Filho, Osmar Goncalves dos Reis: Die Inszenierung des Vagen: Notizen zu einer Ästhetik der Videokunst, 28.11.08

Eine zeitgenössische Kunst

Inmitten der Ungewißheiten, die die heutige Gesellschaft uns bietet, gibt es etwas Solides, etwas, über das keine Zweifel bestehen: Nie wurde so viel auf dem Gebiet der Kultur produziert wie heute. Jeden Tag überschwemmt uns die Mediengesellschaft mit einer Flut von Bildern, Videos, Hologrammen, Texten. Wie bereits Peirce voraussah, wurde die Welt zu einem Überfluß an Zeichen. Anders als in früheren Zeiten, als noch eine spezifische semiotische Chiffrierung herrschte, leben wir heute in einer Zeit der Konvergenz der Medien, der dröhnenden Sprachverschiedenheit, der ästhetischen Stützpunkte und Angebote.

Die gegenwärtige kulturelle Praxis ist zweifellos ein unbeständiges, vielfältiges Phänomen. In ihrer Gärung präsentiert sie sich wie ein Fraktal, wie eine chaotische Landschaft, die sich jedem Versuch zur Verallgemeinerung zu entziehen scheint. Bei genauerem Hinsehen jedoch erscheinen einige Gemeinsamkeiten, Elemente, die uns erlauben, ein wenig Konsistenz im Chaos aufzuzeigen. In ihren verschiedensten Formen erscheinen die zeitgenössischen Zeichen mit Geräuschen vermengt, mit Formen, die ins „Elliptische“ und „Offene“ weisen. Ob in der plastischen Kunst oder in der Literatur, die heutige kulturelle Praxis wird von der Unbestimmtheit durchkreuzt.

In der plastischen Kunst z. B. beginnt diese Suche nach dem Vagen bei Cézanne und kommt zur Reife mit der Geburt des Kubismus. Das kubistische Porträt mit seinen vielfachen Perspektiven wollte uns die Erfahrung der visuellen Vielfalt bieten, den Pluralismus der Betrachtungsweisen – eine Art von Wahrnehmung, die anders ist als die vom Renaissancebild gebotene. Die Perspektive der Renaissance setzte in ihrer Starrheit und räumlichen Konsistenz einen einzigen, zentralen Gesichtspunkt, einen Punkt, von dem aus jede Wahrnehmung gezwungenermaßen strukturiert sein muß. Es gibt keine andere Weise, ein Bild der Renaissance zu „lesen“, es sei denn unter dieser visuellen Hierarchie, die ein für allemal von der Perspektive aufgezwungen wird.

So wie das modernistische Bild definitiv mit der linearen Sicht gebrochen hat und ein „offenes“ und unvorhersehbares Werk vorschlägt, so hat auch die Literatur unserer Zeit aufgehört, linear zu sein und hat eine labyrinthische Struktur angenommen. In Werken wie Ulysses, Die Gesänge oder Rayuela, Himmel und Hölle sind verschiedene Wege gleichzeitig möglich. Gleichzeitigkeit von Handlungen im Ablauf der Erzählung, die Möglichkeit, die Kapitel zu mischen und jeden Moment eine andere Geschichte herauszuholen, läßt den zeitgenössischen Leser die Erfahrung des Widerspruchs und der begrifflichen Vielfalt machen. Anstelle einer endgültigen Mitteilung, eines erstrangigen Sinnes, der während vieler Generationen vermittelt wurde, bietet uns die moderne Literatur ein Feld vieler Möglichkeiten, eine vielfältige und unabgeschlossene Struktur. Obwohl Werke wie z.B. die von Stendhal, Proust, Kafka, Joyce und so vieler anderer heute in ‚endgültiger Form‘ zirkulieren, wurden sie niemals von ihren Autoren als „abgeschlossen“ angesehen. Wie Borges sagte, zweifellos eine Ikone der modernen Literatur: „der Begriff des definitiven Texts entspricht nur der Religion oder der Müdigkeit“.[1]

Ein glitschiger, jedoch „offener“ und unvorhersehbarer „Text“ ist der, der als videographische Erzählung aufgebaut ist. In ihrer hybriden, unterbrochenen und variierenden Sprache wird die videographische Erzählung in bestimmten intellektuellen Kreisen als die prototypische Ausdrucksform der heutigen Kultur angesehen. Eigentlich haben wir im Video nicht einmal mehr eine Geschichte, von der zu reden wäre, sei sie nun labyrinthisch oder nicht. Was es uns in den meisten Fällen bietet, sind verstreute Stücke, deren Ganzheit unmöglich wiederherzustellen ist – die Welt als unstetiges Aufbrausen von Bildern. Jede Handlung wird in Fragmenten vorgetragen, es gibt keine Kontinuität, die zu suchen wäre. Das Ergebnis ist, in einem Wort, daß das Video uns die Inszenierung des Vagen vorträgt, die Unbestimmtheit als Darstellungskategorie.

Während die labyrinthische Struktur der modernen Literatur und die visuelle Vielfalt der kubistischen Bilder bereits eine gewisse „Zerrüttung“ des Sinnes vorbildeten, eine Suche nach Erweiterung und Polyphonie, bildet die unterbrochene Erzählung der Videokunst den Höhepunkt dieser Entwicklung. Auf dem Bildschirm entrinnt uns der Sinn und scheint sogar an das Absurde zu grenzen, an den totalen nonsense. Angesichts der videographischen Poetik wäre es vielleicht angemessen, von einer Ästhetik des Vagen zu sprechen, von einer Sprache, die mehr von Geräuschen als von Zeichen gebildet wird.[2] Wenigstens ist es dieser Eindruck, der uns bleibt, wenn wir uns nacheinander die großen Werke dieser kleinen Ausdrucksform ansehen, deren Geschichte bereits ein halbes Jahrhundert alt ist. Mich interessiert hier jedoch nicht die Bildung eines neuen Begriffs. Mein Ziel ist es vielmehr, diese Ästhetik, die zugleich reich und beunruhigend ist, zu verstehen; eine Kritik zu entwerfen, die ihre höchst quälenden Fragen, ihre kontroversen Aspekte berücksichtigt.

Geräusch, Verzerrung, Vielfalt

Im Allgemeinen, so Jean Paul Fargier, erscheint die Wirklichkeit nicht im Video; sie kommt uns nicht entgegen, wie beispielsweise gewohnheitsmäßig im Kinosaal.[3] Denn seine Schreibung ist an erster Stelle von der Verzerrung gekennzeichnet, von der Interferenz. Auf dem kleinen Bildschirm des Videos erscheinen die Bilder selten unversehrt, unberührt, in derjenigen Form, in der sie aufgenommen wurden. Bevor sie den Monitor beleben, ist es wahrscheinlich, daß sie eine Form der Manipulation erlitten haben, eine Art von Eingriff. Denn im Herzen des Mediums Video lebt ein destruktives Anliegen hinsichtlich des Bildes, eine bilderstürmerische, zerstörerische Haltung. Während das Kino sich geschichtlich durch eine bestimmte Dezenz gefestigt hat, durch einen fast heiligen Respekt vor dem Bild, zeigt das Video ein unehrerbietiges Verhalten, gefällt sich in spielerischer Freiheit, im Wagemut des Eingreifens und Radierens. Ja, die Schreibart des Videos greift etwas von der abbauenden Furie der Avantgarde auf, doch übertrifft sie diese Praxis, insofern sie aus der Verzerrung die Quintessenz ihrer Grammatik macht. Zum Beispiel Television Decollage von Wolf Vostell und Magnet TV von Nam Jane Paik, zwei grundlegende Werke der Videokunst, sind nichts weiter als Verzerrungen des Fernsehablaufs. Durch Frequenzerzeuger, elektronische Prozessoren, entstellen diese Werke die Fernsehinformation, indem sie den Fernseher zu einer Stütze für abstrakte, experimentelle Bilder machen, Bilder, die nur auf dem Ikonoskop erscheinen, um zu tanzen.

Ein schlichter Tanz freilich, der sich zudem in einem ganz anderen Freiraum als dem des Kinos abspielt. Seinem einheitlichen und homogenen Bild stellt das Video die für es charakteristische Mannigfaltigkeit und fragmentarische Beschaffenheit entgegen. Tatsächlich erscheint in den meisten Fällen das videographische Paneel dem Beobachter wie ein großes Mosaik, wie eine hybride Oberfläche, die die einförmige und systematische Ansicht der Photographie, gemäß der auf der Renaissance gründenden Darstellungsmodelle, durch eine vielfache und kaleidoskopische Ansicht ersetzt. Anstatt jeweils ein einziges Objekt zu betrachten, pflegt das Video die Bilder zu überschneiden, indem es mit Hilfe des Chroma Key eins über das andere legt oder sie durch die Öffnung von „Fenstern“ nebeneinanderstellt. Auf diese Weise häufen sich die verschiedenen Fragmente auf dem Bildschirm ins Unendliche, und man steht, wenn man es am wenigsten erwartet, vor einer riesigen elektronischen Collage, vor einem heterogenen und komplexen Gebilde. Was die Wahrnehmung betrifft, ist der bleibende Eindruck in diesem Kontext der des Übermaßes, der Zerstreuung, denn die Bilder kommen nicht mehr allmählich in ihrer Ganzheit zu uns, wie sie es in dem großen dunklen Saal taten. Sie schwärmen wie Bienen oder Hornissen im Flug. Es sind Splitter, Funken, die alle zugleich in einer ungebrochenen und beschleunigten Bewegung die kathodische Röhre besprengen.

Ein weiteres hervorstechendes Element der elektronischen Schrift ist ihre Fähigkeit und Einstellung, Zeichen verschiedener Art zu verflechten. Wegen ihrer Gefügigkeit – im Grunde ist das elektronische Bild nur modulierte elektrische Strömung – schafft sie es, auf eine freiere und erfinderischere Weise als die Medien mechanischer Art, unterschiedliche Zeichen wie Texte, Stimmen, Töne, Geräusche und Bilder zu mischen und zu verbinden. Freilich handelt es sich nicht nur um eine Fähigkeit. Normalerweise entscheidet sich die Videographik für die Verflechtung, die Hybridisation. Sie fühlt sich davon angezogen, sie flirtet mit den Techniken der Collage, des Mosaiks und mit den zahlreichen Möglichkeiten der Assoziation. Es handelt sich, kurz gesagt, um eine vielfältige Schreibform, um den Versuch, die größtmögliche Zahl von Informationen in einem einzigen gleichen Raum zu verbinden. Es sind Texte, die parallel zu den Bildern laufen, unterschiedliche Aussagen, die aufeinanderprallen und sich widersprechen, Landkarten, Figuren, Töne und Geräusche jeglicher Art, die zusammen mit den Bildern ein Geflecht seltener Komplexität erstellen. Das Ergebnis ist konfus und kann Zuschauer, die weniger mit den unerwarteten Weisen der elektronischen Imagination vertraut sind, verwirren.

Was die Zeit betrifft, baut das Video ebenfalls recht komplexe Beziehungen auf. Anstatt, wie das Kino, ihre Bewegung nachzuahmen, ihre Dauer zu zeichnen, zieht das Video es vor, sie abzubauen, zu zerrütten, in ihrem Innern Fallen aufzustellen. Es handelt sich um plötzliche Beschleunigungen, eingefrorene, synkopierte Bilder, Slow Motion Kameras. Alles, damit wir den 24 Bildern pro Sekunde entgehen können, dieser idealisierten und idealisierenden Geschwindigkeit, die uns die siebte Kunst vererbt hat. Ja, auf der elektronischen Leinwand verwandelt sich die Zeitlichkeit in etwas Anderes, Elastischeres, Biegsameres. Vielleicht, damit die herkömmliche Wahrnehmung sich ebenfalls verändert, sich in der Verfremdung revidiert. Möglicherweise ist dies die geheime Architektur des Videos, die intime Alchimie seiner Schreibweise, sein letztes Ziel. Seit den ersten Experimenten schwebt ihm ein Ort vor, der die reine Sensibilität beherbergt.

In Wahrheit haben das Video nie die großen Ereignisse, die großen Persönlichkeiten, der Eindruck oder der Glanz des Wirklichen interessiert. Es waren immer anonyme, banale Bilder, Figuren ohne Gewicht oder Tiefe, die es ins Spiel brachte. Auf der kleinen Leinwand scheint die Schönheit sich an der Oberfläche zu bergen, in der Plastizität, im Tanz der Farben. Während das Kinobild sich stets behauptet hat durch die Rolle, die in ihm die Tiefe des Feldes spielt, konstituiert sich das Video als Bild und als Ästhetik mittels der Stelle, die in ihm die Oberfläche einnimmt. Das Video ist vornehmlich dieses Lob der Oberfläche, die während der Jahrzehnte von audiovisueller Poetik unbekannt und unklar geblieben war. In der ikonoskopischen Röhre hat sie die Gelegenheit, flimmernd uns leuchtend wiederzukehren wie der Elektronenregen, von dem sie geformt wird.

In der Videographie ist demnach die Materialität selbst das Wichtige, das Bild nicht mehr als unsichtbarer Filmstreifen, als Glas oder Fenster zur Welt, sondern als Wirklichkeit in sich selbst, als eine selbständige Welt, die mit eigenem Stoff, eigenem Körper und eigener Textur ausgestattet ist. Wenn wir die großen Werke der Videokunst betrachten, von den teleklastischen Vorläufern bis zu den letzten zeitgenössischen Arbeiten, werden wir sehen, daß, im indikativischen Sinne des Wortes, sehr wenig zu „sehen“ oder zu „lesen“ ist. In den allermeisten Fällen trägt uns das Video rein visuelle Impulse vor; es sind Formen, Massen, Texturen in Bewegung. Wenn es allerdings auch Bilder gibt, die erkannt werden sollen, ist es vor allem das sogenannte nicht-hermeneutische Feld der Kommunikation, das die vorderste Stelle im Video einnimmt – ein Raum, in dem die Sinne oder Bedeutungen nicht sehr wichtig sind. Der große Gast in dieser Domäne ist der Körper, das Empfindliche, das Empfinden. Es gibt jedoch nichts glitschigeres und unergründlicheres als die Empfindungen. Sie sind lediglich da oder existieren, sagen nichts, behaupten nichts, produzieren nur Anwesenheit.

Eine nicht-erzählerische Kunst

 

Im Allgemeinen ist es das, was das Video erzeugt: eine nicht-erzählerische Kunst. Im Gegensatz zum Kino interessiert es sich nicht dafür, eine Geschichte zu inszenieren, einen Bericht vorzutragen, sei er linear, fragmentiert oder labyrinthisch. In den allermeisten Fällen sagt oder erzählt man nichts auf der kleinen Leinwand, man zeigt lediglich etwas. Etwas wird in seiner Stofflichkeit, Substanz und Oberfläche vorgetragen. Eine Art von ästhetischem Vorschlag steht mit einer Jahrhunderte langen Entwicklung der Verkümmerung der Erzählung, einem Niedergang der Erzählkunst im Zusammenhang. Dieser Prozeß wurde prägnant von Walter Benjamin in seinem wunderbaren Essay Der Erzähler ((In: Obras Escolhidas vol. I – Magia e técnica, arte e política. Übers. von Sérgio Paulo Rouanet. São Paulo: Brasiliense, 1996.)) beschrieben. Die Erzählkunst sei im Niedergehen begriffen, weil sie auf der gemeinsamen Tradition fußt, auf der gemeinsamen Erinnerung und dem gemeinsamen Wort, kurz, auf einer kollektiven Erfahrung.

In der Moderne verschwinden solche Bedingungen. Die Tradition setzt für ihr Existieren eine Lebens- und Sprachgemeinschaft voraus, die vor allem die schnelle Entwicklung des Kapitalismus, der Technik zerstört hat. Die Virulenz der Veränderungen im fortgeschrittenen Kapitalismus bringt es mit sich, daß die Lebensbedingungen sich von einer Generation zur anderen rapide wandeln. Auf diese Weise entsteht eine Lücke zwischen den Generationen. Was von den Eltern und Großeltern erlebt wurde und von der Erzählung aufgegriffen wird, hat bereits keine Bedeutung mehr für die Herausforderungen, vor die sich die Kinder und Enkel gestellt sehen. Nicht einmal die Chiffrierungen der Redeformen sind die gleichen, da die Sprachformen und semiotischen Systeme ununterbrochen wuchern. Im Spätkapitalismus überlebt nicht einmal die Landschaft. Aus eigener Erfahrung schöpfend sagt Benjamin, daß „eine Generation, die noch in einer von Pferden gezogenen Straßenbahn zur Schule gegangen war, … sich verlassen (sah), obdachlos, in einer Landschaft die in allem anders war, mit Ausnahme der Wolken“. ((BENJAMIN, Walter. Experiência e Pobreza [Erfahrung und Armut]. In: Obras Escolhidas (Bd.1). Magia e Técnica, Arte e Política. Übers. von Sérgio Paulo Rouanet. São Paulo: Brasiliense, 1985, p.115.))

Verbunden mit diesen Verwandlungen oder in ihrem Innern am Werk ist eine andere Zeitlichkeit. Die vorkapitalistischen Arbeitsweisen, besonders solche, die mit dem Handwerk verbunden waren, zeichneten sich durch eine langsame und abrundende Zeit aus. Es handelte sich um eine Zeit, die die Sedimentation der Erfahrungen in der Gemeinde erlaubte und das Auftauchen einer gemeinsamen Erinnerung und Sprache ermöglichte. Ob auf dem Land oder in der Stadt, die gedehnte Zeit begünstigte eine tiefe Aufnahme der Geschichten. Und weil sie sie so häufig hörten, entwickelten die Hörer die Gabe, sie zu erzählen.

Im modernen Kapitalismus erlaubt die schnelle und unterbrochene Zeit der Arbeit nicht mehr diese Sedimentation. Was ist jedoch die Tradition, wenn nicht dieses geteilte Gedächtnis? Unerschöpfliche Quelle der mündlichen Erzählungen ist das kollektive Gedächtnis, das die Existenz, Erneuerung und Weitergabe der Geschichten ermöglicht. Mit seinem Niedergang werden auch die Geschichten nicht mehr tradiert, die wichtigsten Sinngebungen gehen verloren, und der Prozeß der Erschöpfung und sozialen Fragmentierung schreitet siegreich fort.

Angesichts dieser neuen Erfahrungsweise entstehen neue Kommunikationsformen, die in der sozialen Dynamik immer mehr Anhalt haben. Der klassische Roman, der den ratlosen und unberatenen Helden auf seiner ständigen Suche nach dem Sinn des Lebens in Szene setzt, ist ein Beispiel hierfür. Es handelt sich um einen Sinn, der schon nicht mehr in der Dynamik des sozialen Lebens zu finden ist, da sie zu sehr von Jahrhunderte langen Prozessen der Fragmentierung und der Beschleunigung der Zeitlichkeit durchkreuzt wird. ((Darüber, s. Gyorgy Lúkacs. A teoria do romance: um ensaio histórico-filosófico sobre as formas da grande épica [Die Theorie des Romans…]. São Paulo: Duas Cidades: Ed. 34, 2000.)) Im Gegensatz zur Erzählung hat diese Art des Romans eine geschlossene Struktur. Er muß der Geschichte ein Ende, dieser Entwicklung einen Schlußpunkt setzen, damit der Leser, selbst ratlos, seinem eigenen Dasein Sinn geben kann. Neben dieser klassischen Form des Romans entsteht, als Gegen- und Ergänzungsvorschlag, die moderne Literatur. Von Unvollständigkeit, Diskontinuität und Fragmentierung gezeichnet versucht diese Literatur, die Erzählung noch stärker zu zerfasern, indem sie den Sinn bis an die Grenzen des Unverständlichen zerstreut und zerstört. Das klassische/typische Beispiel ist in diesem Kontext die surrealistische Poesie, doch kann man auch Kafka, Joyce, Proust u. a. nennen.

Von Frederic Jameson als ‚Surrealismus ohne Unbewußtes’ tituliert, ((Pós-Modernismo: A Lógica Cultural do Capitalismo Tardio [Post-Moderne: Die kulturelle Logik des Spätkapitalismus]. Übers. von Maria Elisa Cevasco. São Paulo: Ática, 1997.)) folgt die Videokunst auf klare und unverwechselbare Weise dieser Tendenz. Seit ihren ersten Experimenten hat sie darauf verzichtet, eine Geschichte zu erzählen, und in keiner ihrer Strömungen wollte sie sich als erzählende Kunst präsentieren. Im Gegensatz zum Kino war es dem Video immer wichtig, die Geschichten zu zerrütten, zu zerschmelzen, zu verflechten. Es handelte sich speziell darum, das Bild zu verzerren; es zu beschmutzen, abzubauen, zu erschüttern und aufzulösen, damit es in einem anderen Format wiedergeboren wird. Seit der anfänglichen Interferenzen von Nam June Paik war die Ästhetik des Videos immer eine Ästhetik des Geräuschs, der Vagheit und der Metamorphose. Während das Kino den Blick und die Sinne aufbietet, lädt das Video den Körper ein und läßt ihn fühlen. Es gibt keine Geschichten, keine Ratschläge. Es wird nichts gesagt; es gibt nur Dabeisein, etwas, das sich zeigt, und das uns zur Erfahrung ruft.

Negativität und volle Mitteilbarkeit

Die Videographie ist eine schwierige und radikale Kunst, eine Ästhetik, deren Größe nur ermessen werden kann, wenn man einer exklusiven Definition von Kunst als Schönheitsideal und Versöhnung den Rücken kehrt. Die Schreibweise des Videos zielt nicht auf eine Logik der Bequemlichkeit, sie will nicht den Menschen helfen oder sie trösten durch den Aufbau einer illusorischen Schönheit. Gegen eine Ästhetik der Harmonie und des Schönen wählt sie den Schock, die Herausforderung, die Anklage. Mit dieser Haltung reiht sich die Videokunst in eine Tradition der Ästhetik, die ihre präziseste Formulierung in den modernistischen Avantgarden der 20er Jahre findet. In jener Zeit erreichten eine Reihe sozialgeschichtlicher Umwälzungen ihr finales Stadium, das wenigstens ein Jahrhundert lang vorbereitet worden war. Der Urbanisierungsprozeß, die Industrialisierung, die sichtbar anwachsende technische Entwicklung nicht nur in der Expansion der Verkehrsmittel, sondern auch in der Etablierung der Presse, veränderten das Gesicht der Welt radikal und legten den Grundstein für die moderne Erfahrung.

In der philosophischen Tradition war wohl Walter Benjamin der Denker, der in seinen Arbeiten am meisten zum Verständnis dieser Umwälzungen beigetragen hat. Im Essay über Baudelaire und im unvollendeten Passagenwerk unternimmt er, was wir eine „Archäologie der Moderne“ nennen können: eine unerbittliche Suche nach ihren Ursprüngen, ihren Vorgehensweisen und Mechanismen, ihren Folgeerscheinungen. Für diesen jüdischen Intellektuellen und Meister der essayistischen Kurzprosaform ist die Moderne ein Prozeß wachsender Fragmentierung und Säkularisierung, zwei Bewegungen, die, seiner Ansicht nach, zu einem unvermeidlichen Niedergang der kollektiven Erfahrung führen. Nach Benjamin kennzeichnet die Moderne vor allem der Verlust kollektiver Anhaltspunkte, für sie ist das Fehlen gemeinsamer Erinnerungen und Worte charakteristisch. Es droht der vollständige Traditionsverlust. Benjamin war im übrigen nicht der einzige Philosoph, der diesen Vorgang bemerkt hat. Eigentlich ist seine skeptische Sicht hier Nietzsches und Lukács’ Äußerungen über die Moderne verpflichtet. Beide Denker sprechen vom Niedergang gemeinsamer Werte, von der Krise der Kultur, von der Zerrüttung des Sinnes.

Abgesehen nämlich von den jeweiligen Unterschieden ihrer sonstigen Gedanken versuchen alle drei, die Veränderungen zu verstehen, die im Rahmen der Erfahrung und der Kultur geschehen, wenn an die Stelle homogener, organischer und geschlossener Gesellschaften heterogene, fragmentierte und multikulturelle treten, in denen zerstreute und gegensätzliche Traditionen nebeneinander bestehen, und in denen die Dissonanzen überall empfunden werden. Es gibt keine allgemeine Praxis mehr, keine Werte, keine vollständigen Bedeutungen, die früher im Laufe der Generationen aufbewahrt und weitergegeben wurden. Wir leben, wie Nietzsche sagt, ‚im Zeitalter des Vergleichung’. „Ein solches Zeitalter“, konstatiert er in Menschliches, allzu Menschliches, „bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war… Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden!“ ((NIETZSCHE, Friedrich. Humano, Demasiado Humano [Menschliches, allzu Menschliches]. São Paulo: Companhia das Letras, 2000.))

Der moderne Mensch leidet, weil er keinen letztgültigen Anhaltspunkt mehr hat, auf den er sich verlassen kann. Es gibt so viele Perspektiven, Lebensweisen, so viele Werte und Bedeutungen, und alles ist einer Veränderung unterworfen, die in einer so frenetischen und erdrückenden Geschwindigkeit geschieht, daß ihm nichts anderes bleibt als ein intensives Leiden der Ratlosigkeit, des Mangels, des Zusammenbruchs. Wir erleben, nach dem schönen Titel von Bauman, eine Flüssige Moderne, die permanente Empfindung, daß unsere alten und prekären Gewißheiten sich unter unseren Füßen verflüssigen. Diese Zerrüttung des Sinnes oder diese „Krankheit der Tradition“, wie sie Benjamin nannte, steht in direktem Zusammenhang mit den Umwälzungen, die auf dem Gebiet der ästhetischen Produktion am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschehen sind, Umwälzungen, die ihre vorbildliche Ausformung in den modernistischen Avantgarden der 20er Jahre erreichen.

Angesichts des Niedergangs der kollektiven Erfahrung, angesichts der Signifikationskrise, die von der Moderne erzeugt wird, wird sich eine Strömung der modernistischen Ästhetik, und zwar gerade die, die sich in den Avantgarden äußert, dafür entscheiden, diese „Krankheit der Tradition“, diese zügellose Zerstreuung der Sinne weiterzuführen. Anstatt tröstliche Illusionen auszudenken, entscheidet sie sich, den Bruch zu beschleunigen, das Schweigen zu vertiefen, die Widersprüche ihrer Zeit offen zur Schau zu tragen. Obwohl die Videokunst wichtige Verschiebungen in Richtung dieser Vorschläge ausführt, folgt sie klar und unmißverständlich der negativen Ästhetik der Avantgarden. Im Allgemeinen bietet die Videographie auch keinen Raum zur Versöhnung. Auf der kleinen Leinwand gibt es meistens keine Bedeutungen, keine Geschichten oder Erzählungen zu rekonstruieren. Was sich uns in den meisten Fällen darbietet ist pulsierender Rhythmus und Energie; Abstraktion, Allegorie, Geräusch, Collage, kurz, ein aleatorischer Wechsel von Signifikationen.

Wie Alain Borges bemerkte, „festigt sich das Video als eine Stütze, die zutiefst mit der Ausdrucksweise seiner Zeit verbunden ist“. ((BORGES, Alain. „Contre L´image numérique: Toutes lês images sont-elles dês images pieuses?“ In: Où va la vidéo? Jean-Paul Fargier (org.) Paris: Cahiers du Cinema Livres, 1986.)) Wenn es etwas gibt, das uns solches auf klare, manchmal ostentative Weise zeigt, ist es unsere gegenwärtige Orientierungslosigkeit, unser Mangel an Bedeutungen. Die Größe und Stärke der videographischen Ästhetik können nur aus dieser Perspektive verstanden werden. Denn ihr kritisches Potential, ihre Überschreitung des Nihilismus sind in dieser Geste enthalten, die gleichzeitig realistisch und anklagend ist. Es handelt sich also nicht um absoluten Formalismus, um ästhetisierende Grundlosigkeit. Obwohl die Schreibart des Videos unweigerlich Einflüsse dieser ästhetischen Tendenzen zeigt, was wirklich in der Videokunst auf dem Spiel steht ist der Versuch, keine ästhetischen Ideale aufleuchten zu lassen, die keinen Anhalt in der soziokulturellen Dynamik unserer Zeit haben. Mit anderen Worten, es ist für die Videokunst nicht mehr möglich, eine Ästhetik der Ganzheit und Transparenz zu verteidigen, ein glänzendes und absolutes Bild, eben weil wir unter der Herrschaft der Zerstreuung, des Fragmentarischen und Flüchtigen leben. Darin liegt ihre Stärke, ihr Daseinsgrund! Es geht darum, den Schmerz der Unvertretbarkeit auszuhalten, den Schmerz des Mangels an vollständigen Bedeutungen, anstatt übereilt neue und falsche positive Inhalte vorzuschlagen.

Diese Ästhetik der Undurchsichtigkeit und des Geräuschs, die der Videokunst innewohnt, verursacht noch eine weitere, selten gesehene Verschiebung im Bereich der audiovisuellen Praktiken. Wegen ihrer abstrakten und allegorischen Eigenschaft, ihrer stärker graphischen und rhythmischen als fotografischen visuellen Eigenart, hintertreibt die Schreibweise des Videos am Ende die Ordnung der Sinne und legt den Akzent des Kommunikationsprozesses auf die Empfindungen. Die zahlreichen Interferenzen und Verzerrungen, die frenetische Hast der Montagen und die Leere der vernetzten Installationen bewirken, daß die Vernunft und die Suche nach einem Sinn eingeladen werden, sich zu verabschieden, so daß sie einen Raum freigeben für andere Interaktionsformen, die auf nicht-rationellen Prozessen fußen. Durch diesen Appell an den Körper und die Erfahrungen der Empfindungen betreibt das Video eine direkte Kritik an der absoluten Herrschaft des Verstandes, des rationalistischen Denkens in unserer Kultur. Es zeigt, daß die Erfahrung nicht ausschließlich oder notwendig eine sinnvolle oder per se auf einen Sinn bezogene ist, daß die Gegenstände, die Substanzen, die Körper vielmehr selbst ein unweigerliches Gewicht im Kommunikationsprozeß besitzen – das Gewicht der Anwesenheit – ,und daß sie trotz unserer auf Sinn erpichten Bemühungen den Charakter des Unbekannten, des Geheimnisvollen haben. Mit dem Akzent auf den Empfindungen, auf der Leere und dem Schweigen drückt das Video schließlich auch noch eine gewisse Erschöpfung der geschwätzigen Vernunft aus; sie versagt vor der Sintflut von Informationen und Bildern, die die Mediengesellschaft täglich vor unsere Füße schüttet. Wie Sean Cubitt behauptet, ist es gerade einer der Träume der Videographie, die Idee der Repräsentation gegen andere, freiere, offenere und transzendentere Kommunikationsformen auszutauschen. ((CUBITT, Sean. Timeshift on Vídeo Culture. London: Routledge, 1991.)) Nach ihm geht es darum, daß wir uns von der „Tyrannei der Repräsentation“ befreien zugunsten von Erfahrungen, die auf anderen Prinzipien aufgebaut sind als beispielsweise der Anwesenheit.

In gewisser Weise wurde dieser Traum bereits erreicht. In der kurzen Geschichte der Videokunst war vielleicht eins ihrer größten Verdienste die Relativierung des erzählerischen Sprachmodells. Obgleich bis heute dominierend im Bereich der audiovisuellen Praktiken erhält es wenig oder praktisch keinen Raum in der Videokunst. Wegen ihrer experimentellen Methode inspiriert die Schreibform des Videos schließlich neue und originelle Sprachmodelle, Modelle, die freier, offener und essayistischer sind – im Allgemeinen audiovisuelle Vorführungen von Konzepten und Empfindungen. Paik war der erste Künstler, der im Video ein bildsames und flüssiges Medium gesehen hat, eine Form, die fähig ist, die formellen diskursiven Strukturen zu verlassen und mit den Materialien auf einer transzendenteren Ebene zu arbeiten. Wie Ruy Gardnier bemerkt hat, hat Paik anhand des Videos das Bild in eine flüssige Strömung verwandelt, die mit irgendeiner Sache kommunizieren kann. ((GARDNIER, Ruy. Cahiers du Cinéma 610, p. 68, März 2006.)) Vollständige Kommunikationsfähigkeit, frei von den Gesetzen der Perspektive, von den Regeln der Komposition, von den traditionellen syntaktischen Bindungen, das ist die Utopie der Videokunst.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Zitiert von MACHADO, Arlindo. Máquina e Imaginário. São Paulo: EDUSP, 2001, p.190.
  2. Dieser Insight wurde zum ersten Mal von Jean-Paul Fargier geäußert, in dem wunderbaren Essay „Poeira Nos Olhos“ [Staub in den Augen]. In: Imagem-Máquina: a Era das Tecnologias do Virtual. André Parente (org.) São Paulo: Editora 34 Ltda, 2001.
  3. Ders., p. 231.