Hansen, Frank-Peter: Wer ist oder was macht eigentlich einen guten Erzähler?, 15.11.08

Kennen Sie Tschechow? Nein? Sie sollten ihn kennen (lernen). Warum? Weil dieser sozial engagierte russische Autor und Arzt, dieser Meister der kleinen Form wie kaum ein anderer Autor in die Ab- und Hintergründe der Seele des Menschen geschaut hat. Ich erinnere vor allem an die Meistererzählung über die Ehebrecherin Agafja, in der die Zerrissenheit, das Nicht-ein-noch-aus-Wissen der Protagonistin ähnlich intensiv, hautnah und bedrückend wie die gehobene und kriecherische Lust am Quälen und Drangsalieren der in Abhängigkeit gehaltenen Kreatur im Tobias Mindernickel von Thomas Mann vergegenwärtigt wird. Dabei werden die letzten Dinge bei Tschechow oft in schwebender Ungewißheit gelassen, ab und an etwas zu sehr. Hören wir zu: „Agafja drehte sich um und erhob sich auf ein Knie … Ich sah, wie sie litt … Eine halbe Minute lang drückte ihre Gestalt, soviel ich in der Dunkelheit erkennen konnte, inneres Ringen und Schwanken aus. Es gab einen Augenblick, da sie, gleichsam erwachend, ihren Leib aufrichtete, um ganz aufzustehen, aber eine unbezwingliche und unerbittliche Kraft zog ihren Körper wieder zu Boden, und sie sank neben Savka hin. „Hol ihn der Teufel“, sagte sie mit wildem, tief aus der Brust kommendem Lachen. Aus diesem Lachen sprachen besinnungslose Entschlossenheit, Machtlosigkeit und Schmerz … Agafja sprang plötzlich auf, schüttelte den Kopf und ging auf ihren Mann zu. Man sah, daß sie alle Kraft zusammennahm und einen Entschluß gefaßt hatte.“ Welchen? Das herauszufinden überläßt Tschechow der Phantasie des Lesers.

Von ihm stammt die beherzigenswerte Äußerung, der Autor müsse seine Figuren lieben, ohne daß man ihm diese Liebe anmerkt. Darin paart sich emotionale Tiefe mit nüchterner Sachlichkeit, wie sie dem Naturforscher, der Tschechow auch war, eigen ist. Es ist ein Balanceakt, das eigentlich nicht Zusammenpassende zu vereinen. Tschechow gelingt dies oft. Kühle und tiefes Mitempfinden, wie sie in dieser Zusammenstellung einem Arzt gut zu Gesicht stehen.

Hier hat folgende Beobachtung ihre Stelle: Ein guter Roman hat auch viel von einem musischen Geschehen, das also auch die affektiven und praktischen Seiten der Seele durchzieht. Auf dieser Klaviatur der ganzen Seele spielen gute Autoren in allen epischen Dramen wie große Meister. So ähnlich hat sich Thomas Bernhard über gute Romane, von denen es seiner Meinung nach nur wenige, etwa eine Handvoll gab, geäußert. Wenn ich mich recht erinnere in dem ironisch-bitteren Kunst- und Kulturverriß Alte Meister. Tschechow zählte meines Wissens merkwürdigerweise nicht dazu, ganz gewiß nicht Tolstoi mit seinem religiös gefärbten Moralismus. Dafür aber Nikolai Gogol, der Autor von Tschitschikows Reiseerlebnissen oder Die Toten Seelen. Eine Romangroteske und Gesellschaftssatire vom Feinsten. Absurdeste Dialoge auf allerhöchstem Niveau. Sie ist zum Totlachen, diese großangelegte Narretei und wahnwitzige Landpartie. Vorgeführt werden Geiz, Habsucht, Hinterlist, Übervorteilen und andere betrügerische Bösartigkeiten mit einem ganz leichten, verspielten Ton. Diesen leichten, humorvoll-beschwingten Ton gibt es auch in Thomas Bernhards Art der Gesellschaftssatire, darüber hinaus jedoch das, was seine Romane so unverwechselbar macht: Das Bittere, Herbe, die obsessive, ausweglose, ans Verzweifelte angrenzende Besessenheit.

Vor allem jedoch den Zwang zur Wiederholung und das erbarmungslose Herumreiten auf dem Immergleichen, was bis in die Erzählstruktur zutrifft. Überspitzt formuliert: Kennt man einen seiner Romane, kennt man sie, abgesehen von der insgesamt objektiver, allem bedrückenden Irr- und Aberwitz zum Trotz distanziert berichtend daher kommenden Ausnahme Das Kalkwerk, alle. Das hat – auch – damit zu tun, daß Bernhard der Meinung war, man müsse einen Roman nicht auslesen, ein paar Seiten seien mehr als genug. Auf ihn selbst übertragen bedeutet dies, daß man lediglich ganz wenig, ein paar Sätze nur, die, pars pro toto, für den Rest stehen, zur Kenntnis zu nehmen braucht. Das ist eine Ökonomie der aufs äußerste verkürzten Weitschweifigkeit, eine unheimlich zurückgenommene, dabei bodenlose Beredsamkeit, eine besessene Redseligkeit mit schlechtem Gewissen und, trotz aller auftrumpfenden, schimpfenden Direktheit, permanenter Selbstrelativierung.

Etwas von dieser Besessenheit gibt es übrigens auch bei Dostojewski, so sehr, daß der Autor in Der Idiot den Überblick darüber verliert, was seine Protagonisten antreibt. Das ist selbstredend eine Ausflucht und genaugenommen ein Armutszeugnis, wenn die Motive der dramatis personae demjenigen, der sie geschaffen hat, dunkel sind. Mit dieser Ausflucht eines vermeintlichen Eigenlebens geht Dostojewski in diesem Roman gleich zweimal in die Offensive, was die Sache nicht besser, sondern umso auffälliger macht. Dieser freilich zentrale Einwand nimmt nichts von denjenigen Passagen fort, die man nur als gelungen bezeichnen kann. Einerseits das existentiell Bedrückende derjenigen Szene, in der die aus eigenem Erleben gespeisten Minuten vor der Hinrichtung dem Leser körperlich nahe gebracht werden. Andererseits das Gespür Dostojewskis für die unverstellte, mit unmittelbarem Leben volle Wunderwelt der Kinder, die auch die seines unbedarften „Idioten“ und heiligen Eigenbrötlers ist, der sich mehr treiben läßt als daß er handelt.

Ich schweife ab. Was sind mögliche Kriterien für einen guten und, umgekehrt, einen nicht so guten bis schlechten Roman? Er soll gefallen, gewiß. Doch gefallen die zugespitzten Mental-Metzeleien Thomas Bernhards? Ich zweifle. Er soll unterhalten, Freude bereiten. Selbstverständlich. Aber wie ist es mit der Containerdramatik eines Beckett? Vielleicht unterhält sie einige Wenige, aber bereitet sie Freude? Wohl eher nicht. Oder, ein anderes Beispiel, der Lyriker Brecht wird geschätzt, während man ihn für seine der political correctness zuwiderlaufenden, als politisch anrüchig verschrienen, tendenziösen Lehr- und Theaterstücke verachtet, jedenfalls sie nur unter weitestgehenden Vorbehalten rezipiert.

Gar nicht so einfach, sich hier zurechtzufinden. Deswegen die Frage: Was sind, gegebenenfalls, Kriterien, die an der erzählenden Kunst, und womöglich nicht bloß an ihr, Stich halten?

Wie ist es, kann durch sprachliches Brillierenwollen um jeden Preis die zu erzählende Geschichte an ihrem Gehalt und Gewicht, sofern vorhanden, Schaden nehmen? Sind die, technisch-formal gesehen, versiertesten Sprachkünstler und Schöpfer außergewöhnlicher Wendungen letztlich schlechte Geschichtenerzähler? Weil sie nämlich das womöglich tief zu empfindende Wesen einer Fabel in ihrem Sprachfeuerwerk ertränken, jenes diesem zum Opfer bringen?! Das Wesen als die abhängige Variable des Wortes. Das Wort steht nicht, wie es doch sollte, jenem zu Diensten. Und das Ergebnis ist, daß das Ganze, so gekonnt es sein mag, ja gerade auf Grund dieser aufdringlichen Gekonntheit ein Blendwerk ist. Es wirkt gewollt, prätentiös und gesucht.

Zeitgenössische Autoren von dieser gewollt gekonnten Art sind, meiner Meinung nach, Sven Regener und Dietrich Schwanitz. Bei dem letztgenannten herrscht in Der Campus eine bemühte Leichtigkeit vor, die zweifelsohne unterhält. Aber dieser Autor, das merkt man von der ersten Zeile an, will gefallen, und folglich tendieren seine aufs Außergewöhnliche zielenden Sprachschöpfungen in die Richtung von Kabinettstückchen und verraten einen Hang zur Attitüde und zur Effekthascherei. Das Auffallende, Blendende prädestiniert diesen Erzähler zum Erfolgsautor.

Allerdings mache ich folgende Einschränkung: Nach dem Sturz der Tochter, Resultat des Handgemenges der Eltern, ändert sich schlagartig der Ton. Kein Sprachgewitter mehr, kein Trommelfeuer von außergewöhnlich sein sollenden Wendungen und extraordinären Formulierungen, sondern der unmittelbaren Betroffenheit über das unverhofft Geschehene angepaßte ruhige, still-betroffene Worte der anteilnehmenden Sorge. Dieser (unwillkürliche?) Stilwechsel hat mich letztlich doch für diesen Autor eingenommen, hat aus einer story dann irgendwie doch eine Geschichte werden lassen, an deren aus diesem dramatischen Vorkommnis resultierenden Ende der Lug und Trug und das böse Treiben berechnender Verschlagenheit in Form eines kühnen, gefaßten und klaren Monologs des angeklagten Anklägers erschöpfend bloßgestellt wird.

Sven Regeners Geschichten um den Unglücksraben und hochsympathischen Lebenskünstler Herrn Lehmann haben, bei aller, wiederum extrem unterhaltsamen Dramatik, einen nicht ganz so aufgeregten Ton, wie er für den Campus von Schwanitz charakteristisch ist. Hier erschlägt der Ton die Geschichte nicht so sehr, ist der gefühlten Atmosphäre und dem gesamten Ambiente angepaßt. Dennoch, es wirkt manieriert und affektiert, weil es nämlich aufmerken lassen soll, wenn das Stilmittel „dachte er“, „dachte Frank“ etc. wie eine Lawine über den Leser kommt, auch dann, wenn man sich irgendwann daran gewöhnt hat und es wie ein Anhängsel von Lehmanns schnoddriger Kauzigkeit zu akzeptieren bereit ist. Keine Frage, Regener versteht es, diesem vagierenden Außenseiter und Versager ganz viel Leben einzuhauchen, und auch im Auspinseln von Situationskomik ist dieser Autor mitreißend. Köstlich und zum Tränenlachen das Verweigerungsgespräch mit dem burschikosen und auf eine spezielle Art liebenswerten Vorgesetzten, der in Neue Vahr Süd auf eine ungemein humorvolle Weise ausgerechnet Lehmanns Verweigerungsgesuch unterstützt und bei dieser bis zur Neige ausgekosteten Gelegenheit seinen Untergebenen dazu auffordert, sich – man glaubt es kaum – an der Niete Frank ein Beispiel zu nehmen. Das führt, wer will es ihm verdenken, auf der Seite des Gemaßregelten zu nicht geringen Irritationen. Grandios! Aber dadurch, daß Regener das, was er kann und beherrscht, unentwegt einsetzt, verliert das Ganze und nutzt sich ab. Einen dritten Teil wird es – hoffentlich – nicht mehr geben!

So geht es auch, was Wunder, anderen Autoren. Schwer, gerade seine Stärken nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern sich ausgerechnet hier in Zurückhaltung zu üben und sie wohldosiert einzusetzen. Damit tun sich, jeder auf seine Art, auch Robert Menasse und der sonst doch so großartige Erzähler Christoph Ransmayr in Morbus Kitahara schwer.

Menasses Geschichte um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in Selige Zeiten, brüchige Welt driftet zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle ab. Dieser Österreicher nämlich läßt seinen Protagonisten mit der von ihm reproduzierten Die Theorie des Romans von Georg Lukács reüssieren. Mit der inversen Phänomenologie des Geistes Hegels indessen hat dieser Epigone kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen von den Füßen auf den Kopf gestellten Hegel im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Dichtung und Wahrheit gehen bei diesem Autor für meinen Geschmack zu unvermittelt und abrupt ineinander über. Die Einfälle sind einfach zu weit hergeholt und sollen wohl frappieren, zumal sie ohnehin bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Des anderen Österreichers Sprachkunstwerk, die Rede ist von Christoph Ransmayr, befindet sich ganz nahe am Kitsch, von Pascal Mercier in Nachtzug nach Lissabon trefflich in folgende Worte gefaßt: „Kitsch ist das tückischste aller Gefängnisse … Die Gitterstäbe sind mit dem Gold vereinfachter, unwirklicher Gefühle verkleidet, so daß man sie für die Säulen eines Palastes hält.“ Konkret: Nicholas Sparks, der in seinen Romanen unentwegt pastellfarbenen Kitsch für Akademiker und Menschen mit Niveau zu Papier bringt.

Wohlgemerkt, Ransmayrs absonderlich präzise und eigentümlich durchdringende, unverwechselbare Sätze sind wirklich wie die „Säulen eines Palastes“. Aber sie sind mit dem Gold hin und wieder unwirklich und sonderbar geschraubt und gestelzt anmutender Gefühle verkleidet. Absicht? Sicherlich. Und beeindruckend gekonnt gemacht. Aber man merkt sie, die Absicht, und ist verstimmt, wie Goethe sagt.

Apropos Goethe. Viele seiner Werke machen ganz den Eindruck, vollkommene Exemplare ihrer jeweiligen Gattung zu sein, wenn man nämlich Schillers in der Nachfolge Kants geäußerten Überlegungen zu akzeptieren bereit ist. Demnach gilt: Ein Werk der Kunst muß wie ein absichtslos sich aus sich heraus entwickelndes Gebilde der (organischen) Natur erscheinen. Es ist oder sollte die Gestalt gewordene Zweckmäßigkeit ohne erkennbaren Zweck sein. Das bis ins letzte Detail sorgfältig Geplante und absichtsvoll und möglicherweise in angespanntester Konzentration Konstruierte und Komponierte muß den Anschein erwecken, als habe es sich wie von selbst, frei entfaltet. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick (Schiller).

Ist dies Ausdruck höchster Vollkommenheit in der Kunst? Wenn ja, dann heißt das für den Leser, daß er sich womöglich in einem Zustand interesselosen Wohlgefallens (Kant) befindet, der nach Schiller, dasselbe ist wie der – ästhetische – Zustand unendlich freier Bestimmbarkeit. Die Worte „Selbstvergessenheit“ und „Gehobenheit“ treffen das Gemeinte wohl noch am ehesten. Hinsichtlich der Werke, die für diese spezifisch schwerelose Freiheit einstehen, bedeutet das nichts anderes, als daß in ihnen der gewählte Ton und der Gehalt, die Stimmlage des Stils und der Geschichte aufs trefflichste zusammenstimmen und harmonieren.

Diesen Wechsel der Töne (Hölderlin), der gute Literaten ausmacht, findet man, um die wichtigsten deutschsprachigen zu nennen, bei Goethe, Thomas Mann, Robert Musil, bei Neueren, abgeschwächt, fallen mir auf Anhieb Daniel Kehlmann, Pascal Mercier, O.P. Zier, Markus Werner und die Wassermusik des Amerikaners T.C. Boyle ein.

Goethe spielt auf der Klaviatur der Stilformen ähnlich meisterlich wie Thomas Mann. Im Werther wird tiefes Empfinden in die intime Unmittelbarkeit des freundschaftlichen Briefwechsels gekleidet. Die verteufelte Humanität (Schiller) der Iphigenie hat darin ihren Grund, daß das gestörte Empfinden des verschmähten Liebhabers Thoas und des gemütskranken Bruders Orest durch die in den ruhigen Fluß des fünfhebigen Jambus gegossene emotionale Gefaßt- und offene Besonnenheit der Hohepriesterin Dianens (er-) lösend aufgehoben wird. Iphigenie als verkörperte, bis in die Sprache hinein personifizierte Harmonie vor dunkelstem, von Wahnsinn gezeichnetem Hintergrund. Die dem postrevolutionären Tumult kontrastierte stille, ruhiges Glück atmende Liebe in Hermann und Dorothea wird im freilich nicht nur aus heutiger Sicht unzeitgemäß und altertümlich-komisch wirkenden Versmaß des klassischen Hexameters manifest. Der West-östliche Divan ist ein leichtes, schwebendes, spielerisches Hin und her von zwischen dem Orient und Okzident vermittelnden Tonarten. Die nüchtern-abgeklärte Prosa von Wilhelm Meisters Wanderjahren schließlich ist der Reflex der Sprache auf die Grundhaltung des in sich gefestigten, zur Ruhe gekommenen Entsagthabens innerhalb dieses episch breit dahinfließenden, mit eingestreuten Intermezzi aufgelockerten Hoheliedes auf das tätige Leben.

Goethes stets, allen Variationen zum Trotz, objektiv wirkender, unaufgeregter Stil, der hin und wieder unpersönlich kalt wirken kann und wohl auch ist, ist das eigentliche Geheimnis der Ausgewogenheit seiner späteren literarischen Kompositionen.

Das Geheimnis eines anderen komponierenden Erzählers und Zauberers großen Stils, den Handlungsvordergrund und den strukturellen Hintergrund einer Erzählung fugenlos ineinanderzupassen, ist die an Richard Wagner geschulte Leitmotivtechnik bei Thomas Mann. In seinen Werken gibt es, sozusagen, keine freie, beziehungslose Note, kein überflüssiges Wort. Alles hängt mit allem wohldurchdacht zusammen, weist vor, zurück, aber der gefangen- und mitgenommene Leser merkt es nicht. Die Substruktur ist das Ganze, aber das Ganze wirkt so leicht, absichts- und schwerelos, als sei es frei von jeder formgebenden Berechnung und dem ordnenden Kalkül. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, wie es oben mit Schiller hieß. Ist dies Meisterschaft, dann ist Der Zauberberg ein Meisterwerk.

Er ist es aber, u.a., auch noch deswegen, weil es Thomas Mann in diesem Roman wie vielleicht in keinem anderen gelungen ist, ganze Wissensgebiete so in die Handlung zu integrieren, daß man spielerisch lernt, lernend spielt, ganz so wie Hans Castorp, der unheldische Held dieser Hochgebirgsgeschichte, dessen – ironischer – Wahlspruch lautet: placet experiri. Es ist eine hochunterhaltsame Freude, ein extremer Spaß, wie hier, auf circa 2000 Metern Höhe, bereits oberhalb der Baumgrenze, mit den Potenzen des Humanus auf eine unverbindlich-verbindliche Art jongliert wird, so daß sich alle Beteiligten, die inner-, aber auch die außerhalb der Buchdeckel Versammelten auf eine schwerelos dahingleitende Art die Zeit vertreiben. Soll Kunst Freude bereiten, dann tut dies Der Zauberberg wie kaum ein anderer aller mir bekannten Romane.

Aber das ist noch nicht alles. Mann ist, wie Goethe, ein Meister des Stilwechsels, mehr noch übrigens als Robert Musil, dem mit seinem Fragment gebliebenen Der Mann ohne Eigenschaften ein ironisch getöntes Sittengemälde über das kaiserliche, dekadente, an sich selbst überdrüssig gewordene Vorkriegsösterreich gelungen ist, mit Die Verwirrungen des Zöglings Törleß eine verstörende psychologische Studie über den Sadismus, die es an Intensität ohne weiteres mit dem Tobias Mindernickel Thomas Manns oder Tschechows Agafja aufnehmen kann. In der Joseph-Trilogie sieht der erstaunte Leser sich unversehens in die altägyptische Kultur der Pharaonen versetzt, wobei in die flinke Rede der gewollt oder ungewollt in Josephs Geschichte Involvierten, ein köstlicher Spaß, ab und an französischsprachige (!) Brocken eingestreut sind. Ein Zeichen beginnender Weit- und Weltläufigkeit. Der Fragment gebliebene Felix Krull, ein Früh-Spät-Werk, ist eine humorvolle Groteske voll schwebender Leichtigkeit über dem dunklen Grund fleischlich-lustvoller Verfallenheit. Die andere Humoreske mit ähnlichem Hintergrund ist die sozusagen auch sprachlich in Indien angesiedelte Geschichte von triebhafter Liebe, Die vertauschten Köpfe mit Namen, mit der wahnwitzigen Episode des unerschrockenen Asketen und heilig-ausgemergelten Einsiedlers Kamadamana, dessen demonstrativer Mut, sich dem lustdurchtränkten Lebensdunst seiner emotional und physisch überforderten Besucher gegen alle scheinbaren inneren Widerstände zu stellen zum Totlachen ist.

Lediglich, das sei kritisch angemerkt, im Doktor Faustus scheint mir Thomas Mann gegen Tschechows „Liebesverbot“ verstoßen zu haben, zum Nachteil für die tragische Geschichte vom Tonsetzer Adrian Leverkühn. Das Leiden des fingierten Erzählers Zeitblom an Deutschlands Niedergang ist doch ziemlich penetrant, zumal es auch dasjenige Manns war. Und die Verquickung des Politischen mit dem Persönlichen macht die Sache auch nicht besser, sondern womöglich, auf Grund seiner gesteigerten Larmoyanz, eher schlimmer. Diese doppelt veranlaßte unglückliche Liebe ist fragwürdig und ärgerlich, wenngleich er, das sei dem Autor zugute gehalten, von der ersten Seite an unentwegt auf das Mißliche dieser hochgradigen, affektgeladenen Betroffenheit reflektiert.

Einen ähnlich souveränen Stilwechsel von Werk zu Werk bringt von den mir bekannten lebenden Autoren allenfalls Daniel Kehlmann zustande. In Die Vermessung der Welt wird das liebenswürdig Schrullige und Versponnene des dann doch auch wieder heldenhaften Gebarens der beiden Protagonisten bis in die Dialoge hinein formvollendet in Sprache gegossen. Das Abenteuer des Wissens spielt sich sowohl in der lebensgefährlichen Weite von Sumpfgebieten und kühnen Hochgebirgsszenarien ab als auch ist es, wundersamerweise, in der bornierten Enge kleinstaatlicher, deutscher Biedermeierei präsent, ohne deswegen, auf Grund seiner ulkig-verdrehten und aberwitzig spekulativen Art, weniger abenteuerlich zu sein. Am Ende gelingt Kehlmann eine schwebend leichte Synthese, die zeigt, daß reine Mathematik und angewandte naturwissenschaftliche Forschung in Wahrheit zwei Seiten derselben Medaille sind und im Grunde genommen ein und dasselbe. Chapeau! In Ich und Kaminski wird das Geplänkel und Kräftemessen verschlagener Eitelkeiten und der schließliche Verzicht auf Seiten des Kritikers lakonisch-humorvoll dargeboten. Was außerdem auffällt: Kehlmann ist äußerst kenntnisreich nicht allein auf dem Gebiet der Wissenschaften, wofür im übrigen auch der gleich noch zu erwähnende kleine Roman Mahlers Zeit steht, sondern auch im Bereich der bildenden Kunst versteht er es virtuos, Gemaltes beschreibend für den gebannten Leser zu visualisieren. In Mahlers Zeit wird das Thema Zeitreisen mit Blick auf den Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre und die Möglichkeit der Aufhebung der Entropie wie in einem Science-Fiction-Roman in bedrängenden, verstörenden Sequenzen präsentiert. Es handelt sich, so gesehen, um nicht weniger als den Kollaps, die Rücknahme des physikalisch-wissenschaftlichen Weltverständnisses, an dessen Ende das völlige Scheitern des sozusagen unzeitgemäßen Helden steht.

Pascal Mercier ist mit seinem Nachtzug nach Lissabon eine ruhige, gefaßte und auf eine sonderbar unaufgeregte Art bewegte, vergebliche Suche nach dem (verlorenen oder nie gehabten?) unstillbar lebenshungrigen Selbst der beiden über die Jahrzehnte hinweg verbundenen Hauptpersonen gelungen. Eine Variante zu Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wenn man so will.

Der Salzburger O.P. Zier präsentiert mit seiner Himmelfahrt, in der das klassische mundus vult decipi ironisch zu späten Ehren kommt, lebensvolle Charaktere, und vor allem der unerschrockene Draufgänger, Trendsetter und Frauenheld Alex, der (er-) lebt, was sein Freund, der Erzähler, lediglich beschreiben kann, ist von einer unglaublichen Präsenz und läßt überbordende Lebensfreude aufblitzen.

Martin Suters meisterhafte Art schließlich, spielerisch schwebend, unaufdringlich schwerelos, dabei präzise und wohldosiert knapp Spannung aufzubauen, verliert allerdings ein wenig durch ihre Monotonie. Der Ton ist irgendwie immer der gleiche oder wirkt so, wobei allerdings, genug der unpassenden Mäkelei, der dezente, mit Zwischentönen jonglierende Humor aus seinem Erstling Small World schlechterdings mitreißend ist. Und wie Suter sich in die verwirrte Psyche des vertauschten Alzheimerpatienten Tomikoni Langkoch einfühlt ist nur noch brillant. Ein Meisterstück! Also gilt für Suter doch nur sehr bedingt, was das Generalhandicap so vieler Autoren ist: Im Stilistisch-Formalen zu Nachahmern ihrer selbst zu werden.

Es mag noch viel, unendlich viel Gutes, wenn auch nicht wirklich Vortreffliches und zeitlos Klassisches in der erzählenden Literatur geben. Dem Schweizer Markus Werner beispielsweise ist in Am Hang eine mitreißende, dabei im Ton unaufgeregte psychologische Studie und spannende Bestandsaufnahme unterschiedlich motivierter Liebe mit doppeltem bis dreifachem Boden gelungen. Und, um auch noch zwei amerikanische Gegenwartsautoren zu erwähnen, deren Stil allerdings so gut wie gar keine Variationen kennt, T.C. Boyle hat in Wassermusik die (Kehlmann läßt grüßen, genauer, Kehlmann hat sich´s gesagt sein lassen) durch nichts aufzuhaltende, urgewaltige Leidenschaft des historischen Afrikaforschers Mungo Park in phantastischer Drastik und wahnsinniger Dramatik, die einem vor allem zum jagenden Ende hin den Atem verschlägt, hingezaubert. Außerdem erinnere ich en passant an John Irvings ruhige und leise, traurig-schöne, trotz allem dem Leben zugewandte Waisenhaus- und Abtreibungsgeschichte um den drogenabhängigen, ungeheuer anrührenden und hochsympathischen Anstaltsleiter Doktor Wilbur Larch und seinen sensiblen Gehilfen wider Willen und schließlich kongenialen Nachfolger Homer Wells in Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Diese Fähigkeit, mitzureißen und/oder zu berühren geht, bei zugegebenermaßen ganz anderen, sei´s psychologisch-metaphysischen, sei´s politischen Themenstellungen, der absichtsvollen Schwere und surrealistischen Verschrobenheit einerseits eines Milan Kundera vollkommen ab. Aber er wie andererseits Günter Grass mit seiner gewollten, gesuchten, immer wieder etwas geschraubt-holprigen, moralinsauren, angestrengt-anstrengenden und summa summarum parteibuchgeschwängerten Polit-Prosa verfolgen offenbar mit ihrer Literatur andere Ziele, denen ich aber meinesteils als (des-) interessierter Leser weder formal noch inhaltlich übermäßig gern gefolgt bin. Ehrlich und gerade heraus gesagt: Diese Lektüre war stets eine elende Quälerei. Gemocht aber wird und Freunde hat selbstverständlich auch so etwas, dem man allerorten und unentwegt die Absicht anmerkt, was Verstimmung zur Folge haben kann.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft1