Hansen, Frank-Peter: Einstein liest Nietzsche, 28.09.2015

Einstein liest Nietzsche … Bitte?! Die Nietzschephilologen und -forscher greifen sich an den Kopf. Worauf soll das hier hinaus?, mögen sie sich fragen. Das Inkom­mensurable kommensurabel zu machen, mag in der Mathematik ja noch hin­gehen. Wenngleich … Doch das steht auf einem anderen Blatt. Aber wenn behauptet wird, der Genius der theoretischen Physik habe den unzeitge­mäßen Kul­tur- und Geschichtskritiker auch nur flüchtig zur Kenntnis genom­men, sich gar ernsthaft mit ihm beschäftigt … Also nein! Wir lassen uns doch nicht verhoh­nepiepeln, und das geht entschieden zu weit! Unwilliges Kopf- und selbst Fäus­teschütteln macht sich breit. Unverhohlen ärgerliches Gemurmel er­füllt den Raum. Der Sturm der Entrüstung ist kurz davor loszu­brechen.

Gemach, liebe Freunde. Was folgt, ist ein Scherz, aber ein ernster. Ja, es mag schon so sein, dass der erzgescheite Südwestdeutsche nie auch nur einen Blick in das hy­persensible Schriftgut des gebürtigen Sachsen geworfen hat. Insofern ist das, was folgt, nichts weiter als Dichtung. Dass die fingierte Rahmenhand­lung aber in ihrem innersten Kern mehr als lediglich ein Körnchen Wahrheit beinhaltet, das zu be­haupten habe ich die Stirn. Denn ansonsten hätte ich mich, so dreist bin ich denn doch nicht, nie getraut, mit dem Nachfolgenden den öf­fentlichen Raum zu betre­ten und mich dem strengen Urteil der Fachwelt auszu­setzen. Welche Versicherung, ich weiß, lediglich eine petitio principii ist.

Behaupten lässt sich Vieles. Dem kombinatorischen Einfallsreichtum sind keine oder fast keine Grenzen gesetzt. Credo, quia absurdum?! Nein, so denn doch nicht. Bleiben wir halbwegs seriös. Es muss vielmehr so lauten: credo ut in­tellegam. Des­wegen bitte ich um die Erlaubnis, fortfahren zu dürfen. Der Leser schlucke fürs Erste seinen Ärger hinunter. Er konzentriere sich auf das, was kommen wird. Er folge mir an der Seite des sanftmütig Blickenden in ein Ber­liner Kaffeehaus zu Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Als sich bereits abzuzeichnen begann, dass nicht nur seines Bleibens in der Noch-Republik Ziel und Grenze gesetzt war. Man leiste mir Gesellschaft an einem Nachbartisch und beobachte, un­ter meiner Führung, was sich zu ereignen im Begriffe steht. Ich werde Ein­blicke gewähren in den Gedankenhaushalt Des­jenigen, der sich gleich, wie es seine Art ist, in einen Zustand der geistig-intel­lektuellen Entrückung verabschieden wird.

Er hat Platz genommen. Tun wir es ihm gleich. Geben auch wir un­sere Be­stellung auf. Da! Der entscheidende Moment ist gekommen. Er zückt den Schmöker, den er soeben in einer am Gen­darmenmarkt gelegenen traditions­reichen Buchhandlung erstanden hat, aus der Seitentasche seines Mantels, den er achtlos über die jugendstilverschnörkelte Lehne des Nachbarstuhls geworfen hat. Er be­dankt sich artig für den gereichten Mocca bei der ihn freundlich anlä­chelnden weib­lichen Bedienung.

Schlägt die erste Seite auf und beginnt mit seiner Lektüre …

Damit ein Ereignis Größe habe, muß zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben. An sich hat kein Ereignis Größe. Es kommt aber auch vor, daß ein gewaltiger Mensch einen Streich führt, der an einem harten Gestein wirkungslos niedersinkt; ein kurzer scharfer Widerhall, und alles ist vorbei. Die Geschichte weiß auch von solchen gleichsam abgestumpften Ereignissen beinahe nichts zu melden. So überschleicht einen jeden, welcher ein Ereignis herankommen sieht, die Sorge, ob die, welche es erleben, seiner würdig sein werden. Auf dieses Sich-Entspre­chen von Tat und Empfänglichkeit rechnet und zielt man immer, wenn man han­delt, im kleinsten wie im größten; und der, welcher geben will, muß zusehen, dass er die Nehmer findet, die dem Sinne seiner Gabe genugtun. Eben deshalb hat auch die einzelne Tat eines selbst großen Menschen keine Größe, wenn sie kurz, stumpf und unfrucht­bar ist; denn in dem Augenblicke, wo er sie tat, muß ihm jedenfalls die tiefe Einsicht gefehlt ha­ben, dass sie gerade jetzt notwendig sei: er hatte nicht scharf genug gezielt, die Zeit nicht bestimmt genug erkannt und gewählt: der Zufall war Herr über ihn geworden, während groß sein und den Blick für die Notwendigkeit haben streng zusammengehört.

Er sieht auf und fährt sich mit der Hand über die Stirn. Sein Blick verliert sich im Un­gefähren. Das Stimmengewirr, das die Räumlichkeiten des gut besuchten Kaf­fee­hauses erfüllt, dringt kaum bis an die Schwelle seines Bewusstseins vor. Denn der, der das Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben hatte, musste dabei an ihn gedacht haben. Oder an seinesgleichen. Obgleich … So ganz stimmte das nicht, oder traf jedenfalls nicht auf ihn und seine Situation zu Beginn dieses Jahrhunderts zu.

Denn ja, sein Sinn war groß gewesen, als ihm der entscheidende Einfall ge­kommen war, dass der Grund zum Newtonschen Gedankengebäude eine Schicht tiefer ge­legt werden müsse. Die terrestrische hatte durch eine Physik mit univer­salem An­spruch ersetzt zu werden. Paradoxerweise dadurch, dass die Absolut­heit der Zeit und des Raumes aufgehoben werden mussten. Alles eine Frage der Geschwin­digkeit und ihres absoluten Grenzwertes, an dem die Zeit stillstand und der Raum seiner Ausdehnung verlustig ging. Die Lichtgeschwin­digkeit im Vakuum ist unab­hängig vom Bewegungszustand des emittierenden Körpers. Über sie gibt es kein Hinaus und folglich nichts zu addieren. Absurd das alles, aber die einzige phy­sikalisch logische Konsequenz. Messgenauigkeit, die gerade dadurch zustande kam und je­derzeit – er muss schmunzeln – herzu­stellen war, dass Raum und Zeit zu Ver­änderlichen, Variablen herabgesetzt wurden. Eine absolute Gleichzeitigkeit für alle Inertialsysteme gibt es nicht. Jedes System be­sitzt eine Eigenzeit, die von der eines relativ zu ihm bewegten Systems verschie­den ist.

Wenn er sich nicht intensiv mit den schier unglaublichen Einsichten des Mitbe­gründers der neuen Physik, der auch sein Scherflein zur Grundlegung der Ana­lysis beigetragen hatte, auseinandergesetzt hätte, er wäre nie auf die Lücke in dessen Ab­leitungen gestoßen, die zu schließen sein Verdienst gewesen war. Und das heißt, dass die, die, im übertragenen Sinne gesprochen, nur Zeitungen lesen und wenn’s hoch geht, Bücher zeitgenössischer Autoren, sich wie hochgradig Kurzsichtige verhalten, die es ver­schmähen, Augengläser zu tragen. Sie sind ab­hängig von den Vorurteilen und Moden ihrer Zeit, denn sie bekommen nichts anderes zu sehen und zu hören. Und was einer, da gibt es nichts daran zu deu­teln, selbständig denkt ohne Anlehnen an das Denken und Erleben anderer, ist auch im besten Falle ziemlich ärmlich und monoton. Denn, da beißt in letzter Konsequenz die Maus keinen Faden ab, bei der Relativitätstheorie handelt es sich keineswegs um einen revolutionären Akt, sondern um eine natürliche Fort­entwicklung einer durch Jahrhunderte verfolg­baren Linie.

Was heißt schon groß? Oder anders gefragt, im Sinne des luziden Kulturkriti­kers, dessen frühe Schrift zu lesen er gerade begonnen hat, ist es tatsächlich angezeigt, dass zweierlei zusammenkommen muss, damit die vollbrachte revo­lutionäre Tat wirklich groß und bahnbrechend ist? Nein! Das muss es nicht. Denn sie bleibt ex­zeptionell selbst dann, wenn niemand, nicht einmal Physiker von Profession, sie als solche zu würdigen bereit, willens, oder ganz einfach nicht in der Lage sind. Weil ihnen der Sinn und die Sensibilität für die Durch­schlagskraft des ganz und gar un­geheuren Gedankens abgeht: nämlich festen Grund zu gewinnen dadurch, dass man die vermeintliche Stabilität zweier physi­kalischer Grundgrößen als abhängige Variable zu verstehen lernt. Diesen in sich widersprüchlichen und doch einzig kon­sequenten Gedanken in seiner ungeheu­ren Konsequenz nachzuvollziehen und zu begreifen, was das heißt, war eigent­lich bloß einer in der Lage gewesen. Aber an­sonsten hatte zunächst niemand aus der physikalischen Szene aufgemerkt oder sich zu Wort gemeldet. Alles schien beim Alten geblieben zu sein. Weil der Sinn derer, an deren Adres­se seine im Umfang unscheinbare kleine Schrift gerichtet war, eben nicht groß gewesen war.

Doch, sein fulminanter Einfall von damals hatte Größe besessen, auch wenn er nur einen Teilaspekt des Gesamtproblems ins Visier genommen hatte. Die Kom­plet­tierung, Universalisierung und rechnerische Durchführung des Kerngedan­kens hatte noch einmal gut und gern zehn Jahre extremster, kräftezehrender ge­dank­licher Arbeit in Anspruch genommen. Weil er seinen doch recht mediokren ma­thematischen Kenntnisstand mit Hilfe seines Freunde Marcel Großmann hatte gehörig aufpäppeln müssen. Großmann, hatte er dem damals in Zürich lehren­den Freund geschrieben, Du mußt mir helfen, sonst werd’ ich verrückt!

Am Polytechnikum in Zürich hätte er, das stimmte, eine fundierte mathemati­sche Ausbildung erfahren können. Hurwitz und Minkowski waren Koryphäen ihres Fachs! Dennoch, dass er die Mathematik bis zu einem gewissen Grade ver­nachlässigte, hatte nicht nur den Grund, daß das naturwissenschaftliche Inter­esse stärker war als das mathematische, sondern vor allem die Tatsache, daß die Mathe­matik in viele Spezialgebiete gespalten war, deren jedes diese kurze uns vergönnte Lebenszeit weg­nehmen konnte. Er hatte sich wie Burridans Esel gefühlt, der sich nicht für ein besonderes Bündel Heu entschließen konnte. Dies lag offenbar daran, daß seine Intuition auf mathemati­schem Ge­biet nicht stark genug war, um das Fundamental-Wichtige, Grundlegende sicher von dem Rest der mehr oder weniger entbehrlichen Gelehrsamkeit zu unterscheiden. Außer­dem war aber auch das Interesse für die Naturerkenntnis unbedingt stärker; und es wurde ihm als Student nicht klar, daß der Zugang zu den tieferen prin­zipiellen Erkenntnissen in der Physik an die fein­sten mathematischen Methoden gebunden war. Dies dämmerte ihm erst allmählich nach Jahren selbständiger wissenschaftlicher Arbeit. Aber wie auch immer, er hatte, derart gerüstet, von kräftefreien Bewegungszuständen in den physikalisch letztlich einzig relevanten Bereich von Kräfte- und/oder Beschleunigungsverhältnissen durchstoßen müs­sen.

Was, erneut, als ganz und gar unmöglich von berufener Seite abgetan worden war. Ausgeschlossen, die Vielzahl der Variablen in die schlichte Einfachheit mathema­tischer Formel- und Gesetzessprache zu überführen. Du verplemperst deine Zeit, mein Lieber … Von wegen! Diese Erweiterung hatte das physikali­sche Verständnis des anorganischen Makrokosmos’ in seiner formvollendeten Gesetzmäßigkeit und, wie er es empfand, überirdischen Schönheit, erst komplett und in sich geschlossen gemacht. Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundge­fühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.

Diese durch summa summarum zehn Jahre getrennten Ergebnisse höchster denke­rischer Kraftanstrengung hatten Größe, egal wie sich der Rest der Welt dazu stellte oder gestellt hatte. Und im übrigen, hätte er sich nach dem Urteil der an­deren Fachgenossen gerichtet, nie hätten diese grundstürzenden Einsichten das Licht der Welt erblickt. Nein, einem ernst zu nehmenden Wissenschaftler muss es in jederlei Hinsicht egal sein, ob er sich mit seinem geistigen Treiben außer- oder innerhalb seiner Zeit befindet. Nur so kann er hoffen, einen oder vielleicht mehrere Schritte hinaus über die bisherige Grenze der Erkenntnis zu tun. Und ob ihm die anderen dabei nachfolgen werden, das hat ihn nicht zu in­teressieren. Darauf darf er keine Rücksicht nehmen. Denn selbst wenn sein Streich wirkungslos niedergesunken wäre … Was läge daran? Was hätte daran gelegen? Er wusste und weiß es besser. Und die, die ihm nachzufolgen bereit und in der Lage gewesen wa­ren, die hatten auch längst verstanden, welch großer Doppelwurf ihm in diesen Jahren vor dem Weltkrieg gelungen war.

Man muss es kennen und am eigenen Leibe erlebt haben, was es heißt, das ahnungs­volle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehn­sucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung und seinem endlichen Durchbruch zur Klarheit. Wer sie kennt reißt sich nicht danach. Wie hatte es noch in einem Brief an seinen Freund Ehrat ge­heißen? Ja, genauso: Jetzt weiß ich, warum es so viele Leute gibt, die gern Holz spalten. Bei dieser Tätigkeit sieht man nämlich immer sofort den Erfolg!

Es war an Absurdität kaum noch zu überbieten gewesen, als er 1907 an der Uni­ver­sität Bern die 1905 verfasste, alles in der physikalischen Wissenschaft auf eine neue Basis hebende, Arbeit Elektrodynamik bewegter Körper als Habilita­tionsschrift einge­reicht hatte und einer der Ordinarien, es war, wenn er sich recht erinnerte, Professor Aimé Forster gewesen, ihm die fulminante, 30 Druckseiten umfassende Schrift mit den Worten zu­rückgegeben hatte: Was Sie da geschrie­ben haben, verstehe ich überhaupt nicht. Gegen wen sprach das? Etwa gegen ihn?!

Er fährt sich mit der Hand durch sein leicht gewelltes, immer noch vergleichs­weise volles ergrautes Haar. Hatte er nicht vielleicht doch, wenn er ehrlich war, Sorge em­pfunden, ob die, welche seine Texte zur Kenntnis nehmen würden, sei­ner wür­dig sein würden? Nein!, allenfalls, nachdem der entscheidende Schritt getan und der Beweis mit dem schlichten, fast unscheinbaren Formelapparat zu Papier gebracht worden war, hatte er kurz innegehalten und sich gefragt, ob sei­ner auf leisen Sohlen daherkommenden Großtat die ihr entsprechende Aufmerk­samkeit zuteil werden würde. Denn sie selbst war nicht allein notwendig, son­dern so, wie die physika­lischen Dinge damals gelegen hatten, auch ganz und gar an der Zeit gewesen. In ei­nem überpersönlichen Sinne also gab es die Entspre­chung. Weil die Zeit reif ge­wesen war für diesen Schritt über das mit vermeint­lichen Konstanten operierende Denken der klassischen Physik.

Voraussetzungsloses Denken? Womöglich jenseits oder außerhalb der Zeit? Im Elfenbeinturm? Pah! Alles hatte seine notwendige Bedingungskette im Rücken. Und er war lediglich der gewesen, der, als das Problem spruchreif geworden war und, freilich von Niemandem bemerkt, auf der Tagesordnung gestanden hatte, das erlösende Wort der Lösung gesprochen hatte.

Selbst die Unzeitgemäßen Betrach­tungen des Röckener Alleszerstörers waren an der Zeit gewesen. Die passende grüblerische Ant­wort eines hochsensiblen, künstlerisch begabten Menschen, der ein Gespür dafür gehabt hatte, was sich hinter der glän­zenden Fassade des neuen, gerade erst gegründeten kleindeut­schen Reiches unter der kompromisslosen Führerschaft des auf Macht und nichts sonst verses­senen Kanzlers und seiner berechnenden antikatholischen Kulturkampfeu­phorie in Wahr­heit verbarg. Mediokres Philistertum und eine Gesellschaftsordnung, die mit ihrem preußischen Drill, ihrer kirchlich-höfisch basierten Hierarchie und ihrer biedermän­nischen Staatsfrömmigkeit selbst den Gelehrtenstand geistig domestiziert hatte. Wie hatte er sich an anderer Stelle mit beißendem Spott über die deutsche Gelehr­tenzunft lustig gemacht?! Er hatte von den in ihren Staat vergnügten Universitätspro­fessoren gesprochen, die er auf Grund ihrer zur zweiten Natur gewor­denen Devot­heit herzlich verachtet hatte. Denn was ist die Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine …Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des ‚Reichs’ zusammenfällt: beide Tatsachen beweisen ein und dasselbe – Ge­horsam und lange Beine. – Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Recht so! Wenngleich es so aussieht, als ob gerade jetzt eine Steigerung dieses widerwärtigen deutschen Superlativs unmittelbar vor der Tür steht. O wie einem nunmehr der Genuß zuwider ist, der grobe, dumpfe, braune Genuß, wie ihn sonst die Genießenden, unsre ‚Gebildeten’, unsre Rei­chen und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem großen Jahrmarkts-Bumbum zu­hören, mit dem sich der ‚gebildete’ Mensch und Großstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu ‚geistigen Genüssen’, unter Mithilfe geistiger Getränke, notzüch­tigen lässt! Den Herrschen­den nach dem Mund zu reden jedenfalls kann bloß in den geistigen Ruin führen!

So ist zum Beispiel das Gebäude der Erziehung als morsch erkannt, und überall finden sich einzelne, welche in aller Stille schon das Gebäude verlassen haben. Könnte man die, welche tat­sächlich schon jetzt tief mit ihm unzufrieden sind, nur einmal zur offenen Empörung und Er­klärung treiben! Könnte man sie des verzagenden Unmuts berauben! Ich weiß es: wenn man gera­de den stillen Bei­trag dieser Naturen von dem Ertrage unseres gesamten Bildungswesens ab­striche, es wäre der empfindlichste Aderlaß, durch den man dasselbe schwächen könnte. Von den Gelehr­ten zum Beispiel blieben unter dem alten Regimente nur die durch den politischen Wahn­witz An­gesteckten und die literatenhaften Men­schen aller Art zurück. Das widerliche Gebilde, welches jetzt seine Kräfte aus der Anlehnung an die Sphären der Gewalt und Ungerechtigkeit, aus Staat und Gesellschaft, nimmt und seinen Vorteil dabei hat, diese immer böser und rück­sichts­loser zu machen, ist ohne diese Anlehnung etwas Schwächliches und Er­müdetes: man braucht es nur recht zu verachten, so fällt es schon über den Haufen.

Schön! Sehr schön! Doch freilich, legt sich ein Schatten der Trauer über ihn, wenn das alles so einfach wäre … Aber das ist es nun einmal leider nicht.

Etwas Dunkles schiebt sich in sein Gesichtsfeld. Jemand tippt auf seine Schul­ter. Nicht jetzt! Man stört. Immer zur Unzeit. Unwillkürlich macht er eine kaum wahr­nehmbare Ausweichbewegung. Umsonst. Er wird angesprochen. Er be­schließt, nicht zu reagieren. Ich bin nicht da, denkt er. Hält sich den Schmöker ganz dicht vor seine birnenförmige Nase. Die ergrauten Haare seines Schnurr­barts schaben über das vergilbte Papier. Es hilft alles nichts. Der, der ihn aus seinen der Vergan­genheit zugewandten Gedanken schamlos aufgeschreckt hat, hält ihm ein aufge­klapptes Buch vors Gesicht. In der anderen Hand befindet sich ein schwarz glän­zender Füllfederhalter. Wie er sie hasst, diese unterwürfig-auf­dringlichen Auto­grammjäger! Die sich auf diese erbärmlich-nichtswürdige Art wichtig machen. Glauben, allein dadurch ihrem trostlosen Leben etwas Schwere und Gewicht geben zu können, dass sie sich, verbürgt durch eine Unterschrift, im Dunstkreis von Per­sonen des sogenannten öffentlichen Interesses aufgehalten haben. Duckmäuser, nichtswürdige! Mediokres Pack! Um so zu sein oder zu werden, muss man nicht einmal an einer deutschen Universität lehren. Diese Geisteshaltung eines spin­tisierenden Flohknackers beherrscht auch der gemeine Mann von der Straße aus dem Effeff. Seine Devise hingegen hat, so lange er zurückdenken kann, schon immer gelautet: Was an der eigenen Existenz bedeut­sam ist, wird uns selber kaum bewußt und sollte die Mitmenschen gewiß nicht kümmern. Was weiß ein Fisch vom Wasser, in dem er sein Lebtag herum­schwimmt? Sein höchstes Ziel eben ist es, Abstand von sich selbst, ja, im äu­ßersten Extrem und soweit das überhaupt menschenmöglich ist, Befreiung vom Persönlichen zu gewinnen. Das Biographische ist der belangloseste Teil eines Er­denbürgers. Auch wenn das die Großen der menschlichen Spezies oder die, die sich irrtümlicherweise dafür halten, ganz anders sehen.

Ein Schmunzeln huscht über sein von Falten zerfurchtes Gesicht. Und kritzelt achtlos mit einem schabenden Geräusch sein verschnörkeltes, leicht verwasche­nes A. Einstein in die äußerste rechte untere Ecke des ersten Blattes des Druck­werks. Schmöker und Crayon wechseln erneut den Besitzer. Den wort­reichen Dank hört er bereits nicht mehr. Oder nur von ganz weit weg. Wie das unange­nehme Sirren eines lästigen Insekts, das man mit einem flüchtigen, ärgerlichen Wedeln der Hand auf Abstand zu halten sucht.

Der Schüler steht vor seinem geistigen Auge. Sein Hass auf den täglichen Drill. Seine Abneigung gegen ein mechanisches Auswendiglernen selbst in den Wis­sens­gebieten, wo es nichts verloren hat. In der Schule wird die Freude, die hei­lige Neugier des Forschens erdrosselt. Denn der Heranwachsende bedarf neben Anregung hauptsächlich der Freiheit. Es ist ein unverzeihlicher Irrtum, zu glau­ben, dass Freude am Lernen durch den Zwang zur Pflicht gefördert wird. Dass er von seinen Lehrern stets scheel angesehen wurde hatte wohl letztlich daran gelegen, dass er so eine Art Va­gabund und Eigenbrödler gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Er misstraut jeder Autorität. Das ist die Einstel­lung, die ihn nicht wieder verlassen hat. Und der, den er gerade zu lesen begon­nen hat, hat das, so weit er weiß, ganz genauso em­pfunden. Seine Schulzeit in Schulpforta hat der genialische junge Mensch, der Stür­mer und Dränger der zweiten Gene­ration, auch stets als Zumutung empfunden. Auch wenn sein gei­stiger Hintergrund ein anderer gewesen ist. Klassische Antike. Die Humaniora. Literatur und, vor al­lem und immer wieder im Schlepptau des Erz­romantikers Schopen­hauer, die zwangsläufig der Nachtseite zugewandte Zauber­welt der Tonkunst. Die roman­tischste aller Künste. Die ihre verklärende Vollen­dung in dem zunächst bewunder­ten Meister mit seinem Drang zum musikalischen Ge­samtkunstwerk ge­funden hat. Bevor der Unzeitgemäße in dem zunächst abgöt­tisch Verehrten und Angehimmelten, dem, das war zu viel gewesen, grauenhaf­ten Erz­katholiken, und wahrscheinlich auch in sich den Décadent par excellence ent­deckt und unerbittlich bekämpft hat. Allein das ist schon selbstzerstörerisch gewesen. Von allem anderen einmal abgesehen. Aber, gleichviel. Die Gründe für den Ab­scheu vor den schuli­schen geisttötenden Anforderungen sind bei ihnen die glei­chen gewesen. Denn auch das Leben und Weben in der (Theorie der) Musik und Lite­ratur ist auf einige wenige Grundkenntnisse angewiesen; vor allem aber auf ein lei­denschaftliches Sich­verlieren in den Labyrinthen wort- und klanggewaltigen menschlichen Ausdrucks. Obwohl er selbst viel mehr mit der heilig-nüchternen Strenge und Klarheit eines Johann Sebastian Bach bei seinem mehr als bloß halb­professionellen Violinspiel an­zufangen weiß.

So auch, wenn auch ganz anders, in der Mathematik. Der Physik. Oder der Che­mie. Kurz, in allen naturwissenschaftlichen Fächern. Gut. Grundlagenkenntnisse sind hier wie sonst unverzichtbar. Axiomatik, Dimensionenlehre, Protonen- und Neu­tronenzahlen, Kernbausteine, Anzahl der diversen Elektronen auf den Scha­len. Elektronensprünge, Massenverluste und noch einiges mehr. Aber dann heißt es, seinen Kopf anzustrengen und aus den Gegebenheiten etwas zu machen. Nach Möglichkeit etwas Schlüssiges, in sich Zusammenhängendes, Gesetzmä­ßiges und Notwendiges. Das sämtlichen jeweils gegebenen Aspekten nicht bloß standhält, sondern sie in eine kristallklare Ordnung bringt, in der jedes Teilchen seine unver­rückbare Ordnung findet. Denn die Naturwelt des Physikers ist die in Formeln gebrachte objektive Ordnung des realen Seins. Deswegen ist ihm die gegenwärtig grassierende Wahrscheinlichkeitsmystik und die Abkehr von der Realität ein Gräuel. Nein, Messungen machen nur dann Sinn, wenn etwas exis­tiert, das gemes­sen werden kann. Sie konstituieren ihren Gegenstand nicht. Und wenn die Zahl der in Frage kommenden Faktoren bei einem komplexen Phäno­men der Natur zu groß wird, dann heißt das noch lange nicht, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst und lediglich noch der Zufall regiert. Selbst die Ergebnisse der Wahrscheinlichkeits­rechnung mit ihrer sprichwörtlichen großen Zahl deuten noch auf so etwas wie ei­ne regelmäßige Verteilung hin. Nehme man beispiels­weise das Wetter, dann sei eine sichere Vorhersage für zwei oder drei Tage zwar nicht bis ins Letzte möglich. Nicht aber, weil den Erscheinungen des Wetters kein Kausalzusammenhang, keine Ord­nung und Gesetzlichkeit zugrunde liege, sondern weil mannigfaltige, uns unbe­kannte Faktoren mitwirken.

Das Buch des im Grundlegenden Gleichgesinnten rutscht ihm aus der Hand. Fällt zu Boden. Die Seiten rascheln. Er bückt sich. Hebt es auf. Zurück auf Los.

Daß ein einzelner, im Verlaufe eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas durchaus Neues hin­stellen könne, mag wohl alle die empören, welche auf die Allmählichkeit aller Entwicklung wie auf eine Art von Sitten-Gesetz schwören: sie sind selber langsam und fordern Langsamkeit – und da sehen sie nun einen sehr Geschwinden, wissen nicht, wie er es macht, und sind ihm böse.

Donnerwetter, ja! Schon wieder zückt er einen Stift und markiert die Stelle. Ist zwar auf den verehrten Tonkünstler gemünzt. Aber wer, wenn nicht er, soll sich durch diese Zeilen angesprochen fühlen?!

Es wäre sonderbar, wenn das, was jemand am besten kann und am liebsten tut, nicht auch in der gesamten Gestaltung seines Lebens wieder sichtbar würde; vielmehr muß bei Menschen von her­vorragender Befähigung das Leben nicht nur, wie bei jedermann, zum Abbild des Charakters, sondern vor allem auch zum Abbild des Intellektes und seines eigensten Vermögens werden.

Auch das ist wahr und trifft auf ihn ohne jede Einschränkung zu. Allerdings be­schleicht ihn ein ungutes Gefühl. Wer derart, und sei es auch bloß im Gedanken an einen anderen, ins Schwärmen und preisende Schwadronieren gerät, läuft un­wei­gerlich Gefahr, all das Richtige in einer hochgepuschten Eitelkeit und lobhu­delnden Selbstverliebtheit zu ersäufen. Und das ist dann wieder der doch sonst stets ver­achtete Philisterhabitus. Der Ausnahmemensch gerät vor allem dann, wenn er auf diese schleichende Gefahr nicht ausdrücklich reflektiert, zur Karika­tur des Geni­alen: einem aufgeblasenen Wichtigtuer und hohl-gestikulierenden Schaum­schläger. Ohnehin haben die meisten Menschen … einen heiligen Res­pekt vor Worten, die sie nicht be­greifen können, und betrachten es als ein Zei­chen der Oberflächlichkeit eines Autors, wenn sie ihn begreifen können. Er wird das fatale Gefühl nicht los, dass der Autor bei allem Über­schwang des Lobprei­sens des verehrten Meisters dabei immer auch mehr als bloß ein wenig sich selbst aufs Schild gehoben hat. Zuerst hypertropher Enthusias­mus, der dann, fast wie aus dem Nichts, in sein genaues Gegenteil umschlägt. Und in eben dem, dem unbändigen Hass auf den Décadent – der Nihilismus als Logik der Deka­denz –, als dessen Spezialisten, Propheten und Opfer er sich je länger desto mehr sah, ist der Hass auf sich selbst, den pessimistischen Falschmünzer, wie selbstverständlich immer mit einge­schlossen.

Es geht gefährlich und verzweifelt zu im Lebenswege jedes wahren Künstlers, der in die modernen Zeiten geworfen ist. Man denke ihn sich in eine Beamtung hinein – so wie Wagner das Amt eines Kapellmeisters an Stadt- und Hoftheatern zu versehen hatte; man empfinde es, wie der ernsteste Künstler mit Gewalt da den Ernst erzwingen will, wo nun einmal die modernen Einrichtungen fast mit grundsätzlicher Leichtfertigkeit aufgebaut sind und Leichtfertigkeit fordern, wie es ihm zum Teil gelingt und im ganzen immer mißlingt, wie der Ekel ihm naht und er flüchten will, wie er den Ort nicht findet, wohin er flüchten könnte, und er immer wieder zu den Zigeunern und Ausgestoßenen unsrer Kultur als einer der Ihrigen zurückkehren muß.

Die Kinder sind’s bei ihm. Weil sie, in der Regel, noch unverbildet sind. Weil sie sich im Abseits ihrer phantastischen Welten schlafwandlerisch sicher ver­lieren. Und wohin er ihnen nicht allein, wann immer es geht, liebend gerne folgt, sondern, der Schalk treibt ihn an, auch auf eigene Faust neue, unbetretene Wege bahnt. Nein, sich unter ein Diktat zu beugen, Regeln des Benimm an seiner Per­son zu voll­strecken … Das will er nicht. Hat es nie gewollt. Da streckt er lieber wie ein kleiner Junge die Zunge heraus und gebärdet sich wie ein Narr. Wie ei­ner, der sich unter keine gesellschaftlichen Konventionen beugt und beugen lässt. Weil ihm das mo­derne Kunst-Lügenwesen von Grund auf verhasst ist. Weil es ihn davor wie vor nichts sonst ekelt.

So nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Kon­vention hinzu, das heißt des Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Übereinkommen des Gefühls. …Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er sich, nach der Art unserer ‚Kunstfreunde’, einem trügerischen Behagen und einer stillen Trunksucht überantwortete!

Apropos Trunksucht … Er winkt der Bedienung, sie möge ihm noch einen Mocca bringen. Und ja, gerne auch einen Cognac im Schwenker. Um sich auch somatisch auf ein höheres Energieniveau zu begeben.

Im Weiterlesen fingert er aus der Seitentasche seines Jacketts seine Rauchuten­silien hervor. Das Pfeifenrauchen sorgt für Atmosphäre. Mit flinken Fingern stopft er den zart nach Pflaumen riechenden Knaster in den Pfeifenkopf und entzündet paffend den vom häufigen Gebrauch fast schwarz verfärbten Knösel. Jetzt ist er ganz bei sich. Noch jeweils ein Schluck von dem inzwischen bereit­gestellten Stark­getränk und dem warm-schweren Branntwein und er fährt, zu­frieden lächelnd, in der Lektüre fort. Sollte ihn jetzt noch jemand stören, wehe ihm …

Wagner, so liest er, bannt und schließt zusammen, was vereinzelt, schwach und lässig war, er hat, wenn ein medizinischer Ausdruck erlaubt ist, eine adstringie­rende Kraft: insofern gehört er zu den ganz großen Kulturgewalten. Er waltet über den Künsten, den Religionen, den verschiedenen Völkergeschichten und ist doch der Gegensatz eines Polyhistors, eines nur zusammentragenden und ord­nenden Geistes: denn er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammen­gebrachten, ein Vereinfacher der Welt.

Ja, das ist er auch geworden, mit seiner Doppeleinsicht. Obwohl, nein!, so stimmt das nicht. Nicht er hat die Welt vereinfacht. Sie gehorcht von sich aus, ganz ohne sein Zutun, diesen in ihrer paradoxen Einfachheit von ihm als so wunderschön em­pfundenen Gesetzen. Und an ihm war es lediglich, ihr ihr Ge­heimnis, das tatsäch­lich eines der Vereinfachung und Vereinheitlichung war, abzulauschen. Und weil das so ist, weil er, in dem Sinne, nichts erfunden, son­dern lediglich etwas, das vor aller Menschen Augen liegt und sich unentwegt abspielt, gedanklich bewältigt hat, ist er auch schlecht zu sprechen auf das er­kenntnis- und wissenschafts­theoretische Metagewese der philosophischen Wis­senschaft seines sonst so verehrten österrei­chischen Lehrers Ernst Mach, dem sich alles in letztlich fiktionale Erscheinungs- und Vorstellungsbilder, freie Er­findungen des mensch­lichen Geistes, auflöst. Wie kommt …ein ordentlich be­gabter Naturforscher überhaupt dazu, sich um Erkenntnistheorie zu küm­mern? Gibt es in seinem Fache nicht wertvollere Arbeit? Da­ran jedenfalls ist nicht zu rütteln: Erkenntnistheorie ohne Kontakt zur Naturwis­senschaft, die ihrerseits von einer unabhängig für sich beste­henden Welt realer und gesetzmäßig verbun­dener Zusammenhänge ausgeht, gerät zum leeren Schema. Denn was ist Natur­wissenschaft? Sie ist der Versuch einer nachträglichen Rekonstruktion alles Sei­enden im Prozeß der begrifflichen Erfassung. Sie ist nichts weiter als eine Ver­feinerung unseres alltäglichen Denkens. Jawohl! So und nicht anders!

Sein Knösel glüht. Der Qualm steigt senkrecht in die Höhe, bevor er sich sacht verwirbelt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen zu bilden begonnen. Der Cognac dämpft das Brennen auf seiner Zunge merklich herab.

Was auf ihn stark wirkte, das wollte und konnte er auch machen; von seinen Vorbildern verstand er auf jeder Stufe ebensoviel als er auch selber bilden konn­te, er zweifelte nie daran, das auch zu können, was ihm gefiel. Vielleicht ist er hierin eine noch ‚präsumtuösere’ Natur als Goethe, der von sich sagte: ‚immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst’.

Ein Sonntagskind des Lebens. Das war Wagner für Nietzsche gewesen. So, er weiß es, lautet auch das Selbstverständnis eines der größten Romanciers dieses Jahr­hunderts. Und ja, obwohl er sich selbst für vergleichsweise uneitel hält, auch er war nie frei gewesen von dem Gefühl, dass es mit ihm stets nur gut und zu seiner Zu­friedenheit ausgehen könne. Was er erreicht hatte, stand ihm auch zu. Nicht, weil es ihm in den Schoß gefallen war. Nein, weiß Gott nicht! Er hatte es sich hart erar­beiten müssen. Er hat ebenso unablässig darnach gestrebt, sich die schwersten Gesetze auf­zuerlegen, als andre nach Erleichterung ihrer Last trach­ten; das Leben und die Kunst drücken ihn, wenn er nicht mit ihren schwierigsten Problemen spielen kann. Man muss das Brett dort bohren, wo es am dicksten ist. Keine Frage. Aber wenn dann der Gipfel erklom­men ist, erwartet einen dort oben niemand anders als man selbst. Und wie fühlt sich das an? Wie jene gold­helle durch­gegorne Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe, be­trachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit. Genau so! Denn so ist die Stimmung eines wahr­haft frei gewordnen Könnens, das nie den Atem verliert, nie keuchend an sein Ziel kommt.

Von seinem Erlebnis aus verstand er die ganze schmachvolle Stellung, in wel­cher die Kunst und die Künstler sich befinden: wie eine seelenlose oder seelen­harte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und Künstler zu ihrem sklavischen Gefolge zählt, zur Be­friedigung von Schein­bedürfnissen. Die moderne Kunst ist Luxus: das begriff er ebenso wie das andre, daß sie mit dem Rechte einer Luxus-Gesellschaft stehe und falle … Die ganze ästhetische Schreib- und Schwatzseligkeit brach wie ein Fieber unter den Deutschen aus, man maß und fingerte an den Kunstwerken, an der Person des Künstlers herum, mit jenem Mangel an Scham, welcher den deutschen Gelehr­ten nicht weniger als den deutschen Zeitungsschreibern zu eigen ist.

Und nicht bloß denen! Seit er eine Berühmtheit war, stellte man ihm nach. Machte sich anheischig, die Größe seines Gehirns und die Anzahl von dessen Windungen zu vermessen. Physiognomik und Schädellehre auf dem allernied­rigsten Stand. Oder man trug ihm an, seine Seele zergliedern zu lassen. Platz zu nehmen auf der Couch. Es sich, womöglich liegend, bequem zu machen, um sein Innerstes nach Außen zu kehren. Um der Psyche eines Genies, für das man ihn hielt, ihr abgrün­diges Geheimnis abzulauschen Dabei bedurfte es doch bloß eines geringen ge­danklichen Aufwandes, um zu begreifen, dass die Psychoana­lyse die Krankheit war, für dessen Therapie sie sich irrtümlicherweise hielt.

Aber er will sich nicht mehr ärgern. Zumal ihm die nächste Stelle ins Auge fällt, die seinem Selbstverständnis voll und ganz entspricht. Es kühn in Worte fasst, wie aller Mühsal gedanklicher Extrembeanspruchung zum Trotz das Ergebnis dieses unent­wegten, zähen Ringens nichts anderes ist als ein schwebend leichtes, ganz und gar in sich stimmiges logisch-reales Luftgebilde.

Man erwäge dann wiederum die Einordnung einer solchen singenden Leiden­schaft in den ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein Wun­derding von überwundenen Schwierig­keiten kennen zu lernen: seine Erfindsam­keit hierbei, im kleinen und großen, die Allgegenwart seines Geistes und seines Fleißes ist derart, daß man beim Anblick einer Wagnerschen Partitur glauben möchte, es habe vor ihm gar keine rechte Arbeit und Anstrengung gegeben. Es scheint, daß er auch in bezug auf die Mühsal der Kunst hätte sagen können, die eigentliche Tugend des Dramatikers bestehe in der Selbstentäußerung; aber er würde wahrscheinlich entgegnen: es gibt nur eine Mühsal, die des noch nicht Freigewordenen; die Tugend und das Gute sind leicht.

Oder auch so: frei und leicht wie aus dem Nichts entsprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick. Das ist sogar noch tiefer gedacht, weil es die Mühsal nicht unterschlägt, sondern bloß, im Ergebnis, vergessen macht. Kunst, die Na­tur zu sein scheint. Kristallklare Erkenntnis, die kein Aber zulässt, weil alles in sich stimmig ist, seine unverrückbare Stelle hat und mithin passt.

Und genau so kommt es auch hier. Gleich im Anschluss. Denn er liest mit einem sich immer mehr ausbreitenden und sein Gesicht schließlich erstrahlen lassen­den Lächeln …

Als Künstler im ganzen betrachtet, so hat Wagner, um an einen bekannteren Typus zu erinnern, etwas von Demosthenes an sich: den furchtbaren Ernst um die Sache und die Gewalt des Griffs, so daß er jedes Mal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Augenblick, und sie hält fest, als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener seine Kunst oder macht sie vergessen, indem er zwingt, an die Sache zu denken; …seine Kunst wirkt als Natur, als hergestellte, wiedergefundene Natur.

Das Naive ist das Sentimentalische, denkt er. Goethe und Schiller sind eins. Und diesen beiden Dioskuren aus Weimar fühlt er sich so nah in diesem Moment tag­heller Erleuchtung wie lange nicht mehr.

Er hält inne. Seine Pfeife, die er in seiner Rechten hält, ist längst erloschen. Der Mocca ist nicht einmal mehr lauwarm. Nur der Weinbrand, den er nun bis zur Neige austrinkt, rinnt warm-sanft durch seine ausgetrocknete Kehle.

Weiter! Immer weiter zieht der andere ihn mit sich fort! Während es draußen sacht zu schneien begonnen hat.

Selbst das Gute, liest er, indem er leicht zu nicken beginnt, weil es ihm aus dem Her­zen gesprochen ist, in der Kunst ist überflüssig und schädlich, wenn es aus der Nachahmung des Besten entstand. Und ja, der Weise verkehrt im Grunde mit lebenden Menschen nur so weit …, als er durch sie den Schatz seiner Er­kenntnis zu mehren weiß … Wenngleich er, gerade im Umgang mit seinen Stu­denten, gelernt hat, sich auf deren Schwierigkeiten des geistigen Nachvollzugs der bisweilen hochgradig komplizierten Materie mit Engels­geduld einzulassen. Obwohl, auch darin ist er sich mit dem von dem Anderen bewunderten Tonset­zer einig, von dem der Satz überliefert ist: Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist im Irrtum.

Und trotzdem, und erst recht gilt, dass im allgemeinen …der hilfreiche Drang des schaf­fenden Künstlers zu groß ist, der Horizont seiner Menschenliebe zu umfänglich, als daß sein Blick an den Umzäunungen des nationalen Wesens hängen bleiben sollte. Seine Gedanken sind … überdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der Zukunft.

Genau das ist auch sein Glaube und seine Zuversicht, selbst wenn die politi­schen Zeichen inzwischen auf Sturm stehen, und er ernstlich darüber nachzu­denken be­gonnen hat, Deutschland den Rücken zuzukehren. So wie die Dinge liegen, ist hier in der Hauptstadt des Deutschen Reiches seines Bleibens nicht länger mehr. So schwer es ihn ankommt. Er wird den Weg in die Fremde antre­ten müssen. Hinaus aus der von völkischen Widerwärtigkeiten verstockten, stickig-provinziellen, von roher Gewalt schwangeren Atmos­phäre.

Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf!
Fern dämmre schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf!

Möge es so kommen! Und möge er durch sein unablässiges Streben seinen Teil da­zu beitragen, daß die Menschheit irgendwann einmal endgültig ideale Ord­nungen finden werde.

Freund, denkt er, Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?

Er verstaut seine Rauchutensilien und den Schmöker, winkt die Bedienung heran, begleicht die Rech­nung, streift sich seinen knielangen, zweireihigen hellgrauen Mantel über und tritt beschwingt in die froststarre Kälte des in dichtem Schneege­stöber verschwimmenden Januartages hinaus.

Coulter, Gerry: Tadeo Ando, One World Trade Centre and “The Ground Zero Project”, 25.06.2014

I. Introduction

The recently opened One World Trade Centre (One WTC or “The Freedom Tower” as some insist on calling it) in New York City is a curious edifice. The building is the center piece of an ongoing effort to respond to the events of September 11, 2001. It is a remarkably unexceptional modern tower of glass and steel (104 stories) reaching a symbolic 1776 symbolic feet (541m) at the top of its 408 foot (104m) high tower. I am among those who did not think that anything would make us miss the architecture of the twin towers as much as this building does. America felt it had to respond to 9/11 with a big building and that is what it has done. Now that we have One WTC I wonder if anyone wonders what we might have had in place of this monstrous ode to architectural mediocrity and petty local politics.

In this essay I will examine One WTC in contrast with the project proposed for the site by the Pritzker Prize Laureate Tadeo Ando. Ando wanted to use the space to help Americans reflect upon their place in the world. In an odd way, One WTC also accomplishes this goal but not in the way Ando intended.

II. ‘One World’ Trade Centre

“We came back and we rebuilt it and we should feel good about it” (One WTC architect David Childs cited in Rabb, 2013).

The original Twin Towers were not especially interesting works of architecture in comparison to what they represented – they were a symbol. In a world which was entering into increasing levels of hyper-realism, the original towers stood as a fictional center of digitalized integrated globalizing capitalism – architecture serving as the fiction of how society was being taught to imagine itself by its financial elites. As clones of each other the Twin Towers also represented a kind of lapse of architectural reason (See Baudrillard and Nouvel, 2000: 4 ff). Today the symbolism is more brutal: “One World” Trade Centre is more than an address – it is a commentary on Western globalization from one of its principal nodes. “One World” is the only way capitalism can now view the future – one world united under Westernization. Many Americans, and some others, can only understand globalization as “Americanization”, and One WTC is a monument to this ideology. As such it makes an adequate symbolic replacement for the Twin Towers expressed in New York City’s prevailing language of verticality.

On September 11, 2001 America experienced not only a symbolic defeat – there were real economic consequences. While an invasion of Afghanistan was probable no one could have foreseen the invasion of Iraq and the devastating toll this war has taken on an already bankrupt (several times over by 2001) American economy. According to my own computation from various U. S. Congressional and White House reports, it appears the cost of the Wars in Iraq and Afghanistan are approaching one trillion dollars since 2003 or about $8.7 M (€5.8 M) per day.

Similarly One WTC has delivered a hard economic blow to New York City whose commuters have experienced skyrocketing tolls to use the commuter systems to and from the island of Manhattan for several years. Cost estimates for the tower (the world’s most expensive building) were originally set at $2 billion (€ 1.33 B) and by the time of completion will reach at least $3.8 B (€ 2.53B). Its 3 million square feet of office space (replacing the 10 million square feet of the twin towers) will need to rent at 100 per cent occupancy at a rate of $125 (€ 83) per square foot for the building to break even. Over the past three years the average rent for office space in lower Manhattan is $62.50 (€ 41.6) per square foot as One WTC opens into a glutted market. When the building finally began in 2006 rents were falling in New York and a good deal of the “trimming” done to Daniel Libeskind’s original plans by Skidmore, Owings, and Merrill’s David Childs was a direct effort to cut costs. Still, in 2014 the anchor tenant Conde Naste is paying less than $60 (€ 45) per square foot. According to the Wall Street Journal today only 55 per cent of the building is leased and no new tenant has signed on in three years. The rent for non-anchor tenants has been dropped from $75 per square foot to $69 (€50 to €46). (http://on.wsj.com/1jVTyvd).

Further, cost overruns to its yet to be completed train station are currently in excess of $1B (€6.66 M). The Durst Corporation which manages One WTC values the $3.8 B tower at only $2B (€ 1.33 B). Through their constantly increasing commuter tolls workers in One WTC are subsidizing the rent of their employers.

One WTC is an incredible example of an edifice which makes no commercial sense and very little architectural sense. At the tenth anniversary memorial for 9/11 former New York State Governor Andrew Cuomo was overheard speaking with former New Jersey Governor George Pataki: “This is the biggest waste of money anybody’s ever seen. Who would have ever spent this money. If we knew what this was going to be like, nobody would have ever done this” (cited in Rabb, 2013).

Even among its architectural neighbors One WTC lacks architectural interest. It is a building in which many find neither grace nor charm. One of its harsher critics (the London-based graffiti artist Banksy), said that the building shows that New York “has lost its nerve” and the building represents that “New York’s glory days are over”.

III. One of the Potential Alternatives

“…nature is being destroyed by humans. There should be a harmony between the artificial world, the natural environment, and human beings” (Ando, 2009).

For a global economic and military power to be so successfully attacked as America was on September 11, 2001, by a relatively powerless group of individuals, is a humiliation. One World Trade Centre is a response to this act of humiliation. There was widespread demand for the Twin Towers to be rebuilt or be surpassed by another very large edifice – it had to be big. Very few called for anything but another architectural monster to reply to the monstrous attack. What we have in the end is another unexciting architectural monster in Manhattan to replace the Twin monstrosities which towered over their skyline like alien objects from an unmade Kubrick film.

One architect did offer the Americans an opportunity to avoid the creation of yet another architectural monstrosity for this site – Tadeo Ando (b. Japan, 1941). In Ando’s architecture Western Modernist architecture meets Eastern thought concerning balance, the human need for contemplation and edifices which deeply respect their environment. As he has said: “You cannot simply put something new into a place. You have to absorb what you see around you, what exists on the land, and then use that knowledge along with contemporary thinking to interpret what you see” (Ando, 2002b).

Ando, a self-taught architect, has worked within this philosophy for five decades and has won world architecture’s highest award: The Pritzker Prize (the equivalent of a Nobel Prize for architecture). Anyone unfamiliar with his work can, even after a few minutes of looking at several of his works on the internet, understand Ando’s gift (see especially his: Museum of Wood, (Hyogo, Japan [1994]; Chikatsu-Asuka Historical Museum (Osaka, Japan [1994]); Nariwa Museum (Okayama [1994], Oyamazaki Villa Museum (Kyoto [1995]; Awaji-Yumebutai Complex and Gardens (Hyogo [1999]); Studio Karl Lagerfeld (Biarritz [2001]; 4 x 4 House (2003); Row House, Azuma (1976); and Koshino House (1986)] . Ando has long been acutely aware of the need of humanity for buildings which compliment nature and the human need for peaceful contemplation. Often light [Church of the Light (1989); Atelier in Oyodo (1991)] and water [Fort Worth Museum of Modern Art (2002); Naoshima Contemporary Art Museum (1992) and his Hompuku-ji Water Temple, Hyogo (1991)] are used to compliment his overall philosophy of architecture.

Like many architects around the world Ando was profoundly affected by the events of September 11, 2001 – especially the fall of the twin towers and the deaths of nearly 3000 people on that day. When a competition was announced for both a memorial and a structure to replace the Twin Towers Ando offered perhaps his most thoughtful design – his Project for Ground Zero (2003). While it was never seriously considered by the adjudication panel (who had already been affected by the fever to respond with a huge vertical edifice), Ando’s proposal is more than an old model gathering dust in an architect’s storeroom. [Images of Ando’s proposal may be found by entering: “Tadeo Ando proposal for ground zero” into most search engines].

Among Ando’s recent gifts to architecture, theory and philosophy have been his unique solution to the question of what to do with “Ground Zero” in New York. Ando offered New York and America an opportunity to use the symbolic space of Ground Zero as a public place of contemplation on America’s place in the world. Ando said about his proposal: “It is important for architecture to touch the human spirit” (Ando and Rose, 2004). Against the terrorist action and the military response to it Ando proposed that a small section of a massive [imaginary] subterranean globe occupy on the site. This project, which will never be built, would also have spoken softly against the wild and callous architecture of downtown Manhattan – precisely the kind which now stand on this spot. The surface of the imaginary sphere would be a grass covered mound (a park for quiet contemplation and reflection) not unlike ancient Japanese burial mounds.

Ando proposed a singularity – a park in the shape of the imaginary globe slightly exposed above the surface. The result would have been a grass covered mound 650 feet [165m] in diameter which reached a height of 100 feet [32m] in the center. The mound would serve as the symbolic exposed surface of the imaginary underground sphere which would, in total, represent 1/30,000th of the surface of the earth. People walking across the mound would gain the impression of walking along the surface of a large sphere. Ando saw this project as an opportunity for people to think about how we are going to live together in the future on our shared celestial home. I think Ando knew full well that his project would never win the competition and it seems clear that he simply wanted to use it as a philosophical gift to Americans in the form of an unfinished design. He also understood that simply erecting another building on the site would do nothing to respond to the need for spaces in which to contemplate how we are going to live together as diverse peoples in the age of terrorism. Along with this project he offered the Americans advice: “I think that what we need now is the courage to construct nothing more on this site” (Ando, 2002a).

As has long been the case with Ando his solution to the problem of architecture at ground zero has been unique. He seems to have never believed in universal principles being applicable to all situations given his respect for the environment, light and those who will use his buildings. Against those who sought a military response to the events of September 11, 2001 Ando wanted to provide a park, which the exposed part of his globe was to be, to remind people that New York and America are part of the world. “I want the surface to disappear and become a space – a space that stimulates thinking. If the surface does not speak too loudly, then the people will begin to think about themselves. They bring the meaning to the space” (Ando in Auping, 2002).

In an age given over to architectural unreason (city after city dominated by office towers) Ando has so far not designed a monster. Perhaps it is because Ando is an autodidact that he was able to abandon so much of architectural history (save some key insights from the best of Modernism) and to offer up such a consistent and strong series of works. The most important thing he incorporates into his architecture has been his own intellectual sensitivities to place and space. He seldom, if ever, did this any better than in his proposal for the Ground Zero site in New York.

“As an architect this is all I can do – to create a dialogue among diverse cultures, histories, and values. We can learn so much from each other and our past” (Ando in Auping, 2002).

What Ando proposed was a philosophical and psychologically necessary park for meditation. What New York got was another glass, concrete and steel tower: an architectural act of [along with the invasion of Afghanistan and Iraq] in response to terrorism. One World Trade Centre stands to lose a lot of money for the foreseeable future. It seems an extraordinary expense for what is to be gained from it – this the tower shares with America’s War in Iraq.

A question remains: After the Twin Towers fell the terrorists and their supporters claimed a significant victory in the global war that is globalization and resistance to it (terrorism being the most extreme and distasteful form of resistance). It seems to me that Ando’s project clearly denied the terrorists (or anyone) a claim to victory. I wish I could say the same for One, World Trade Centre.

 Dr. Gerry Coulter

Full Professor and Past Chairperson, Department of Sociology, Bishop’s University, 2600 College Street, Sherbrooke, Quebec, Canada.  J1M 0C8

E-mail: gcoulter@ubishops.ca

Biography: Gerry Coulter has published over 150 scholarly and par-scholarly articles, reviews, and book chapters [many on art and architecture] over the past twenty years. He has presented his work at over 50 conferences around the world including two key-note addresses. He is the author of two books: Jean Baudrillard: From the Ocean to the Desert – The Poetics of Radicality (Intertheory Press, USA, 2012) and Art After The Avant-Garde: Baudrillard’s Challenge (Intertheory, 2014). He is the founding and managing editor of The International Journal of Baudrillard Studies (IJBS now in its 11th year): http://www.ubishops.ca/baudrillardstudies. His major reference work (456 pages): The Baudrillard Index may be accessed from the cover page of the IJBS website. Dr. Coulter’s teaching has been recognized on numerous occasions including Bishop’s University’s highest award for teaching – the William and Nancy Turner Prize. He serves on the editorial board of several North American and European Journals.

References (and other important documents concerning Ando)

Tadeo Ando (1995). “Acceptance Speech for the Pritzker Prize”: http://www.pritzkerprize.com/laureates/1995/ceremony_speech1.html

Tadeo Ando (2002a). “Architect’s Statement Concerning His Proposal For Ground Zero”. www.ando.groundzero/architect/ando/statement/240702

Tadeo Ando (2002b). “Interview with Architectural Record” (May): http://archrecord.construction.com/people/interviews/archives/0205Ando.asp

Tadeo Ando with Charlie Rose (2004). Interview, Charlie Rose Show (January 22): www.charlierose.com/view/interview/1616

Tadeo Ando (2009). Interview With CNN’s “Talk Asia” (aired: October 30, 2009).

Michael Auping (2002). Seven Interviews With Tadeo Ando. Fort Worth: Modern Art Museum of Fort Worth Publication.

Jean Baudrillard and jean Nouvel ([2000] 2002). The Singular Objects of Architecture. University of Minnesota Press. Translated by Robert Bononno.

Gerry Coulter (2008). “Louis I. Kahn The timeless Art of Light and Form”. Euro Art (On-line) Magazine (Summer):  http://www.euroartmagazine.com/new/?issue=14&page=1&content=168

William Curtis (2000). “A Conversation with Tadeo Ando”. El Croquis, No. 44+58.

Kenneth Frampton (1995). “Thoughts on Tadeo Ando” [An essay on Ando winning the Pritzker Prize]: http://www.pritzkerprize.com/laureates/essay.html

Alessandra Latour. (Editor). Louis I. Kahn, Writings, Lectures, Interviews, New York: Rizzoli, 1991.

Scott Rabb (2013). (“The Truth About The WTC”, Esquire Online Magazine: April 29): http://www.esquire.com/features/world-trade-centre-rebuilding-0912

Ruth Peltason and Grace Ong-Yan (2010). Architect: The Work of Pritzker Prize Laureates in Their Own Words. New York. Black Dog Press.

Pritzker Prize Committee (1995).  Biography accompanying Pritzker Prize Acceptance Speech: www.pritzkerprize.com/laureates/1995/bio.html).

Bei Märchen gibt es kein Copy-Paste. Prof. Susanne Marschall im Interview mit Alexander Karl, 19.10.2013

Die Tübinger Professorin Dr. Susanne Marschall ist nicht nur Expertin für Filme und Serien, sondern auch für Mythen und Märchen. Sie selbst ist ein großer Fan von Jean Cocteaus Die Schöne und das Biest. Mit Alexander Karl sprach sie über den Subtext in Märchen, die Rückbesinnung auf die Düsternis und das Frauenbild in Twilight.

Alexander Karl: Frau Marschall, sind Märchen Kinderkram?

Susanne Marschall: Nein, ganz im Gegenteil. Zwar wurden die bekannten Märchen der Gebrüder Grimm überwiegend als Kinderliteratur rezipiert, doch wenn man genauer hinsieht, entdeckt man viele „erwachsene“ Themen und zwar gerade in den bekannten Märchenstoffen. Tod, Einsamkeit, Ausgrenzung und schließlich Sexualität sind wichtige Themen des Märchens.

Wo denn zum Beispiel?

Etwa in Rotkäppchen: Die Begegnung mit dem Wolf wurde häufig als sexuelle Initiation interpretiert. Aber auch das Abschneiden der Ferse bei Aschenputtel kann als pervertierte Form der Sexualität verstanden werden. Viele Märchen sind durch solche Subtexte geprägt. Zum Beispiel das Leitmotiv der Verwandlung – etwa vom Mensch zum Wolf – lässt sich als Metapher für die wilde Seite der menschlichen Existenz verstehen. Symbolisch werden Tiere mit unkontrollierten Trieben in Verbindung gebracht, wobei dies natürlich nur die menschliche Sicht der Dinge ist.

Die Gebrüder Grimm sind in Deutschland die bekanntesten Märchenerzähler, obwohl ihre Werke vom Anfang des 19. Jahrhunderts stammen. Woher kommt das?

Die Sammlung und Bearbeitung von oral tradierten Märchen durch die Gebrüder Grimm im frühen 19. Jahrhundert begründete die wissenschaftliche Märchenkunde. Das war ein immenses Projekt und hat dazu geführt, dass in der Folge ein riesiger Fundus an Stoffen gedruckt zur Verfügung stand. Dazu kamen dann zum Beispiel noch die orientalischen Märchen usw. Es warteten plötzlich so viele Plots auf weitere künstlerische Auseinandersetzungen, dass es wahrscheinlich sehr schwer war und ist, etwas grundsätzlich Neues zu erfinden.

Auch die Gebrüder Grimm haben bekannte Erzählungen adaptiert und teilweise verändert. Begann die Copy-Paste-Kultur dann nicht schon vor dem Internetzeitalter?

Nein, bei Märchen würde ich das nicht Copy-Paste nennen, sondern eine „Arbeit am Märchen“ in Anlehnung an Hans Blumenbergs großartiges Buch „Arbeit am Mythos“. Blumenberg stellt die These auf, dass Menschen Mythen brauchen, um ihre Erfahrungen mit der oft unverständlichen Umwelt zu verarbeiten. Mythen sind für Blumenberg Geschichten mit einem starken narrativen Kern und vielfältigen Variationsmöglichkeiten. Sie sind dazu da, weiter erzählt, verändert und neu gelesen zu werden. Ob man das nun im Buch, auf der Theaterbühne, im Film oder sogar im Comic tut, ist in diesem Kontext erst einmal zweitrangig. Wichtig ist die Offenheit des mythischen bzw. des märchenhaften Textes für das Neue, also auch für die neuen Themen der Gegenwart. Exemplarisch kann man dies am Mythos des Prometheus sehen, der den Menschen erschaffen hat, und an Pygmalion, der sich eine künstliche Frau gebastelt hat. Aus diesen griechischen Sagen gingen romantische Schauergeschichten wie Mary Shelleys Frankenstein und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann hervor. Das Kino machte den Cyborg, den Maschinenmenschen, zur populären Denkfigur, die sich mit jeder technischen Innovation verbinden lässt.

Gilt das dann auch für Märchen?

Ja, auch Märchen haben einen narrativen Kern. Der Mensch arbeitet an seinen Märchen, um mit den Fragen, die er für sich nicht beantworten kann, fertig zu werden. Er entmachtet sozusagen die Alltagserfahrung, indem er sie in Erzählungen verpackt – und er personalisiert tradierte Stoffe durch Abwandlungen. Auch bei Märchen findet sich diese Dynamik zwischen symbolischen Kern und Variation. Darum sind sie wie die Mythen unsterblich.

Das Düstere gehört zum Märchen

In diesem Jahr erschien der Film Snow White and the Huntsman mit Charlize Theron und Kirsten Stewart, der eine düsterte Version der Geschichte von Schneewittchen erzählt. Ist das ein Beispiel für die Rückbesinnung auf die Ursprünge der Märchen?

Das Düstere gehört zum Märchen und insofern ist das wirklich eine Rückbesinnung. Schneewittchen ist dafür ein gutes Beispiel: Aus Eifersucht auf Schneewittchens Schönheit trachtet die Stiefmutter schon dem kleinen Mädchen nach dem Leben. Das ist eine sehr brutale Geschichte. In der Pädagogik wurde und wird diskutiert, ob Märchen überhaupt für Kinder tauglich sind, weil sie oft so abgründig sind.

Gibt es auch bei Märchen einen idealen Aufbau?

Ja, ein Märchen fängt mit einer Formel an und endet auch so. „Es war einmal … und wenn sie nicht gestorben sind…“ Märchen und Mythen folgen festen Mustern, die vor allem für die mündliche Tradierung wichtig sind: Dramaturgie hilft der Erinnerung. Die Geschichten brauchten den festen Rahmen, damit man sie sich merken konnte. Zum Märchen gehören aber auch Motive wie Verwandlungen oder die Reise der Figuren ins Ungewisse. Überhaupt sind Landschaften wichtig. „Das kalte Herz“ des schwäbischen Romantikers Wilhelm Hauff – er hat übrigens in Tübingen studiert – ist ohne seinen Ort, den Schwarzwald, nicht denkbar. In diesem dunklen, geheimnisvollen Wald können ein Glasmännlein und ein Holländer-Michel ihr Unwesen treiben – das kann man sich gut vorstellen.

Wichtig für Märchen sind auch die Antagonisten. Bei Schneewittchen, aber auch bei Hänsel und Gretel, ist es die böse Stiefmutter. Ist es Zufall, dass es oft Frauen sind?

Es sind ja nicht immer Frauen. Aber die Thematisierung der bösen Stiefmutter spielt mit Sicherheit auch auf früher existierende familiäre Problemfelder an, zu Zeiten, als der Blutsverwandtschaft ein großes Gewicht gegeben wurde. Heute leben wir zum Glück in diesem Sinne freier, unsere Vorstellung von Familie hat sich stark gewandelt. Märchen wurden und werden durch den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel geprägt. Darum ist ein Märchenfilm wie der aktuelle Blockbuster Spieglein, Spieglein, bei dem der Inder Tarsem Singh Regie geführt hat, besonders interessant. Das Märchen wird global und stilistisch hybrid.

Das Wiki „TV Tropes“ nennt die Rückbesinnung auf die düsteren Wurzeln „Grimmification“. Wie sieht die Wissenschaft das? Gibt es einen Trend?

Es gibt sicher diesen Trend, aber auch Vorreiter der „Grimmification“. Etwa die Rotkäppchen-Adaption Die Zeit der Wölfe von Neil Jordan aus dem Jahr 1984, der das Märchen als böses Pubertätsdrama inszeniert und fast wie ein Horrorfilm daherkommt. Generell aber lässt sich ein zunehmendes Interesse der Filmemacher an Märchenstoffen beobachten.

Woran liegt das?

Das liegt vielleicht an dem Fantasy-Boom der letzten Jahre, dem keine wirklich großen Würfe in den Dimensionen von Herr der Ringe und Harry Potter mehr gelingen. Von Fantasy zum Märchen ist es dann filmisch oft nur ein Katzensprung, weil viele Filme das in beiden Genres beliebte Spektakel in den Mittelpunkt stellen. Eigentlich unterscheiden sich Fantasy und Märchen nämlich deutlich. Aber Tricks, groteske Masken und opulente Kostüme passen zu beiden. Twilight als hybride romantische Vampirsoap steigert diesen Attraktivitätsgrad des Plots sogar noch durch ein zweites Monster, die Werwölfe. Das ist eine klare Tendenz unseres globalen Mainstream-Films: Aus der vollen Schatztruhe der Märchen und Mythen werden narrative Elemente und Bausteine kunterbunt gemischt und zu einem Mega-Fantasy-Märchen-Event verschmolzen.

Der Reiz an Vampiren: Angst vorm Tod und Sehnsucht vor Unsterblichkeit

Auch im TV wird derzeit gerne mit Übersinnlichem gearbeitet: Vampire Diaries, True Blood oder auch Grimm sind Beispiele dafür. Kommt es bald zu einer Überdosis am Übersinnlichen?

Gefährlich und langweilig wird es dann, wenn die Neubelebung eines Stoffs nicht auf einer originellen Idee beruht. Wenn es nur noch um die Schauwerte fantastischer Welten und nicht mehr um Inhalte geht, sind die Ergebnisse traurig. Ein positives Beispiel ist die Serie True Blood: Die Welt wird von Vampiren bevölkert, die sich zum großen Teil in die menschliche Gemeinschaft integrieren wollen, sie trinken sogar nur noch künstliches Blut. Dennoch werden die Vampire ausgegrenzt und verachtet. True Blood handelt von Rassismus und zieht damit einen Subtext des Vampirmythos ans Licht, der zwar immer schon da war, aber selten so stark betont wurde.

Aber warum interessiert sich der Mensch für Werwölfe oder Vampire? Neigt er dazu, an das Übersinnliche zu glauben?

Eine allgemein gültige Antwort gibt es da wohl nicht. Doch eines sticht hervor. Der Vampirmythos bringt die menschliche Angst vor dem Tod und zugleich die Sehnsucht nach Unsterblichkeit zum Ausdruck. Vor der Unsterblichkeit haben wir aber eigentlich auch alle Angst. Und darum ist die unsterbliche Figur des Vampirs so ambivalent. Einerseits faszinierend, andererseits abschreckend. Seltsam ist, dass diese mythische Horrorgestalt heutzutage ein echter Trendsetter ist.

In Twilight erhalten Vampire ein neues Gewand: Sie glitzern in der Sonne und können Vegetarier werden. Ein gutes Beispiel für die Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten?

Absolut! Die Frage muss aber immer sein: Was wird damit erzählt? Welcher Funktion dient es? Und dort sticht Twilight heraus: Twilight träumt von einer elitären Welt der vampirischen Übermenschen, die schön und makellos sind. Ewige Gewinner, die in die Schule gehen und in jeder Klassenarbeit triumphieren, immer sexy sind und natürlich super cool. Die Filme sind ideologisch äußerst fragwürdig, aber sehr populär.

Twilight zeigt ja auch ein interessantes Frauenbild.

Interessant? Nein, anachronistisch! Aber das ist nichts Neues bei Vampirgeschichten, in denen Frauen meist als passives Opfer inszeniert werden, die von einem männlichen Blutsauger in Besitz genommen werden. Und doch gab es sogar schon im 19. Jahrhundert Gegenentwürfe, zum Beispiel in der Vampirgeschichte Camilla von Sheridan Le Fanu, die ziemlich deutlich von lesbischer Vampirliebe handelt. Um zum Schluss auf das Märchen zurückzukommen: Dessen Heldinnen sind oft wehrhafter als die weiblichen Figuren in den Horrorfilmen. Schneewittchen, Aschenputtel, Rotkäppchen und auch Schneeweißchen und Rosenrot rebellieren – und sind erfolgreich damit.

 

Das Interview erschien zuerst am 21. Juli 2012 auf media-bubble.de.

Fuhrmann, Sandra: Der Geruch von Büchern – der Gestank von Geld, 14.10.2013

Sie duften, sie fühlen sich gut an, sie können Emotionen wecken und mit manchen gehen wir eine Beziehung fürs ganze Leben ein. Für viele sind Bücher mehr als ein Gebrauchsgegenstand. Wir besitzen sie über Jahrzehnte, und jedes Mal, wenn wir sie lesen, nehmen sie ein Stück unserer eigenen Geschichte in sich auf. Aber wie viel ist uns diese Beziehung eigentlich wert?

Buchpreisbindlung – sinnvoll oder sinnlos?

Der 11. März 2012 – ein „schwarzer Tag für den Schweizer Buchhandel“, titelt das Magazin Buch Markt. Es ist der Tag, an dem die Schweizer Bevölkerung über das Gesetz zur Buchpreisbindung abstimmt – und sich mit 58 % dagegen entscheidet. Die Buchpreisbindung zieht eine Kluft durch ganz Europa. Während beispielsweise Frankreich, Italien, die Niederlande und Österreich Preise für Bücher festlegen, fehlt diese Regelung in Belgien, Großbritannien, Irland oder Schweden.

In Deutschland sind die Preise für Bücher seit Oktober 2002 gesetzlich gebunden. Das bedeutet, dass genau wie bei Tabakwaren oder Arzneimitteln vom Produzenten, in diesem Fall den Verlagen, der Preis für ein Buch anfangs festgelegt werden muss. Dieser muss auch beim Verkauf vom Händler an den Endkunden eingehalten werden. Somit ist es zum Beispiel Discountern nicht möglich, ein Buch billiger an den Mann zu bringen, als das ein traditionelles Buchgeschäft könnte. Ausnahmen von der Regel sind lediglich Bibliotheken- und Schulbuchnachlässe, Kollegenrabatt, Lehrerprüfstücke oder Mängelexemplare.

Schleichpfade

Ein Gesetz – tausend Wege es zu umgehen. Amazon wählte den, beim Kauf von Büchern Gutscheine an seine Kunden zu verteilen. Im so genannten „Startgutscheinfall“ entschied das Gericht jedoch gegen den Online-Buchhändler und verbot diese Art des Preisdumping. Was aber, wenn die Gutscheine nicht vom Händler selbst, sondern von anderen Firmen aus Werbezwecken finanziert werden? Hier brachten gleich mehrere Fälle die Köpfe von Deutschlands Richtern zum rauchen. Ein Beispiel ist das der Firma Studibooks, die 10 % des Kaufpreises ihrer Fachbücher von Unternehmen finanzieren ließ. Auch hier fiel die Entscheidung des Gerichts zuungunsten des Händlers aus. Die richterliche Begründung lautete, dass Studibooks zwar letztendlich den festgelegten Preis der Bücher erhalte, jedoch durch die Erwähnung auf der Homepage des Buchhändlers ein Werbeeffekt für die Unterstützerfirmen entstehe. Das Geld für diese Werbung hatte Studibooks von den Firmen nie erhalten. Dementsprechend müsste der Buchhändler die Werbekosten zusätzlich zu den 10 % des Buchpreises von den Unternehmen verlangen. Das aber war nicht geschehen.

Die Schleichwege der Händler sind gut getarnt. Gerade für Kunden dürfte es schwierig sein, ihnen auf die Fährte zu kommen. Die mit der Überwachung der Preisbindung beauftragten Preisbindungstreuhänder sind der Meinung, dass entscheidend sei, ob der Kunde im Angebot des Händlers eine Vergünstigung erkenne. So nämlich schafft sich der Verkäufer einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen. Genau das soll das Gesetz aber ausschließen.

Größe vs. Innovation?

Buchpreisbindung – der Beschützer der Kleinen und Schwachen? Das sehen nicht alle so. Philip Karger ist ehemaliger Geschäftsführer einer Schweizer Buchhandlung. Kleinen Buchhändlern nützt eine Preisbindung seiner Meinung nach nichts. Die Chancen, die sich ohne das Gesetz gerade für kleine Händler auftun, sieht er in der Innovativität der Unternehmer. Der Marketingexperte Leander Watting betrachtet die Preisbindung gerade für den Online-Markt sogar als Gefahr. Karger prognostiziert derweil, dass in fünf bis zehn Jahren 75 % des Buchmarkts elektronisch sein werden. Eine ähnliche Entwicklung, wie wir sie in den letzten Jahren in der Musikbranche erlebt haben.

Den unerschütterlichen Liebhabern von Papiergeruch, rauen Seiten unter den Fingern und Eselsohren, die die Geschichte von Jahren der wiederholten Lektüre erzählen, dürften an dieser Stelle die Tränen kommen. E-Books machen inzwischen 35 % von Amazons Buchverkäufen aus. Die Reader machen digitalisierte Bücher in Sekundenschnelle abrufbar. Dateien sind wesentlich günstiger als gedruckte Bücher. Gerade Amazon bietet unbekannten Autoren die Möglichkeit ihre Werke auf diesem Weg als so genannte „Direct Publisher“ zu veröffentlichen. Das wird auch Konsequenzen für die Buchpreise haben. Jüngst bot der Berliner Verlag “Berlin Story” ein E-Book kostenlos zum Download an – und die Kunden konnten den Betrag spenden, den ihnen das Buch wert war. Doch genau das wurde verboten – wegen der Buchpreisbindung.

Das Internet öffnet viele Türen und ermöglicht uns immer wieder neue Vertriebswege. Was man in Deutschland nicht bekommt, kann man sich im Internet von ausländischen Anbietern besorgen – und dann vielleicht auch ohne Buchpreisbindung. Diese Entwicklung kann man nicht aufhalten, stattdessen müssen sich die Verlage fragen, wie sie auf die Digitalisierung reagieren. Am 23. April ist Welttag des Buches. Vielleicht ein Anlass für jeden sich ganz persönlich die Frage zu stellen: Wie viel sind mir Bücher eigentlich wert?

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 20.04.2012 auf media-bubble.de.

Kunczik, Michael: Medien und Gesellschaft. Der Einfluss des Nationenimages auf internationale Kapitalflüsse, 17.11.09

AVINUS Magazin Sonderedition Nr.6, Berlin 2009.

Kompletter Artikel als PDF-Version: Medien und Gesellschaft. Der Einfluss des Nationenimages auf internationale Kapitalflüsse

Abstract:

Charakteristisch für die sozial- und kommunikations-wissenschaftliche Theoriediskussion ist das allgemeine Klagen über den Mangel an Theorie bzw. die Unzulänglichkeiten der bisherigen Theoriebildung. Problematisch ist eine Abgrenzung des Problemfeldes Medien und Gesellschaft, wenn Kommunikation als Grundphänomen jedweder Gesellschaft verstanden wird, als der soziale Basisprozess, der alle Bereiche menschlichen Lebens durchdringt und nicht nur alle Formen und Medien menschlicher Kommunikation in der Gesellschaft beinhaltet, sondern auch den gesamten Prozess der Kommunikation von der Aussageentstehung über die Inhalte und das Publikum bis zur Wirkung. Eine große Gefahr bei der Theoriebildung besteht darin, zu umfassende Aussagen machen zu wollen. Im Anti-Dühring schreibt Friedrich Engels: „Wer … auf endgültige Wahrheiten letzter Instanz, auf echte, überhaupt nicht wandelbare Wahrheiten Jagd macht, wird wenig heim tragen, es sei denn Plattheiten und Gemeinplätze der ärgsten Art.“

Dass Theorien bzw. Paradigmen Wahrnehmungen bestimmen können und nicht umgekehrt die Tatsachen darüber entscheiden, was wir wahrnehmen und welche Theorien wir konstruieren, stellte Albert Einstein in einem Brief an Heisenberg im Jahre 1926 heraus: „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“ Damit ist nichts anderes ausgesagt, als dass die Art und Weise etwas zu betrachten zugleich impliziert, etwas anderes bzw. andere Aspekte eines Phänomens nicht zu betrachten. Im Folgenden werden in Anlehnung an Hans Albert Theorien als umfassende Systeme von Hypothesen verstanden, „die die Erklärung größerer Komplexe sozialer Tatbestände ermöglichen.“

Hansen, Frank-Peter: Was es bei Heidegger zu bemängeln gibt, 15.06.09

Die Existenzphilosophie Martin Heideggers wird von AVINUS-Autor Frank-Peter Hansen einer grundlegenden Kritik unterzogen. Der Vorwurf: Je universeller und allumfassender die Begrifflichkeiten Heideggers sich wähnen, als desto hohler und leerer erweisen sie sich.

„Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“

Auf das Lob der „Vergessenen Bücher“ folgt der Tadel der Mangelerscheinungen des wissenschaftlichen Geistes. Als erstes habe ich mir den Großmeister philosophischer Sinnsucherei, den Seinsbeschwörer aus Meßkirch vorgenommen, wobei einmal nicht auf seine immer wieder als anrüchig empfundene politische Vergangenheit mißbilligend gedeutet, sondern auf seine gedanklichen Fehler die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Das scheint immer noch und vor allem heute wieder geboten, weil intellektfeindliches Orakeln sich auf seine Gedankenlosigkeit etwas zugute und für der Weisheit letzten Schluß hält. Es ist es nicht, wie im folgenden gezeigt werden soll, was natürlich nicht nur eingefleischte Heideggerianer, sondern vermutlich Akademiker jeglicher Couleur gegen das Dargebotene aufbringen wird, sofern sie es überhaupt zur Kenntnis nehmen. Bestenfalls wird man der Befassung mit dem Gebotenen dadurch ausweichen, daß man mir eine undifferenzierte Herangehensweise vorwirft, weil ich den „Denkweg“ dieses großen Philosophen unberücksichtigt gelassen habe. Dem widerspreche ich nicht, möchte aber darauf hinweisen, daß diese Begründung eines prinzipiellen Desinteresses nichts weiter als eine leicht durchschaubare Ausflucht ist, sich mit dem, was Heidegger an hier zur Diskussion gestellten Ansichten tatsächlich und nachgewiesenermaßen wann auch immer vertreten hat nicht befassen zu wollen. Irgendetwas läßt sich allenthalben geltend machen, nicht zur Sprache gekommen zu sein, wenn man es denn geltend machen will, um den Verfasser an dieser Auslassung zu blamieren und deswegen für nicht der Befassung würdig zu befinden. Exempla docent. Überdem ist es ohnehin einer der beliebtesten Abwehrtechniken in gedanklichen Dingen, einer Kritik dadurch auszuweichen, daß man sich auf Formfragen oder Fragen des wissenschaftlichen Benimm kapriziert, um durch derartige Erwägungen den inhaltlichen, sachhaltigen Argumenten auszuweichen. Anders gesagt, ich prätendiere gar nicht, eine umfassende Darstellung seiner geistigen Entwicklung zu geben, sondern will an Hand einiger ausgewählter Beispiele dann aber doch auf das prinzipiell Verfehlte der Argumentationsweise der Fundamentalontologie hinweisen. Und daß diese philosophische Richtung vom Sein in seiner Differenz zum Seienden her argumentiert, werden selbst seine Parteigänger nicht bestreiten können, sie mögen schimpfen und/oder sich in Schweigen hüllen.

Wer im übrigen etwas selbstverständlich auch Kritisches über Heideggers „Denkweg“ von mir lesen will, der konsultiere das erste Kapitel der 2008 erschienenen Arbeit „Nicolai Hartmann – erneut durchdacht“. (S. 9-19) Heldenverehrenden Legendenbildungen wird freilich auch hier nicht Vorschub geleistet. Weder wird von den zukunftsweisenden Taten des jungen Genies Martin berichtet noch von der zerknirschten, selbstkritischen Weisheit des geläuterten Alters, eben weil nichts dergleichen, sondern viel eher, wie man hört, ein durch nichts zu bekehrender „Altersstarrsinn“, wie es beschönigend und verharmlosend von interessierter Seite, also von derjenigen seiner durch nichts zu beirrenden Adepten heißt, überliefert ist. Heidegger ist seinem sei’s existential-, sei’s fundamentalontologischen Seinsgefummel und -geraune inklusive den daran hängenden radikalen politischen Implikationen zeitlebens treu geblieben, Kehre hin, Denkweg her.

Da aber das Irrationale nicht allein bei den Heideggerianern hoch im Kurs steht – und mit Parteigängern dieser Einstellung läßt sich, was zu erwähnen eigentlich überflüssig ist, rational nicht streiten – soll in dieser geplanten Serie auch auf andere Formen dieses Dauerbrenners eingegangen werden, der selbst dort seine Blüten treibt, wo man ihn am wenigsten erwartet: im Bereich des aussagenlogisch gestützten und mathematisch unterlegten logischen Positivismus‘ etwa. Das hat, um dies flüchtig anzureißen, hauptsächlich damit zu tun, daß die Grundposition der Mathematik darin besteht, ganz frei und aus sich heraus auf der Grundlage von selbstgegebenen Axiomen Mannigfaltigkeiten zu schöpfen und zu setzen, weil sie sich nicht an Sachhaltigem zu messen braucht. Logische Positivisten setzen nämlich, in Anlehnung an Wittgensteins Traktat, die empirische Wahrheit oder Falschheit der sogenannten Elementarsätze einfach voraus, und die Wahrheit oder Falschheit der Satzkomplexe wird nach Regeln berechnet, die zuvor durch die Wahrheitstafeln willkürlich festgelegt worden sind. Das empirisch Gegebene, das sich unmittelbar zeigen soll, wird in eine logische Idealsprache gekleidet, aus der dann alles weitere nach den selbstgegebenen Regeln der (Aussagen-) Logik berechnet werden kann. Man hat es also in diesen Gedankengespinsten mit einer Manipulation zweier Größen, der Wahrheit und Falschheit, nach vorab zu bestimmenden Regeln, den sogenannten Wahrheitsfunktionen, zu tun. Das Ganze degeneriert ersichtlich zu einem bloßen Spiel mit nichts bezeichnenden Zeichen, da ja, wie gesagt, die Wahrheit und Falschheit der kombinatorisch zu rangierenden Elementarsätze postuliert beziehungsweise als bekannt vorausgesetzt worden ist. Die Wahrheit und Falschheit der aus ihnen zu ziehenden molekularen Satzkomplexe hängt ausschließlich von diesen Werten ab und kann rein mechanisch, und ohne daß man sich bei ihnen irgend etwas denken kann, oder muß geistlos nach den Festlegungen in den Wahrheitswertetabellen berechnet werden. Auf diese Weise ergibt sich dann die beliebige Definitionsmöglichkeit von komplexen Ausdrücken innerhalb einer so konzipierten Aussagenlogik. Sie wird dadurch zu einer reinen Definitionslehre von komplexen Wahrheits-Falschheits-Ausdrücken. Die Aussagenlogik ist folglich nichts weiter als ein inhaltsleeres und gedankenloses Zeichenspiel.

Darin besteht das irrationelle und unvernünftige und letztlich sogar willkürliche Prinzip der mathematischen Ableitungen, so es denn damit seine Richtigkeit hat. Dass man das alles auch ganz anders sehen kann, ist gleichfalls meinem oben namhaft gemachten Buch über Hartmann zu entnehmen, wo, unter Rückgriff auf den kritischen Ontologen über das ideale Sein mathematischer Gegenstände ausführlich auf den Seiten 49-65 nachgedacht worden ist. – Doch zunächst sollen ein paar der gedanklichen Fehler in Augenschein genommen werden, die dem Existential- und Fundamentalontologen in seinem bemühten Forschen unterlaufen sind. Wenn ich von Existential- und Fundamentalontologie in einem Atemzug spreche, kann ich mich im übrigen auf Heidegger selbst berufen, der in späten Jahren betont hat, daß schon das Interesse von „Sein und Zeit“ letztlich dem Sein und nicht der Existenz gegolten habe.

Den Hintergrund dieser Serie bildet aber, um dies gleich vorweg zu sagen, die Kritik an den diversen Formen einer sich in den meisten Fällen wissenschaftlich gerierenden Wissenschaftsfeindschaft, wie sie besonders schön an Heidegger, der deswegen als erstes inspiziert wird, zu studieren ist.

Ontologie und das Bedürfnis danach ist das Ergebnis eines Überdrusses an erkenntnistheoretischen Fragestellungen. In ihnen ist sozusagen das Wetzen des Messers zum Selbstzweck geworden, wenn ein methodologisch zugerichtetes Denken nur noch auf sein eigenes Vermögen reflektiert, also darauf, wie Gegenstände von Akten des Bewußtseins konstituiert werden. Heutzutage ist es umgekehrt allerdings schon längst wieder angesagt und guter Brauch, Objekte der Wissenschaft wie wissenschaftliche Gegenstände, also nicht als vorgefunden anzusehen, sondern, ein Rückfall in die Zeiten der Bekenntnisse zu den Vorurteilen der Methodologie, nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, theoretischer Vorannahmen und Modelle durch terminologische Differenzierungen, wie es heißt, zu konstruieren bzw. zu erfinden. Wissenschaftler sprechen nicht über Gegenstände, sondern über Probleme, die sie mehr oder weniger willkürlich kreiert haben. Und die gibt es selbstredend nicht an sich, sondern nur für die Konstrukteure aus der Forschergemeinde selbst, für die sich ansonsten entsprechend auch niemand sonst zu interessieren braucht. Dabei ist es ersichtlich ein Fehler bzw. eine Unmöglichkeit, das Erkennen vor dem Erkennen erkennen zu wollen, weil sich das Erkennen nur erkennend durchführen läßt. Man müßte sich schon im Besitz desselben befinden, um sich über sein Funktionieren Rechenschaft ablegen oder es kritisieren zu können. Anders gesagt, Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie kann erst im Anschluß an das konkrete Erkennen der Wissenschaften sinnvollerweise praktiziert werden, etwa in Form einer Onto-Logik, die sich des Allgemeinen des wissenschaftlich tätig gewordenen Gedankens nachträglich vergewissert. Vor dem Erkennen mit dem Erkennen ins reine zu kommen kann nur heißen, sich auf es nicht einlassen zu wollen.

Ontologie als ein „zurück zu den Sachen!“ bei Heidegger, was ihre anfängliche Anziehungskraft auf den akademischen Nachwuchs ausgemacht haben mag, wird aber nolens volens selbst zur Erkenntnistheorie, weil auch sie sich auf die Suche nach dem Ursprung begibt, den sie nun allerdings nicht in methodologischen Vorüberlegungen ausfindig macht, sondern indem sie in Form der Seinsfrage nach etwas Ausschau hält, was den Axiomen und Grundsätzen der Einzelwissenschaften zugrunde liegen soll. Mit dem Sein ist an etwas gedacht, das die Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken konstituieren soll. Die Wissenschaften befassen sich, diesem Verständnis zufolge, mit jeweils wie auch immer bestimmtem Seienden. Die Ontologie hingegen befaßt sich mit dem unbestimmten Sein, das aber ganz ausdrücklich nicht ein Begriff und somit das Ergebnis einer verallgemeinernden Abstraktion sein soll. Es soll überhaupt nichts mit dem Denken zu tun haben, und zwar weder in seiner konkreten noch abstrakten Beschaffenheit. Der Seinsphilosoph ist und begreift sich weder als einen Einzelwissenschaftler noch als einen (Formal-) Logiker oder Wissenschaftstheoretiker.

In diesem Kontext schafft die sogenannte „ontologische Differenz“ klare Verhältnisse. Jedenfalls auf den ersten Blick. Die Wissenschaften und das Bewußtsein des Alltagsverstandes werden der Seinsvergessenheit geziehen, weil sie sich nur und ausschließlich mit bestimmtem Seienden, also irgendwelchen in ihrer jeweiligen Eigenart zu identifizierenden Gegenständen befassen. Hier wird also einerseits an der Bestimmtheit der gedanklichen Arbeit Anstoß genommen. Das Sein soll aber andererseits auch kein Begriff, keine Abstraktionsleistung des denkend sich Rechenschaft ablegenden Intellekts sein, sondern etwas, was jedem denkenden Bestimmen voraus liegt. Und das ist ein Schwindel, weil das Sein das bestimmungslose Allgemeine schlechthin, also Abstraktion pur ist, bei der man sich nichts denken kann, weil es der Gedanke kat exochen ist. Und gerade weil es bei dem gänzlich Unbestimmten nichts zu denken gibt, kann von Heidegger in es etwas hineingeheimnist und mit einem unaussprechbaren Sinn ausgestattet werden, weil es dafür oder dawider ohnehin nichts zu vermelden gibt. Genauer gesagt: Dieses Bestimmungslose ist der allem zugrunde liegende Sinn schlechthin. Und das ist ungemein trickreich, weil sich der Ontologe auf diese Weise unangreifbar gemacht hat. Unaussprechbar ist der allem zugrunde liegen sollende Sinn deswegen, weil Sein im Sinne einer creatio ex nihilo Welt aus sich entspringen lassen soll. Das kann freilich deswegen nicht funktionieren, weil aus einer bestimmungslosen Identität, die Sein ist, nichts Bestimmtes folgen kann. Dem Fundamentalontologen bereitet diese erhabene Leere des Seins aber nicht nur keine Schwierigkeiten, sondern er verbucht dieses Nichts des Seins als den eigentlichen Gewinn seines Abstrahierens. Seine ganze Anstrengung ist darauf gerichtet, jede Spur einer Reminiszenz an Seiendes zu vernichten und zu tilgen, auch auf die Gefahr hin, daß das Ergebnis seiner Reduktion schließlich darin besteht, daß eigentlich nichts mehr übrig bleibt, über das sich etwas anderes aussagen ließe, als die Tautologie, daß es es selbst sei.

Darüber hinaus besteht die Kunst des Hinterfragens alles Bestehenden und Seienden darin, daß gar nichts mehr in Angriff genommen wird. Heidegger fragt derart radikal, kapriziert sich auf eine unbedingte Suche nach dem Ursprünglichen, daß die Realität, in der wir leben im Verhältnis zu jeder möglichen Antwort auf eine solche Frage bedeutungslos und gleichgültig ist. Und diese Differenz wird noch dadurch vergrößert, daß gesagt wird, daß es ohnehin bloß auf das Fragen ankomme, und daß sich jede mögliche Antwort an dem Tiefsinn der Frage und ihrer Aura vergehe. Auf jeden Fall sei es eine unzulässige Verflachung der Frage, wenn sie beantwortet, oder man auch nur versuchen würde, sie zu beantworten. Statt also gedanklich sich über irgend welche Vorkommnisse theoretisch Klarheit zu verschaffen, um sich ihnen gegebenenfalls praktisch stellen zu können, plädiert Heidegger für Unterwerfung pur, wenn er davon spricht, daß man nicht etwa dem Staat, in dem zu leben man gezwungen ist, sondern dem Sein quasi schicksalhaft „hörig“ sein müsse. Und der Sinn des Seins, dem man sich bedingungslos unterzuordnen habe, sei kein anderer als die sinnlose, nämlich geworfene und ins Nichts hinausgehaltene Existenz. Negativität als solche ist das eigentlich Positive und Sinnvolle des Seins.

Absurd ist diese Verselbständigung des Seins zu einem eigenständigen Subjekt aber auch deshalb, weil einerseits unterschlagen worden ist, daß es sich bei ihm um ein gedankliches Konstrukt handelt. Von diesem Konstrukt oder philosophischen Entwurf wird dann andererseits so getan, als ob es unmittelbar das Sein wäre. Und ihm wird dann drittens eine Potenz des Subjekts angeheftet, indem ihm ein aktivisches Vermögen unterstellt wird, dergestalt, daß es sich als eine unmittelbare Einflußnahme auf diejenigen äußere, die es mit ihren Abstraktionsleistungen doch überhaupt erst in Gedanken erschaffen haben. Diese Verselbständigung des Erschaffenen zu einem eigenständigen Subjekt ist aber deswegen vorgenommen worden, um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt umzukehren, das Subjekt zum Produkt seines Produktes zu verfälschen, dem es sich bedingungslos auszuliefern und zu unterwerfen habe: Sein als auf sich zu nehmendes blindes Fatum oder Geschick. Auch so kann ein metaphysisch ausgepinseltes Plädoyer für Abhängigkeit pur aus der Taufe gehoben werden. Und so versteht es sich auch, daß Heidegger vor der Blindheit dieses Seins nur eine einzige Haltung für die angemessene hält: eine blinde Unterwerfung in Form des Existentials der „Hörigkeit“.

Dies bedacht leuchtet es nicht mehr ein, Heideggers sogenannte und damit bereits verharmloste politische Exzentrizitäten wie den Wildwuchs eines orientierungslos gewordenen Denkers kleinzureden, um durch diese verschämte Generalabsolution sich dann umso unbefangener an der puren Weisheit der reinen Lehre zu erbauen. Solche Formulierungen wie diejenige, daß das Sein der Führer sei, sind nichts weiter als Konsequenzen aus dem propagierten Begriff des Seins. Und daß Heidegger nach dem Krieg auch noch auf eine andere Weise als faschistisch adaptiert werden konnte hat damit zu tun, daß dieser Seinsphilosoph Geschichte auf der einen Seite ontologisiert hat, um sie auf der anderen Seite selber wie Natur in ihrem blinden Vollzug zu vergotten. So kann man, je nach Bedarf und politischer Einstellung, das Sein überall dort ausfindig machen, wo es als Geschick einen jeweils gerade hin verschlagen hat. Seinsphilosophie ist, um es auf den Punkt zu bringen, eine Philosophie für geistige Opportunisten.

Zu bedenken ist fernerhin, daß der Fundamentalontologe das der stets etwas Bestimmtes aussagenden Sprache gegenüber Anderen und, wie unterstellt wird, sich im Begriff nicht Erschöpfende nie anders als mittels des Begriffs zu entwickeln vermag. Er kann, allein dadurch, daß er sich zu Wort meldet, nicht den Anspruch durchhalten, sich dem begrifflichen Denken von Anfang an entgegengesetzt und entzogen zu haben, weil er nämlich, wie unbeholfen und verdreht auch immer, stets für sein Sein argumentiert. Und das weiß Heidegger selbst am besten, wenn er zuzugeben gezwungen ist, daß auch das Sein letztlich ein Begriff ist, wodurch alles Reden über das Sein zu einem vermittelten wird. Also bedient sich der derart in die Klemme Geratene des Mittels des Ausweichens, das als eines der Tiefe daher kommt, wenn er sich dieser sich aufdrängenden Frage wie folgt entzieht:

Weil das Ideal der Ursprünglichkeit verloren zu gehen droht, führt er eine andere – sprachphilosophische – Unterstellung ein: Seine Sprache soll unmittelbar eins sein mit dem, was sie ausdrückt. Diese unterstellt Unmittelbarkeit des sprachlichen Zugangs manifestiert sich dann in solchen kabbalistischen Wendungen wie der, daß das Sein sich in der Sprache „lichte“ oder „entberge“. Die Logik dieses Tuns ist es, dem Ausgangsdilemma auszuweichen, das darin besteht, daß Sein weder ein begrifflich Allgemeines noch ein Seiendes sein soll. Und da bietet es sich an, zu unterstellen, daß, da Sein nicht anders als in der Sprache ausgedrückt werden kann, der Sprache selbst ontologische Dignität zuzusprechen ist. Sprache, so wie Heidegger sie versteht, ist dann nichts anderes als die Erscheinung dessen, was in ihr gemeint ist. Es wird also so getan, als koinzidiere sie unmittelbar mit ihrem Anderen, das in ihr zu Sprache komme oder sich in ihr „lichte“. Und das ist deswegen Unfug, weil in jeder Sprache das mit ihr nicht von vornherein Identische gedanklich in die Verfügungsgewalt des Subjekts per vorzunehmender Identifizierung zu bringen versucht wird. Die Dinge reden weder von sich aus, noch geben sie ihre Identität unmittelbar zu erkennen, weil sie nämlich zunächst das dem Intellekt Fremde sind. Und diese jedem Sprechen anzusehende Differenz hebt Heidegger ganz einfach auf, weil es ihm um das unmittelbare Entsprechungsverhältnis seines Redens mit dem Sein geht.

Ohnehin kommen selbstverständlich auch Vertreter der nominalistischen oder positivistischen Philosophie ohne Begriffe nicht aus. Daß sie ohne diese nicht auskommen, verweist darauf, daß die Reduktion des Begriffs auf Seiendes genausowenig möglich ist wie umgekehrt die Reduktion des Seienden auf das Sein. Besteht also der Fehler Heideggers darin, die Verallgemeinerung des Seins von den Vermittlungen durch Seiendes frei zu halten, dann ist es der Fehler des Positivismus, des Seienden als solchen, ohne die Vermittlung durch den Begriff habhaft werden zu wollen. Heidegger hypostasiert das Sein, seine vermeintlichen Antipoden hypostasieren das auf seine begreifende Durchdringung Verzicht leistende Seiende, wenn sie sich gedankenloserweise als gedankenlose Empiriker aufführen.

Darüber hinaus macht sich Heidegger mit seinem Sein einer petitio principii schuldig. Weil er der prinzipiellen Vergänglichkeit des zeitlich Seienden entgehen will, wenn er die Ursprünglichkeit eines nicht zu bestimmenden Seins anvisiert, siedelt er dieses gesollte Sein dort an, wo die Zeit nicht hinreicht und gibt dieses dann für ein Ursprüngliches aus. Damit ist dann aber bereits, ohne daß dafür auch nur ein Argument ins Feld geführt worden wäre, entschieden, daß dem Seienden das Sein ontologisch vorgeordnet sein soll, weil es nur als nicht dem Zeitfluß ausgeliefertes grundlegend sein kann. Eigentlich geht es allenthalben nur darum, die im Sinne eines Vorurteils inthronisierte Position gebetsmühlenartig immer nur zu wiederholen, daß nämlich das Sein dem Seienden gegenüber das Vorgängige sei, ohne daß diese Behauptung argumentativ abgeleitet würde. Sie kann dies aber deswegen nicht, weil im Zuge dieser Begründung das Sein in irgendeiner Weise bestimmt werden müsste, um so seine Vorgängigkeit dem Seienden gegenüber zu begründen. Geschähe dies aber, würde das Sein, der unkritisch gemachten Vorgabe gemäß, selbst zu einem bedingten Seienden, das es, bei Strafe des eigenen Untergangs, auf gar keinen Fall sein darf. Womit man wieder da angelangt wäre, wo sich der Seinsphilosoph von Anfang an befindet. Bei dem supponierten Unmittelbaren der „ontologischen Differenz“. Das Sein soll weder das Abstraktum des Allgemeinbegriffs noch das bestimmte, unter einen Allgemeinbegriff befaßte bestimmte Seiende sein.

Weil also das Sein Heideggers diesen nicht mehr zu überbietenden Grad an Allgemeinheit hat, ist mit ihm weder argumentativ etwas anzufangen noch ist ihm mit Argumenten und kritischen Einwänden zu begegnen, weil nämlich jeder Einwand über es etwas Bestimmtes aussagen müßte. Genau das aber ist prinzipiell und von vornherein ausgeschlossen worden. Man kann also eigentlich nur daran glauben oder auch nicht, je nach Geschmack und Einstellung. Und weil dem so ist, ist damit auch erklärt, warum die Position des Existentialontologen eine intellekt- und wissenschaftsfeindliche sein muß: Gedankenlose Gedanken sind nämlich ansonsten und prinzipiell ein Widerspruch in sich und darüber hinaus unaussprechbar, was aber nicht für, sondern gegen sie spricht. Anders gesagt: Heidegger macht aus Armut pur einen nichts beinhaltenden Reichtum, einen Reichtum aus Armut. Und in dieser Haltung kommt er aufs Schönste überein mit der religiösen Grundeinstellung: Dem Dünkel des Glaubenden, der aus seiner Demut und Nichtswürdigkeit resultiert. Gerade auf seine Verworfenheit bildet sich der Glaubende alles ein.

Der Reichtum aus Armut hat aber darin seinen Grund, daß Heideggers Philosophie eine ganz und gar unkritische ist. Wortgeschichtlich gesehen leitet sich der Begriff Kritik nämlich aus dem Begriff des Scheidens ab. Das griechische „Krinin“ heißt unterscheiden. Gegen das für jedes Denken unverzichtbare Unterscheiden hat sich Heidegger aber der Bestimmungslosigkeit seines Seins zuliebe stets und unmißverständlich ausgesprochen. Die Sünde des Denkens soll das Unterscheiden sein, dasjenige also, ohne das kein Denken auskommt oder auch nur stattfinden kann. Deswegen war oben davon die Rede, daß Heideggers Philosophieren von Grund auf intellektfeindlich und irrational ist. Es muß dies sein, weil es sich nur so in seiner gewollten Reinheit des Seins einrichten kann. Da das Sein aber weder das Seiende noch ein wie auch immer Begriffliches sein soll, bleibt nur übrig, es als ein jedem Unterschied Vorgängiges und damit Archaisches in Szene zu setzen.

Vor diesem Hintergrund begreift man auch, weshalb der späte Heidegger von dem Menschen als dem „Hirten des Seins“ gesprochen hat. Damit und mit den ausgelatschten Schuhen einer Bäuerin soll ein vorrationaler, dabei ganz und gar bornierter metaphysischer Ursachverhalt getroffen werden, der auf primitive, voragrarische Verhältnisse einer Vieh züchtenden Gesellschaft zurückverweist. Die Faszination aber, die von Heideggers Denken bis heute ausgeht, ist, so gesehen, die Unbildung, die zu predigen dieser dem Denken abschwörende Denker sich gefällt. – Sein ist bzw. soll demzufolge dasjenige sein, in dem die Differenz zwischen Seiendem und Sein noch gar nicht besteht. Und dieses Unreflektierte oder Naive eines vorbegrifflichen archaischen Denkens – wenn man es denn so nennen will – wird dem Ursprünglichen und deswegen als höher Bewerteten gleichgesetzt. Diese Begeisterung für die Ununterschiedenheit eines vorrationalen Einfachen macht den immer wieder herausgestrichenen Antiintellektualismus dieser Philosophie aus, der also systematisch motiviert ist. Das heißt, daß diese Philosophie das Scheidende und Unterscheidende deshalb abwehrt, weil es der Unterschiedslosigkeit des Seins in die Parade fährt. Da aber das Scheiden und Unterscheiden eine unverzichtbare Funktion des sich betätigenden Intellekts ist, so muß mit der Abwertung dieses Vermögens auch der Verstand selbst abgewertet und als der rückgängig zu machende Sündenfall hingestellt werden.

Hiermit hat es auch zu tun, daß dieser erhabene Dünkel des Nichtwissens so etwas wie ein Surrogat für Menschen bietet, die in der Realität ihres wirklichen Lebens zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sind. Mit Hilfe der Weiten des Heideggerschen Ungedankens gelingt es ihnen, dasjenige zu leisten und freiwillig auf sich zu nehmen, was ihnen an Notwendigem im täglichen Einerlei aufgebürdet wird. Ja noch mehr, sie werden von Heidegger und den Seinen geradezu dazu ermutigt, das ihnen Auferlegte und scheinbar Unumgängliche in dem Bewußtsein auf sich zu nehmen, daß sie auf eine indirekte Weise durch diese erbärmliche und jämmerliche Verzichtshaltung des Eigentlichen teilhaftig werden, worin sich spätestens der religiöse Hintergrund dieses areligiösen Predigers offenbart.

Der von Heidegger favorisierte Seinsbegriff entzieht sich aber der Frage nach der Wahrheit oder Falschheit der Sätze über Sein deswegen, weil er jede Bestimmung von sich weist. Darüber hinaus wird konsequenterweise das Denken diffamiert, weil nur es diese Unterscheidung durchzuführen vermag. Außerdem und als Folge dieser Diffamierung kommt es dann zu einer vollkommenen Verarmung, weil es das supponierte Absolute ja nur deswegen ist, weil es als das bestimmungs- und unterschiedslose deklariert worden ist, bei dem man sich im prägnanten Sinne nichts mehr denken kann. Und diese Kargheit der eigenen Würde wird dadurch jeglicher Kritik entzogen, daß diese Unbestimmtheit zum Eigentlichen deklariert wird, wenn beispielsweise von dem „Abstieg des Denkens in die Armut seines vorläufigen Wesens“ die Rede ist. Heidegger tut gerade so, als sei die von ihm propagierte Armut die Frucht einer heilsamen Askese, weil nur so das Denken sich einerseits von den oberflächlichen und fassadenhaften Bestimmungen reinigen könne, um dann ausgerechnet in der gedanklichen Ödnis dieser freiwilligen Zurückgezogenheit einer wie auch immer beschaffenen Fülle teilhaftig zu werden. Schade ist freilich, daß dieses Versprechen, gerade in der heilsamen Armut die Fülle zu entdecken ein frommer Wunsch bleiben muß, weil jeder Versuch, dieses Sein zu bestimmen es auf der einen Seite dem Begriff und auf der anderen Seite dem Seienden ausliefern würde. Also wird man mit Begriffen vertröstet, die nicht, wie es einzig sinnvoll wäre, als Begriffe durch ein anderes bestimmt sind, sondern mit begriffslosen Begriffen, die lediglich noch sich selbst bedeuten. Letztlich wird man mit Formeln abgespeist, die monoton hergebetet werden (können).

Überhaupt ist die Haltung verräterisch, mit der das alles vorgetragen wird. Es liegt dem Versprechen, auf den Grund des Seins vorzustoßen, das Prinzip der Vertröstung zugrunde. Wer immer und vor allem auch in der Politik davon redet, daß dasjenige, was versprochen wurde, irgendwann einmal eingelöst werden wird, hat dies entweder nie vorgehabt oder ist dazu, wie im Falle Heideggers, prinzipiell unvermögend. Dieses Versprechen soll also lediglich darüber hinweg täuschen, daß eine Erfüllung auf Grund der gemachten Voraussetzung ganz und gar ausgeschlossen ist. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der sprichwörtlichen Faktenhuberei der empirischen Soziologie, die ja auch stets behauptet, man müsse erst unendlich viel Material mittleren begrifflichen Niveaus und Umfangs zusammenlesen, bevor man dann irgendwann einmal möglicherweise zu der Voraussetzung einer gescheiten Theorie der Gesellschaft sich durchgeläutert habe. Eine Theorie der Gesellschaft ist aber etwas gänzlich anderes als das Aufhäufen unzähliger Einzelbeobachtungen und ihrer anschließenden Klassifikation. Mit diesem Ansatz kann der Begriff der Gesellschaft nicht nur nicht erreicht werden, sondern ist vom Ansatz her ausgeschlossen. Hier steht diesem Versprechen die schiere Unendlichkeit des empirischen Details im Weg. Dort die Armut des Seins, in die sich das Denken zurückbegeben müsse, um ausgerechnet dort der Fülle des Seins zu begegnen. Anders gesagt, diese unterschiedlichen Ausweichmanöver machen stets aus der Not eine Tugend, wenn aus Mängeln der Theorie, aus etwas Negativem eine höhere Form der Positivität verfertigt wird. Also hinsichtlich des Seins des Fundamentalontologen wird so getan, als ob die Abstraktheit, die die unumgehbare Aporie des Seins ausmacht in Wirklichkeit sich in größerer Nähe zu der wirklichen Fülle dessen befinde, was das Eigentliche ist.

Aber auch rein geschichtlich betrachtet geht Heidegger fehl. Denn sein Sein, das er philosophiehistorisch als das vorgedankliche Erste ausgibt, ist bereits das Ergebnis einer Reflexion und eines Abstraktionsvorganges. Genau genommen ist es sogar die Abstraktion schlechthin, eben weil sich bei dem Sein nichts Bestimmtes denken läßt. Die griechischen Denker wie beispielsweise und vor allem Parmenides hatten nicht zunächst die von Heidegger ihnen unterstellte pure Seinserfahrung, sondern das Sein, das sie meinten, war das Ergebnis des Nachdenkens über ein zunächst unverstandenes Seiendes, das sie mit Hilfe ihrer General-Abstraktion einer wie auch immer fragwürdigen Erklärung zuführen wollten. Also ist es genau anders herum, als Heidegger uns glauben machen will: Nicht ein ursprüngliches, intellektfreies Sein stand am Anfang, an dem sich dann seit Plato die verkopfte Philosophie vergangen hat, sondern eine als chaotisch erfahrene Welt sollte mit solchen Prinzipien, die der Intellekt sich hat einfallen lassen, in eine halbwegs plausible Ordnung überführt werden. Heidegger will also, kurz gesagt, eine Verfallsgeschichte konstruieren, und ist auch hierin dem religiösen Geschichtsverständnis kongenial: ein harmonischer, intellektfreier Urzustand wurde von einem durch den Intellekt herbeigeführten Abfall abgelöst, wofür der Mensch qua Mensch immer und in alle Ewigkeit in Sack und Asche zu gehen hat. Oder auch nicht, gesetzt er wird dem Sein hörig oder der Hirt des Seins …

Die Gedankenbestimmung des Seins eines Parmenides jedoch ist deswegen von so besonderes hohem Wert, weil mit ihr erstmals in der Geschichte des abendländischen Geistes ein Abstraktionsniveau erreicht worden ist, mit Hilfe dessen man sich konkrete Vorgänge in der Natur etwa verständlich und begreiflich machen kann. Diese Bestimmung des Gedankens ist das Ergebnis eines Gefühls der Insuffizienz oder der Anstoßnahme daran, daß sich die frühen Naturphilosophen zunächst mit einzelnen, mehr oder weniger willkürlich ausgedachten Prinzipien oder Stoffen auf der Welt eben nicht zurechtgefunden hatten. Diese Erklärungsversuche der Mannigfaltigkeit des Erscheinenden waren gedankenlos. Und diesem Mißstand hat in der Tat Parmenides abgeholfen, wenn er das Prinzip der Erklärung des Seienden im Sein, also in der Verallgemeinerung des Gedankens als solchem ausfindig machte. Daß ihm darüber die per Differenzierung zu bestimmenden Besonderheiten der Dinge oder das Unterscheiden abhanden gekommen sind, ist allerdings der sein abstraktes Denken charakterisierende Mangel, worauf dann Platon und Aristoteles in ihrer Kritik aufmerksam gemacht haben.

Denn daß es nachfolgend um die Konkretisierung dieser Abstraktion gegangen ist, also darum, jeweils bestimmte Gedanken zu denken, und damit die vermittelte Unmittelbarkeit des ersten, notwendig abstrakten Gedankens hinter sich zu lassen, ist den Bemühungen um bestimmte (ethische) Verallgemeinerungen eines Sokrates, Platon oder vor allem des Aristoteles zu entnehmen. Sie ruhten sich weder auf diesem gedankenleeren Abstraktionsniveau eines in seinem Anfang bereits zu seinem Ende gekommenen Nichts noch auf der wahrnehmungsgestützten und folglich nichts erklärenden Verdoppelung der Welt mit ihren vier vermeintlichen Elementen aus, sondern machten beide Einseitigkeiten – die des puren, gedankenarmen Empirismus und die des nichts denkenden, weil identitätslogisch ausgehöhlten Idealismus – zum Ausgangspunkt ihrer geistigen Arbeit, in der es um die Bestimmung der wirklichen Eigenarten irgendwelcher Gegenstände ging. Und in diesem Anliegen sind ihnen dann, ca. 2000 Jahre später, die Begründer der empirisch untermauerten mathematischen Naturwissenschaften in Gestalt Galileis, Keplers und Newtons etwa gefolgt. Damit ist auch noch einmal klargestellt, daß das Sein erstens nicht ein Unmittelbares, sondern ein Vermitteltes ist, und daß es zweitens nur insofern als ein Unmittelbares apostrophiert werden kann, als mit ihm die intellektuelle Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit der zunächst als fremd und feindlich erfahrenen Welt anhob.

Daß Parmenides dabei ein gedanklicher Fehler unterlaufen ist, soll hier noch extra vermerkt werden. Er ist nämlich folgendem Irrtum aufgesessen: Weil die unverstandene Mannigfaltigkeit immer mehr angewachsen war, hielt er es für notwendig, diesem schier unendlichen Material mit Hilfe eines Prinzips einen Erklärungsgrund für Alles unterzuschieben, und verkannte dabei, dass ein Erklärungsgrund, der alles erklären soll, eben darum nichts erklärt. Das Alles ist genau so viel oder so wenig wie das Nichts. Aber weil ihm genau dieser alles erklären sollende Grund vorschwebte, verfiel er auf das Sein, das, als die General-Abstraktion, nichts mehr erklärt, und exakt deswegen das gesuchte allgemeine Prinzip ist. Nur: Es ist als Unmittelbares ein ganz und gar Vermitteltes, was Heidegger nie hat wahrhaben wollen, und es leistet genau das nicht, was es leisten sollte: Alles zu erklären. Erklärungswert haben ausnahmslos bestimmte Gedanken, die an der Bestimmtheit das Kriterium ihrer Überprüfbarkeit besitzen. Umgekehrt folgt daraus: Wo es kein Kriterium gibt, ist der argumentativen Überprüfbarkeit der Boden entzogen worden.

Und darin kommen Parmenides und Heidegger dann doch wieder überein, daß ihr Prinzip nichts erklären kann, auch wenn der eine mit ihm, als purer Abstraktion, alles erklärt haben wollte, der andere es vor aller Erklärung als das Voraussetzungslos-Ursprüngliche inthronisiert hatte, dem man sich nur, wie dem Göttlichen, in der ahnenden und begeisterten Schau des eingeweihten Sehers in Form gestammelter Archaismen und Neologismen nähern kann, indem man es auf gar keinen Fall soll rational benennen dürfen. Anders gesagt, der eine kreiert aus dem Bedürfnis einer dem Wandel nicht mehr unterworfenen Erklärung eine oberste Abstraktion, die, weil sie von allem bestimmten Seienden absieht, nichts anderes mehr ist als der reine Gedanke des Seins oder pures Denken. Und der andere operiert zwar mit derselben Abstraktion und will nur nicht zugeben, daß sie eine solche ist, weil sie dadurch ihrer unterstellten und gesollten Ursprünglichkeit verlustig ginge und als ein Vermittlungsprodukt des Denkens in Erscheinung träte, womit der Anspruch auf das Ursprüngliche und nicht durch den Intellekt zerredete blamiert wäre.

Und in dieser Aporie, einerseits das Unsagbare nicht sagen zu können, dies aber bei Strafe der Sprachlosigkeit doch immer wieder tun zu müssen, indem im Zweifelsfall nur Tautologien oder Metaphern im geistfeindlichen Angebot sind, besteht das Spezifikum der Heideggerschen Philosophie für Eingeweihte, die sich auf ihren Ausstieg in die Gedankenlosigkeit oder den Abstieg in die geistige Armut auch noch wer weiß wie viel zugute halten. Denn, um es noch einmal zu sagen, weil das Sein weder das Seiende noch eine, und sei es auch gedankenlose, gedankliche Bestimmung und Abstraktion sein soll, ausgedrückt in der Copula oder dem Satzteilverbinder jeglichen logischen Urteils, bleibt lediglich das Konstrukt eines Seins übrig, von dem es buchstäblich nichts mehr zu sagen gibt, als daß es es selbst sei. Denn, wie sagt der Meister in der Schrift „Brief über den ‚Humanismus‘“? „Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“ Eine explizite Nicht-Aussage als Aussage … So etwas, eine contradictio in adjecto, muß man – voluntaristisch – einleuchtend finden wollen. Wer dem nicht folgen kann, wird der Seinsvergessenheit geziehen, was auch nicht weiter schlimm ist, da es ja, der Tautologie sei Dank, nichts zu begreifen gibt.

Dieses Denken jedenfalls steht der traditionellen Bestimmung des Geredes gar nicht so fern, als es Begriffe verwendet, die sich der denkenden Erfüllung verweigern, indem die einzige Bestimmtheit, die es zu bieten vermag, das Unbestimmte des gänzlich Abstrakten und Leeren ist. Das absolut Unausdrückbare, weil allen Prädikaten Entrückte wird bei Heidegger als Sein zum ens realissimum. Und hierin behält Hegel recht, wenn er von dieser Abstraktion zu Beginn seiner Logik demonstriert, daß es nicht mehr oder weniger als das Nichts ist. Umgekehrt aber bezichtigt es gerade dasjenige Denken der Niedrigkeit und der Alltäglichkeit, das es sich zur Aufgabe macht, daß sein Reden tatsächlich bestimmten Gedanken zum Ausdruck verhilft. Und weil dies die Stoßrichtung des Meßkircher Philosophen ist, ist sein Denken ein ganz und gar unwissenschaftliches, wenn es die unbedingte Nihilität als Positivum zu Gehör bringt. Denn um es ein letztes Mal zu sagen: Sein Nicht-Denken-Können des Seins resultiert daraus, daß es in der Unbestimmtheit, die es verlangt, sich gar nicht denken läßt. Und dies ist der deutlichste Hinweis auf den Antiintellektualismus dieser Nichtwissenschaft, was, dies die Ironie der Geschichte, Heidegger der letzte wäre zu bestreiten.

Coulter, Gerry: After ‚Disciplined‘ Thought: Baudrillard and Poetic Resolution, 11.03.09

My impulse comes from a radical temperament which has more in common with poetry (Baudrillard, 1993:131).

I. Introduction

During the past twenty-five years concepts such as Truth, Meaning, and the Real (the capital letters represent universality), have been subjected to radical criticisms. Today many students of society are only comfortable with the terms truth, meaning, and the real (lower case) to represent an understanding that all knowledge exist along local and restricted horizons – as partial objects (see, for example, Baudrillard, 1994:108). Goethe understood, two centuries ago, that the self is the only criteria for truth we will ever know. Between Goethe and today stand a phalanx of „disciplined“ knowledge known as the social sciences. Leaders in the various fields who constitute the „police“ of each social science often deploy so called „scholarly journals“ to monitor and regulate discourse in their field. Sometimes, in recent years, a new term „multidisciplinarity“ has not necessarily represented a challenge to the police but merely operated as a kind of academic INTERPOL. We are able today to once again take seriously Goethe’s insight because open-access journals (such as AVINUS Magazine) work to frustrate the academic police while focusing on a very high quality of discourse. Among some of the more liberating aspects of the present is that it is now possible to turn to non-traditional approaches and methods of inquiry such as photography, film, visual culture, art, and poetry as inspirations for social thought. Few have accomplished this in terms of the poetic with the fierce commitment to radicallity than Jean Baudrillard.

In this essay I point to Baudrillard’s effort to seek a poetic, rather than empirical, resolution of the world. Specifically, I argue that such an approach opens new ways of non-disciplined thinking which are more indebted to art, literature, and poetry than to any traditional school or methodology. From Baudrillard I have learned that what is at stake is the future of radical thought as it exists beyond all politics. To enter into the poetic is to leave the world of politics behind. It is a world of theory where the very act of writing itself is a form of politics. It is not necessary that the reader of this paper has read Baudrillard although it may stimulate a greater interest in doing so. I offer my Baudrillard-inspired assessment of the place of the poetic in inquiry today to those who accept that we do indeed have much to learn from photographers, poets, and artists of all kinds.

II. Poetry As A Way Out of Voluntary Servitude

Theory is a core issue for thoughtful inquiry today. For Baudrillard „theory could even be poetry“ (1990:24). I have never known anyone who needed the poetic to live and write as much as he did. Baudrillard’s world was our world – one that frequently drifts into delirium. In a delirious world one strategy is to adopt a delirious point of view – one without homage to any principle of Truth or causality (2000:68). Baudrillard was very clear about not being a poet but he understood that poems, parables, stories, and fables (fiction) are as „real“ as anything else in this world. It was his deep respect and appreciation for these forms which allowed him to grant a poetic singularity to events and to subject them to powerful challenges which often ended in radical uncertainty (Ibid.).

Often a fable can be used to illustrate a point. I wonder if Baudrillard ever did so more poetically than in his use of „Death in Samarkand“ to illustrate the distractions that can be caused by even a single sign:

Consider the story of the soldier who meets Death at a crossing of the marketplace, and he believes he saw him make a menacing gesture in his direction. He rushes to the king’s palace and asks the king for his best horse in order that he might flee during the night far from Death, as far as Samarkand. Upon which the king summons Death to the palace and reproaches him for having frightened one of his best servants. ‚I didn’t mean to frighten him. It was just that I was surprised to see this soldier here, when we had a rendez-vous tomorrow in Samarkand‘ (1990d:72).

That one (or an entire society) can run towards one’s fate by attempting to avoid it is the kind of poetic irony that informs this kind of thinking. In Baudrillard we find references to Mandeville’s Fable of the Bees in at least nine of his books (1983; 1990c; 1993b; 1993c; 1995; 1998; 2001b; 2001c; 2005b). This fable is brought forward into our own time [Mandeville wrote it in the early 18th century] as a poetic way of understanding that corruption is vital to a society’s success – „the splendor of a society depends on its vices“ (1993b:102). This fable goes some distance in explaining America today. Baudrillard also draws on the fable of The Sorcerers Apprentice (1997b:24); Guido Ceronetti’s Incest Fable (1993b and 2001:93); and several fables from Borges: The Mirror People (1996:148); The Lottery in Babylon (1990d:150; 1996:91; 2001:93); and The Map and the Territory (1994:1; 1996:47; 2000:63). Such fables become poetic mirrors for Baudrillard about his own time. In the case of Borges‘ The Map and the Territory he says we need to turn this fable upside down:

We live as if inside Borges’s fable of the map and the territory; in this story nothing is left but pieces of the map scattered throughout the empty space of the territory. …Today there is nothing left but a map (the virtual abstraction of the territory), and on this map some fragments of the real are still floating and drifting (2000:63).

Also, at several junctures, Baudrillard cites Arthur C. Clarke’s parable The Nine Billion Names of God (1990c; 1993c; 1996; 1996b; and 1997b) to refer to our current circumstance. In it a community of Tibetan monks have been listing the many names of God for centuries. Growing tired they call in experts from IBM and the computers finish the job in a month. What the technicians did not know was the prophecy that once the nine billion names of God had been recorded the world would end. As they come down from the mountain the stars in the sky begin to disappear one by one (see Baudrillard, 2000:42). Fables such as this poetically point to the risks presented by techno-science.

Fiction (especially novels) also plays an enormous role in Baudrillard’s poetic thinking. He writes of the fiction of Western values with a poetic twist – arguing that it is not the presence of Western values that people outside of the West detest – as much as the West’s absence of values (2002b:65). Even the superpower America is reduced to a powerful fiction (1988:95, 1993:132) and he is never more poetic than in his assessment of Disneyland as a „deterrence machine for the rejuvenation of the fiction of reality“ (1994:13) because Disneyland exists to hide that all of „real“ America is Disneyland (Ibid.:12). America is his fiction about a powerful fiction – the land of „just as it is“ (1988:28) and „the last remaining primitive society“ – „the primitive society of the future“ (1988:7). Many Americans, especially the men of the Right, hated Baudrillard’s poetic and fictive America. It is interesting how they soon gave the world George W. Bush and a kind of „Baud-reality“ settled over international events. It is important also to remember that Baudrillard was not a proponent of such events, rather, he found them intolerable (1987b:107).

Baudrillard’s poetic sensibility led him to challenge us to probe the course of events and their possible meanings in non-traditional ways. This meant that an event like that which took place in New York on September 11, 2001 can be understood as peculiarly affirming of his poetic writing of the world [he posited, as an explanation of why the towers toppled, the suggestion that the twin towers may have committed suicide in response to the attacks of the suicide planes (2003:43)]. This is difficult poetry for many to accept but we should remember that its author was convinced that he lived in a time when „everything in the moral, political and philosophical spheres is heading towards the lowest common denominator“ (1998b:103). Perhaps the resonance of consternation his thought evoked was just loud enough to penetrate the nearly deafening cacophony of banal [mediated] explanations of the event.

Baudrillard’s poetic ear could discern the sounds of the „background noise of the universe“ (1996:2) and the „silent laugher of flowers, grass, plants and forest“ (2002:1). These sounds have been heard by almost no other students of society since the inception of modernity yet novelists, artists, and poets hear them everyday. Baudrillard’s writing demands of us a poetic sensibility and as this sensibility has been systematically denied by almost every stage of our education.

For the education systems of modernity it is difficult to imagine a more striking case of system failure than Baudrillard. His writings represent a system’s failure to integrate him despite the ruthless, comprehensive and compulsory regimes of education and socialization he, like each of us, face. Baudrillard is also an example of the kind of thinker who understands the irony of community and that the biggest battle any of us face, in being ourselves, is against any collective to which we belong. As a theorist he is closer to playwrights like Samuel Beckett or Harold Pinter who understand that each person is fundamentally at odds with the universe. This perspective, which is at the core of his poetic way of seeing, imbued Baudrillard with a profound suspicion of the real. In a time in which Truth „no longer affords a solution“… „perhaps“, says Baudrillard, „we can aim at a poetic resolution of the world“ (2000:68).

Poetic resolution can be a strategy of resistance to systematization while leaving open the possibility of radical thought. Radical thought is best practiced as a form of academic agnosticism – the notion that it is better to have things in which not to believe, than to believe. This includes raising questions concerning, for example, what kind of future people desire when they say they wish to end terrorism. To them Baudrillard asks „what kind of state would be capable of dissuading and annihilating all terrorism in the bud…? It would have to arm itself with such terrorism and generalize terror on every level“ (1990c:22).

This kind of assertion is very close to what we often refer to as poetic justice – the reversible. It forces us to look beyond current fears to the implications of our thoughts and actions. In a world which so often disappoints the young, a poetic approach is a far more generous gift to lay at their feet than is an empirical methodology. This is also one reason why so many traditional „social scientists“ loathe Baudrillard and seek to protect their students from him.

To adopt a poetic view of the world one must renounce empiricism. A poetic approach is much closer to metaphysics than it is to pragmatic epistemologies. In our time of the proliferation of everything, how many sense, as does Baudrillard, the poetic notion that „power emerges from absence“? (1997:9)

Baudrillard’s writing takes on the poetic quality of „slimming things down and reducing stocks“ – „to escape fullness you have to create voids between spaces so that there can be collisions and short-circuits“ (1993:38). He understood that poetry exists today everywhere but in poetry. The challenge is to find poetic power – the poetic function in its primal state“ (Ibid.) elsewhere – such as in theoretical writing or in the arts, which have, arguably, had a greater influence on theory in recent years than have the empirical sciences (see Coulter, 2008). If writing is to aim at a total resolution of the world then why should this not be a poetic resolution? (1996:100) It is for this reason that the kinds of writing which are obsessed with meaning (ideological and moral), are so unconcerned with the act of writing which, for Baudrillard, involves „the poetic, ironic, allusive force of language, …the juggling with meaning“ (Ibid.:103). Baudrillard believes that art [and for him theory is an art form] ought to be concerned with illusion – otherwise all it does is mirror the world around it and therefore serves no purpose. As an art, writing is concerned with the „poetic transfiguration of the world“ (1997:140). This could be very playful as in his poetic „fate-based unrealist analysis“ of the death of Diana:

On the one hand, if we assess all that would have had not to have happened for the event not to take place, then quite clearly it could not but occur. There would have to have been no Pont de l’Alma, and hence no Battle of the Alma. There would have had to have been no Mercedes, and hence no German car company whose founder had a daughter called Mercedes. No Dodi and no Ritz, nor all the wealth of the Arab princes and the historical rivalry with the British. The British Empire itself would have had to have been wiped from history. So everything combines, a contrario and in absentia, to demonstrate the urgent necessity of this death. The event therefore, is itself unreal, since it is made up of all that should not have taken place for it not to occur. And, as a result, thanks to all those negative probabilities, it produces and incalculable effect. (Baudrillard, 2001:136-37).

This passage demonstrates Baudrillard’s more mischievous understanding of his art – the art of writing (which is at the core of the art of theory), to „confront objects with the absurdity of their function, in a poetic unreality“ (1997b:13). Here the myth of linearity is exposed by its inversion. This includes a certain poetic confrontation with the art of writing theory itself as in this exquisite passage on human experience:

Everyday experience falls like snow. Immaterial, crystalline and microscopic, it enshrouds all the features of the landscape. It absorbs sounds, the resonance of thoughts and events; the wind sweeps across it sometimes with unexpected violence and it gives off an inner light, a malign fluorescence which bathes all forms in crepuscular indistinctness. Watching time snow down, ideas snow down, watching the silence of some aurora borealis light up, giving in to the vertigo of enshrouding and whiteness (1990:59).

Or this poetic passage written on the journey home in his America:

At 30,000 feet and 600 miles per hour, I have beneath me the ice-flows of Greenland, the Indes Galantes in my earphones, Catherine Deneuve on the screen, and an old man asleep on my lap. ‚Yes, I feel all the violence of love…‘ sings the sublime voice, from one time zone to the next. The people in the plane are asleep. Speed knows nothing of the violence of love. Between one night and the next, the one we came from and the one we shall land in, there will have been only four hours of daylight. But the sublime voice, the voice of insomnia travels even more quickly. It moves through the freezing, trans-oceanic atmosphere, runs along the long lashes of the actress, along the horizon, violet where the sun is rising, as we fly along in our warm coffin of a jet, and finally fades away somewhere off the coast of Iceland (1988:24).

A key aspect of the enigmatic quality of Baudrillard’s writing then is to be found in its poetic nature – he was a theorist who does not sacrifice the art of writing to the concepts he wrote about – if he did he would have produced merely sociology and therein reduced poetic enigmas to meaning. Poetry is a synonym for fiction and the fabulous. „Theory is“, after all, „never so fine as when it takes the form of a fiction or a fable“ (2006:11). The closing down of systemic Meaning opens new poetic ones (2005:71). The expression of the poetic depends on language and the role of language (recalling Lacan) „is to stand in for meaning“ which is eternally absent (1990b:6).

Baudrillard poetically wondered if we really want to have to choose between meaning and non-meaning today. He argued that we do not want this choice because while meaning’s absence is intolerable „it would be just as intolerable to see the world assume a definitive meaning“ (2001:128). This would be the end of thought, poetry and writing – a world where we could look up solutions in a book (a Bible, a Koran, etc.,) or a computer model. The computer model is the goal of every techno-science of our time which will ultimately challenge the human to the core:

If we discover that not everything can be cloned, simulated, programmed, genetically and neurologically managed, then whatever survives could be truly called „human“: some inalienable and indestructible human quality could finally be identified. Of course, there is always the risk, in this experimental adventure, that nothing will pass the test – that the human will be permanently eradicated (2000:15-16).

If Baudrillard preferred fiction to science it may well have been because fiction holds a greater power in the mind of one who’s hopes are fatal. „Night does not fall, objects secrete it at the end of day when, in their tiredness, they exile themselves into their silence“ (1990b:149).

One of the challenges faced by those inclined toward poetic resolution is to allow the poetic aspect of things to flow through him or her, just as it is the task of the painter to find the poetic light given off by objects from within (no such light is scientifically or empirically possible but all good painters and poets know it is there). For Baudrillard, the poetic sensibility also defines itself in an awareness of contradiction and reversibility – „when things contradict their very reality – this too is poetic“ (1996:59). The poetic is central to that which remains fundamentally radical in Baudrillard. Radical thought for him is a form of constant challenge – even to one’s most cherished ideas and sources. It is why he could never subject his writing to the limits of a politics.

The poetic (poems, fables, fiction, stories, parables) is for Baudrillard part of his deep appreciation of ambivalence and ambiguity (1993c:215) and is important to how he copes with the extermination of value (Ibid.:198). We do not discover anything in poetic enjoyment and this is a vital part of what makes the poetic a radical experience (Ibid.:208). The poetic involves an „insurrection of a language against its own laws“ (Ibid.:198) and it allows us to resist the „repressive interiorized space of language“ (Ibid.:234), providing the basis for the „mutual volitization of the status of the thing and discourse“ (Ibid.:235). He finds no room for poetry in psychoanalysis, in ideology, nor in morality – these are „brute forms of writing burdened with the concept“ (Ibid.:223). Poetry then is the place of the „redistribution of symbolic exchange in the very heart of words“ (Ibid.:205) and the „site of the extermination of value and the law“ (Ibid.:195).

His poetic approach allowed Baudrillard (who studied under Henri Lefebvre and Roland Barthes), eventually taking his degree and teaching sociology, to avoid the voluntary servitude that so many subject themselves to in the many non-poetic approaches to inquiry (empirical, politically motivated, techno-scientific and so on). As such he is a very important case in the development of an alternative approach to inquiry – one in which creativity and writing were powerful and central. Baudrillard’s effort to resolve the world poetically is not for everyone. For those who feel its seduction it is important to press on to assess the implications of this thought aimed at a poetic resolution of the world. Others may consider leaving this paper at this point for an immediate return to politics and/or traditional academe.

III. Hope In System Failure

From the passages cited above we see that Baudrillard managed to bring the explosive power of language to poetic resolution. To the end he remained suspicious of all efforts to perfect the world as he did efforts to explain it with certainty. On poetry he said: „the words refer to each other, creating a pure event, in the meantime they have captured a fragment of the world, even if they have no identifiable referent from which a practical instruction can be drawn“ (2005b:73). This is not a kind of thinking that is in the business of making the world more certain or more knowable:

Here, however, lies the task of philosophical thought: to go to the limit of hypotheses and processes, even if they are catastrophic. The only justification for thinking and writing is that it accelerates these terminal processes. Here, beyond the discourse of truth, resides the poetic and enigmatic value of thinking. For, facing a world that is unintelligible and enigmatic, our task is clear: we must make that world even more unintelligible, even more enigmatic (2000:83).

Baudrillard was somewhat melancholic but he was no Romantic. He spent a good deal of his time writing his frustrations with his times. He was intensely frustrated by what we gave up in „cancelling our metaphysical contract and making another more perilous one with things“ (2001b:36; see also 1983b:149). His poetic strategy against consumerism, militarism, globalism, and nationalism, was to have things in which not to believe as opposed to things in which to believe. Surrounded as we are today by fundamentalists such as George W. Bush and Osama bin Laden this is not a bad strategy. For Baudrillard (and this is also part of his early departure from Marxism), the death of god is the end of transcendence.

The end of transcendence and responsibility to another world beyond our own meant that transcendence became secular and the effort to make the world transparent and operational replaced it. For Baudrillard, the death of god is the root of modernities turn to techno-perfection as against earlier forms of spiritual perfection. In modernity the understanding of good and evil become split – and our efforts go into making the world better only to see it go from bad to worse (2004:105). Irony comes to the fore in modernity and thoughtful inquiry, when it turns to empiricism, loses sight of irony investing itself in system support. The attempt to perfect this world [through techno-science] will almost certainly lead to systemic collapse – Baudrillard’s fatal hope – and his fatal optimism in reversibility.

Baudrillard was disappointed but no thinker who writes does so without hope. What we get from Baudrillard is a fatal hope – an optimism about the reversibility of systems. Following the current period of the proliferation of information, security, and technology (the era of the perfect crime), Baudrillard hopes for a collapse. Baudrillard, living in extreme times, takes the problematic to a radical conclusion as we no longer have the same kind of hope in a distant future that someone living before the contemporary could more easily hold. Such is the uncertainty of our times which are invested in Baudrillard’s fatal hope of systemic collapse. For him the alternative to collapse was much worse – that the system would succeed resulting in a genuinely brave new world glittering with advanced technologies. In such a world we would live out our lives in total security where computers would generate the models of lives which would become as predictable as the weather. This would be a world in which evil, all negative events, disease, and uncertainty are removed. But this too will be a world of [distilled and slow] death for an adaptive and thoughtful species. Against such a world Baudrillard saw the poetic possibility of collapse. Thought (and writing), in this view, seeks poetic resolution to an unsatisfactory, uncertain, and ultimately (he hoped) unknowable world. The poetic function of thought and writing then is based on the belief that empiricism and the techno-rational societies it contributes to, would fail. Of course this failure can only be viewed as poetic from a Baudrillardian point of view as his was the poetics of reversion.

IV. Radical Optimism

…why not take the view that the fundamental rule is that of evil, and that any happy event throws itself into question? Is it not true optimism to consider the world a fundamentally negative event, with many happy exceptions? By contrast, does not true pessimism consist in viewing the world as fundamentally good, leaving the slightest accident, to make us despair of that vision? Such is the rule of a radical optimism, we must take evil as the basic rule, (Baudrillard, 1997:138).

Herodotus was the first we know to have considered reversibility seriously in his memory of those who were „great long ago“ but who have now „become small“ (Herodotus, 1998: Book I, v). We have called this aspect of human passage many things. Some call it poetic justice (such as the fall of great empires into small satellites of new empires); others have referred to it as the turning of the wheel of fortune. „Human happiness never remains long in the same place“ (Ibid.) For Baudrillard it is part of the most poetic thing we know – that which comes as close to justice as anything we ever experience as humans: reversibility – the poetic reversibility of one thing into another (1993c:220).

For Baudrillard reversibility is the fundamental rule (2005:41) but this does not imply a determinism in his thought – indeed, reversibility is an absolute weapon against determinism (1990c:82). Baudrillard notes that the reversibility of things, which is an ironic form today, does not entail a romantic viewpoint. Rather, it means that, for us: „a strange game is being played“ and we do not know all the rules of this game – in our time, indifference has become a strategic terrain (1993:175).

The poetic provided Baudrillard with the germ of an idea that might be his single greatest thought: reversibility. It is central to what Baudrillard calls „objective irony“ – the „strong probability, verging on a certainty, that systems will be undone by their own systematicity“ (2000:78; see also Coulter, 2004). For Baudrillard this applies to both technical and human systems (political, social, economic). The more a system advances toward its perfection, the more it is prone to deconstruct itself (Ibid.).

One of Baudrillard’s more poetic examples of this, for technical systems, is the computer virus: „the tiniest one is enough to wreck the credibility of computer systems, which is not without its funny side“ (2002b:6). This is extended by Baudrillard into his understanding of globalization and the New World Order as reversible: „the more the hegemony of the global consensus is reinforced, the greater the risk, or chances it will collapse“ (1995:86). That for Baudrillard would be the most poetic resolution of all: „all the philosophies of modernity will appear naïve when compared with the natural reversibility of the world“ (1996:10).

V. Conclusion

Philosophy would like to transform the enigma of the world into a philosophical question, but the enigma leaves no room for any question… the enigma of the world remains total (1996b:20).

The poetic plays a significant part in Baudrillard’s strategy to bring resolution, through thought and writing, to the unsatisfactory times in which he finds himself. Along with fables, countless literary and artistic references, poetry is Baudrillard’s great inspiration in his struggle against the forces of integral reality (2004:5). In his writing Baudrillard felt a radical opposition between a poetic, singular configuration, linked to the metamorphosis of forms, as against the kind of virtual reality that is prevalent today. In a poetic approach it is the forms which become – language as the passage of forms – a kind of inhabited void (2004:84). Poetic resolution – and nothing is more poetic for Baudrillard than reversibility – was a way out of the restrictions of the social sciences and political commitments to „improving“ our world until it was a technoscientific nightmare.

As we seek new approaches to inquiry we would do well to remember that we do not necessarily have to seek Meaning or Truth – but a more poetic way of living, writing and thinking. Beyond discourses of Truth, Baudrillard found his own way to make the world, which came to him as enigmatic and unintelligible – a little more enigmatic, a little more unintelligible. What he left to us was a gift far more precious than Truth – he pointed to its absence and in doing so he took us beyond the limits of established forms of inquiry. If he reminds us of Goethe it is because his approach valued Goethe’s insight. From Baudrillard we learn the poetry of accepting a world that is given to us as enigmatic and unintelligible and to push it to poetic, not empirical, resolution. If we are to avoid both of the twin nightmares of total systemic collapse and total systemic success new forms of inquiry have a lot at stake in poetic resolution of the kind Baudrillard practiced.

Baudrillard understood the power of language as few have. Writing for him was a precious „singularity“, „a resistance to real time“, „something that does not conform“, „an act of resistance“, the „invention of an antagonistic world“ rather than a „defence of a world that might have existed“ (1998b:32 ff.). Writing could never be sacrificed to politics and intellectuals should speak for themselves – not for others as it always leads to condescension (1993:79). He understood from the lived experience of his poetic perspective that theory (as poetry, fiction and fable) precedes the world. „Things appear to us only through the meaning we have given them“ (2004:91). For Baudrillard this meant seeking a poetic resolution of the world through challenge with an eye on system reversion. It kept his wisdom and writing joyful to the end despite everything. It also helped him to attain escape velocity from his contemporaries (especially Foucault) and propelled him beyond politics to a more joyous way of seeing. I offer it as one way of approaching Avinus Magazine as it takes its place on the world stage of ideas and discourse. It is the kind of thinking and writing (radical thought) that does not conform to the kind of inquiry which merely contributes to the building of an uninhabitable world. Baudrillard pointed to a poetic approach which may contribute to vastly different ways of seeing and knowing so long as we remember that truth and meaning exist only partially, along our local and restricted horizon. This is the kind of „undisciplined“ thought in which the likes of Goethe was able to participate. It is the basis of a respectful and challenging approach to the multi-vocality of human discourse and inquiry. For the first time in two centuries, the established academic police actually do have something to fear. One of the ways in which Avinus may thrive is in making their job all the more difficult.

Gerry Coulter’s essay „Jean Baudrillard and the Definitive Ambivalence of Gaming“ appeared in the SAGE journal Games and Culture (Volume 2, Number 4, December, 2007:358-365). His recent article: „Baudrillard and Hölderlin and Poetic Resolution“, in Nebula, Volume 5, Number 4, December 2008; An essay „A Way of Proceeding: Joseph Beuys, the Epistemological Break, and Radical Thought Today“ appears in Kritikos: A Journal of Postmodern Cultural Sound, Text, and Image (May – June, 2008): http://intertheory.org/gcoulter.htm; and his quarterly column for Euro Art (On-line) Magazine: „Kees van Dongen and the Power of Seduction“ (Spring 2008) is available at: http://www.euroartmagazine.com/new/?issue=13=1&content=156. Dr. Coulter’s teaching has been recognized on numerous occasions most recently by Bishop’s University’s highest award for teaching – the William and Nancy Turner Prize.

References

Hansen, Frank-Peter: Vergessene Bücher X: Der philosophische Kritizismus. Geschichte und System von Alois Riehl, 24.02.09

Kant, auf den Alois Riehl im ersten Band dieses nach der zweiten Auflage zitierten Dreiteilers Bezug nimmt, sagt in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft: „‘alle Bedingungen, die der Verstand jederzeit bedarf, um etwas als notwendig einzusehen, vermittelst des Wortes: unbedingt wegwerfen, macht mir noch lange nicht begreiflich, ob ich alsdann durch meinen Begriff eines unbedingt Notwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts denke‘“ (I, 569). Und Alois Riehl respondiert: „Auf der Höhe der Abstraktion drehen wir uns mit dem Dogmatiker ewig im leeren Kreise der Begriffe, erst durch die Beziehung auf das Wirkliche wird unser Wissen zum Beurteilen von etwas, was da ist, wird das jungfräuliche Denken durch gegenständlichen Inhalt befruchtet, und damit allererst Erkenntnis“ (I, 182).

Alois Riehl, dessen Art es nie war, wie ‚in der Diplomatie üblich, die Sprache nur zu gebrauchen, um seine wahre Meinung zu verbergen‘ (I, 190), hat es sich stets angelegen sein lassen, die realistische Seite des Transzendentalismus Kants herauszustreichen. Genauso wie der Denker vom Pregel stand er der ‚fanatischen‘ Anschauung der Apostel des Absoluten skeptisch gegenüber, deswegen nämlich, weil „‘die anschauende Kenntnis der anderen Welt allhier nur erlangt werden (kann, F.-P.H.), indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man für die gegenwärtige nötig hat‘“ (I, 321). So auch in seinem Hauptwerk, das im ersten, historisch angelegten Band sowohl die geschichtlichen Voraussetzungen der kritischen Philosophie Kants – also vor allem Locke, Hume und Wolff – als auch die kritische Philosophie des Königsberger Philosophen bis zur Kritik der reinen Vernunft in ihrem theoretischen Teil behandelt. Insgesamt gilt Riehls Interesse dem theoretischen Bereich wissenschaftlichen Forschens, so daß Fragen moralphilosophischen Inhalts allenfalls im dritten Teil relativ stiefmütterlich auf ca. 60 Seiten gestreift werden.

In der Tendenz folgt diese Darstellung der Vorgabe anderer Theoretiker des Neukantianismus, die auch bereits die ganze neuere Philosophie seit Descartes als wie auch immer gelungene oder vorläufige Hinführung zur kritischen Philosophie Kants verstanden wissen wollten. Aus seiner Aktualisierungsabsicht macht Riehl denn auch keinen Hehl, wenn er sich – pars pro toto – beispielsweise wie folgt äußert: „Jener glückliche Gedanke („zuvor das Vermögen unseres Verstandes zu prüfen“, F.-P.H.) enthielt den Keim der kritischen Philosophie; er eröffnete die Reihe der Betrachtungen, die von Locke zu Kant führen und durch diesen bis zur Gegenwart reichen“ (I, 25). Dieser Absicht kontrastieren freilich die hübschen und beherzigenswerten Bemerkungen, daß man sich abgewöhnen sollte, „eingewurzelte falsche Auffassungen für Kants eigene Meinungen auszugeben und sehr überflüssigerweise als solche zu bekämpfen“ (I, 448). „Es gibt immer Ausleger, die, sooft sich ihre Begriffe verwirren, dem Autor einen Widerspruch anrechnen“ (I, 535).

Laut Riehl kann theoretische Philosophie nach der beginnenden Verselbständigung der diversen Wissenschaftsdisziplinen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nur noch Grundlagenforschung im Sinne einer kritischen Wissenschaftstheorie sein. Sie hat sich von dem ihr von alters her charakteristischen Anspruch, Gesamtwissenschaft zu sein, zu verabschieden und sich als eine Allgemeinwissenschaft oder Wissenschaftslehre zu etablieren, „die sich als solche von den Einzelwissenschaften bestimmt unterscheidet, ohne doch aus dem Zusammenhange mit diesen herauszutreten“ (I, 2). Daß Riehl nicht nur in dieser Publikation den ständigen gedanklichen Austausch mit den Naturwissenschaften sucht, macht diesen Dreiteiler zu mehr als einer im Formellen und Methodischen verharrenden Grundlagenforschung und darum lesenswert. Denn was ist Wissenschaftstheorie normalerweise heutzutage, wofür Kant sie übrigens bereits zum gut Teil damals hielt? Sie „‘sieht aus wie eine Art von Gespenst, das, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst und zwar hiervon auch nur die Hand, die darnach hascht, vor sich findet‘“ (I, 406).

Jede Form des Idealismus macht die Grenzen ihres jeweiligen Begreifens zu Grenzen der Dinge. Das gilt sowohl für den Okkasionalismus und Probabilismus als auch für die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik. Dieser Theorie zufolge ist die Welt der Quanten nicht auf eine bestimmte Weise, sondern sie hängt von den Bedingungen ab, unter denen wir die Welt beobachten. Dagegen gilt: Nur unter der Voraussetzung der empirischen Realität der Dinge, und darin stimmt Riehl mit dem kritischen Ontologen Nicolai Hartmann überein, die unabhängig von unserem Anschauen und Denken Bestand haben, ist die Erkenntnis überhaupt ein Problem, wohingegen sie in allen anderen denkbaren Fällen zu einem bloßen Konstrukt verkommt. Denn „Urteile sind nicht lediglich begriffliche Vereinigungen von Vorstellungen, sie gelten auch, sie bedeuten etwas vom Gegenstande, der durch sie beurteilt wird, mit einem Worte: sie sind Erkenntnisse. Die Beziehung auf ein Objekt ist dem Urteil wesentlich und muß daher in seine Realdefinition aufgenommen werden. Nicht jeder Satz ist ein Urteil, sondern nur derjenige ist es, bei welchem Wahrheit oder Falschheit stattfinden kann, bemerkte schon Aristoteles, und es ist ein Fehler der formalistischen Logik, sich diese Bemerkung des Aristoteles nicht zunutze gemacht zu haben. Wir können Begriffe willkürlich und zugleich in formal richtiger Weise verbinden, ohne durch diese Verbindung etwas zu erkennen oder auch nur erkennen zu wollen, d.i. ohne in Wahrheit zu urteilen. Schon die bloße Behauptung von Existenz und ebenso das Wiedererkennen eines Dinges auf Grund seiner früheren, nunmehr zur Vorstellung gewordenen Wahrnehmung zeigen diese dem Urteil unerläßliche Beziehung auf einen Gegenstand“ (I, 411). – In diesem Kontext hat eine witzige Bemerkung Lockes ihre Stelle: „‘wer so skeptisch ist, daß ihm die Wirklichkeit der Dinge, die er sieht und fühlt, ungewiß zu sein scheint, möge mit seinen bloßen Vorstellungen anfangen was ihm beliebt, mit mir wird er nie Streit bekommen, kann er doch nie gewiß sein, ob wirklich ich es bin, der seine Meinung bestreitet‘“ (I, 86 f.).

Umgekehrt freilich gilt ebenso, daß das Bestreben, „‘alle Erkenntnis auf Empirie zu gründen, … in der Leugnung aller Möglichkeit von objektiver Erkenntnis‘“ endet (I, 202). In dieser einem Mißverständnis vorbeugenden Ansicht ist sich Riehl mit dem Naturwissenschaftler und Entdecker des Satzes von der Erhaltung der Energie Hermann von Helmholtz einig. Die begriffliche Allgemeinheit ist nämlich von anderer Art als die empirische. Empirische Erkenntnisse haben lediglich eine komparative Allgemeinheit. Selbst dann nämlich, wenn, was in der Praxis de facto auszuschließen ist, eine Durchmusterung und Vergleichung aller Fälle möglich sein sollte, fehlte es doch immer noch an dem für die wissenschaftliche Einsicht Entscheidenden: der Grund ihres übereinstimmenden Verhaltens bliebe nach wie vor im Verborgenen. „Schon die empirische Forschung kennt zur Feststellung allgemeiner Tatsachen zwei Wege: außer der Induktion durch Vergleichung vieler Fälle die vollständige Analyse eines Falles. Der erste Weg, es ist der Weg der generalisierenden Abstraktion, führt zu Regeln der Übereinstimmung, zu empirischen Regeln, der zweite allein, die analytische Methode, verhilft uns zur Erkenntnis einfacher Tatsachen, zur Erkenntnis von Gesetzen der Natur, und die Verallgemeinerung tritt hier an das Ende des Verfahrens. So zerlegt der Chemiker eine zusammengesetzte Substanz in ihre Elemente und stellt sie aus diesen durch Verbindung wieder her; durch Analyse und ihre Umkehrung, die Synthese, erforscht er den chemischen Aufbau eines Körpers und überträgt, was er so durch sorgfältige Einzeluntersuchung gefunden, auf alle Stoffe der gleichen Art“ (I, 444 f.).

Im Erkennen wird also, allgemein gesprochen, das Veränderliche auf das Unveränderliche und mit sich Identische zurückgeführt, nämlich auf beharrliche Elemente und ihre beständig sich gleichbleibenden Beziehungen, die als Naturgesetze zu apostrophieren sind. Soweit dies gelingt, sind die gesetzmäßigen Abläufe der Natur in ihren wissenschaftlichen Begriff überführt. Konkret gesprochen: es „gibt außer den Empfindungen einzelner Töne von bestimmter Höhe und Stärke nicht noch ein Tonempfinden überhaupt, nicht ein Sehen im allgemeinen, das neben den besonderen Licht- und Farbempfindungen, oder diesen übergeordnet, bestünde“ (II, 74). Und sollten philosophierende Naturforscher das alles auch ganz anders, nämlich beispielsweise so sehen, daß unsere Empfindungen die wirklichen Dinge selbst seien, dann ist das Beispiel Machs „geeignet, zu zeigen, wie gering der Einfluß ist, den erkenntnistheoretische Grundanschauungen auf die Praxis der Naturforschung zu nehmen pflegen“ (II, 42). Die Sinnlichkeit ist keine Schranke des Erkennens; sie ist in Wahrheit vielmehr eine Erkenntnisbedingung. Im Begriff des Erkennens aber liegt es, „daß Objekt und Subjekt für dasselbe auseinander treten müssen, um aufeinander bezogen werden zu können“ (III, 23).

Wissenschaftshistorisch lernt man bei Gelegenheit der Lektüre dieses Wälzers einiges. Beispielsweise, daß „Gauß durch die räumliche Deutung der komplexen Zahlen auf die Hypothese von mehr als dreidimensionalen Räumen verfiel“ (I, 325). Darüber hinaus, daß „von Kries schon 1882 gegen die Meßbarkeit intensiver Größen und damit gegen jede psychophysische Maßformel“ Einspruch erhoben hat, so daß „von einer Messung der Empfindungen nicht länger die Rede sein“ kann. „Meßbar im Sinne der exakten Wissenschaft sind immer nur Objekte, nicht Empfindungen, extensive Größen und Größenbeziehungen, nicht Intensitäten“ (II, 59). Und auch dieses historische Kurzresümee ist der Kenntnisnahme wert: „Gründe der Methode bestimmten die exakte Naturwissenschaft nach dem Vorbilde ihres Urhebers Galilei, nur eine Seite der Wirklichkeit, die der Messung und Berechnung zugängliche Seite, in Betracht zu ziehen. Die logische Voraussetzung für die Anwendung der messenden und rechnenden Methode ist die Gleichartigkeit der Größen. Also muß die theoretische Naturforschung von der Ungleichartigkeit der Qualitäten abstrahieren und kann von ihren Objekten nur die allgemeinen mechanischen Eigenschaften, genauer: nur deren Form berücksichtigen. Denn auch aus diesen Eigenschaften läßt sie alles weg, was dabei zur Empfindung gehört: Druck und Widerstandsempfindung, Andrang und Gegenstrebung. Nach dieser Abstraktion besteht die Welt der exakten Naturwissenschaft aus materiellen Einheiten, Elektronen und Atomen, ausgestattet mit bloßen Formen von Eigenschaften, mit Gestalt und Größe und einer selbst nur abstrakten Wirkungsweise, der Bewegung“ (II, 81). Pars pro toto sei noch erwähnt, daß nach „Plancks Quantentheorie … die Emission von Strahlen in bestimmten Energieelementen“ erfolgt, „deren Größe im Verhältnis zur Schwingungsfrequenz wächst“ (II, 98). Mit einem Bonmot sei diese Aufzählung beschlossen: Nach Poincaré soll „unsere Geometrie nicht einmal ‚wahr‘ sein und ihr Vorzug lediglich in ihrer größeren Bequemlichkeit bestehen. Sollen wir also wirklich glauben, von unseren halbtierischen Vorfahren seien nur allein diejenigen zur Auslese und Fortpflanzung gelangt, die ‚zu bequem‘ waren, den Raum anders als Euklidisch vorzustellen, die prähistorischen Ahnen eines Gauß und Lobatschewsky dagegen in der Konkurrenz ums Dasein unterlegen, – vielleicht nur, weil es eine Konkurrenz um mathematische Lehrstühle noch nicht gegeben hätte?“ (II, 110).

Was die wissenschaftlichen Einsichten der systematisch angelegten Bände zwei und drei seines Hauptwerkes betrifft, in dessen zweiten Teil es sich genau genommen um eine Psychologie, oder, besser, eine Logik der Intelligenz handelt, scheinen mir folgende Einsichten der denkenden Betrachtung und Aufnahme wert: An „Kindern“ ist „die allmähliche Hervorbildung des Selbst- und des davon untrennbaren Objektbewußtseins, an Gestörten seine Rückbildung und unter Umständen seine Regenerierung“ zu beobachten. „Das Spiel der Empfindungen unmittelbar vor dem Einschlafen gibt uns ein Beispiel für das Vorhandensein eines Bewußtseins, dessen einzigen Inhalt neutrale Empfindungen und unbezogene Gefühle bilden“ (II, 88). „Fälle von nahezu reiner Wirkung der Assoziation sind das Kommen und Gehen der Vorstellungen vor dem Einschlafen und die allerdings pathologisch affizierte Ideenflucht im Irresein“ (II, 152), in dem der ordnende Verstand im Extremfall ausgeschaltet ist. „Sein und Erkennen haben nämlich wirklich in dem Augenblicke aufgehört, entgegengesetzt zu sein, in welchem das Bewußtsein in Bewußtlosigkeit übergegangen ist. Wer aus einer Ohnmacht zu sich kommt, oder aus einem traumlosen Schlafe erwacht, kommt aus dem Reich der ‚Dinge an sich‘ her; er ist aus dem Zustande des bloßen Seins (des Seins für andere) in den des empfundenen und gewußten Seins (des Seins auch für sich selbst) übergegangen“ (III, 30).

Der Erwähnung wert ist auch, daß Riehl, wie später dann Nicolai Hartmann, an einer Auffassung der Zeit Kritik geübt hat, wie sie für die relativistische Physik des 20. Jahrhunderts insgesamt charakteristisch werden sollte. Ihm zufolge fällt nämlich kein Vorgang, mag es sich nun um den „Fluß der Ideen“ oder die „Geschwindigkeit der Lichtbewegung“ handeln, mit der Zeit selbst zusammen. Umgekehrt gilt: „ein jeder wird vielmehr als Bestimmung, als Teil der Zeit, durch sie also und in ihr vorgestellt“ (II, 103). Auch der Raum ist von den einzelnen „Raumverhältnissen“ der „Lage und Gestalt“ unabhängig. Er ist kein bloßes „Aggregat ausgedehnter Dinge oder die Summe reiner Koexistenzverhältnisse“ (II, 130). Zum Problem der Infinitesimalrechnung erfährt der Leser, daß nur „diskrete Mannigfaltigkeiten … numerisch bestimmbar“ sind. Das „Stetige dagegen setzt der exakten Darstellung durch Zahlen eine Grenze, die durch das ‚Kontinuum‘ der reellen Zahlen nicht aufgehoben wird. Dies Zahlenkontinuum ist immer noch eine diskrete Mannigfaltigkeit“ (II, 117). Hätte freilich die Mathematik „nur die Aufgabe, auf die Hilbert sie beschränken will, nämlich ‚reine Symbole zu kombinieren und daraus Schlüsse zu ziehen, ohne sich um ihre Bedeutung zu kümmern‘, so müßte das Wort, das Russel wohl nur im Scherze äußerte, im Ernste von ihr gelten: sie sei ‚die Wissenschaft, bei der man nicht weiß, wovon man redet und ob, was man sagt, richtig ist‘“ (II, 119).

„Die Kausaliät“, so erfährt man des weiteren, „ist die Anwendung des Satzes vom Grunde auf die zeitliche Veränderung der Erscheinungen, oder kurz: das Prinzip des Grundes in der Zeit“ (II, 274). Damit hat es genauso seine Richtigkeit wie mit dem kritischen Hinweis darauf, daß durch „das Hineintragen praktischer Begriffe, namentlich des Begriffs des Zwecks, in die äußere Natur … die Erkenntnis derselben verdorben, ja unmöglich gemacht“ wird (III, 19). „Denn die Wissenschaft als solche kennt den Begriff der Norm und des Sollens nicht“ (III, 20). Man kann nämlich „nicht aus ethischen Gründen glauben, was man aus wissenschaftlichen für falsch erkannt hat“ (III, 342). Und auch dagegen ist nichts einzuwenden, daß „die Wahrnehmung der Sinne … nichts weniger als eine durchgehende Regelmäßigkeit in der Abfolge der Erscheinungen“ zeigt, „und statt die Überzeugung vom ursächlichen Zusammenhange der Dinge, könnte man mit weit mehr Grund den Glauben an Gesetzlosigkeit und Wunder, welcher noch gegenwärtig bei der Mehrzahl der Menschen vorherrscht, als vererbte Erfahrung der Gattung erklären“ (III, 80). Diesem Wunder- und Gespensterglauben aber tritt der (Natur-) Forscher dadurch entgegen, daß er „die Erscheinung, die er erklären will, selbst hervorruft und künstlich neue Umstände einführt, um sie vollständig kennenzulernen. Zwischen diesen beiden Stufen Erfahrung zu machen liegt die gesamte, ihrer selbst bewußte, bisherige Denkarbeit der Menschheit“ (III, 81).

Daß aber Riehl ein Aufklärer im besten Sinne des Wortes ist, geht am schönsten wohl aus folgenden Einwänden gegen die abgehobenen Ismen der ihren Geist und den anderer parteilich-willkürlich bornierenden Weltanschauungs- und Glaubenspropheten hervor: „So ist es immer irgendein einzelner, hervorstechender Charakterzug, es sei des Denkens oder der Wirklichkeit, der mit Ausschluß der übrigen Beschaffenheiten der Dinge und Richtungen des Denkens zur metaphysischen Idee erhoben und zur Alleinherrschaft im Systeme berufen wird. Es kommt bei metaphysischen Erklärungen das meiste, wenn nicht alles, auf die Kunst der Auslegung oder besser Zurechtlegung an, – und man könnte wirklich über die Wahl einer metaphysischen Hypothese statt Neigung oder Geschmack auch das Los entscheiden lassen. – Ein angesehener metaphysischer Denker unserer Zeit fordert uns auf, unsere Erfahrung von der Welt durch die Anschauung einer der Erfahrung entzogenen übersinnlichen Fortsetzung der Welt zu ergänzen und die Verknüpfungen der Dinge nach einem Plane, nach einer Idee zu interpretieren, die wir doch seinem eigenen Geständnis zufolge nicht kennen sollen. Was bedeutet hier das Wort Anschauung und woher wußte Lotze so genau, daß das Unbekannte gerade eine Idee sein müsse, woher nahm er das Recht, das systematische Bedürfnis der Vernunft nicht bloß zu idealisieren, sondern überdies zu personifizieren, indem er die Idee in eine einheitliche intelligente Macht verwandelte? Zugegeben, daß sich das geistige Sein und Wirken nicht aus der Materie erklären läßt – und welcher wissenschaftliche Denker würde dies nicht zugeben? – folgt daraus, daß die Materie aus dem Geiste erklärt werden muß? Metaphysische Hypothesen sind Opiate für den Verstand; sie betäuben denselben, statt ihn zu beleben und aufzuklären. Sie erzeugen den Schein eines allumfassenden Wissens, das, wenn man Wunsch und Erfüllung für einerlei halten will, nicht einmal schwer zu erlangen ist“ (III, 86; vgl. ebenso 97 f., 103 f., 107, 110 ff. u. passim).

Der aufmerksame Leser merkt, daß sich der Kreis dieser Kurzdarstellung damit wieder geschlossen hat. Deshalb bietet es sich an, diese Empfehlung mit den Worten eines anderen Aufklärers – gemeint ist Hume – zu beschließen. „‘Die größte Torheit nächst derjenigen, eine evidente Wahrheit zu leugnen, ist die, wenn man sich zu viele Mühe gibt, sie zu verteidigen‘“ (III, 166), nicht ohne zum hoffentlich vorläufig letzten Mal den bedenkenswerten Worten des Autors dieses Dreiteilers nachzudenken: „Es ist, wie ich glaube, weder eine billige noch die richtige Beurteilung einer Theorie, wenn man ihren Wert nach demjenigen bemißt, was sie noch nicht zu erklären vermochte, statt ihn darnach zu bestimmen, was sie tatsächlich erklärt hat“(III, 320).

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Filho, Osmar Goncalves dos Reis: Die Inszenierung des Vagen: Notizen zu einer Ästhetik der Videokunst, 28.11.08

Eine zeitgenössische Kunst

Inmitten der Ungewißheiten, die die heutige Gesellschaft uns bietet, gibt es etwas Solides, etwas, über das keine Zweifel bestehen: Nie wurde so viel auf dem Gebiet der Kultur produziert wie heute. Jeden Tag überschwemmt uns die Mediengesellschaft mit einer Flut von Bildern, Videos, Hologrammen, Texten. Wie bereits Peirce voraussah, wurde die Welt zu einem Überfluß an Zeichen. Anders als in früheren Zeiten, als noch eine spezifische semiotische Chiffrierung herrschte, leben wir heute in einer Zeit der Konvergenz der Medien, der dröhnenden Sprachverschiedenheit, der ästhetischen Stützpunkte und Angebote.

Die gegenwärtige kulturelle Praxis ist zweifellos ein unbeständiges, vielfältiges Phänomen. In ihrer Gärung präsentiert sie sich wie ein Fraktal, wie eine chaotische Landschaft, die sich jedem Versuch zur Verallgemeinerung zu entziehen scheint. Bei genauerem Hinsehen jedoch erscheinen einige Gemeinsamkeiten, Elemente, die uns erlauben, ein wenig Konsistenz im Chaos aufzuzeigen. In ihren verschiedensten Formen erscheinen die zeitgenössischen Zeichen mit Geräuschen vermengt, mit Formen, die ins „Elliptische“ und „Offene“ weisen. Ob in der plastischen Kunst oder in der Literatur, die heutige kulturelle Praxis wird von der Unbestimmtheit durchkreuzt.

In der plastischen Kunst z. B. beginnt diese Suche nach dem Vagen bei Cézanne und kommt zur Reife mit der Geburt des Kubismus. Das kubistische Porträt mit seinen vielfachen Perspektiven wollte uns die Erfahrung der visuellen Vielfalt bieten, den Pluralismus der Betrachtungsweisen – eine Art von Wahrnehmung, die anders ist als die vom Renaissancebild gebotene. Die Perspektive der Renaissance setzte in ihrer Starrheit und räumlichen Konsistenz einen einzigen, zentralen Gesichtspunkt, einen Punkt, von dem aus jede Wahrnehmung gezwungenermaßen strukturiert sein muß. Es gibt keine andere Weise, ein Bild der Renaissance zu „lesen“, es sei denn unter dieser visuellen Hierarchie, die ein für allemal von der Perspektive aufgezwungen wird.

So wie das modernistische Bild definitiv mit der linearen Sicht gebrochen hat und ein „offenes“ und unvorhersehbares Werk vorschlägt, so hat auch die Literatur unserer Zeit aufgehört, linear zu sein und hat eine labyrinthische Struktur angenommen. In Werken wie Ulysses, Die Gesänge oder Rayuela, Himmel und Hölle sind verschiedene Wege gleichzeitig möglich. Gleichzeitigkeit von Handlungen im Ablauf der Erzählung, die Möglichkeit, die Kapitel zu mischen und jeden Moment eine andere Geschichte herauszuholen, läßt den zeitgenössischen Leser die Erfahrung des Widerspruchs und der begrifflichen Vielfalt machen. Anstelle einer endgültigen Mitteilung, eines erstrangigen Sinnes, der während vieler Generationen vermittelt wurde, bietet uns die moderne Literatur ein Feld vieler Möglichkeiten, eine vielfältige und unabgeschlossene Struktur. Obwohl Werke wie z.B. die von Stendhal, Proust, Kafka, Joyce und so vieler anderer heute in ‚endgültiger Form‘ zirkulieren, wurden sie niemals von ihren Autoren als „abgeschlossen“ angesehen. Wie Borges sagte, zweifellos eine Ikone der modernen Literatur: „der Begriff des definitiven Texts entspricht nur der Religion oder der Müdigkeit“.[1]

Ein glitschiger, jedoch „offener“ und unvorhersehbarer „Text“ ist der, der als videographische Erzählung aufgebaut ist. In ihrer hybriden, unterbrochenen und variierenden Sprache wird die videographische Erzählung in bestimmten intellektuellen Kreisen als die prototypische Ausdrucksform der heutigen Kultur angesehen. Eigentlich haben wir im Video nicht einmal mehr eine Geschichte, von der zu reden wäre, sei sie nun labyrinthisch oder nicht. Was es uns in den meisten Fällen bietet, sind verstreute Stücke, deren Ganzheit unmöglich wiederherzustellen ist – die Welt als unstetiges Aufbrausen von Bildern. Jede Handlung wird in Fragmenten vorgetragen, es gibt keine Kontinuität, die zu suchen wäre. Das Ergebnis ist, in einem Wort, daß das Video uns die Inszenierung des Vagen vorträgt, die Unbestimmtheit als Darstellungskategorie.

Während die labyrinthische Struktur der modernen Literatur und die visuelle Vielfalt der kubistischen Bilder bereits eine gewisse „Zerrüttung“ des Sinnes vorbildeten, eine Suche nach Erweiterung und Polyphonie, bildet die unterbrochene Erzählung der Videokunst den Höhepunkt dieser Entwicklung. Auf dem Bildschirm entrinnt uns der Sinn und scheint sogar an das Absurde zu grenzen, an den totalen nonsense. Angesichts der videographischen Poetik wäre es vielleicht angemessen, von einer Ästhetik des Vagen zu sprechen, von einer Sprache, die mehr von Geräuschen als von Zeichen gebildet wird.[2] Wenigstens ist es dieser Eindruck, der uns bleibt, wenn wir uns nacheinander die großen Werke dieser kleinen Ausdrucksform ansehen, deren Geschichte bereits ein halbes Jahrhundert alt ist. Mich interessiert hier jedoch nicht die Bildung eines neuen Begriffs. Mein Ziel ist es vielmehr, diese Ästhetik, die zugleich reich und beunruhigend ist, zu verstehen; eine Kritik zu entwerfen, die ihre höchst quälenden Fragen, ihre kontroversen Aspekte berücksichtigt.

Geräusch, Verzerrung, Vielfalt

Im Allgemeinen, so Jean Paul Fargier, erscheint die Wirklichkeit nicht im Video; sie kommt uns nicht entgegen, wie beispielsweise gewohnheitsmäßig im Kinosaal.[3] Denn seine Schreibung ist an erster Stelle von der Verzerrung gekennzeichnet, von der Interferenz. Auf dem kleinen Bildschirm des Videos erscheinen die Bilder selten unversehrt, unberührt, in derjenigen Form, in der sie aufgenommen wurden. Bevor sie den Monitor beleben, ist es wahrscheinlich, daß sie eine Form der Manipulation erlitten haben, eine Art von Eingriff. Denn im Herzen des Mediums Video lebt ein destruktives Anliegen hinsichtlich des Bildes, eine bilderstürmerische, zerstörerische Haltung. Während das Kino sich geschichtlich durch eine bestimmte Dezenz gefestigt hat, durch einen fast heiligen Respekt vor dem Bild, zeigt das Video ein unehrerbietiges Verhalten, gefällt sich in spielerischer Freiheit, im Wagemut des Eingreifens und Radierens. Ja, die Schreibart des Videos greift etwas von der abbauenden Furie der Avantgarde auf, doch übertrifft sie diese Praxis, insofern sie aus der Verzerrung die Quintessenz ihrer Grammatik macht. Zum Beispiel Television Decollage von Wolf Vostell und Magnet TV von Nam Jane Paik, zwei grundlegende Werke der Videokunst, sind nichts weiter als Verzerrungen des Fernsehablaufs. Durch Frequenzerzeuger, elektronische Prozessoren, entstellen diese Werke die Fernsehinformation, indem sie den Fernseher zu einer Stütze für abstrakte, experimentelle Bilder machen, Bilder, die nur auf dem Ikonoskop erscheinen, um zu tanzen.

Ein schlichter Tanz freilich, der sich zudem in einem ganz anderen Freiraum als dem des Kinos abspielt. Seinem einheitlichen und homogenen Bild stellt das Video die für es charakteristische Mannigfaltigkeit und fragmentarische Beschaffenheit entgegen. Tatsächlich erscheint in den meisten Fällen das videographische Paneel dem Beobachter wie ein großes Mosaik, wie eine hybride Oberfläche, die die einförmige und systematische Ansicht der Photographie, gemäß der auf der Renaissance gründenden Darstellungsmodelle, durch eine vielfache und kaleidoskopische Ansicht ersetzt. Anstatt jeweils ein einziges Objekt zu betrachten, pflegt das Video die Bilder zu überschneiden, indem es mit Hilfe des Chroma Key eins über das andere legt oder sie durch die Öffnung von „Fenstern“ nebeneinanderstellt. Auf diese Weise häufen sich die verschiedenen Fragmente auf dem Bildschirm ins Unendliche, und man steht, wenn man es am wenigsten erwartet, vor einer riesigen elektronischen Collage, vor einem heterogenen und komplexen Gebilde. Was die Wahrnehmung betrifft, ist der bleibende Eindruck in diesem Kontext der des Übermaßes, der Zerstreuung, denn die Bilder kommen nicht mehr allmählich in ihrer Ganzheit zu uns, wie sie es in dem großen dunklen Saal taten. Sie schwärmen wie Bienen oder Hornissen im Flug. Es sind Splitter, Funken, die alle zugleich in einer ungebrochenen und beschleunigten Bewegung die kathodische Röhre besprengen.

Ein weiteres hervorstechendes Element der elektronischen Schrift ist ihre Fähigkeit und Einstellung, Zeichen verschiedener Art zu verflechten. Wegen ihrer Gefügigkeit – im Grunde ist das elektronische Bild nur modulierte elektrische Strömung – schafft sie es, auf eine freiere und erfinderischere Weise als die Medien mechanischer Art, unterschiedliche Zeichen wie Texte, Stimmen, Töne, Geräusche und Bilder zu mischen und zu verbinden. Freilich handelt es sich nicht nur um eine Fähigkeit. Normalerweise entscheidet sich die Videographik für die Verflechtung, die Hybridisation. Sie fühlt sich davon angezogen, sie flirtet mit den Techniken der Collage, des Mosaiks und mit den zahlreichen Möglichkeiten der Assoziation. Es handelt sich, kurz gesagt, um eine vielfältige Schreibform, um den Versuch, die größtmögliche Zahl von Informationen in einem einzigen gleichen Raum zu verbinden. Es sind Texte, die parallel zu den Bildern laufen, unterschiedliche Aussagen, die aufeinanderprallen und sich widersprechen, Landkarten, Figuren, Töne und Geräusche jeglicher Art, die zusammen mit den Bildern ein Geflecht seltener Komplexität erstellen. Das Ergebnis ist konfus und kann Zuschauer, die weniger mit den unerwarteten Weisen der elektronischen Imagination vertraut sind, verwirren.

Was die Zeit betrifft, baut das Video ebenfalls recht komplexe Beziehungen auf. Anstatt, wie das Kino, ihre Bewegung nachzuahmen, ihre Dauer zu zeichnen, zieht das Video es vor, sie abzubauen, zu zerrütten, in ihrem Innern Fallen aufzustellen. Es handelt sich um plötzliche Beschleunigungen, eingefrorene, synkopierte Bilder, Slow Motion Kameras. Alles, damit wir den 24 Bildern pro Sekunde entgehen können, dieser idealisierten und idealisierenden Geschwindigkeit, die uns die siebte Kunst vererbt hat. Ja, auf der elektronischen Leinwand verwandelt sich die Zeitlichkeit in etwas Anderes, Elastischeres, Biegsameres. Vielleicht, damit die herkömmliche Wahrnehmung sich ebenfalls verändert, sich in der Verfremdung revidiert. Möglicherweise ist dies die geheime Architektur des Videos, die intime Alchimie seiner Schreibweise, sein letztes Ziel. Seit den ersten Experimenten schwebt ihm ein Ort vor, der die reine Sensibilität beherbergt.

In Wahrheit haben das Video nie die großen Ereignisse, die großen Persönlichkeiten, der Eindruck oder der Glanz des Wirklichen interessiert. Es waren immer anonyme, banale Bilder, Figuren ohne Gewicht oder Tiefe, die es ins Spiel brachte. Auf der kleinen Leinwand scheint die Schönheit sich an der Oberfläche zu bergen, in der Plastizität, im Tanz der Farben. Während das Kinobild sich stets behauptet hat durch die Rolle, die in ihm die Tiefe des Feldes spielt, konstituiert sich das Video als Bild und als Ästhetik mittels der Stelle, die in ihm die Oberfläche einnimmt. Das Video ist vornehmlich dieses Lob der Oberfläche, die während der Jahrzehnte von audiovisueller Poetik unbekannt und unklar geblieben war. In der ikonoskopischen Röhre hat sie die Gelegenheit, flimmernd uns leuchtend wiederzukehren wie der Elektronenregen, von dem sie geformt wird.

In der Videographie ist demnach die Materialität selbst das Wichtige, das Bild nicht mehr als unsichtbarer Filmstreifen, als Glas oder Fenster zur Welt, sondern als Wirklichkeit in sich selbst, als eine selbständige Welt, die mit eigenem Stoff, eigenem Körper und eigener Textur ausgestattet ist. Wenn wir die großen Werke der Videokunst betrachten, von den teleklastischen Vorläufern bis zu den letzten zeitgenössischen Arbeiten, werden wir sehen, daß, im indikativischen Sinne des Wortes, sehr wenig zu „sehen“ oder zu „lesen“ ist. In den allermeisten Fällen trägt uns das Video rein visuelle Impulse vor; es sind Formen, Massen, Texturen in Bewegung. Wenn es allerdings auch Bilder gibt, die erkannt werden sollen, ist es vor allem das sogenannte nicht-hermeneutische Feld der Kommunikation, das die vorderste Stelle im Video einnimmt – ein Raum, in dem die Sinne oder Bedeutungen nicht sehr wichtig sind. Der große Gast in dieser Domäne ist der Körper, das Empfindliche, das Empfinden. Es gibt jedoch nichts glitschigeres und unergründlicheres als die Empfindungen. Sie sind lediglich da oder existieren, sagen nichts, behaupten nichts, produzieren nur Anwesenheit.

Eine nicht-erzählerische Kunst

 

Im Allgemeinen ist es das, was das Video erzeugt: eine nicht-erzählerische Kunst. Im Gegensatz zum Kino interessiert es sich nicht dafür, eine Geschichte zu inszenieren, einen Bericht vorzutragen, sei er linear, fragmentiert oder labyrinthisch. In den allermeisten Fällen sagt oder erzählt man nichts auf der kleinen Leinwand, man zeigt lediglich etwas. Etwas wird in seiner Stofflichkeit, Substanz und Oberfläche vorgetragen. Eine Art von ästhetischem Vorschlag steht mit einer Jahrhunderte langen Entwicklung der Verkümmerung der Erzählung, einem Niedergang der Erzählkunst im Zusammenhang. Dieser Prozeß wurde prägnant von Walter Benjamin in seinem wunderbaren Essay Der Erzähler ((In: Obras Escolhidas vol. I – Magia e técnica, arte e política. Übers. von Sérgio Paulo Rouanet. São Paulo: Brasiliense, 1996.)) beschrieben. Die Erzählkunst sei im Niedergehen begriffen, weil sie auf der gemeinsamen Tradition fußt, auf der gemeinsamen Erinnerung und dem gemeinsamen Wort, kurz, auf einer kollektiven Erfahrung.

In der Moderne verschwinden solche Bedingungen. Die Tradition setzt für ihr Existieren eine Lebens- und Sprachgemeinschaft voraus, die vor allem die schnelle Entwicklung des Kapitalismus, der Technik zerstört hat. Die Virulenz der Veränderungen im fortgeschrittenen Kapitalismus bringt es mit sich, daß die Lebensbedingungen sich von einer Generation zur anderen rapide wandeln. Auf diese Weise entsteht eine Lücke zwischen den Generationen. Was von den Eltern und Großeltern erlebt wurde und von der Erzählung aufgegriffen wird, hat bereits keine Bedeutung mehr für die Herausforderungen, vor die sich die Kinder und Enkel gestellt sehen. Nicht einmal die Chiffrierungen der Redeformen sind die gleichen, da die Sprachformen und semiotischen Systeme ununterbrochen wuchern. Im Spätkapitalismus überlebt nicht einmal die Landschaft. Aus eigener Erfahrung schöpfend sagt Benjamin, daß „eine Generation, die noch in einer von Pferden gezogenen Straßenbahn zur Schule gegangen war, … sich verlassen (sah), obdachlos, in einer Landschaft die in allem anders war, mit Ausnahme der Wolken“. ((BENJAMIN, Walter. Experiência e Pobreza [Erfahrung und Armut]. In: Obras Escolhidas (Bd.1). Magia e Técnica, Arte e Política. Übers. von Sérgio Paulo Rouanet. São Paulo: Brasiliense, 1985, p.115.))

Verbunden mit diesen Verwandlungen oder in ihrem Innern am Werk ist eine andere Zeitlichkeit. Die vorkapitalistischen Arbeitsweisen, besonders solche, die mit dem Handwerk verbunden waren, zeichneten sich durch eine langsame und abrundende Zeit aus. Es handelte sich um eine Zeit, die die Sedimentation der Erfahrungen in der Gemeinde erlaubte und das Auftauchen einer gemeinsamen Erinnerung und Sprache ermöglichte. Ob auf dem Land oder in der Stadt, die gedehnte Zeit begünstigte eine tiefe Aufnahme der Geschichten. Und weil sie sie so häufig hörten, entwickelten die Hörer die Gabe, sie zu erzählen.

Im modernen Kapitalismus erlaubt die schnelle und unterbrochene Zeit der Arbeit nicht mehr diese Sedimentation. Was ist jedoch die Tradition, wenn nicht dieses geteilte Gedächtnis? Unerschöpfliche Quelle der mündlichen Erzählungen ist das kollektive Gedächtnis, das die Existenz, Erneuerung und Weitergabe der Geschichten ermöglicht. Mit seinem Niedergang werden auch die Geschichten nicht mehr tradiert, die wichtigsten Sinngebungen gehen verloren, und der Prozeß der Erschöpfung und sozialen Fragmentierung schreitet siegreich fort.

Angesichts dieser neuen Erfahrungsweise entstehen neue Kommunikationsformen, die in der sozialen Dynamik immer mehr Anhalt haben. Der klassische Roman, der den ratlosen und unberatenen Helden auf seiner ständigen Suche nach dem Sinn des Lebens in Szene setzt, ist ein Beispiel hierfür. Es handelt sich um einen Sinn, der schon nicht mehr in der Dynamik des sozialen Lebens zu finden ist, da sie zu sehr von Jahrhunderte langen Prozessen der Fragmentierung und der Beschleunigung der Zeitlichkeit durchkreuzt wird. ((Darüber, s. Gyorgy Lúkacs. A teoria do romance: um ensaio histórico-filosófico sobre as formas da grande épica [Die Theorie des Romans…]. São Paulo: Duas Cidades: Ed. 34, 2000.)) Im Gegensatz zur Erzählung hat diese Art des Romans eine geschlossene Struktur. Er muß der Geschichte ein Ende, dieser Entwicklung einen Schlußpunkt setzen, damit der Leser, selbst ratlos, seinem eigenen Dasein Sinn geben kann. Neben dieser klassischen Form des Romans entsteht, als Gegen- und Ergänzungsvorschlag, die moderne Literatur. Von Unvollständigkeit, Diskontinuität und Fragmentierung gezeichnet versucht diese Literatur, die Erzählung noch stärker zu zerfasern, indem sie den Sinn bis an die Grenzen des Unverständlichen zerstreut und zerstört. Das klassische/typische Beispiel ist in diesem Kontext die surrealistische Poesie, doch kann man auch Kafka, Joyce, Proust u. a. nennen.

Von Frederic Jameson als ‚Surrealismus ohne Unbewußtes’ tituliert, ((Pós-Modernismo: A Lógica Cultural do Capitalismo Tardio [Post-Moderne: Die kulturelle Logik des Spätkapitalismus]. Übers. von Maria Elisa Cevasco. São Paulo: Ática, 1997.)) folgt die Videokunst auf klare und unverwechselbare Weise dieser Tendenz. Seit ihren ersten Experimenten hat sie darauf verzichtet, eine Geschichte zu erzählen, und in keiner ihrer Strömungen wollte sie sich als erzählende Kunst präsentieren. Im Gegensatz zum Kino war es dem Video immer wichtig, die Geschichten zu zerrütten, zu zerschmelzen, zu verflechten. Es handelte sich speziell darum, das Bild zu verzerren; es zu beschmutzen, abzubauen, zu erschüttern und aufzulösen, damit es in einem anderen Format wiedergeboren wird. Seit der anfänglichen Interferenzen von Nam June Paik war die Ästhetik des Videos immer eine Ästhetik des Geräuschs, der Vagheit und der Metamorphose. Während das Kino den Blick und die Sinne aufbietet, lädt das Video den Körper ein und läßt ihn fühlen. Es gibt keine Geschichten, keine Ratschläge. Es wird nichts gesagt; es gibt nur Dabeisein, etwas, das sich zeigt, und das uns zur Erfahrung ruft.

Negativität und volle Mitteilbarkeit

Die Videographie ist eine schwierige und radikale Kunst, eine Ästhetik, deren Größe nur ermessen werden kann, wenn man einer exklusiven Definition von Kunst als Schönheitsideal und Versöhnung den Rücken kehrt. Die Schreibweise des Videos zielt nicht auf eine Logik der Bequemlichkeit, sie will nicht den Menschen helfen oder sie trösten durch den Aufbau einer illusorischen Schönheit. Gegen eine Ästhetik der Harmonie und des Schönen wählt sie den Schock, die Herausforderung, die Anklage. Mit dieser Haltung reiht sich die Videokunst in eine Tradition der Ästhetik, die ihre präziseste Formulierung in den modernistischen Avantgarden der 20er Jahre findet. In jener Zeit erreichten eine Reihe sozialgeschichtlicher Umwälzungen ihr finales Stadium, das wenigstens ein Jahrhundert lang vorbereitet worden war. Der Urbanisierungsprozeß, die Industrialisierung, die sichtbar anwachsende technische Entwicklung nicht nur in der Expansion der Verkehrsmittel, sondern auch in der Etablierung der Presse, veränderten das Gesicht der Welt radikal und legten den Grundstein für die moderne Erfahrung.

In der philosophischen Tradition war wohl Walter Benjamin der Denker, der in seinen Arbeiten am meisten zum Verständnis dieser Umwälzungen beigetragen hat. Im Essay über Baudelaire und im unvollendeten Passagenwerk unternimmt er, was wir eine „Archäologie der Moderne“ nennen können: eine unerbittliche Suche nach ihren Ursprüngen, ihren Vorgehensweisen und Mechanismen, ihren Folgeerscheinungen. Für diesen jüdischen Intellektuellen und Meister der essayistischen Kurzprosaform ist die Moderne ein Prozeß wachsender Fragmentierung und Säkularisierung, zwei Bewegungen, die, seiner Ansicht nach, zu einem unvermeidlichen Niedergang der kollektiven Erfahrung führen. Nach Benjamin kennzeichnet die Moderne vor allem der Verlust kollektiver Anhaltspunkte, für sie ist das Fehlen gemeinsamer Erinnerungen und Worte charakteristisch. Es droht der vollständige Traditionsverlust. Benjamin war im übrigen nicht der einzige Philosoph, der diesen Vorgang bemerkt hat. Eigentlich ist seine skeptische Sicht hier Nietzsches und Lukács’ Äußerungen über die Moderne verpflichtet. Beide Denker sprechen vom Niedergang gemeinsamer Werte, von der Krise der Kultur, von der Zerrüttung des Sinnes.

Abgesehen nämlich von den jeweiligen Unterschieden ihrer sonstigen Gedanken versuchen alle drei, die Veränderungen zu verstehen, die im Rahmen der Erfahrung und der Kultur geschehen, wenn an die Stelle homogener, organischer und geschlossener Gesellschaften heterogene, fragmentierte und multikulturelle treten, in denen zerstreute und gegensätzliche Traditionen nebeneinander bestehen, und in denen die Dissonanzen überall empfunden werden. Es gibt keine allgemeine Praxis mehr, keine Werte, keine vollständigen Bedeutungen, die früher im Laufe der Generationen aufbewahrt und weitergegeben wurden. Wir leben, wie Nietzsche sagt, ‚im Zeitalter des Vergleichung’. „Ein solches Zeitalter“, konstatiert er in Menschliches, allzu Menschliches, „bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war… Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden!“ ((NIETZSCHE, Friedrich. Humano, Demasiado Humano [Menschliches, allzu Menschliches]. São Paulo: Companhia das Letras, 2000.))

Der moderne Mensch leidet, weil er keinen letztgültigen Anhaltspunkt mehr hat, auf den er sich verlassen kann. Es gibt so viele Perspektiven, Lebensweisen, so viele Werte und Bedeutungen, und alles ist einer Veränderung unterworfen, die in einer so frenetischen und erdrückenden Geschwindigkeit geschieht, daß ihm nichts anderes bleibt als ein intensives Leiden der Ratlosigkeit, des Mangels, des Zusammenbruchs. Wir erleben, nach dem schönen Titel von Bauman, eine Flüssige Moderne, die permanente Empfindung, daß unsere alten und prekären Gewißheiten sich unter unseren Füßen verflüssigen. Diese Zerrüttung des Sinnes oder diese „Krankheit der Tradition“, wie sie Benjamin nannte, steht in direktem Zusammenhang mit den Umwälzungen, die auf dem Gebiet der ästhetischen Produktion am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschehen sind, Umwälzungen, die ihre vorbildliche Ausformung in den modernistischen Avantgarden der 20er Jahre erreichen.

Angesichts des Niedergangs der kollektiven Erfahrung, angesichts der Signifikationskrise, die von der Moderne erzeugt wird, wird sich eine Strömung der modernistischen Ästhetik, und zwar gerade die, die sich in den Avantgarden äußert, dafür entscheiden, diese „Krankheit der Tradition“, diese zügellose Zerstreuung der Sinne weiterzuführen. Anstatt tröstliche Illusionen auszudenken, entscheidet sie sich, den Bruch zu beschleunigen, das Schweigen zu vertiefen, die Widersprüche ihrer Zeit offen zur Schau zu tragen. Obwohl die Videokunst wichtige Verschiebungen in Richtung dieser Vorschläge ausführt, folgt sie klar und unmißverständlich der negativen Ästhetik der Avantgarden. Im Allgemeinen bietet die Videographie auch keinen Raum zur Versöhnung. Auf der kleinen Leinwand gibt es meistens keine Bedeutungen, keine Geschichten oder Erzählungen zu rekonstruieren. Was sich uns in den meisten Fällen darbietet ist pulsierender Rhythmus und Energie; Abstraktion, Allegorie, Geräusch, Collage, kurz, ein aleatorischer Wechsel von Signifikationen.

Wie Alain Borges bemerkte, „festigt sich das Video als eine Stütze, die zutiefst mit der Ausdrucksweise seiner Zeit verbunden ist“. ((BORGES, Alain. „Contre L´image numérique: Toutes lês images sont-elles dês images pieuses?“ In: Où va la vidéo? Jean-Paul Fargier (org.) Paris: Cahiers du Cinema Livres, 1986.)) Wenn es etwas gibt, das uns solches auf klare, manchmal ostentative Weise zeigt, ist es unsere gegenwärtige Orientierungslosigkeit, unser Mangel an Bedeutungen. Die Größe und Stärke der videographischen Ästhetik können nur aus dieser Perspektive verstanden werden. Denn ihr kritisches Potential, ihre Überschreitung des Nihilismus sind in dieser Geste enthalten, die gleichzeitig realistisch und anklagend ist. Es handelt sich also nicht um absoluten Formalismus, um ästhetisierende Grundlosigkeit. Obwohl die Schreibart des Videos unweigerlich Einflüsse dieser ästhetischen Tendenzen zeigt, was wirklich in der Videokunst auf dem Spiel steht ist der Versuch, keine ästhetischen Ideale aufleuchten zu lassen, die keinen Anhalt in der soziokulturellen Dynamik unserer Zeit haben. Mit anderen Worten, es ist für die Videokunst nicht mehr möglich, eine Ästhetik der Ganzheit und Transparenz zu verteidigen, ein glänzendes und absolutes Bild, eben weil wir unter der Herrschaft der Zerstreuung, des Fragmentarischen und Flüchtigen leben. Darin liegt ihre Stärke, ihr Daseinsgrund! Es geht darum, den Schmerz der Unvertretbarkeit auszuhalten, den Schmerz des Mangels an vollständigen Bedeutungen, anstatt übereilt neue und falsche positive Inhalte vorzuschlagen.

Diese Ästhetik der Undurchsichtigkeit und des Geräuschs, die der Videokunst innewohnt, verursacht noch eine weitere, selten gesehene Verschiebung im Bereich der audiovisuellen Praktiken. Wegen ihrer abstrakten und allegorischen Eigenschaft, ihrer stärker graphischen und rhythmischen als fotografischen visuellen Eigenart, hintertreibt die Schreibweise des Videos am Ende die Ordnung der Sinne und legt den Akzent des Kommunikationsprozesses auf die Empfindungen. Die zahlreichen Interferenzen und Verzerrungen, die frenetische Hast der Montagen und die Leere der vernetzten Installationen bewirken, daß die Vernunft und die Suche nach einem Sinn eingeladen werden, sich zu verabschieden, so daß sie einen Raum freigeben für andere Interaktionsformen, die auf nicht-rationellen Prozessen fußen. Durch diesen Appell an den Körper und die Erfahrungen der Empfindungen betreibt das Video eine direkte Kritik an der absoluten Herrschaft des Verstandes, des rationalistischen Denkens in unserer Kultur. Es zeigt, daß die Erfahrung nicht ausschließlich oder notwendig eine sinnvolle oder per se auf einen Sinn bezogene ist, daß die Gegenstände, die Substanzen, die Körper vielmehr selbst ein unweigerliches Gewicht im Kommunikationsprozeß besitzen – das Gewicht der Anwesenheit – ,und daß sie trotz unserer auf Sinn erpichten Bemühungen den Charakter des Unbekannten, des Geheimnisvollen haben. Mit dem Akzent auf den Empfindungen, auf der Leere und dem Schweigen drückt das Video schließlich auch noch eine gewisse Erschöpfung der geschwätzigen Vernunft aus; sie versagt vor der Sintflut von Informationen und Bildern, die die Mediengesellschaft täglich vor unsere Füße schüttet. Wie Sean Cubitt behauptet, ist es gerade einer der Träume der Videographie, die Idee der Repräsentation gegen andere, freiere, offenere und transzendentere Kommunikationsformen auszutauschen. ((CUBITT, Sean. Timeshift on Vídeo Culture. London: Routledge, 1991.)) Nach ihm geht es darum, daß wir uns von der „Tyrannei der Repräsentation“ befreien zugunsten von Erfahrungen, die auf anderen Prinzipien aufgebaut sind als beispielsweise der Anwesenheit.

In gewisser Weise wurde dieser Traum bereits erreicht. In der kurzen Geschichte der Videokunst war vielleicht eins ihrer größten Verdienste die Relativierung des erzählerischen Sprachmodells. Obgleich bis heute dominierend im Bereich der audiovisuellen Praktiken erhält es wenig oder praktisch keinen Raum in der Videokunst. Wegen ihrer experimentellen Methode inspiriert die Schreibform des Videos schließlich neue und originelle Sprachmodelle, Modelle, die freier, offener und essayistischer sind – im Allgemeinen audiovisuelle Vorführungen von Konzepten und Empfindungen. Paik war der erste Künstler, der im Video ein bildsames und flüssiges Medium gesehen hat, eine Form, die fähig ist, die formellen diskursiven Strukturen zu verlassen und mit den Materialien auf einer transzendenteren Ebene zu arbeiten. Wie Ruy Gardnier bemerkt hat, hat Paik anhand des Videos das Bild in eine flüssige Strömung verwandelt, die mit irgendeiner Sache kommunizieren kann. ((GARDNIER, Ruy. Cahiers du Cinéma 610, p. 68, März 2006.)) Vollständige Kommunikationsfähigkeit, frei von den Gesetzen der Perspektive, von den Regeln der Komposition, von den traditionellen syntaktischen Bindungen, das ist die Utopie der Videokunst.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Zitiert von MACHADO, Arlindo. Máquina e Imaginário. São Paulo: EDUSP, 2001, p.190.
  2. Dieser Insight wurde zum ersten Mal von Jean-Paul Fargier geäußert, in dem wunderbaren Essay „Poeira Nos Olhos“ [Staub in den Augen]. In: Imagem-Máquina: a Era das Tecnologias do Virtual. André Parente (org.) São Paulo: Editora 34 Ltda, 2001.
  3. Ders., p. 231.

Coulter, Gerry: In the Shadow of Post-Democratic Capitalism – A Fascination for China, 26.11.08

 

I. Introduction

The relationship between the art of China and Western Art Museums has changed noticeably over the past decade. Previously we could expect Chinese artworks to appear primarily in historical, archaeological, anthropological or textile museums but not in major art museums (many of which still do not own an important Chinese art work). Many significant Western art museums have tended to avoid Chinese art specifically and Asian art generally. This is because Chinese art has remained outside of the definition of “art” (which in Western museums has been focused on oil paint and not the use of ink on paper, or ink and colour on silk or bamboo).

In the past five years, through a series of traveling shows, and a re-envisioning of existing holdings, our exposure to Chinese art in Western museums has increased. In the next section I examine how these shows are broadening the scope of what is on view in the West. In the third section I examine the global cultural context of these shows given China’s entry into a unique historical position – the potential bearer of post-democratic capitalism to the New World Order.