände: Die bürgerliche Gesellschaft wird als „nicht vorhanden”[37] gesetzt. Das politisch-ständische Element bedeutet daher nicht die Aufhebung der Unterschiede innerhalb der gesellschaftlichen Stände – eine wirkliche Vermittlung des Widerspruchs –, sondern das Zudecken dieser nach wie vor bestehenden Unterschiede vermittelst ihrer Eingliederung in eine anachronistische mittelalterliche, politische Form.

Zweitens kaschiere das Hegelsche System der Vermittlungen eine tatsächliche, unversöhnliche Opposition zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Sie sind, Marx zufolge, wirkliche Extreme, die „nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind“. Zwischen ihnen kann es kein reflexives Verhältnis geben, da sie „nichts miteinander gemein“ haben; „sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einander nicht“.[38] Unter dem Einfluss Feuerbachs stellt Marx hier zwar dem Begriff „Reflexion“ einen anderen Begriff der Hegelschen Logik gegenüber: den Begriff der „Selbstbestimmung des Subjekts“.[39] Als wirklicher Staat muss die bürgerliche Gesellschaft die Selbst- bzw. Gattungsbestimmung in sich selbst verwirklichen, weil ansonsten der Staat zu einer „allegorischen, untergeschobenen Bestimmung” wird. Durch die demokratisierte gesetzgebende Macht ist die politische Qualität des Menschen – jeder Einzelne als Moment des Gattungswesens – nicht mehr ein von seiner gesellschaftlichen Qualität getrenntes Wesen. Umgekehrt formuliert: Die gesellschaftliche Qualität des Menschen beweist in der demokratischen Repräsentation ihre politische Eigenart, ihr Gattungswesen. Im Unterschied zu anderen Staatsformen schafft die wahre Demokratie kein politisches Fundament für eine rein private Existenz des Menschen, sondern gibt ihm sein eigenes politisches Wesen bzw. sein „Gattungsdasein“ zurück. Denkt man Rousseau und Feuerbach zusammen, dann kommt es zu einer Synthese der politischen mit der Gattungsrepräsentation. Jeder Mensch repräsentiert den jeweils anderen, weil „jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eignen Wesens repräsentiert“. Er ist Repräsentant nicht mehr im Sinne der dualistischen, politisch-abstrakten Repräsentation, oder kurz, er ist „nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut“.[40]

__________________________________________

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Der vorliegende Text ist die überarbeitete deutsche Version der „Einleitung“ der brasilianischen Ausgabe von Marx’ Zur Kritik des hegelschen Rechtsphilosophie, die vom Autor übersetzt wurde. Herr Dr. Frank-Peter Hansen war mir dankenswerter Weise bei der Übertragung ins Deutsche behilflich.
  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1820.
  3. Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA², I/1, 1975, S. 67.
  4. Karl Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, MEGA², I/1, 1975, S. 191-193. Vgl. auch Rubens Enderle, „O jovem Marx e o manifesto filosófico da Escola Histórica do Direito”, in: Crítica Marxista, n. 20, São Paulo 2005.
  5. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA², I/1, S. 100-101.
  6. Karl Marx, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA², I/2, S. 488.
  7. Karl Marx, Karl Marx an Arnold Ruge, 5. März 1842, MEGA², III/1, S. 22.
  8. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, MEGA², II/2, S. 99-100.
  9. Karl Marx, Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, MEGA². I/1, 1975, S. 209.
  10. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, a.a.O., S. 100.
  11. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher wurden erstmals im Februar 1804 in Paris veröffentlicht.
  12. Von dem originalen Text, der angeblich mit dem § 257 des Hegelschen Werkes anfing, sind die vier ersten Seiten verschollen. Deswegen fängt das uns heute bekannte Manuskript der ZKHS mit der Wiedergabe und dem Kommentar des § 261 an und dehnt sich bis auf den § 313 aus, übrigens viele §§ vor dem Ende des Dritten Abschnitts (§ 360). Außerdem fehlen der Pappdeckel und das vordere Deckblatt, was zu Spekulationen darüber führte, welchen Titel Marx diesem Werk geben wollte. Bei seiner ersten Veröffentlichung durch Rjazanov (MEGA¹) 1927 erschien der Text unter dem Titel „Karl Marx: Aus der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261-313)“. Seit der 1982 erschienenen Ausgabe der MEGA² wird er „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ genannt. Dies ist laut dem Verleger der wahrscheinlichste Titel des Werkes, da Marx einige Monate später in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern den Text „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ veröffentlichte. Vgl. MEGA², I/2, S. 584.
  13. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 9.
  14. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 8.
  15. Ein gutes Beispiel für diese metodologisch orientierte Interpretation ist Schlomo Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, Cambridge, Cambridge University Press, 1971, S. 10-17. Vgl. auch Miguel Abensour, La Démocratie cont re l’État. Marx et le moment machiavélien, Collège International de Philosophie Janvier 1997, P.U.F, S. 50 ff.
  16. Karl Marx, ZKhR, a.a.O, S. 16.
  17. Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“. Ludwig Feuerbach – Gesammelte Werke: Kleinere Schriften II. 1839-1846. (Bd. 9), Akademie Verlag, Bd. 9, Berlin 1970, S. 257.
  18. „Die spekulative Philosophie hat sich desselben Fehlers schuldig gemacht als die Theologie – die Bestimmungen der Wirklichkeit oder Endlichkeit nur durch die Negation der Bestimmtheit, in welcher sie sind, was sie sind, zu Bestimmungen, Prädikaten des Unendlichen gemacht.“ Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, a.a.O., S. 250-251.
  19. Ludwig Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“, a.a.O.., S. 316.
  20. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 52.
  21. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 27.
  22. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 61.
  23. A. o. O., S. 20.
  24. A. o. O., S. 61.
  25. Ebd.
  26. Ebd.
  27. Ebd.
  28. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 32.
  29. Ebd.
  30. Ebd.
  31. Ebd.
  32. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 130-131.
  33. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, übers. von Hermann Denhardt, Frankfurt am Main 2005, S. 64.
  34. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, a.a.O., S. 64-65.
  35. Karl Marx, ZKhr, a.a.O., S. 131.
  36. Zu einer detaillierten Analyse der Marxschen Kritik des Hegelschen Systems der Vermittlungen, vgl. Solange Mercier-Josa, Entre Hegel et Marx, Paris, L’Harmattan, 1999, S. 27-73.
  37. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 87.
  38. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 98.
  39. Vgl. dazu Solange Mercier-Josa, a.a.O., S. 38.
  40. Karl Marx, ZKhR, a.a.O.

Hansen, Frank-Peter: Vergessene Bücher V: Beiträge zur Logik von Alois Riehl, 26.09.08

Der nachfolgende Text hätte als nächstes im Marburger Forum unter der Rubrik „Vergessene Bücher“ erscheinen sollen. Möglicherweise geschieht dies auch noch. Ich weiß es nicht. – Daß ich ihn jetzt an dieser Stelle publiziere hat einzig und allein damit zu tun, daß ich mich in dieser Form von Max Lorenzen, dem Herausgeber des Forums und Mitinitiator dieser Reihe, verabschieden möchte. Er ist am 24. August an Herzversagen gestorben. Max Lorenzen war für mich ein stets freundlicher, aufmerksamer und zuvorkommender Gesprächspartner auch über die Entfernung der Städte hinweg, wofür ich mich – zu spät – an dieser Stelle bedanken möchte.

Von Alois Riehl stammt der beherzigenswerte Satz: „Nur wer sein Denken vorzugsweise an Sprachen erzogen und an die Regeln der Grammatik gewöhnt hat, mag auch von den Regeln des Geschehens in der Natur Ausnahmen für möglich halten oder die Naturgesetze bloß als Text-Interpretationen der Naturforscher betrachten“ (Ders.: Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1903, S. 264 f.). Ist dies die ahnungsvoll vorweggenommene Position des Wiener Kreises, dann kontrastiert dieser Mischung von Impressionismus und Formalismus bei dem Realisten Riehl die Einschätzung, daß das „Gesetz der Gravitation … mit allen Bewegungen der Himmelskörper und irdischen Fallerscheinungen (zwar, F.-P.H.) noch nicht gegeben (sei, F.-P.H.), obgleich es in jeder Fallbewegung enthalten ist. Kein Gesetz kann in eine Tatsache rein aufgehen, keines mit der bloßen Summe von Tatsachen gegeben sein, obschon es von allen Tatsachen gilt, die unter ihm stehen. Jedes Gesetz ist ein Satz mit einem Wenn: zwei Massenpunkte würden sich genau nach dem Gesetze ihrer Gravitation annähern, wenn sie allein in der Welt wären“ (S. 260).

Doch nicht um diese zweifelsohne lesenswerte Publikation soll es hier gehen und auch nicht um sein zweibändiges Hauptwerk Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, sondern um die kleinen, unscheinbaren Beiträge zur Logik, die in zweiter Auflage 1912 bei O.R. Reisland in Leipzig erschienen sind. Sie haben es faustdick hinter den Ohren, wie zu demonstrieren sein wird. Und außerdem: wer liest schon gern 1000 und mehr Seiten im Stück?! Bei Romanen mag das ja noch hingehen. Aber wissenschaftliche Fachliteratur in zwei bis drei stattlichen Bänden … Und dann ausgerechnet auch noch Wissenschaftstheoretisches und Logisches … Unwillkürlich schreckt man zurück und schiebt die Scharteken achselzuckend zurück ins Regal. So in diesem speziellen Fall nicht. Denn das Bändchen umfaßt lediglich 68 Seiten. Das ist locker zu bewältigen und zwar mit unverhältnismäßig großem Gewinn, heißt mit spürbarem Erkenntniszuwachs.

Zuvor jedoch: Wer war Alois Riehl? Er kam am 27.4.1844 bei Bozen in Südtirol zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Bozen und der Matura studierte er Philosophie, Geographie und Geschichte an den Universitäten Wien, München, Innsbruck und Graz. 1866 legte er das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. 1868 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Innsbruck, 1870 Habilitation an der Universität Graz. Dort war er bis 1873 Privatdozent und hatte danach eine a.o. Professur für Philosophie inne. 1870 erschien die Untersuchung Realistische Grundzüge. 1871 folgte die Abhandlung Moral und Dogma und 1872 Über Begriff und Form der Philosophie. 1878 wurde Riehl zum o. Professor für Philosophie an der Universität Graz berufen. Seit 1882 war er der Nachfolger von Wilhelm Windelband an der Universität Freiburg. 1876 und 1879 erschienen die Bände I und II,1 seines Hauptwerks Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. 1887 folgte abschließend der Band II,2. Mit diesem Grundlagenwerk, das sich mit der Geschichte und Methode des philosophischen Kriticismus, den sinnlichen und logischen Grundlagen der Erkenntnis und schließlich mit Fragen der Wissenschaftstheorie und Metaphysik auseinandersetzte, verfolgte Riehl die Absicht, Philosophie als reine Wissenschaft unter Ablehnung metaphysischer Spekulation durchzuführen. Die Metaphysik sollte durch die positiven Wissenschaften ersetzt werden. Riehl hatte in Freiburg einen schweren Stand, weil die Metaphysikkritik seines Zweiteilers in der katholischen Bischofsstadt als kirchenfeindlich bewertet wurde und entsprechend auf wenig Gegenliebe stieß. Konzessionen und Rücksichtnahmen aber hielt er in der Wissenschaft für genauso fehl am Platz wie zu befolgende Anstands- und Benimmregeln der akademischen und/oder konfessionell gebundenen Sittenwächter und Verlagszensoren, die, in der einen Variante, heute freilich mehr als damals den Ton in der Szene angeben und gegen den zu verstoßen nicht selten für den davon Betroffenen einem Verschwinden in der Versenkung und einem Vergessenwerden im intellektuellen Niemandsland gleichkommt. – 1896 erfolgte ein Ruf nach Kiel, 1898 die Berufung nach Halle/Saale. 1905 trat er die Nachfolge Wilhelm Diltheys auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin an. 1903 erschien Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 1904 Immanuel Kant. Alois Riehl ist am 21.11.1924 in Neubabelsberg bei Berlin verstorben. – Goethes Credo war auch dasjenige Riehls: „Die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Beharrlichkeit, es auszuführen.“ (Vgl. zum Folgenden auch meine Geschichte der Logik des 19. Jahrhunderts. Eine kritische Einführung in die Anfänge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000, S. 171-175)

Daß die Regeln der Grammatik nicht auch diejenigen der Natur und ihrer Wissenschaften sind, ist dem einleitenden Zitat zu entnehmen. Daß es darüber hinaus angezeigt ist, „die logische Gliederung einer Aussage von dem grammatischen Aufbau des Satzes zu unterscheiden“ hat damit zu tun, daß beispielsweise die Kopula einerseits bloß die „sprachliche Funktion“ hat, „der Aussage die Form eines Satzes zu geben“ (1). Andererseits besteht die logische Bedeutung der Kopula in ihrer prädikativen Natur. Schließt nämlich das bloße Bindewort „keineswegs die Behauptung der Existenz des Subjektes (und der davon abhängigen des Prädikates) des Satzes ein“, dann besteht die logische Bedeutung des Wörtchens „ist“ in dem „Wirklichsein oder Wahrsein“ (20) des ausgesagten Sachverhalts. Außerdem kommt im Urteilsakt „zur bloßen Vorstellung eines Begriffsverhältnisses die weitere Auffassung hinzu, daß dieses Verhältnis allgemeingültig und notwendig sei“ (21). Im Urteil wird von einer bloßen Vorstellung behauptet, daß sie eine Beschaffenheit des Wirklichen sei. Indem wir urteilen, schreiben wir „dem Inhalte Unabhängigkeit von unserem Vorstellen zu, sofern dieses lediglich als subjektive Tätigkeit betrachtet wird. Sooft wir urteilen, urteilen wir im Namen Aller, sei es, daß wir den Inhalt unseres Vorstellens auf die gemeinschaftliche, von unserem Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit beziehen oder ihm allgemeine, für jedes denkende Subjekt verbindliche Gültigkeit zuerkennen“ (17): Objektivität, Allgemeinheit und Notwendigkeit. Diese drei Bestimmungsstücke sind auf jeden Fall für wissenschaftliches Urteilen charakteristisch.

Bevor man urteilt, muß man jedoch nach Möglichkeit gedacht haben. Wie verhält es sich hiermit? Laut Riehl folgendermaßen: „Im Gegensatz zu den anschaulichen, konkreten und darum individuellen Vorstellungen der Sinne und der Einbildungskraft sind die Begriffe gedankliche, abstrakte und daher allgemeine Vorstellungen, welche in unserem Bewußtsein die Stelle der anschaulichen vertreten. Diese Sonderung gedanklicher Vorstellungen von den anschaulichen, den Wahrnehmungen und Erinnerungsbildern, wird durch die Sprache ermöglicht“ (2). Wort und Bedeutung sind, anders als später dann von Wittgenstein vertreten, untrennbar verbunden. Um also den Sinn einer Rede zu erfassen, bedarf es keiner Rückübersetzung in Bilder der Phantasie. Und stets sind es Begriffe und eben keine Anschauungsbilder, die in Rede und Schrift mitgeteilt werden. „Zwar klingen gleichsam die sinnlichen Vorstellungen, deren Stelle das bedeutsame Zeichen vertritt, in unserem Bewußtsein nach oder begleiten wie Schatten die Bewegung unseres Denkens. Man könnte das Zeichen als den Ausstrahlungsmittelpunkt für die betreffenden anschaulichen Vorstellungen betrachten. Müßten aber diese letzteren jedesmal über die Schwelle des Bewußtseins gehoben werden, um das Verständnis der Zeichen zu vermitteln, so würden wir niemals zu jener abgekürzten, verdichteten und darin der Wahrnehmung und Phantasie so überlegenen Art des Vorstellens befähigt sein, die wir, im Unterschied vom Anschauen, Denken nennen. Während die anschaulichen Vorstellungen so verschieden sind wie die Umstände ihrer Erwerbung, sind die begrifflichen, vorausgesetzt nur, daß sie hinlänglich definiert, d.i. durch andere, bekannte Begriffe erklärt werden, für jedermann dieselben“ (3).

Sprachliche Zeichen aber sind für die Bildung von Begriffen auch deswegen unverzichtbar, weil ohne jene diese im Bewußtsein nicht festgehalten werden könnten. Er „würde schon im Entstehen wieder verschwinden, nämlich von den anschaulichen Vorstellungen verdrängt werden“ (4).

Die „Quelle“ und der „Träger“ abstrakter Vorstellungen oder Begriffe ist also laut Riehl die Sprache. Begriffe sind allgemein. Zwar kann der Gegenstand eines Begriffs konkret sein, er selbst jedoch kann es nicht, obwohl beispielsweise jedes einmalige historische Ereignis zum Gegenstand begrifflicher Erkenntnis werden kann. Man hat sich dann eben gedanklich der Notwendigkeit seines Ablaufs versichert, was durch einfaches Hinsehen nicht zu bewerkstelligen ist. „Die Begriffe bleiben somit abstrakt und allgemein, mag auch ihr Gegenstand individuell, ja einzig in seiner Art sein“ (6).

Die Begriffsbildung beruht auf der Tätigkeit des Verallgemeinerns. Darüber hinaus setzt sie „Unterscheidungsfähigkeit“ voraus. Denken nämlich „ist etwas wesentlich anderes als sich unvollständig erinnern. Nicht durch Übersehen der Unterschiede, durch Absehen von den Unterschieden wird das begrifflich Allgemeine gewonnen“ (7). Mithin ist das Bilden der Begriffe einerseits zwar eine Befreiung von den Fesseln der Anschauung, andererseits gewinnt die Unübersichtlichkeit des bloß Angeschauten durch sie eine klare Kontur. In summa: „Außer dem Universum seiner Wahrnehmungen und anschaulichen Vorstellungen gibt es sonach für den Menschen ein Universum von Bedeutungen, das er sich selbst geschaffen hat. Das Mittel dazu war ihm die Sprache. Die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen bildet sein Erkennen“ (8).

Man sollte sich allerdings davor hüten, die empirische Allgemeinheit mit der begrifflichen zu verwechseln. Zur ersteren „gelangen wir durch generalisierende Abstraktion, durch Hervorhebung des Übereinstimmenden in einer Mehrzahl von Fällen, die dadurch zu einem Begriffe zusammengefaßt werden“: sogenannte All-Sätze. Die „begriffliche Allgemeinheit“ hingegen „wird durch analysierende Abstraktion erreicht, durch Zurückführung des in der Vorstellung Gegebenen auf das Einfache und Denknotwendige. (…) Empirisch-allgemeine Sätze sind als Ausdruck übereinstimmend wiederkehrender Beobachtungen und Erfahrungen material (= die Häufigkeit der weißgefiederten Schwäne Sir Karl Poppers innerhalb seines additiv-falsifikatorischen Wissenschaftsverständnisses, F.-P.H.), begrifflich-allgemeine formal; sie dienen zur Erklärung der Erscheinungen, und ist mit ihrer Hilfe eine bestimmte einzelne Erscheinung zum Verständnis gebracht, so haben wir damit auch schon das Verständnis aller Erscheinungen derselben Art erzielt“ (34).

Mit Folgendem hat übrigens – ein Anachronismus – der Frühgeborene Riehl dem Spätgeborenen Popper eine präzise und knappe erklärende Korrektur hinsichtlich seiner desolaten Wissenschaftsauffassung ins Stammbuch geschrieben: „Aus der empirischen Allgemeinheit läßt sich die begriffliche auf direktem Wege nicht herleiten. Selbst die erschöpfende Aufzählung der Fälle, wo diese überhaupt möglich ist, gibt unserem Urteile noch keine strenge Allgemeingültigkeit“. Das sah auch Popper so, allerdings sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen, weil er, unter unkritischer Zugrundelegung der empirischen Allgemeinheit, die streng begriffliche gar nicht erst ins Auge zu fassen vermochte. Es „bedarf“, so fährt Riehl fort, „dazu jederzeit der Unterordnung der Fälle unter einen begrifflichen Satz, ein mathematisches Naturgesetz; haben wir aber einmal einen solchen Satz, so ist wieder die Aufzählung der Fälle entbehrlich geworden“ (ebd.). Empirisch unterfütterte All-Sätze sagen also lediglich aus, daß eine in ihrer Eigenart übrigens nach wie vor unverstandene Tatsache wie auch immer eingeschränkt und folglich bloß vorbehaltlich gültig ist. Begriffliche Verallgemeinerungen wissen, auf Grund der vorgenommenen Identifizierung ihres Gegenstandes, den Grund seiner Begreiflichkeit auszumachen und zu benennen. Sie drücken nichts anderes als das Gesetz aus, „das alles Besondere, das sich aus ihm entwickeln läßt, zugleich in sich enthält“ (37). Folglich gilt die „gewöhnliche Regel, daß Verminderung des Inhaltes gleichbedeutend ist mit Vergrößerung des Umfanges eines Begriffes (…) nur von der äußerlichen, mechanischen Abstraktionsweise durch Wegdenken, nicht von jener wesenhaften Abstraktion, die das einheitliche Gesetz zusammengehöriger Begriffe und Objekte hervorhebt“ (ebd.).

Hinsichtlich mathematischer Objekte, wie nicht allein Riehl sie versteht, sondern wie auch die moderne Mathematik sie zu fassen gewohnt ist, gilt also, daß dort, wo „wir die Objekte unserer Begriffe selbst erzeugen, – richtiger: wo es sich gar nicht um die Objekte selbst handelt, sondern um die Vorstellungsart von Objekten überhaupt, wie in der Mathematik, da beherrschen wir eben dadurch auch alle Bedingungen der Spezifikation des höheren Begriffes in seine niederern, und alle Aussagen über diese Begriffe sind (selbstredend, ist man geneigt zu sagen, F.-P.H.) notwendig von eben derselben strengen Allgemeingültigkeit“ (ebd.). Nur konsequent, daß Riehl vor diesem Hintergrund dafür plädiert, den „Logikkalkül, die Verwandlung alles Schließens in Rechnen“ als „einen neuen Zweig der Mathematik“ anzusehen und nicht als das, „was er nach der Meinung seiner Urheber sein soll, eine allgemeine Theorie der Schlußfolgerungen“ (59 f.).

Hinsichtlich naturwissenschaftlicher Objekte und ihrer eingesehenen Gesetzmäßigkeiten schließlich gilt etwas ganz anderes: „Wären uns auch sämtliche Planeten (und planetarische Körper wie Monde u. dgl.) bekannt, und ließen sich unsere Beobachtungen ins Unendliche vervielfältigen – eine Voraussetzung, die in ihren beiden Teilen nicht zutrifft –, noch immer würden wir nicht berechtigt sein, zu sagen: was ein Planet ist, muß sich nach den Keplerschen Gesetzen um die Sonne bewegen. Das Newtonsche Anziehungsgesetz dagegen macht diese Folgerung auch ohne Vollständigkeit der Erfahrung notwendig. Dieses Gesetz, ein Lehrsatz der theoretischen Mechanik, welcher die Wurfbewegung eines Körpers aus ihren elementaren Antrieben konstruiert, steht vor aller weiteren Erfahrung fest, weil es nicht von zahllosen einzelnen Erfahrungen abstrahiert, sondern durch Zerlegung des in jeder möglichen, hierher gehörigen Erfahrung Wesentlichen ermittelt ist. Es befähigt uns daher zur Voraussage, daß es überall gelten werde, wo seine Bedingungen erfüllt sind, und in der Art, in welcher sie erfüllt sind; hat also absolute, von der Zahl der Fälle seiner Anwendung unabhängige Allgemeingültigkeit“ (36).

Jiménez, Camilo: Tagebuch eines Ehrgeizigen. Arthur Schopenhauers Studienjahre in Berlin, 11.08.06

Einleitung

Die folgende Arbeit befasst sich mit dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer und seinem Leben als Student der Friedrich-Wilhelms Berliner Universität. Schopenhauer lebte zwischen 1811 und 1813 in Berlin, wo er drei Semester studierte. Diese Jahre stehen für die erste von drei Perioden, die Schopenhauer in Berlin verbrachte: 1820 kehrte er in die Stadt zurück und blieb dort bis 1822, während er dort als Privatdozent tätig war. 1825 kam er wieder nach Berlin und lebte dort bis zum Ausbruch der Cholera-Seuche im Jahr 1830, wobei er ein Einzelgänger im intellektuellen Milieu der Berliner Universitätsphilosophen blieb.

Die drei Berliner Aufenthalte Arthur Schopenhauers bieten aufschlussreiche Einblicke für die Erforschung der frühen Geschichte der Berliner Universität.

In Glossen, Notizen-, Vorlesungs- und Studienheften, Briefen, Gesprächen sowie in den Vorworten und an zahlreichen Stellen seiner philosophischen Werke zeigte sich Schopenhauer — als Student, Doktorand und Privatdozent — als unermüdlicher und ständiger Kritiker der Berliner Universität, besonders ihrer zwei wichtigsten Akteure: Fichte und Hegel.

Diese Kritik an die Universitäts-Philosophie, die oft nur als willentlicher und sarkastischer Spott betrachtet wird, vermochte die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen allerdings kaum zu erregen. Das allgemeine Desinteresse an Schopenhauers Aversion gegen Hegel und die Universität allgemein hatte zunächst bei den Studierenden und Kollegen, aber langfristig auch in der akademischen Umgebung deutscher Universitäten eine unmittelbare Wirkung auf das philosophische und biographische Ansehen Schopenhauers. Nicht ohne Grund entzündete sich das Interesse für sein Werk und seine Person erst 1848, zwölf Jahre vor seinem Tod, als um die Zeit der März-Revolution auch der Gesamtanspruch des Deutschen Idealismus’ obsolet wurde und die Philosophie neue Wege ging, wobei Schopenhauers Willens-Lehre eine wichtige Rolle spielte.

Aber obgleich Schopenhauers Teilnahme am Diskurs der Universitäts-Philosophie keine historische Relevanz zuerkannt werden kann, haben seine Berliner Jahre — dies bestätigen alle wichtigen Biographen des Philosophen sowie die detaillierte Studie des Schopenhauer-Forschers Yasuo Kamata — eine für die Begriffsentwicklung des jungen Schopenhauer wesentliche Bedeutung. Schopenhauer war nie gerne in Berlin. Trotzdem befand sich dort die Universität, wo er als Student zwischen dem 23. und 25. Lebensalter zu den Überzeugungen kam, die ihn allmählich dazu führten, Fichtes Bewusstseinslehre abzulehnen und sich somit von dem aufblühenden Deutschen Idealismus definitiv abzugrenzen. Dort verfasste er einen großen Teil seiner Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Vermutlich sind die Grundlagen seines philosophischen Hauptwerks, Die Welt als Wille und Vorstellung, ebenfalls dort entstanden. Auch war Berlin der Ort, wo der 32-jährige zwischen 1820 und 1822 — unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung —sich vergeblich als großer Philosoph und Antipode Hegels zu etablieren versuchte; wo er sich als Dozent versuchte und in dem Vorhaben vollkommen scheiterte. Es ist nicht zuletzt auch der Ort, wo der Philosophie Professor zwischen 1825 und 1830 auch die unfruchtbarste Periode seines Lebens erlebte.

Eine kritische Gesamtdarstellung von Schopenhauers Berliner Jahren existiert bisher nicht. Trotzdem haben neueste Auseinandersetzungen sowohl mit dem Leben des Philosophen[1] als auch mit der Geschichte der Berliner Universität[2] Schopenhauers drei Berliner Perioden eine beträchtliche Bedeutung zuerkannt. Es ist die Absicht der vorliegenden Arbeit, sich einer der drei Berliner Aufenthalte — nämlich dem ersten — kritisch zu nähern.

Die folgenden Seiten bieten eine Darstellung vom Leben des Studenten Arthur Schopenhauer. Folglich werden neben dem Berliner Aufenthalt zwischen 1811 und 1813 die zwei Jahre miteinbezogen, die der junge Schopenhauer zuvor als Medizin-Student in Göttingen verbrachte. Besonders berücksichtigt wird hier das zugängliche Quellenmaterial. Der vorliegende Text will diese Dokumente im biographischen Kontext der Studienjahre Schopenhauers einordnen anstatt sie selbst zu analysieren. Auch werden fünf der einschlägigsten Werke über das Leben Schopenhauers zu Rate gezogen, nämlich die Biographien von Wilhelm vom Gwinner, Eduard Grisebach, Arthur Hübscher, Walter Schneider und Rüdiger Safranski.

Der Medizin-Student in Göttingen

Am 9. Oktober 1809 immatrikulierte sich der 21-jährige Arthur Schopenhauer als Student der Medizin an der Göttinger Universität. Vier Semester verbrachte Schopenhauer in Göttingen, bevor er nach Berlin abreiste, um dort das Studium der Philosophie zu beginnen. Von diesen zwei Jahren in Göttingen weiß man, dass sie dafür ursächlich waren, dass der einst überzeugte Medizinstudent seine Absichten in dem Bereich aufgab und sich für die Philosophie entschied.[3]

Und in der Tat verwandelte sich das Medizinstudium an der Göttinger Institution bereits nach dem ersten Semester zu einer Beschäftigung mit der Medizin, vor allem aber mit den Naturwissenschaften und der Philosophie. Schopenhauers Biograph Eduard Grisebach — zusammen mit Wilhelm von Gwinner eine der wichtigsten Quellen zur Lebensgeschichte Schopenhauers — beide haben den Philosophen persönlich gekannt — berichtet, es sei im Sommersemester 1810 gewesen, als Schopenhauer zum Entschluss gekommen sei, sich dem Studium der Philosophie zu widmen.[4] Schopenhauers Vorlesungshefte sowie die Register der Universitätsbibliothek liefern ein anschauliches Bild dieses Wandels.

Ein Vergleich von Schopenhauers Fächerauswahl[5] im Wintersemester 1809/10 und dem darauf folgenden Sommersemester zeigt drei relevante Änderungen im Studienplan des Medizinstudenten. Zum einen fällt sofort auf, dass weder Anatomie, die Schopenhauer bei Hempel neben Naturgeschichte und Mineralogie bei Blumenbach, Mathematik bei Thibaut und „Staatengeschichte“ bei Heeren im Wintersemester besucht hatte, noch andere Fächer der Medizin auf dem Studienkalender für das Sommersemester 1810 erscheinen. Dagegen vermehren sich die naturwissenschaftlichen Fächer auf dem Plan: Er besuchte Vorlesungen über Chemie bei Stromeyer, Physik bei Tobias Mayer und Botanik bei Schrader.

Zweitens muss man die Vorlesung über die „Geschichte der Kreuzzüge“ beim Historiker Arnold Heeren sowie die über „Allgemeine Philosophie“ bei dem damals berühmten Philosophen Gottlob Ernst Schulze hervorheben, die Schopenhauer auch während des zweiten Göttinger Semesters hörte. Der Autor der anonym veröffentlichten Kritik der Kantischen Vernunftkritik Aenesidemus oder die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie habe dem jungen Studenten geraten, „sich im ‚Privatfleiß’ nur Platon und Kant zuzuwenden und keinen anderen zu sehen, nämlich nicht den Aristoteles und den Spinoza.“[6] Es scheint, dass der Einfluss Schulzes eine bedeutende Rolle bei Schopenhauers Abwendung von der damals aufkeimenden nachkantischen Entwicklung der deutschsprachigen Philosophie spielte. Und das, obwohl Schopenhauer in den Randglossen der Vorlesungshefte vom „Rindvieh Schulze“ sprach, den Vortragenden öfters für einen „Sophisten“ hielt und den Vorlesungsstoff nicht selten als „Gewäsch“ oder „Unsinn“ bezeichnete.[7] Er blieb dennoch Zeit seines Lebens dankbar gegenüber Schulze,[8] an dessen viva vox im Vorlesungssaal er sich Jahre später im Gespräch mit Julius Frauenstädt erinnerte.[9]

Entschlossen, Philosophie zu studieren, besuchte Schopenhauer Schulzes Vorlesungen weiter: eine über „Metaphysik und Psychologie“ im dritten und noch eine über „Logik“ im vierten Semester.

Die dritte Neuigkeit in Schopenhauers Studienplan im zweiten Semester an der Göttinger Universität ist der lateinische Privatunterricht, den Arthur wöchentlich bei Professor Kirsten besuchte. Seine „Freizeit“ in Göttingen, welche mit dem Desinteresse an der medizinischen Fakultät zunehmend länger wurde, verbrachte Schopenhauer fern vom so genannten „Studentenleben“. Zusätzlich zum Lateinunterricht widmete er täglich mehrere Stunden der Nachlektüre von den von Professor Kirsten besprochenen lateinischen Autoren. Außerdem weiß man, dass Schopenhauer das Flötenspielen weiter lernte, dass er sogar Gitarrenunterricht nahm, dass er ein in der Stadt bekannter Spaziergänger war und ansonsten hauptsächlich dafür sorgte, sich genügend Zeit für die Bewältigung seines ehrgeizigen Studienplans zu nehmen.

Zu den erwähnten Vorlesungen kamen dann im dritten und im vierten Semester die Philosophievorlesungen Schulzes sowie Vergleichende Anatomie und „Physiologie“ bei dem von ihm geschätzten Professor Blumenbach zu[10]; dann im Wintersemester 1810/11 Vorlesungen über Physik, Astronomie und Meteorologie bei Tobias Mayer sowie „Alte Geschichte“ bei Heeren; und zuletzt — im Sommersemester 1811 — eine Vorlesung über „Alte Geschichte und Ethnographie“ bei Heeren und „Reichsgeschichte“ bei Lüder.

Der persönliche Studienplan Arthur Schopenhauers in Göttingen bestand allerdings nicht nur aus Vorlesungen, die er oft ungern besuchte,[11] sondern auch im privaten Studium der Schriften Fichtes und Schellings. Arthur Hübscher, Biograph und Herausgeber von Schopenhauers Werken und Briefen, bestätigt — nach einer Prüfung der Ausleih-Register der Göttinger Universitätsbibliothek —, dass Schopenhauer sich schon bald von Fichtes und Schellings nachkantischen Lehren, die unter Studenten und Lehrenden en vogue waren, wieder abwandte[12]. Stattdessen, so Hübscher, habe sich Schopenhauers Denken, „Schulzes Rat gemäß, in der geistigen Nachfolge Platons und Kants“ gebildet. „Aristoteles, Spinoza und nicht minder Leibniz (…) bleiben zunächst beiseite“[13]: In der Tat waren die ersten Bücher, die Schopenhauer aus der Bibliothek entlieh, zwei Schriften Schellings, Von der Wertseele und Idee zu einer Philosophie der Natur, sowie die gesamten Dialoge Platons in der Schleiermacherschen Übersetzung[14]. Das Wintersemester 1810/11 begann für Schopenhauer — nach der Lektüre von Schulzes Aenesidemus und von der „Metaphysik“ Vorlesung Schulzes beeinflusst — „mit einem nachhaltigen Studium Platons und Kants“[15]. Zu Anfang des Sommersemesters 1811 entlieh er die Kritik der reinen Vernunft, worauf die systematische Auseinandersetzung mit den Schriften Kants im Herbst folgte[16].

Trotz des engen Kalenders des Medizinstudenten Schopenhauer und seiner allgemeinen Aversion gegen das Studentenleben in Göttingen („man schlüge überhaupt viel zu viel Zeit mit den Collegen todt“[17] pflegte Schopenhauer regen Umgang mit Kommilitonen, insbesondere mit zwei Schulfreunden aus dem Gymnasium in Gotha, Friedrich Gotthilf Ossan[18] und Ernst Anton Lewald; mit dem US-Amerikaner William Backhouse Astor, dem sich Schopenhauer „der Sprache halber“ genähert hatte, und der später als Begründer der Astor Bibliothek in New York Millionär wurde; sowie mit Christian Carl Josias von Bunsen.[19] Die Gruppe Schopenhauer, Astor und Bunsen hieß schon bald der „Göttinger Bund“, von dem Bunsen und Schopenhauer bis ins hohe Alter sprachen[20].

Grisebach berichtet außerdem von einem Göttinger Tischgenossen Schopenhauers, Karl Peck, von dem man weiß, dass er Jahre später den Philosophen Schopenhauer zu Besuch hatte und, nachdem der eher unangenehme Besucher fort war, seine Meinung zu dem Altbekannten grundlegend änderte[21].

Besonders gut verstand sich Arthur Schopenhauer mit Carl Bunsen, „dem Leibgesellschafter Schopenhauers“ — wie ihn Carl Georg Bähr einmal nannte[22] -, der auf Schopenhauer den Eindruck eines Genies machte. Arthur lud ihn nach Weimar ein, um die Osterferien im Haus seiner Mutter zu verbringen.

In diese Zeit fällt das erste Treffen des eher schüchternen Schopenhauer mit Goethe.[23] Schopenhauer brachte während dieser Weimarer Ferien seinen Freund Bunsen ins Haus des Dichters, Philosophieprofessors und Lehrer des Fürstensohns Christoph Martin Wieland mit.Zwei schriftlich festgehaltene Gespräche mit dem Weimarer Dichter[24] sowie ein Brief von Wielands Enkelin,[25] Wilhelmine Schorcht, dokumentieren die Besuche im März 1811 bei Wieland. Schopenhauer war von seinem Vorhaben, nach Berlin zu ziehen und Philosophie zu studieren, überzeugt. Im Gespräch mit Wieland gelang es ihm, die Vorbehalte des alten Professors gegenüber dem Philosophiestudium auszuräumen („Sie haben recht getan [dass Sie richtig gewählt haben], junger Mann, ich verstehe jetzt Ihre Natur; bleiben Sie bei der Philosophie“.[26] Jahre später, so beschrieb Carl August Bähr, stand eine Büste Wielands auf einem Postament im Arbeitszimmer von Schopenhauers Frankfurter Wohnung.[27] Über Schopenhauers Besuch schrieb die Enkelin Wielands ihrem Freund, dem Juristen Karl Reinhold:

”Neulich war der junge Schopenhauer auf einige Zeit in W[eimar]. Er kam von ganz filosophischen Ideen voll, er hat sich einer Filosofie mit Leib und Seele ergeben (ich weiß sie nicht namentlich zu sagen), die sehr streng ist; jede Neigung, Begierde, Leidenschaft müssen unterdrückt und bekämpft werden, dazu wünsche ich ihm nur die erforderliche Kraft, den Krieg zu bestehen, denn es gehört wohl eine Riesenseele dazu, die Forderungen alle ganz zu erfüllen, wie er den guten Willen hat.”[28]

Biographen wie Hübscher und Grisebach sind der Meinung, dass die Göttinger Jahre „für den Grund und die Richtung“ des Denkens des jungen Schopenhauers entscheidend waren:[29] Der 68-jährige Schopenhauer selbst erwähnte einmal seinem Freund Carl Georg Bähr gegenüber die Bedeutung der Studienjahre in Göttingen[30]. Andere Biographen, wie Schneider[31] und Safranski,[32] oder Forscher des „jungen Schopenhauer“ wie Kamata[33] weiten diese Periode auf die ersten Berliner Jahre aus und gehen davon aus, dass die Semester in Göttingen mit der darauf folgenden Zeit in Berlin Teile des gleichen Entwicklungsprozesses sind. Auch wenn eine erste Annäherung an die Naturwissenschaften sowie der Beginn des Studiums Platos und Kants in Göttingen geschahen, war es erst in Berlin, wo Schopenhauer Kant gründlich studierte, sich eigene philosophische Prinzipien aneignete und, konfrontiert mit den Ansichten des gängigen Deutschen Idealismus’ diesen zu verachten erlernte.

Nach Ende des Sommersemesters 1811 verließ Schopenhauer Göttingen mit der Absicht — trotz aller Liebe zum Harz und allen Abscheus gegen Berlin —, in die preußische Großstadt zu ziehen, um Fichte, Wolf und Schleiermacher[34] zu hören und den weit gerühmten Geist der Universitätsphilosophie näher kennen zu lernen[35].

Die Reise nach Berlin

Schopenhauer traf Anfang Oktober 1811 in Berlin ein. Nach dem vierten Semester in Göttingen und dem eher übereilten Abschluss des Medizinstudiums war Schopenhauer den Sommer lang aus eigenem Wunsch in den Harz gereist, bevor es im Frühherbst desselben Jahres endgültig nach Berlin hieß. Dies geschah entgegen dem Wunsch der Mutter, die den Sohn lieber in Weimar gesehen hätte. Die Liebe Schopenhauers zur Göttinger Landschaft, schreibt Grisebach,[36] war stärker. Und so blieb Goethes eher reservierter Empfehlungsbrief (und einige Bücher, die der große Dichter auch nach Berlin schicken wollte) in Weimar.

Aus der Reise im Harz stammt ein einziges Dokument, das Auskunft über Schopenhauers Begeisterung für das geplante Philosophiestudium und seinen Geisteszustand gibt. Es handelt sich um einen Text, der am 8. September einige Wochen vor der Ankunft in Berlin wahrscheinlich in Ellrich im Harz verfasst wurde. Es handelt sich dabei, was allerdings noch umstritten ist[37], vermutlich um einen Brief an seine Schwester Adele:

Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein
steiler Pfad über die spitze Steine und stechende Dornen: er ist einsam und wird immer öder je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen kennen, sondern muß alles hinter sich lassen, und sich getrost im kalten Schnee seinen Weg selbst bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht unten das grüne Thal: dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab; aber muß sich halten und sollte er mit dem eigenen Blut die Sohlen an den Felsen kleben. Dafür sieht er bald die Welt unter sich, ihre Sandwüsten und Moräste verschwinden, ihre Unebenheiten gleichen sich aus, ihre Misstöne dringen nicht hinauf, ihre Rundung offenbart sich. Er selbst steht immer in reiner, kühler Alpenluft und sieht schon die Sonne wenn unten noch schwarze Nacht liegt.

Einen Trost gibt es, eine sichere Hoffnung, und diese erfahren wir
vom moralischen Gefühl. Wenn es so deutlich zu uns redet, wenn wir im Innern einen so starken Bewegungsgrund auch zur größten, unserm scheinbaren Wohl ganz widersprechenden Aufopferung fühlen: so sehen wir lebhaft ein, daß ein anderes Wohl unser ist, demgemäß wir so allen irdischen Gründen entgegenhandeln sollen; daß die schwere Pflicht auf ein hohes Glück deutet, dem sie entspricht: daß die Stimme, die wir im Dunkeln hören, aus einem hellen Orte kommt. —Aber kein Versprechen gibt dem Gebote Gottes Kraft, sondern sein Gebot ist statt des Versprechens…
Diese Welt ist das Reich des Zufalls und des Irrthums: darum sollen wir nur nach dem streben, was kein Zufall raubt, und nur das behaupten und nach dem handeln, worin kein Irrthum möglich ist.”[38]

Berlin hatte Schopenhauer bereits während eines kurzen Besuches im Jahr 1800 und nochmals am Ende seiner Europa Reise im Jahr 1804 kennen gelernt — und verabscheut:[39] Die Luft war voll mit vom Wind aufgewühlten Sand. Die Bewohner bedrückten ihn.[40] Die Abneigung gegen Berlin blieb ein Leben lang[41]. Mit Sarkasmus schrieb er mehr als vierzig Jahre später an seinen Freund Julius Frauenstädt: „Viel Selbstmord in Berlin? Glaub’s; ist physisch und moralisch ein vermaledeites Nest, und ich bin der Cholera sehr dankbar, daß sie mich vor 23 Jahren daraus vertrieben hat (…)“[42].

Universität

Berlin war trotz der Abneigung Schopenhauers ein Ort, wo der Philosoph wichtige Schritte in seinem Bildungs- und Begriffentwicklungsprozess machte. Zunächst entdeckte er seine Antipathie gegen die Universitätsphilosophie – was später mit der Bekanntschaft mit Hegel umso noch stärker werden sollte.

Er erlangte Kenntnisse von Fichtes und Schellings Bewusstseinsphilosophie sowie von Kants Vernunftkritik.Diese wirkten bei aller Ablehnung des damals aufblühenden Deutschen Idealismus’ bei der Entwicklung des eigenen Gedankengebäudes nach. Eine Grundvoraussetzung dafür war die intensive Beschäftigung mit Kant. Als Student in Berlin entwarf Schopenhauer die Vorarbeiten seiner Dissertationsschrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Wichtige Überlegungen, die später in Die Welt als Wille und Vorstellung grundlegend sind, entstammen zumindest im Grundriss ebenfalls dieser Zeit.

Diese Vielfalt an Beschäftigungen während etwa anderthalb Jahre war nur mit einer strengen Disziplin zu bewältigen. Wie in Göttingen hielt sich Schopenhauer auch in Berlin fern vom Leben der societé der aufwachsenden Metropole. Es liegen keine Briefe aus dieser Zeit vor;[43] man weiß lediglich, dass er sein Studium im Herbst 1812 einmal unterbrach, um die Ferien bei seiner Mutter und Schwester in Dresden und Leipzig zu verbringen.[44] Alle gesellschaftlichen Kontakte, von denen man in späteren Briefen und Gesprächen erfährt, fanden innerhalb der universitären Umgebung statt.

Tatsächlich war das einzige Anliegen des 23jährigen Studenten, zwei Jahre lang in Berlin zu bleiben und sich dort zu „rüsten, [um] bei der hochansehnlichen philosophischen Fakultät der Berliner Universität den Doktorgrad im verordneten Wege zu erlangen.“[45] Schopenhauer ließ sich folglich von dem ihm bereits aus dem Weimarer Kreis seiner Mutter Johanna bekannten Zoologieprofessor Lichtenstein über die „Bedingungen und Erfordernisse“[46] zur Erfüllung seines Vorhabens informieren und machte sich an die Bewältigung seines anspruchsvollen Studienplans.

Der Studienplan

In den drei Berliner Semestern absolvierte Schopenhauer ein gewaltiges Pensum. Grisebach behauptet, Schopenhauer sei die „24 Bücher allgemeiner Geschichte“ im ersten Semester durchgegangen.[47] Schopenhauers Studienhefte zeugen von den vielfältigen intellektuellen Beschäftigungen des jungen Studenten, vor allem der unermüdlichen Auseinandersetzung mit Kants Schriften, die bis zur Abfahrt Schopenhauers von Berlin im Jahre 1813 fortgeführt wurde und im Heft „Zu Kant“[48] dokumentiert ist. Aus den Vorlesungsheften[49] weiß man, dass Schopenhauer in diesem ersten Wintersemester 1811/12 neun Kurse besuchte: Drei Vorlesungen Fichtes („Über das Studium der Philosophie“, „Über die Tatsachen des Bewußtseins“ und „Über die Wissenschaftslehre“); „Experimentalchemie“, „Magnetismus“ und „Elektrizität“ bei Martin Heinrich Klaproth; „Ornithologie, Amphibiologie, Ichtyologie“ bei Paul Eman; die Vorlesung „Über weißblutige Tiere und Haustiere“ bei Lichtenstein; und „Nordische Poesie“ bei Rühs. Besonders gefiel Schopenhauer Lichtensteins Kollegium,[50] wo ihm, so Hübscher, die beliebte Stunde zur „lebendigen Anschauung“ in den zoologischen Gärtnern und Menagerien vorbehalten war.[51]

Im zweiten Semester, von Fichte bereits geistig distanziert[52], hörte Arthur Schopenhauer im Fach Philosophie lediglich Schleiermachers Vorlesung über die „Geschichte der Philosophie zur Zeit des Christentums“. Das Sommersemester 1812 wird durch ein gesamtwissenschaftliches Interesse Schopenhauers charakterisiert. Er blieb den Naturwissenschaften treu und besuchte zwei Kollegien Lichtensteins, „Zoologie“ und „Entomologie“, sowie Weiß’ Kurs über „Geognosie“. Schopenhauer richtete sein Interesse aber auch auf die Vorlesungen des Altertumsforschers Friedrich August Wolf, mit dem Schopenhauer zunächst aufgrund der Berühmtheit seiner Mutter Johanna in den Hofkreisen in Weimar in einem guten Verhältnis stand[53]. Damit befasste sich Schopenhauer wieder mit humanistischen Fächern. Neben Wolfs Vorlesungen, „Über die Wolken des Aristophanes“ und „Über die Satiren des Horaz“, gab es die Vorlesung des damals nur 25jährigen Altertumsforschers Phillip August Boeckh, „Über das Leben und die Schriften Platons“, ein Kollegium, das Schopenhauer, so Schneider[54], aus Zeitgründen nicht besucht hatte, von dem er aber aus den Skripten seines Freundes Carl Iken erfuhr.

Der Studienplan für das letzte Semester des Studenten Arthur Schopenhauer in Berlin, das Wintersemester 1812/13, folgte seinem Interesse für eine gesamtwissenschaftliche Ausbildung. Beim Humanisten Wolf lernte Schopenhauer über „Griechische Altertümer“ in einer für den jungen Studenten reizvollen Vorlesung, um deren Hefte er dann von Wolf gebeten wurde. Diese bekam Schopenhauer dann mit Verbesserungsvorschlägen und einer aufmunternden Widmung zurück[55]. „Physik“ hörte Schopenhauer bei Fischer, „Astronomie“ bei Bode, „Allgemeine Physiologie“ bei Horkel, „Zoologie“ bei Lichtenstein und „Anatomie des menschlichen Gehirns“ bei Rosenthal.

Der Unterricht von Rosenthal fand oftmals in der Berliner Charité statt, wo, so Gwinner, „zwei in der sogenannten melancholischen Station detinirte Unglückliche [Schopenhauers] Interesse erregten“[56]. Die Patienten seien geistesgestört, aber im Bewusstsein ihrer Krankheit gewesen. Schopenhauer habe ihnen Mitleid gezeigt; dafür seien ihm „interessante Gefühle und Gedanken“ mitgeteilt worden. Einem der Kranken habe der 24jährige Student sogar eine Bibel geschenkt. Als Dank habe Schopenhauer am Ende des Wintersemesters von ihnen zwei Geschenke bekommen: eine biblische Textauswahl von dem einen und ein Gedicht von dem anderen, welches lautete:

„Dem Edlen, welcher hold erscheint,
Auch dem, der in der Zelle weint,
Der leidende Menschenfreund.“[57]

Die Studien- und Vorlesungshefte

Bei jeder Vorlesung bekam Arthur Schopenhauer ein Heft, auf dem die für jede Sitzung vorgesehenen Vorträge standen. Fiel dem jungen Schopenhauer beim Verfolgen der Vorlesung etwas ein, so merkte er es an den Texträndern des jeweiligen Vorlesungsheftes an. Besonders auffällig sind die turbulenten Hefte aus Fichtes Vorlesungen[58]. Die drei Dokumente zeugen von Schopenhauers ersten verehrenden und respektvollen Anmerkungen zum gefeierten Autor der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre; jedoch aber zeigen sie auch an zahlreichen Stellen, wie, so Hübscher, diese „Verehrung a priori“ sich rasch in „Geringschätzung und Spott verwandelte“[59].

„Fichtes Vortrag ist wohl deutlich und er spricht langsam, doch verweilt er mir zu lange auf leicht zu verstehenden Dingen und wiederholt sie mit anderen Worten, so daß die Aufmerksamkeit ermüdet, das schon Begriffene wieder anzuhören, und man eher dadurch zerstreut wird“,

so heißt es nach dem ersten Vortrag über „das Studium der Philosophie“[60]. Ähnliche, abgemilderte Kritiken zeigen die ersten Protokolle aus den anderen zwei Vorlesungen Fichtes. Nach dem ersten Vortrag über die „Wissenschaftslehre“ zitiert z.B. Schopenhauer die englischen Versen: „Though this be madness/yet there’s method in it“[61]. Dem Titelblatt dieses Heftes fügte er den Verweis auf eine Fußnote neben der Rubrik „Wissenschaftslehre“ hinzu: So befindet sich unten auf dem Blatt ein Sternchen und neben diesem die Anmerkung: „vielleicht ist die richtige Leseart Wissenschaftsleere“[62]. Auf der Rückseite desselben Titelblatts stehen zwei Zitate: ein längerer Absatz von Kant über die Lüge und die Verse Goethes: „Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, /Es müsse sich dabey doch auch was denken lassen— “.

Schopenhauers sorgfältiges Studium der Philosophie und die intensive Auseinandersetzung mit Fichte zeitigten aber nicht lediglich Spott und Sarkasmus. Im Einklang mit Hübscher[63] und Safranski[64] zeigt der japanische Schopenhauer-Forscher Yasuo Kamata[65] anhand der sog. Frühen Manuskripte[66] Schopenhauers sowie seinerVorlesungs- und Studienhefte, dass der Besuch der Fichteschen Vorlesungen (und auch natürlich das Studium von Fichtes Schriften, welches unter dem Titel „Zu Fichte“ in den Studienheften protokolliert ist[67] eine entscheidende Rolle in der Begriffsentwicklung des jungen Philosophen spielte. Ein Dialog sei in den Glossen und Notizen entstanden. Man könne z.B. den Prozess verfolgen, wie Schopenhauer sich vom Begriff des Absoluten zur konkreten Vorstellung, „zu genauer Beobachtung und Begriffsentwicklung“ abwendete. Aus dem Fichteschen und Schellingschen ‚empirisches Bewußtsein’ sei Schopenhauers unabhängiges, ‚besseres Bewusstsein’ entstanden[68]; Modifikationen vom ‚intellektuellen’ bzw. ‚intelektualen’ Anschauungskonzept Fichtes und Schellings seien vollzogen worden[69]. Die für Schopenhauers Weltvorstellung grundlegende Idee einer ‚Duplizität des Bewußtseins’ sei aufgetreten[70]; und der Auftakt des Schopenhauerschen Willensbegriffes und der Schopenhauerschen „Lösung“ vom Problem des Kantischen Dings an sich ebenso geschehen[71]. Diesen letzten Schritt erörtert Hübscher wie folgend:

„Inzwischen ist die Synthese von Platons Idee und Kants Ding an sich erfolgt. (…) Vom Willen wird nichts gesagt. Scheinbar unvermittelt wird kurz darauf die Alleinherrschaft des einen weltschaffenden Willens verkündet: ‚Die Welt als Ding an sich ist ein großer Wille (…)’. Von der Idee wird hier nichts gesagt. Immer mehr führt die Überzeugung dazu (…), den Willen aller verstandesmäßigen Elemente zu entkleiden, ihn als blind und ziellos aufzufassen. Aber sollen Willens- und Ideenlehre nun im unbestimmten Nebeneinander bleiben? Plötzlich kommt, wie ein Blitz der Evidenz, der Zusammenschluß beider Gedankenreihen. ‚Der Wille’, heißt es, ‚ist die Idee’—ein Satz, der in einer späteren Fußnote sogleich widerrufen wird: ‚Das ist unrichtig: die adäquate Objektivität des Willens ist die Idee.“[72]

Indem dieser Prozess während der drei Berliner Semester zustande kommt, wächst die Empörung gegen Fichte in den Randglossen der Vorlesungshefte weiter. In der Vorlesung über die „Wissenschaftslehre“ heißt es: „Das Ich ist, weil es sich setzt, und setzt sich, weil es ist“; dies bereitete Schopenhauer Gelegenheit zur Ironie: Am Rand, neben dem Satz, malte er einen Stuhl.[73] Auf dem Heft der fünften Sitzung von „Über die Tatsachen des Bewußtseins“ scheint Schopenhauer von der Vorlesung ermüdet. Er kritzelt auf dem Rand:

„Ich muß gestehen, daß Alles hier gesagte mir sehr dunkel ist, ich es auch unrecht verstanden haben mag; auch daß F[ichte] in dieser Vorlesung Vieles gesagt hat, was ich durchaus nicht verstanden habe. Ob Fichte Schuld zu geben ist, oder meinen Mangel an Aufmerksamkeit, an gehöriger Stimmung dazu, oder an Verstande, oder endlich meinem Befangen-seyn in der kantischen Elementarlehre, weiß ich nicht.“[74]

Sechs Wochen danach, als „über die Reflektion“ gesprochen wird, schreibt er wütend über Fichtes Vortrag:

„In dieser Stunde hat er außer dem hier Aufgeschriebenem Sachen gesagt die mir den Wunsch auspressten, ihm eine Pistole auf die Brust sezzen zu dürfen und dann zu sagen: sterben muss du jetzt ohne Gnade; aber um deiner armen Seele Willen, sage ob du dir bey dem Gallimathias etwas deutliches gedacht hast oder uns blos zu Narren gehabt hast?“[75]

Und noch in der letzten Sitzung wird der vortragende Professor — diesmal wegen eines aufgedeckten Trugschlusses — bezüglich des Inhalts kritisiert:

„Nach F[ichte] ist die Ersch[einung] (das Ich und die Welt) uns nur faktisch bekannt, d.h. als Tatsache gegeben, und zwar ganz wie sie ist in dem Sicherscheinen d.h. in der Trennung des Ich von seinen Vorstellungen. Dies Getrennt-seyn nun (Subjekt und Objekt) wird erklärt aus dem was er (vel quasi) herleitet aus jenem faktisch gegebenen, also aus sich selbst. Folglich wird nichts erklärt, sondern gesagt: es muß so seyn, weil es ebenso ist. —‚Der Rest ist —Wind.’ Hamlet“[76]

Nicht nur Fichte war Gegenstand heftiger Kritik. Auch der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde von Schopenhauer in den Studien- und Vorlesungsheften in einem, so Hübscher[77], „kühnen, selbstbewussten Ton“ angegriffen[78]. „Keiner der religiös ist“, steht es in einer Glosse im Heft zur Vorlesung „Über die Geschichte der Philosophie zur Zeit des Christentums“, „gelangt zur Philosophie; er braucht sie nicht. Keiner der wirklich philosophirt ist religiös: er geht ohne Gängelband, gefährlich aber frey“. Schopenhauer antwortete somit auf eine genau gegensätzliche Behauptung Schleiermachers. Aber die Beziehung Schopenhauers zum Philosophen und Theologen Schleiermachen war verschieden von der Verehrung, die Schopenhauer für diesen als Philologe und Übersetzer Platos fühlte[79]. Gwinner berichtet, dass Schopenhauer von Schleiermacher „köstliche Anekdoten“ zu erzählen gewusst habe, dass er seinen Witz gelobt und vor allem den Satz: „[A]uf Universitäten lerne man nur, was man nachher zu lernen habe“ sehr gemocht habe[80].

Der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling wurde, wie Schleiermacher, von Schopenhauer mit größerem Respekt als Fichte behandelt. „Schelling (…), entschieden der Begabteste unter den Dreien [den drei Hauptgestalten des deutschen Idealismus’, Fichte, Schelling und Hegel]“ schrieb Schopenhauer Jahre später in Parerga und Paralipomena[81]. Schopenhauers Studium von Schellings Schriften entwickelt sich in drei Studienheften, „Schelling I“, „II“ und „III“[82], und ist genauso reich an Randglossen und Kommentaren wie die übrigen Studienbücher Schopenhauers. Wie schon erwähnt bildet die Bearbeitung des Schellingschen Willensbegriffes wahrscheinlich die wichtigste Stelle der Auseinandersetzung Schopenhauers mit Schelling[83].

Aber wichtiger als Schelling, Schleiermacher oder Fichte war Schopenhauers Beschäftigung mit Kant während der drei Berliner Semester. Die Notizen im Heft „Zu Kant“, welche zwischen 1812 und 1813 entstanden, enthalten die Ergebnisse einer kritischen Studie der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der Urteilskraft und der Prolegomena. Arthur Hübscher meint, dass die dort formuluierte Kant-Kritik noch von der Kritik in Die Welt als Wille und Vorstellung stark abweiche. „Neben dem ‚Phänomenalismus’“, schreibt Hübscher, „(…) und neben den Hauptsätzen der transzendentalen Ästhetik und der Lehre vom intelligiblen Charakter übernimmt Schopenhauer damals noch, mit Einschränkungen, die Lehre von den Kategorien. Sonst aber lehnt er Kants Philosophie noch immer und manchmal mit großer Schroffheit ab.“[84] Andere Forscher denken jedenfalls, dass vor allem Schopenhauers Auseinandersetzung mit Kants „problematischem“ Ding an sich in diesen Semestern besonders zu berücksichtigen sei[85]. Es ließe sich sogar behaupten, dass Fichte — zumindest mit seinem anti-empirischen Ansatz und als Partizipant der früh nachkantischen Polemik um Kants Ding an sich —auf Schopenhauers Idee von zwei von einander abgetrennten Bewusstseinswelten gewirkt und zusammen mit Plato einen besonderen Einfluss auf die einige Jahre später von Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung völlig entfaltete Lösung zu diesem kantischen Dualismus gehabt habe.

Die drei Semester zwischen Herbst 1811 und Frühling 1813 sind geprägt von der Anpassung des jungen Schopenhauers auf die akademische Umgebung und die Erfordernisse der akademischen Beschäftigung mit der Philosophie. Man kann aber den Wert nicht gering achten, den die anderen Fächer und die sie lehrenden Dozenten für die geistige Entwicklung des Philosophen hatten. In dem 1820 an die Berliner Universität ausgehändigten lateinischen Lebenslauf erinnert sich Schopenhauer: „Dem großen Verdienst dieser ausgezeichneten Männer um mich werde ich stets dankbaren Sinnes eingedenk bleiben.“ Und dann fügte er über Fichte, den bisher unerwähnt geblieben war, hinzu: „Auch Fichten, der seine Philosophie vortrug, folgte ich, um sie nachher um so gerechter beurteilen zu können, aufmerksam“[86].

Nicht nur im einsamen Studium oder im stillen Sitzen im Hörsaal focht Schopenhauer während dieser anderthalb Jahre einen inneren Kampf um seine Philosophie aus. Bekannt ist, dass er einmal während der Sprechstunde Fichtes eine heftige Diskussion mit dem Professor auslöste, „deren sich die dabei zugegen Gewesenen vielleicht erinnern werden“[87]. 42 Jahre später erzählte Schopenhauer seinem Freund Carl Heber folgendes über das Geschehen: „In dem philosophischen Conservatorium, das Fichte hielt, habe er (Schopenhauer), vierundzwanzig Jahre alt, ihn auf den Hund gesetzt, worauf Jener (wenn ich richtig verstanden habe) sich durch Verlegung der Stunde zu helfen gesucht, dann aber Schopenhauer wieder eingeladen habe, was aber abgelehnt worden sei“[88].

Der Berliner Freundeskreis

Von den freundschaftlichen Beziehungen Schopenhauers während der ersten Berliner Zeit weiß man wenig. Es lässt sich vermuten, dass Schopenhauers ehrgeizige Attitüde als Student dafür sorgte, dass sein Freundeskreis in Berlin sehr klein blieb und dass seine Beziehungen, gute und schlechte, sich im engen Rahmen seines akademischen Umfelds beschränkte. Der Streit mit Fichte war lediglich eine von mehreren Gelegenheiten, in denen Schopenhauer sich öffentlich zu erkennen gab. Gute Beziehungen unterhielt der eifrige Student, soweit man dies von den Quellenzeugnissen ableiten kann, mit den Dozenten Wolf, Lichtenstein und Blumenbach[89].

Schopenhauers Kommilitone in Göttingen, das „Wunderkind“ Karl Witte, den der Philosoph im Winter 1818/19 traf, schrieb in einem Brief an Wilhelm von Gwinner, dass „[u]ngünstige Urtheile“ über Schopenhauer aus Weimar und Berlin, wo Wittes Eltern gewohnt hätten, verbreitet worden seien[90]. Derselbe Witte berichtet aber, dass er in seinen vielen Treffen mit dem Philosophen „nichts Schlechtes an ihm“ bemerkt habe[91].

Schopenhauers Umgang mit seinen Freunden unterschied sich grundsätzlich von seinem sonstigen sozialen Verhalten. Mit Carl Iken, den Schopenhauer im ersten Berliner Semester im zoologischen Kollegium bei Lichtenstein kennen lernte und mit dem er im Herbst zusammen nach Dresden fuhr, behielt der Philosoph eine ausgezeichnete Beziehung bis ins hohe Greisenalter[92]. Seinem Freund Julius Frauenstädt erzählte Schopenhauer Jahre später, dass er Iken immer für das, „was Jean-Paul ein passives Genie nennt“, gehalten habe. Iken habe große Empfänglichkeit für alles Ästhetische gehabt, selbst aber nichts hervorbringen können[93]. Iken schrieb, wie bereits oben angeführt, für Schopenhauer während des zweiten Semesters in Boeckhs Vorlesung „Über das Leben und die Schriften Platons“ mit. Die beiden Freunde hätten gemeinsame Interessen gehabt: Einmal — berichtet Frauenstädt — habe Iken Schopenhauer Christian Reuters Satire Schelmuffsky’s Abenteuer zu Wasser und Land geliehen und der junge Philosoph sei „ganz vernarrt in dieses Buch gewesen“[94].

Zu solchen literarischen „Intimitäten“ gelang Schopenhauer mit keinem anderen seiner Berliner Kommilitonen. Aber in sehr guten Verhältnissen stand der junge Philosoph noch mit zwei Mitstudierenden, Josef Gans und einem gewissen Helmholtz, dieser letzte vermutlich der Vater des prominenten Physikers. Außer diesen drei Beziehungen und der oben erwähnten Beziehung zu den zwei Geisteskranken in der Charité weiß man nichts weiteres über Schopenhauers Freundeskreis — sofern man von einem solchen überhaupt sprechen kann — während der Studienzeit in Berlin.

Ob Frauen unter Schopenhauer Bekanntschaften in Berlin waren, ist von keiner Quelle herzuleiten. Man weiß, dass Schopenhauer fast zehn Jahre später eine Geliebte (Caroline Medon) in Berlin hatte und, wie er Julius Frauenstädt einmal erzählt habe, er sei im Punkte der Geschlechtsliebe kein Heiliger und „arg nach Weibern gewesen“; er habe „in Italien nicht blos das Schöne, sonder auch die Schönen genossen“[95].

Schopenhauers Frauenfeindlichkeit ist allgemein bekannt. Von Beziehungen zu Frauen während dieser Berliner Semester berichten weder die vorliegenden Dokumente noch Schopenhauers Biographen – sogar Safranski, der neueste unter den Biographen, wagt die Vermutung, dass Schopenhauers sexuelle Abstinenz bzw. dass seine „sehr späte Pubertät“ Effekte auf die eigene Begriffsentwicklung gehabt habe, besonders auf das Erscheinen eines „besseren Bewusstseins“, welches unabhängig von den Sinnen und vom Verstand immer noch in uns lagere, unsere Welt aber beherrsche[96]. Safranski schreibt:

„Schopenhauer hat Pech gehabt. Ihm widerfuhr bis zu dem Zeitpunkt, als er seine Blitze gegen die Sexualität schleuderte, kein Liebeserlebnis, bei dem er die Sexualität als etwas hätte erleben können, das in die ganze Person integriert ist, das die ganze Person schwungvoll mit auf Reisen nimmt. Dort, wo er Sexualität fand, liebte er nicht, und wo er liebte, blieb die Sexualität ausgegrenzt.

(…) Wir haben in der Regel gegen unsere Sexualität keine Chance, lehrt er. Als die grellste Manifestation des ‚Willens’ ist sie das ‚Ding an sich’ in Aktion, blamiert das arme Ich und treibt es vor sich her. Die Sexualität als Blamage der Selbstherrlichkeit hat Arthur Schopenhauer sehr konkret erlebt in seinen unbefriedigenden Verhältnissen zu Frauen.
Er hat Pech gehabt.“[97]

Unmittelbar betroffen von Schopenhauers Misogynie — zumindest teilweise — waren seine Mutter Johanna und besonders seine Schwester Adele gewesen. Der Briefwechsel mit Adele, im Unterschied von der seit frühester Jugend untergekühlten und distanzierten Korrespondenz mit der Mutter, bezeugt eine lebenslang emotional wechselhafte Beziehung zwischen den Geschwistern. Die drei bekannten Brüche in der Familie Schopenhauer geschahen erst nach Arthurs Studienzeit in Berlin: zum ersten Mal im Jahr 1814, dann 1819 und schließlich 1832. Trotzdem hat man herausfinden können, dass die anderthalb Jahre, die Schopenhauer ausschließlich dem Studium in Berlin widmete, sich verschlechternd auf die familiären Beziehungen auswirkten[98]. Nach der Abreise von Berlin traf Schopenhauer in Weimar ein, kam aber nicht zum Familienhaus sondern wohnte in einem Gasthof[99]. Ein Brief von der ersten Hälfte des Jahres 1814 liegt vor, den Johanna Schopenhauer ihrem Sohn schrieb, in dem ihm mitgeteilt wurde: „Seit unserer letzten Unterredung habe ich mir fest vorgenommen lieber Arthur, nie wieder von Geschäften mündlich mit Dir zu sprechen, weder von angenehmen noch unangenehmen, weil meine Gesundheit dabei leidet“[100]. Im selben Jahr brach die familiäre Beziehung zusammen.

Die Abreise

Ab Neujahr 1813 ist Berlin von der wachsenden Erregung über die sich nähernde militärische Auseinandersetzung mit Napoleon erfasst[101]. Russische Kosakentruppen kommen zwischen dem 16. und dem 17. Februar, „mit Jubelgeschrei vom Pöbel empfangen und an einigen Stellen auch kräftig unterstützt“[102], in der Stadt an. Tausende Berliner begeben sich auf die Flucht und emigrieren aus der militarisierten Stadt, hauptsächlich nach Frankfurt an der Oder und Breslau. „Die Stadt glich einem Hexenkessel“, wird berichtet[103]: Kosaken und Patrioten befinden sich in einem tödlichen Kampf gegen die in Berlin eindringenden Franzosen. Was zuerst in Straßenkämpfen die Angst der Berliner Einwohnern erweckt, wird am 20. Februar, als die Stadt nach einer Explosion verbarrikadiert und die Sicherheitsmaßnahmen an fast jeder Ecke verschärft werden, zum „erregendste[n] Tag, den Berlin seit Beginn des Krieges erlebt“ habe[104]. Über die „fieberhafte Unruhe“, die die Stadt seit diesem Tag erfasst, wird in einem zeitgenössischen Bericht erzählt[105]. Der König von Preußen entschließt sich am 23. Februar zum Bruch des Bündnisses mit Napoleon. Am 26. März wird die Landwehr in Berlin einberufen: Alle männlichen Einwohner vom 17. bis zum 40. Lebensjahr müssen sich kampfbereit vor den Zelten des Militärs in der Stadt melden (was übrigens großes Echo findet). Über die Lage in der Stadt zitiert Rüdiger Safranski den Bericht Bettina von Armins:

„Während Landsturm und Landwehr in Berlin errichtet wurden, war ein seltsames Leben da. Da waren alle Tage auf offener Straße Männer und Kinder (von 15 Jahren) von allen Ständen versammelt, die dem König und Vaterland schwuren, in den Tod zu gehen (…). Auch war es seltsam anzusehen, wie bekannte Leute und Freunde mit allen Arten von Waffen zu jeder Stunde über die Straßen liefen, so manche, von denen man vorher sich’s kaum denken konnte, dass sie Soldaten wären. Stelle Dir zum Beispiel in Gedanken Savigny vor, der mit dem Glockenschlag 3 wie besessen mit einem langen Spieß über die Straße rennt (…), der Philosoph Fichte mit einem eisernen Schild und langen Dolch, der Philologe Wolf mit seiner langen Nase hatte einen Tiroler Gürtel mit Pistolen, Messern aller Art und Streitäxten an gefüllt (…).“[106]

Der Krieg gegen Napoleon beginnt am 28. März. Schlacht um Schlacht nähert sich Napoleon Berlin. Bei Lützen wird am 2. Mai die Lage am kritischsten. Schopenhauer ist von den Unruhen auch betroffen. Er beschließt, Berlin zu verlassen. 1820 erinnert er sich an die Tage:

In Berlin wäre ich zwei Jahre lang geblieben, wenn mich
nicht während des letzten Halbjahres, 1813, die Kriegsunruhen
vertrieben hätten (…). Da jedoch infolge des ungewissen
Ausgangs des Treffens bei Lützen die Stadt Berlin bedroht
schien (…) [und] ich (…) es für das beste hielt, dem Feind
entgegenzugehen, so richtete ich meinen Weg nach Dresden,
wo ich nach mancherlei Zwischenfällen und Gefährden
endlich am zwölften Tage ankam.[107]

In einem Brief an Professor Eichstädt, den Dekan der philosophischen Fakultät Jena, erzählt Schopenhauer über seine Entscheidung:

„Als zu Anfangs dieses Sommers der Kriegslärm von Berlin (…) die Musen verscheuchte (…) zog ich auch, da ich einzig zu ihren Fahnen geschworen hatte, in ihrem Gefolge von dannen (nicht sowohl deshalb), weil ich, durch besondere Verkettung der Umstände überall fremd, nirgends Bürgerpflichten zu erfüllen hatte, als vielmehr, weil ich aufs tiefste von der Überzeugung durchdrungen war, daß ich nicht dazu geboren sei, der Menschheit mit der Faust zu dienen, sondern mit dem Kopfe, und daß mein Vaterland größer als Deutschland sei.“[108].

Das Projekt, den Doktorgrad an der Berliner Universität zu erlangen, war gescheitert[109], und Schopenhauer, der sich einige Monate zuvor in dieser Sache an den Rektor der Universität Jena gewandt hatte, reiste im Sommer 1813 nach Dresden und von dort nach Weimar. Während fünf Jahre gibt sich dann der Philosoph — nach seiner Flucht aus Berlin — „der Arbeit seines Lebens“ hin[110]. „Die Stunde des Schauens und Schaffens“, wie Hübscher diese Zeit nach 1813 bezeichnet,[111] hinterlässt Schopenhauers Dissertationsschrift und sein Werk, Die Welt als Wille und Vorstellung. Dafür hat sich Schopenhauer in Rudolstadt niedergelassen, nicht weit entfernt von Weimar, aber weit genug, um die „häuslichen Missverständnisse“, die ihm missfielen, zu vermeiden und „sich zu den unauspresslichen Reizen der dortigen Gegend“ begeben zu können.[112] Im Gasthaus „Zum Ritter“ bleibt Schopenhauer bis zum 5. November. Dann, die Dissertation schon abgegeben, zieht er nach Weimar. Am Fenster der Herberge lässt er die folgende Inschrift zurück:

„Arth. Schopenhauer majorem anni 1813 partem in hoc conclave degit.
Laudaturque domus, longos quae prospicit agros.“[113]

Quellen

Von Arthur Schopenhauer:

Sekundär-Literatur

Abkürzungsverzeichnis

  • B =Gesammelte Briefe (1978)
  • G = Gespräche (1971)
  • HN = Der handschriftliche Nachlass, 1. Bd. (1966) & 2. Bd. (1967)
  • WWV = Die Welt als Wille und Vorstellung (1938)
  • P = Parerga und Paralipomena (1938)
Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Safranski (2004), S. 183-227 und 372-432.
  2. Gerhardt/Reinhard/Rindert (1999): Teil II, Kap. 8, a („Der Randgänger als Querulant: Arthur Schopenhauer“) S. 112-114.
  3. „Nachdem ich aber mich selbst und zugleich die Philosophie, wenn auch nur oberflächlich, so doch einigermaßen kennen gelernt hatte, änderte ich meinen Vorsatz, gab die Medizin auf und widmete mich ausschließlich der Philosophie.“, aus: B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 110).
  4. Grisebach (1897), S. 55.
  5. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 111).
  6. Hübscher (1952), S. 37 ff.
  7. HN 2. Bd., S. 13.
  8. Hübscher (1952), 37 ff.
  9. G, Nr. 231: Julius Frauenstädt.
  10. Den Physiologen Johann Friedrich Blumenbach wusste Schopenhauer in einem späteren Gespräch mit Julius Frauenstädt zu loben, in dem er jenen zusammen mit Schulze, als er sich an die Studien Jahre erinnerte, wie folgend beurteilte: „Wenn da ein Docent lebhaft ist, so kann er mächtig wirken“ (G, Nr. 231: Julius Frauenstädt); auch seinem Freund Carl Georg Bähr fiel besonders auf, dass Schopenhauer, als er über die an der Universität erworbenen Kenntnisse sprach, immer sagte: „(…) was sagt hier Blumenbach (…)“ oder „ah, das steht bei Blumenbach da und da (…)“ (G, Nr. 357: Carl Georg Bähr).
  11. „…ich hätte oft weit mehr zu Hause aus guten Büchern, als in den Hörsälen aus den Vorlesungen gelernt…“: G, Nr. 231: Julius Frauenstädt.
  12. Hübscher (1952), 39 f.
  13. Hübscher (1973), S. 170.
  14. Hübscher (1973), S. 112.
  15. Hübscher (1973), S. 129-30.
  16. Die ersten Randglossen Schopenhauers zu Kants Kritik der reinen Vernunft stammen aus dieser Zeit (siehe: Ibid).
  17. G, Nr. 231: Julius Frauenstädt
  18. Ossan war bereits ein Kamerad Schopenhauers aus der Jugendzeiten in Weimar und blieb lebenslang sein Freund, dessen Sohn mit der Zustimmung Schopenhauers den Namen Arthur erhielt.
  19. Sowohl Julius Frauenstädt (G, Nr. 231) als auch Wilhelm Gwinner (G, Nr. 441) bestätigen, dass in späteren Gesprächen mit Schopenhauer dieser immer sich an die Freunde Astor und Bunsen erinnerte, als es selten über die Göttinger Jahre gesprochen wurde.
  20. G, Nr. 409: Christian Carl Josias von Bunsen; auch in einem Gespräch mit Johann August Becker erinnert sich Schopenhauer an die Freunde: „(…) aus den drei befreundeten Studenten, die damals (1809) die Collegia von Heeren besuchten, sind doch drei Capitalkerle geworden: Astor (der Amerikaner) mit seinem Krösus Reichtum; Bunsen mit seiner Vornehmigkeit; ich mit meiner Sapientia“, aus: G, Nr. 115: Becker. Siehe auch G, Nr. 231: Julius Frauenstädt: „Der Eine, fügte er hinzu, ist nun Diplomat, der Andere ein Millionär und der Dritte ein Philosoph; so verschieden sind die Lebenswege.“
  21. Grisebach (1897), S. 55 f.
  22. G, Nr. 377a: Carl Georg Bähr.
  23. Ibid.
  24. G, Nr. 21: Christoph Martin Wieland.
  25. G, Nr. 22: Wilhelmine Schorcht (aus einem Brief vom 10. Mai 1811 an Karl Reinhold).
  26. G, Nr. 21: Christoph Martin Wieland.
  27. G, Nr. 377b: Carl Georg Bähr.
  28. G, Nr. 22: Wilhelmine Schorcht (aus einem Brief vom 10. Mai 1811 an Karl Reinhold).
  29. Hübscher (1952), S. 44; Grisebach (1897) 40-55.
  30. G, Nr. 357: Carl Georg Bähr.
  31. Schneider (1985), S. 120-130.
  32. Safranski (2004), S. 155-183.
  33. Kamata (1988), S. 119-128.
  34. B Nr. 256.
  35. „Im Herbst des Jahres 1811 zog ich nach Berlin …, war nach Kräften bemüht, in der Schule der berühmten Lehrer, an welchen diese Universität so reich ist, Geist und Gemüt höher auszubilden“, aus: Briefe, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 111).
  36. Grisebach (1897), S. 57; siehe auch Safranski (2004), S. 183 f.
  37. Lüdtkehaus (1991), S. 210.
  38. Lüdtkehaus (1991), S. 209-210.
  39. B, Nr. 279.
  40. Safranski (2004), S. 184 f.
  41. Ibid.
  42. B, Nr. 325: 09.04.1854, Schopenhauer an Julius Frauenstädt
  43. Schopenhauers Schwester, Adele, hat den größten Teil der an sie und die Mutter gerichteten Briefe vernichtet. Es ist (nur) wahrscheinlich, dass Briefe aus Berlin während dieser Zeit an die Familie gerichtet wurden (siehe: Lütkehaus [1998], S. 10).
  44. Es liegt ein Gespräch, aus Schopenhauers Aufenthalt während dieser Herbstferien in Dresden stammend: In einem Brief an Friederike und Wilhelm von Volkmann schrieb die Adeldame Helene von Kügelen Anfang Oktober 1812, sie habe sich mit einem Braunschweiger unterhalten, der anwesend gewesen sei, als der junge Arthur Schopenhauer „tags zuvor gelehrt beweisen wollte, es gäbe keinen Gott.“ (G, Nr. 24: Ein Braunschweiger).
  45. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  46. Ibid.
  47. Grisebach (1897), S. 59.
  48. HN, 2. Bd., S. 251-301.
  49. HN, 2. Bd.
  50. In einem Brief an Schopenhauer von 1816 erinnert sich sein Freund Carl Iken an die einmal im Gespräch vom Philosophen selbst mitgeteilte Begeisterung für Lichtensteins zoologisches Seminar (G, Nr. 23: Winter 1811/1812, Carl Inken).
  51. Hübscher (1952), S. 43 f.
  52. Ab dann habe Schopenhauer Fichte immer für einen „Charlatan“ gehalten (G, Nr. 347: Carl Hebler); in der Vorrede zur zweiten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung unterschrieb er ihn und Schelling offenkundig zu den Philosophen der „Windbeutelei“ (WWV, S. 18).
  53. G, Nr. 123: Julius Frauenstädt. 1816 saßen Wolf und Schopenhauer drei Abende zu Tisch mit Goethe in Weimar (G, Nr. 27: Goethe). Auch an Wolf war der Empfelungsbrief adressiert, den Goethe 1811 für Schopenhauer schrieb (siehe oben Seite 7).
  54. Schneider (1985), S. 136.
  55. HN, 2. Bd., S. 224.
  56. Gwinner (1910), S. 79, auch: G, Nr. 25: Zwei Kranke der Berliner Charité.
  57. Ibid.
  58. HN, 2. Bd., S. 29-216.
  59. Hübscher (1973), S. 128.
  60. HN, 2. Bd., S. 45.
  61. HN, 2. Bd., S. 46.
  62. Ibid.
  63. Hübscher (1973), S. 127-154.
  64. Safranski (2004), S. 201-212.
  65. Kamata (1988), S. 119-128.
  66. HN, 1. Bd.
  67. HN, 2. Bd., S. 340-361.
  68. HN, 2. Bd., S. 30 f.
  69. HN , 1. Bd., S. 26, (Berlin, 1812 B).
  70. HN, 1. Bd., S. 23 (Berlin, 1812 A).
  71. HN, 1. Bd., S. 188.
  72. Hübscher (1973), S. 137 f.
  73. Hübscher (1952), S. 46. Im HN wird die Zeichnung nicht aufgenommen; von ihr wird aber bei Gwinner (1910) als einen späteren Einfall Schopenhauers gesprochen (S. 69).
  74. HN, 2. Bd., S. 38.
  75. HN, 2. Bd., S. 41.
  76. HN, 2. Bd., S. 120.
  77. Hübscher (1952), S. 48 f.
  78. HN, 2. Bd., S. 224-229.
  79. Safranski (2004), S. 183.
  80. Gwinner (1910), aus: G, Nr. 443: Wilhelm Gwinner.
  81. P, 1. Bd., S. 26. Auch Carl Hebler äußerte Schopenhauer Jahre später über Schelling: „Der Gescheidenste von den dreien sei immer noch Schelling gewesen“ (G, Nr. 347: Carl Hebler).
  82. HN, 2. Bd., S. 304-338.
  83. HN, 2.Bd., S. 309; siehe oben auch S. 12.
  84. Hübscher (1973), S. 130 f.
  85. Grisebach (1897), 68 f.; Safranski (2004), 196 ff.
  86. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  87. Ibid.
  88. G, Nr. 347: Carl Heber.
  89. Lichtenstein, wie oben angeführt, kannte Schopenhauer bereits aus dem Kreis seiner Mutter Johanna in Weimar. Diesem und Blumenbach schrieb Schopenhauer im Jahr 1819 respektvolle Briefe, in denen er sie über sein Habilitationsvorhaben informierte und sie, besonders Lichtenstein, um Rat und Hilfe bat (B, Nr. 53, 54 und 55).
  90. Gwinner (1910), S. 134 f.
  91. Ibid.
  92. G, Nr. 23: Carl Iken.
  93. G, Nr. 184: Julius Frauenstädt.
  94. Ibid.
  95. G, Nr. 238: Julius Frauenstädt.
  96. Safranski (2004), S. 207 ff.
  97. Ibid.
  98. Lütkehaus (1998), S. 22 ff.
  99. Lütkehaus (1998), 213.
  100. Lütkehaus (1998), Brief Nr. 64: Nach Gwinner ist der Brief vom April 1814.
  101. Mieck (1987), S. 462.
  102. Zitiert nach Mieck (1987), S. 464 (Quelle: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1, Leipzig 1907-1912. S. 428).
  103. Zitiert nach Mieck (1987), S. 463 (Quelle: Stulz, Percy: Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Die preußische Kabinettspolitik und die Rolle der Volksmassen in den Jahren 1811 bis 1813, Berlin [Ost] 1960. S. 241).
  104. Mieck (1987), S. 464.
  105. Zitiert nach Mieck (1987), S. 464 (Quelle: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen [neu hrsg. v. Ernst Friedel], Berlin 1907. S. 339).
  106. Zitiert nach Safranski (2004), S. 223 (Quelle: Armin, Bettina von: Werke und Briefe. Deutscher Klassiker Verlag: Frankfurt am Main, 1986-95).
  107. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  108. B, Nr. 43.
  109. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  110. HN, 2. Bd., S. 345.
  111. Hübscher (1952), S. 50 f.
  112. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 113).
  113. Grisebach (1897), S. 74 (das Zitat ist von Horaz) ; Safranski (2004) bietet die deutsche Übersetzung: „Man lobt ein Haus, das auf weite Felder schaut“ (S. 248).