Hansen, Frank-Peter: Wer ist oder was macht eigentlich einen guten Erzähler?, 15.11.08

Kennen Sie Tschechow? Nein? Sie sollten ihn kennen (lernen). Warum? Weil dieser sozial engagierte russische Autor und Arzt, dieser Meister der kleinen Form wie kaum ein anderer Autor in die Ab- und Hintergründe der Seele des Menschen geschaut hat. Ich erinnere vor allem an die Meistererzählung über die Ehebrecherin Agafja, in der die Zerrissenheit, das Nicht-ein-noch-aus-Wissen der Protagonistin ähnlich intensiv, hautnah und bedrückend wie die gehobene und kriecherische Lust am Quälen und Drangsalieren der in Abhängigkeit gehaltenen Kreatur im Tobias Mindernickel von Thomas Mann vergegenwärtigt wird. Dabei werden die letzten Dinge bei Tschechow oft in schwebender Ungewißheit gelassen, ab und an etwas zu sehr. Hören wir zu: „Agafja drehte sich um und erhob sich auf ein Knie … Ich sah, wie sie litt … Eine halbe Minute lang drückte ihre Gestalt, soviel ich in der Dunkelheit erkennen konnte, inneres Ringen und Schwanken aus. Es gab einen Augenblick, da sie, gleichsam erwachend, ihren Leib aufrichtete, um ganz aufzustehen, aber eine unbezwingliche und unerbittliche Kraft zog ihren Körper wieder zu Boden, und sie sank neben Savka hin. „Hol ihn der Teufel“, sagte sie mit wildem, tief aus der Brust kommendem Lachen. Aus diesem Lachen sprachen besinnungslose Entschlossenheit, Machtlosigkeit und Schmerz … Agafja sprang plötzlich auf, schüttelte den Kopf und ging auf ihren Mann zu. Man sah, daß sie alle Kraft zusammennahm und einen Entschluß gefaßt hatte.“ Welchen? Das herauszufinden überläßt Tschechow der Phantasie des Lesers.

Von ihm stammt die beherzigenswerte Äußerung, der Autor müsse seine Figuren lieben, ohne daß man ihm diese Liebe anmerkt. Darin paart sich emotionale Tiefe mit nüchterner Sachlichkeit, wie sie dem Naturforscher, der Tschechow auch war, eigen ist. Es ist ein Balanceakt, das eigentlich nicht Zusammenpassende zu vereinen. Tschechow gelingt dies oft. Kühle und tiefes Mitempfinden, wie sie in dieser Zusammenstellung einem Arzt gut zu Gesicht stehen.

Hier hat folgende Beobachtung ihre Stelle: Ein guter Roman hat auch viel von einem musischen Geschehen, das also auch die affektiven und praktischen Seiten der Seele durchzieht. Auf dieser Klaviatur der ganzen Seele spielen gute Autoren in allen epischen Dramen wie große Meister. So ähnlich hat sich Thomas Bernhard über gute Romane, von denen es seiner Meinung nach nur wenige, etwa eine Handvoll gab, geäußert. Wenn ich mich recht erinnere in dem ironisch-bitteren Kunst- und Kulturverriß Alte Meister. Tschechow zählte meines Wissens merkwürdigerweise nicht dazu, ganz gewiß nicht Tolstoi mit seinem religiös gefärbten Moralismus. Dafür aber Nikolai Gogol, der Autor von Tschitschikows Reiseerlebnissen oder Die Toten Seelen. Eine Romangroteske und Gesellschaftssatire vom Feinsten. Absurdeste Dialoge auf allerhöchstem Niveau. Sie ist zum Totlachen, diese großangelegte Narretei und wahnwitzige Landpartie. Vorgeführt werden Geiz, Habsucht, Hinterlist, Übervorteilen und andere betrügerische Bösartigkeiten mit einem ganz leichten, verspielten Ton. Diesen leichten, humorvoll-beschwingten Ton gibt es auch in Thomas Bernhards Art der Gesellschaftssatire, darüber hinaus jedoch das, was seine Romane so unverwechselbar macht: Das Bittere, Herbe, die obsessive, ausweglose, ans Verzweifelte angrenzende Besessenheit.

Vor allem jedoch den Zwang zur Wiederholung und das erbarmungslose Herumreiten auf dem Immergleichen, was bis in die Erzählstruktur zutrifft. Überspitzt formuliert: Kennt man einen seiner Romane, kennt man sie, abgesehen von der insgesamt objektiver, allem bedrückenden Irr- und Aberwitz zum Trotz distanziert berichtend daher kommenden Ausnahme Das Kalkwerk, alle. Das hat – auch – damit zu tun, daß Bernhard der Meinung war, man müsse einen Roman nicht auslesen, ein paar Seiten seien mehr als genug. Auf ihn selbst übertragen bedeutet dies, daß man lediglich ganz wenig, ein paar Sätze nur, die, pars pro toto, für den Rest stehen, zur Kenntnis zu nehmen braucht. Das ist eine Ökonomie der aufs äußerste verkürzten Weitschweifigkeit, eine unheimlich zurückgenommene, dabei bodenlose Beredsamkeit, eine besessene Redseligkeit mit schlechtem Gewissen und, trotz aller auftrumpfenden, schimpfenden Direktheit, permanenter Selbstrelativierung.

Etwas von dieser Besessenheit gibt es übrigens auch bei Dostojewski, so sehr, daß der Autor in Der Idiot den Überblick darüber verliert, was seine Protagonisten antreibt. Das ist selbstredend eine Ausflucht und genaugenommen ein Armutszeugnis, wenn die Motive der dramatis personae demjenigen, der sie geschaffen hat, dunkel sind. Mit dieser Ausflucht eines vermeintlichen Eigenlebens geht Dostojewski in diesem Roman gleich zweimal in die Offensive, was die Sache nicht besser, sondern umso auffälliger macht. Dieser freilich zentrale Einwand nimmt nichts von denjenigen Passagen fort, die man nur als gelungen bezeichnen kann. Einerseits das existentiell Bedrückende derjenigen Szene, in der die aus eigenem Erleben gespeisten Minuten vor der Hinrichtung dem Leser körperlich nahe gebracht werden. Andererseits das Gespür Dostojewskis für die unverstellte, mit unmittelbarem Leben volle Wunderwelt der Kinder, die auch die seines unbedarften „Idioten“ und heiligen Eigenbrötlers ist, der sich mehr treiben läßt als daß er handelt.

Ich schweife ab. Was sind mögliche Kriterien für einen guten und, umgekehrt, einen nicht so guten bis schlechten Roman? Er soll gefallen, gewiß. Doch gefallen die zugespitzten Mental-Metzeleien Thomas Bernhards? Ich zweifle. Er soll unterhalten, Freude bereiten. Selbstverständlich. Aber wie ist es mit der Containerdramatik eines Beckett? Vielleicht unterhält sie einige Wenige, aber bereitet sie Freude? Wohl eher nicht. Oder, ein anderes Beispiel, der Lyriker Brecht wird geschätzt, während man ihn für seine der political correctness zuwiderlaufenden, als politisch anrüchig verschrienen, tendenziösen Lehr- und Theaterstücke verachtet, jedenfalls sie nur unter weitestgehenden Vorbehalten rezipiert.

Gar nicht so einfach, sich hier zurechtzufinden. Deswegen die Frage: Was sind, gegebenenfalls, Kriterien, die an der erzählenden Kunst, und womöglich nicht bloß an ihr, Stich halten?

Wie ist es, kann durch sprachliches Brillierenwollen um jeden Preis die zu erzählende Geschichte an ihrem Gehalt und Gewicht, sofern vorhanden, Schaden nehmen? Sind die, technisch-formal gesehen, versiertesten Sprachkünstler und Schöpfer außergewöhnlicher Wendungen letztlich schlechte Geschichtenerzähler? Weil sie nämlich das womöglich tief zu empfindende Wesen einer Fabel in ihrem Sprachfeuerwerk ertränken, jenes diesem zum Opfer bringen?! Das Wesen als die abhängige Variable des Wortes. Das Wort steht nicht, wie es doch sollte, jenem zu Diensten. Und das Ergebnis ist, daß das Ganze, so gekonnt es sein mag, ja gerade auf Grund dieser aufdringlichen Gekonntheit ein Blendwerk ist. Es wirkt gewollt, prätentiös und gesucht.

Zeitgenössische Autoren von dieser gewollt gekonnten Art sind, meiner Meinung nach, Sven Regener und Dietrich Schwanitz. Bei dem letztgenannten herrscht in Der Campus eine bemühte Leichtigkeit vor, die zweifelsohne unterhält. Aber dieser Autor, das merkt man von der ersten Zeile an, will gefallen, und folglich tendieren seine aufs Außergewöhnliche zielenden Sprachschöpfungen in die Richtung von Kabinettstückchen und verraten einen Hang zur Attitüde und zur Effekthascherei. Das Auffallende, Blendende prädestiniert diesen Erzähler zum Erfolgsautor.

Allerdings mache ich folgende Einschränkung: Nach dem Sturz der Tochter, Resultat des Handgemenges der Eltern, ändert sich schlagartig der Ton. Kein Sprachgewitter mehr, kein Trommelfeuer von außergewöhnlich sein sollenden Wendungen und extraordinären Formulierungen, sondern der unmittelbaren Betroffenheit über das unverhofft Geschehene angepaßte ruhige, still-betroffene Worte der anteilnehmenden Sorge. Dieser (unwillkürliche?) Stilwechsel hat mich letztlich doch für diesen Autor eingenommen, hat aus einer story dann irgendwie doch eine Geschichte werden lassen, an deren aus diesem dramatischen Vorkommnis resultierenden Ende der Lug und Trug und das böse Treiben berechnender Verschlagenheit in Form eines kühnen, gefaßten und klaren Monologs des angeklagten Anklägers erschöpfend bloßgestellt wird.

Sven Regeners Geschichten um den Unglücksraben und hochsympathischen Lebenskünstler Herrn Lehmann haben, bei aller, wiederum extrem unterhaltsamen Dramatik, einen nicht ganz so aufgeregten Ton, wie er für den Campus von Schwanitz charakteristisch ist. Hier erschlägt der Ton die Geschichte nicht so sehr, ist der gefühlten Atmosphäre und dem gesamten Ambiente angepaßt. Dennoch, es wirkt manieriert und affektiert, weil es nämlich aufmerken lassen soll, wenn das Stilmittel „dachte er“, „dachte Frank“ etc. wie eine Lawine über den Leser kommt, auch dann, wenn man sich irgendwann daran gewöhnt hat und es wie ein Anhängsel von Lehmanns schnoddriger Kauzigkeit zu akzeptieren bereit ist. Keine Frage, Regener versteht es, diesem vagierenden Außenseiter und Versager ganz viel Leben einzuhauchen, und auch im Auspinseln von Situationskomik ist dieser Autor mitreißend. Köstlich und zum Tränenlachen das Verweigerungsgespräch mit dem burschikosen und auf eine spezielle Art liebenswerten Vorgesetzten, der in Neue Vahr Süd auf eine ungemein humorvolle Weise ausgerechnet Lehmanns Verweigerungsgesuch unterstützt und bei dieser bis zur Neige ausgekosteten Gelegenheit seinen Untergebenen dazu auffordert, sich – man glaubt es kaum – an der Niete Frank ein Beispiel zu nehmen. Das führt, wer will es ihm verdenken, auf der Seite des Gemaßregelten zu nicht geringen Irritationen. Grandios! Aber dadurch, daß Regener das, was er kann und beherrscht, unentwegt einsetzt, verliert das Ganze und nutzt sich ab. Einen dritten Teil wird es – hoffentlich – nicht mehr geben!

So geht es auch, was Wunder, anderen Autoren. Schwer, gerade seine Stärken nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern sich ausgerechnet hier in Zurückhaltung zu üben und sie wohldosiert einzusetzen. Damit tun sich, jeder auf seine Art, auch Robert Menasse und der sonst doch so großartige Erzähler Christoph Ransmayr in Morbus Kitahara schwer.

Menasses Geschichte um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in Selige Zeiten, brüchige Welt driftet zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle ab. Dieser Österreicher nämlich läßt seinen Protagonisten mit der von ihm reproduzierten Die Theorie des Romans von Georg Lukács reüssieren. Mit der inversen Phänomenologie des Geistes Hegels indessen hat dieser Epigone kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen von den Füßen auf den Kopf gestellten Hegel im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Dichtung und Wahrheit gehen bei diesem Autor für meinen Geschmack zu unvermittelt und abrupt ineinander über. Die Einfälle sind einfach zu weit hergeholt und sollen wohl frappieren, zumal sie ohnehin bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Des anderen Österreichers Sprachkunstwerk, die Rede ist von Christoph Ransmayr, befindet sich ganz nahe am Kitsch, von Pascal Mercier in Nachtzug nach Lissabon trefflich in folgende Worte gefaßt: „Kitsch ist das tückischste aller Gefängnisse … Die Gitterstäbe sind mit dem Gold vereinfachter, unwirklicher Gefühle verkleidet, so daß man sie für die Säulen eines Palastes hält.“ Konkret: Nicholas Sparks, der in seinen Romanen unentwegt pastellfarbenen Kitsch für Akademiker und Menschen mit Niveau zu Papier bringt.

Wohlgemerkt, Ransmayrs absonderlich präzise und eigentümlich durchdringende, unverwechselbare Sätze sind wirklich wie die „Säulen eines Palastes“. Aber sie sind mit dem Gold hin und wieder unwirklich und sonderbar geschraubt und gestelzt anmutender Gefühle verkleidet. Absicht? Sicherlich. Und beeindruckend gekonnt gemacht. Aber man merkt sie, die Absicht, und ist verstimmt, wie Goethe sagt.

Apropos Goethe. Viele seiner Werke machen ganz den Eindruck, vollkommene Exemplare ihrer jeweiligen Gattung zu sein, wenn man nämlich Schillers in der Nachfolge Kants geäußerten Überlegungen zu akzeptieren bereit ist. Demnach gilt: Ein Werk der Kunst muß wie ein absichtslos sich aus sich heraus entwickelndes Gebilde der (organischen) Natur erscheinen. Es ist oder sollte die Gestalt gewordene Zweckmäßigkeit ohne erkennbaren Zweck sein. Das bis ins letzte Detail sorgfältig Geplante und absichtsvoll und möglicherweise in angespanntester Konzentration Konstruierte und Komponierte muß den Anschein erwecken, als habe es sich wie von selbst, frei entfaltet. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick (Schiller).

Ist dies Ausdruck höchster Vollkommenheit in der Kunst? Wenn ja, dann heißt das für den Leser, daß er sich womöglich in einem Zustand interesselosen Wohlgefallens (Kant) befindet, der nach Schiller, dasselbe ist wie der – ästhetische – Zustand unendlich freier Bestimmbarkeit. Die Worte „Selbstvergessenheit“ und „Gehobenheit“ treffen das Gemeinte wohl noch am ehesten. Hinsichtlich der Werke, die für diese spezifisch schwerelose Freiheit einstehen, bedeutet das nichts anderes, als daß in ihnen der gewählte Ton und der Gehalt, die Stimmlage des Stils und der Geschichte aufs trefflichste zusammenstimmen und harmonieren.

Diesen Wechsel der Töne (Hölderlin), der gute Literaten ausmacht, findet man, um die wichtigsten deutschsprachigen zu nennen, bei Goethe, Thomas Mann, Robert Musil, bei Neueren, abgeschwächt, fallen mir auf Anhieb Daniel Kehlmann, Pascal Mercier, O.P. Zier, Markus Werner und die Wassermusik des Amerikaners T.C. Boyle ein.

Goethe spielt auf der Klaviatur der Stilformen ähnlich meisterlich wie Thomas Mann. Im Werther wird tiefes Empfinden in die intime Unmittelbarkeit des freundschaftlichen Briefwechsels gekleidet. Die verteufelte Humanität (Schiller) der Iphigenie hat darin ihren Grund, daß das gestörte Empfinden des verschmähten Liebhabers Thoas und des gemütskranken Bruders Orest durch die in den ruhigen Fluß des fünfhebigen Jambus gegossene emotionale Gefaßt- und offene Besonnenheit der Hohepriesterin Dianens (er-) lösend aufgehoben wird. Iphigenie als verkörperte, bis in die Sprache hinein personifizierte Harmonie vor dunkelstem, von Wahnsinn gezeichnetem Hintergrund. Die dem postrevolutionären Tumult kontrastierte stille, ruhiges Glück atmende Liebe in Hermann und Dorothea wird im freilich nicht nur aus heutiger Sicht unzeitgemäß und altertümlich-komisch wirkenden Versmaß des klassischen Hexameters manifest. Der West-östliche Divan ist ein leichtes, schwebendes, spielerisches Hin und her von zwischen dem Orient und Okzident vermittelnden Tonarten. Die nüchtern-abgeklärte Prosa von Wilhelm Meisters Wanderjahren schließlich ist der Reflex der Sprache auf die Grundhaltung des in sich gefestigten, zur Ruhe gekommenen Entsagthabens innerhalb dieses episch breit dahinfließenden, mit eingestreuten Intermezzi aufgelockerten Hoheliedes auf das tätige Leben.

Goethes stets, allen Variationen zum Trotz, objektiv wirkender, unaufgeregter Stil, der hin und wieder unpersönlich kalt wirken kann und wohl auch ist, ist das eigentliche Geheimnis der Ausgewogenheit seiner späteren literarischen Kompositionen.

Das Geheimnis eines anderen komponierenden Erzählers und Zauberers großen Stils, den Handlungsvordergrund und den strukturellen Hintergrund einer Erzählung fugenlos ineinanderzupassen, ist die an Richard Wagner geschulte Leitmotivtechnik bei Thomas Mann. In seinen Werken gibt es, sozusagen, keine freie, beziehungslose Note, kein überflüssiges Wort. Alles hängt mit allem wohldurchdacht zusammen, weist vor, zurück, aber der gefangen- und mitgenommene Leser merkt es nicht. Die Substruktur ist das Ganze, aber das Ganze wirkt so leicht, absichts- und schwerelos, als sei es frei von jeder formgebenden Berechnung und dem ordnenden Kalkül. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, wie es oben mit Schiller hieß. Ist dies Meisterschaft, dann ist Der Zauberberg ein Meisterwerk.

Er ist es aber, u.a., auch noch deswegen, weil es Thomas Mann in diesem Roman wie vielleicht in keinem anderen gelungen ist, ganze Wissensgebiete so in die Handlung zu integrieren, daß man spielerisch lernt, lernend spielt, ganz so wie Hans Castorp, der unheldische Held dieser Hochgebirgsgeschichte, dessen – ironischer – Wahlspruch lautet: placet experiri. Es ist eine hochunterhaltsame Freude, ein extremer Spaß, wie hier, auf circa 2000 Metern Höhe, bereits oberhalb der Baumgrenze, mit den Potenzen des Humanus auf eine unverbindlich-verbindliche Art jongliert wird, so daß sich alle Beteiligten, die inner-, aber auch die außerhalb der Buchdeckel Versammelten auf eine schwerelos dahingleitende Art die Zeit vertreiben. Soll Kunst Freude bereiten, dann tut dies Der Zauberberg wie kaum ein anderer aller mir bekannten Romane.

Aber das ist noch nicht alles. Mann ist, wie Goethe, ein Meister des Stilwechsels, mehr noch übrigens als Robert Musil, dem mit seinem Fragment gebliebenen Der Mann ohne Eigenschaften ein ironisch getöntes Sittengemälde über das kaiserliche, dekadente, an sich selbst überdrüssig gewordene Vorkriegsösterreich gelungen ist, mit Die Verwirrungen des Zöglings Törleß eine verstörende psychologische Studie über den Sadismus, die es an Intensität ohne weiteres mit dem Tobias Mindernickel Thomas Manns oder Tschechows Agafja aufnehmen kann. In der Joseph-Trilogie sieht der erstaunte Leser sich unversehens in die altägyptische Kultur der Pharaonen versetzt, wobei in die flinke Rede der gewollt oder ungewollt in Josephs Geschichte Involvierten, ein köstlicher Spaß, ab und an französischsprachige (!) Brocken eingestreut sind. Ein Zeichen beginnender Weit- und Weltläufigkeit. Der Fragment gebliebene Felix Krull, ein Früh-Spät-Werk, ist eine humorvolle Groteske voll schwebender Leichtigkeit über dem dunklen Grund fleischlich-lustvoller Verfallenheit. Die andere Humoreske mit ähnlichem Hintergrund ist die sozusagen auch sprachlich in Indien angesiedelte Geschichte von triebhafter Liebe, Die vertauschten Köpfe mit Namen, mit der wahnwitzigen Episode des unerschrockenen Asketen und heilig-ausgemergelten Einsiedlers Kamadamana, dessen demonstrativer Mut, sich dem lustdurchtränkten Lebensdunst seiner emotional und physisch überforderten Besucher gegen alle scheinbaren inneren Widerstände zu stellen zum Totlachen ist.

Lediglich, das sei kritisch angemerkt, im Doktor Faustus scheint mir Thomas Mann gegen Tschechows „Liebesverbot“ verstoßen zu haben, zum Nachteil für die tragische Geschichte vom Tonsetzer Adrian Leverkühn. Das Leiden des fingierten Erzählers Zeitblom an Deutschlands Niedergang ist doch ziemlich penetrant, zumal es auch dasjenige Manns war. Und die Verquickung des Politischen mit dem Persönlichen macht die Sache auch nicht besser, sondern womöglich, auf Grund seiner gesteigerten Larmoyanz, eher schlimmer. Diese doppelt veranlaßte unglückliche Liebe ist fragwürdig und ärgerlich, wenngleich er, das sei dem Autor zugute gehalten, von der ersten Seite an unentwegt auf das Mißliche dieser hochgradigen, affektgeladenen Betroffenheit reflektiert.

Einen ähnlich souveränen Stilwechsel von Werk zu Werk bringt von den mir bekannten lebenden Autoren allenfalls Daniel Kehlmann zustande. In Die Vermessung der Welt wird das liebenswürdig Schrullige und Versponnene des dann doch auch wieder heldenhaften Gebarens der beiden Protagonisten bis in die Dialoge hinein formvollendet in Sprache gegossen. Das Abenteuer des Wissens spielt sich sowohl in der lebensgefährlichen Weite von Sumpfgebieten und kühnen Hochgebirgsszenarien ab als auch ist es, wundersamerweise, in der bornierten Enge kleinstaatlicher, deutscher Biedermeierei präsent, ohne deswegen, auf Grund seiner ulkig-verdrehten und aberwitzig spekulativen Art, weniger abenteuerlich zu sein. Am Ende gelingt Kehlmann eine schwebend leichte Synthese, die zeigt, daß reine Mathematik und angewandte naturwissenschaftliche Forschung in Wahrheit zwei Seiten derselben Medaille sind und im Grunde genommen ein und dasselbe. Chapeau! In Ich und Kaminski wird das Geplänkel und Kräftemessen verschlagener Eitelkeiten und der schließliche Verzicht auf Seiten des Kritikers lakonisch-humorvoll dargeboten. Was außerdem auffällt: Kehlmann ist äußerst kenntnisreich nicht allein auf dem Gebiet der Wissenschaften, wofür im übrigen auch der gleich noch zu erwähnende kleine Roman Mahlers Zeit steht, sondern auch im Bereich der bildenden Kunst versteht er es virtuos, Gemaltes beschreibend für den gebannten Leser zu visualisieren. In Mahlers Zeit wird das Thema Zeitreisen mit Blick auf den Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre und die Möglichkeit der Aufhebung der Entropie wie in einem Science-Fiction-Roman in bedrängenden, verstörenden Sequenzen präsentiert. Es handelt sich, so gesehen, um nicht weniger als den Kollaps, die Rücknahme des physikalisch-wissenschaftlichen Weltverständnisses, an dessen Ende das völlige Scheitern des sozusagen unzeitgemäßen Helden steht.

Pascal Mercier ist mit seinem Nachtzug nach Lissabon eine ruhige, gefaßte und auf eine sonderbar unaufgeregte Art bewegte, vergebliche Suche nach dem (verlorenen oder nie gehabten?) unstillbar lebenshungrigen Selbst der beiden über die Jahrzehnte hinweg verbundenen Hauptpersonen gelungen. Eine Variante zu Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wenn man so will.

Der Salzburger O.P. Zier präsentiert mit seiner Himmelfahrt, in der das klassische mundus vult decipi ironisch zu späten Ehren kommt, lebensvolle Charaktere, und vor allem der unerschrockene Draufgänger, Trendsetter und Frauenheld Alex, der (er-) lebt, was sein Freund, der Erzähler, lediglich beschreiben kann, ist von einer unglaublichen Präsenz und läßt überbordende Lebensfreude aufblitzen.

Martin Suters meisterhafte Art schließlich, spielerisch schwebend, unaufdringlich schwerelos, dabei präzise und wohldosiert knapp Spannung aufzubauen, verliert allerdings ein wenig durch ihre Monotonie. Der Ton ist irgendwie immer der gleiche oder wirkt so, wobei allerdings, genug der unpassenden Mäkelei, der dezente, mit Zwischentönen jonglierende Humor aus seinem Erstling Small World schlechterdings mitreißend ist. Und wie Suter sich in die verwirrte Psyche des vertauschten Alzheimerpatienten Tomikoni Langkoch einfühlt ist nur noch brillant. Ein Meisterstück! Also gilt für Suter doch nur sehr bedingt, was das Generalhandicap so vieler Autoren ist: Im Stilistisch-Formalen zu Nachahmern ihrer selbst zu werden.

Es mag noch viel, unendlich viel Gutes, wenn auch nicht wirklich Vortreffliches und zeitlos Klassisches in der erzählenden Literatur geben. Dem Schweizer Markus Werner beispielsweise ist in Am Hang eine mitreißende, dabei im Ton unaufgeregte psychologische Studie und spannende Bestandsaufnahme unterschiedlich motivierter Liebe mit doppeltem bis dreifachem Boden gelungen. Und, um auch noch zwei amerikanische Gegenwartsautoren zu erwähnen, deren Stil allerdings so gut wie gar keine Variationen kennt, T.C. Boyle hat in Wassermusik die (Kehlmann läßt grüßen, genauer, Kehlmann hat sich´s gesagt sein lassen) durch nichts aufzuhaltende, urgewaltige Leidenschaft des historischen Afrikaforschers Mungo Park in phantastischer Drastik und wahnsinniger Dramatik, die einem vor allem zum jagenden Ende hin den Atem verschlägt, hingezaubert. Außerdem erinnere ich en passant an John Irvings ruhige und leise, traurig-schöne, trotz allem dem Leben zugewandte Waisenhaus- und Abtreibungsgeschichte um den drogenabhängigen, ungeheuer anrührenden und hochsympathischen Anstaltsleiter Doktor Wilbur Larch und seinen sensiblen Gehilfen wider Willen und schließlich kongenialen Nachfolger Homer Wells in Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Diese Fähigkeit, mitzureißen und/oder zu berühren geht, bei zugegebenermaßen ganz anderen, sei´s psychologisch-metaphysischen, sei´s politischen Themenstellungen, der absichtsvollen Schwere und surrealistischen Verschrobenheit einerseits eines Milan Kundera vollkommen ab. Aber er wie andererseits Günter Grass mit seiner gewollten, gesuchten, immer wieder etwas geschraubt-holprigen, moralinsauren, angestrengt-anstrengenden und summa summarum parteibuchgeschwängerten Polit-Prosa verfolgen offenbar mit ihrer Literatur andere Ziele, denen ich aber meinesteils als (des-) interessierter Leser weder formal noch inhaltlich übermäßig gern gefolgt bin. Ehrlich und gerade heraus gesagt: Diese Lektüre war stets eine elende Quälerei. Gemocht aber wird und Freunde hat selbstverständlich auch so etwas, dem man allerorten und unentwegt die Absicht anmerkt, was Verstimmung zur Folge haben kann.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft1

Enderle, Rubens: Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx, 23.10.08

Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx[1]

von Rubens Enderle

I

Bereits wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Grundlinien der Philosophie des Rechts[2] im Jahr 1820 kam der Hegelschen Staatstheorie für die politische Debatte innerhalb Deutschlands eine erhebliche Bedeutung zu. Die in zwei Gruppen geteilten Schüler Hegels – die Jung- bzw. Linkshegelianer und die Alt- bzw. Rechtshegelianer – entfesselten einen aufgeregten Streit um die politisch-theoretische Erbschaft des Meisters. Es handelte sich hauptsächlich um die Interpretation des Themas der Versöhnung des Vernünftigen mit dem Wirklichen. Für die Junghegelianer ging es um den Beweis, dass das Wirkliche nicht unmittelbar mit dem empirisch-positiv Bestehenden identifiziert werden dürfe, sondern durch die Arbeit des Negativen vermittelt auf eine höhere Stufe des Begriffs gehoben werden müsse. Damit verfolgten die Junghegelianer die – theoretische – Absicht, der Hegelschen Staatstheorie ihren humanistischen, emanzipatorischen Inhalt zurückzugeben. Praktisch bemühten sie sich als journalistisch Tätige um die Verwirklichung dieses vernünftig-begrifflichen Inhalts: Sie propagierten die Überführung der nach wie vor absolutistischen preußischen Monarchie in eine zumindest konstitutionelle Monarchie, wobei sie zunächst nicht offen demokratische Positionen vertraten. In diesem Bestreben sind sie seit 1841 noch bestärkt worden, als sich nämlich herausstellte, dass die von Friedrich Wilhelm IV. initiierte Verfassungsreform allenfalls ein halbherziger Kompromiss war. Die konstitutionelle Monarchie war nicht einmal ein Ausgleich zwischen den Interessen des (Feudal-) Adels und den Reformkräften, so dass die Junghegelianer sich gedrängt sahen, der Hegelschen Staatstheorie zugunsten einer Propagierung demokratischen Gedankenguts den Rücken zu kehren.

Obwohl Marx dem junghegelianischen Denken damals nahe stand, gab es doch auch gravierende Differenzen. Anfang 1841, anläßlich seiner Doktorarbeit, denunzierte er die Kritiker Hegels als „moralisch“ und „unphilosophisch“, wenn sie sich polemisch über Hegels sogenannte „Akkommodation“ äußerten. Sie vertraten irrtümlicherweise die Ansicht, Hegel habe sich aus taktischen Gründen und Opportunitätsrücksichten den politischen Gegebenheiten angepaßt und vergaßen darüber, dass Hegel – philosophisch gesprochen – in einem „unmittelbaren, substantialen, sie (hingegen, R.E.) in (einem, R.E.) reflectirten Verhältniß zu seinem System standen“. Anders gesagt, Hegels Fehler war der seines Systems und eben keine persönlich motivierte Vorsichtsmaßregel eines Ängstlichen. Eine wirkliche philosophische Kritik hätte Marx zufolge also folgendes zu leisten gehabt: zu demonstrieren, dass „die Möglichkeit dieser scheinbaren Accomodationen in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Princips selber ihre innerste Wurzel hat“, oder, noch prononcierter, dass die als eigentlich systemfremd beanstandete Akkommodation ans Bestehende das Prinzip der Philosophie Hegels sei. Also habe man die innerliche Entwicklung von Hegels Denken, seine ureigene Logik offenzulegen, die, metaphorisch gesprochen, „bis an deren äußerste Peripherie sein eigenstes geistiges Herzblut hinpulsirte“. Diese Rekonstruktion könne aber, ihrer Befangenheit wegen, keine moralisch fundierte Kritik leisten, sondern bloß eine, die am „Fortschritt des Wissens“ ihr Maß habe; die Rede ist von immanenter Kritik. „Es wird nicht das particulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform construirt, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben, und damit zugleich darüber hinausgegangen“.[3] Anstelle des mißbilligenden Deutens auf sogenannte Unzulänglichkeiten Hegelschen Denkens habe die wahre Kritik sie aus ihrem Grund heraus zu begreifen und damit an ihnen selbst als unwahr zu widerlegen.

Diese erste Marxsche Erklärung des Begriffs der „philosophischen Kritik“ ist 1842 in einen Artikel der Rheinischen Zeitung wiederaufgenommen und weiter entwickelt worden. In einer Art Glosse gegen die Historische Rechtsschule und ihren Vorläufer Gustav Hugo demonstrierte Marx den in Wahrheit romantischen Hintergrund von Hugos vermeintlichem Kantianismus und sprach in diesem Zusammenhang von einem „Betrug“. Darüber hinaus verglich er die „gemeine Skepsis“ der Historischen Rechtsschule mit der „Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts“, d.h. mit der skeptischen Note der durch Kant beeinflußten und ins Subjektive modifizierten Aufklärungsphilosophie. Während die Skepsis der Historischen Rechtsschule den Schein von Rationalität nur deswegen kritisiert, um sich dem bloß Positiven nur umso bedingungsloser auszuliefern, sucht die aufgeklärte Kritik das hinter diesem Schein verborgene Wesen sichtbar werden zu lassen. Dieses Wesen gibt sich dem geschichtlich geübten Blick als die „Loslösung des neuen Geistes von alten Formen, die nicht mehr werth und nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“, zu erkennen. Hier kann man einerseits mutmaßen, dass es sich um eine hegelianisierende Interpretation der Kantischen praktischen Philosophie handelt. Allerdings sollte man sich andererseits nichts vormachen: Marx vertritt keinesfalls einen Moralismus, dessen Spezifikum es ist, die Historie an noch dazu apriorischen Sollensmomenten zu blamieren. Nicht um eine abstrakte Idee der Vernunft, nicht um das Kantische Noumenon eines subjektiven Geistes geht es ihm, sondern darum, den Begriff der in sich notwendigen geschichtlichen Entwicklung zu erfassen. Die Skepsis des 18. Jahrhunderts zertrümmerte bloß das Zertrümmerte, verwarf das ohnehin Verworfene. Der „neue Geist“ hingegen befreite sich von den „alten Formen, die dank der eigenen Entwicklung dieses Geistes nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“. Kantisch an diesem durch Hegel vermittelten Standpunkt ist allenfalls noch die insgesamt aufklärerisch-kritische Grundeinstellung bei Marx. Ohne eine auch praktisch werdende Kritik gibt das „Verworfene“ dem „neuen Leben“ keinen Raum, der „neue Geist“ bleibt an die „alten Formen“ gebunden und man wird Zeuge der „Verfaulung“ einer Welt, die sich in diesem Zerfallsprozess „selbst genießt“.[4] Die Kritik, so läßt sich zusammenfassend sagen, ist keine, die die Welt an einer externen Rationalität blamieren möchte, sondern sie selbst ist nichts weiter als eine rationale Betrachtung geschichtlicher Abläufe, sozusagen deren Selbstbewusstwerden, wodurch, so die Unterstellung, der Boden bereitet wird für die Verwirklichung wahrer Rationalität.

In dem Manuskript Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie (ZKhR) und dem Briefwechsel von 1843, der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde, gibt Marx der Idee der „philosophischen Kritik“ ihre endgültige Gestalt. In der ZKhR kontrastiert er sie sowohl dem spekulativen Dogmatismus Hegels als auch dem „entgegengesetzten, dogmatischen Irrthum“ der „vulgären Kritik“, d.h. derjenigen der Berliner Gruppe der Freien, deren wichtigste Mitglieder Bruno Bauer und Max Stirner waren. Die „vulgäre Kritik“ nimmt in Hinblick auf die empirische Wirklichkeit eine arrogante Haltung ein. Sie befaßt sich mit den Widersprüchen des Bestehenden nur deswegen, um, in intellektuellem Hochmut, alles Reale und die in ihr beheimatete menschlich-sinnliche Praxis inklusive der sogenannten „Masse“ verachten zu können. Beschäftigt sich die „vulgäre Kritik“ beispielsweise mit der Verfassungsfrage, dann macht sie lediglich „auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc.“ und „findet überall Widersprüche“. Sie ist „selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft, so wie man früher etwa das Dogma der heiligen Dreieinigkeit durch den Widerspruch von 1 und 3 beseitigte“. Die „wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung“ dagegen „faßt“ die Widersprüche „in ihrer eigenthümlichen Bedeutung“, „begreift ihre Genesis, ihre Nothwendigkeit“, und „zeigt die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn“.[5]

Kurze Zeit später, in einem Brief vom September 1843, behauptet Marx, dass die „kritische Philosophie“ sich auf zwei Bereiche erstrecken müsse: den des Theoretischen von Religion und Wissenschaft und den des Praktischen der Politik. Ihre Aufgabe sei die „Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf“. Das Thema des „Selbstbewusstseins“ nimmt also immer noch einen zentralen Platz im Marxschen Denken ein. Das Neue im Vergleich zu den anderen Texten besteht hier allerdings in einem merklichen Einfluss Feuerbachs, der im Februar 1843 die Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie veröffentlicht hatte. Marx schreibt an Ruge: „Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.“[6] Es handelte sich letztlich darum, die Kritik über die Grenzen des Feuerbachschen Denkens hinauszuführen, da dieses in dem engen theoretischen Rahmen der Religion und Wissenschaft gefangen war. Zu bedenken freilich bleibt auch: Die Feuerbachsche Anthropologie wird dennoch zum entscheidenden Vorbild für die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie.

II

Mit der Waffe der Kritik ausgerüstet war Marx für seine Abrechnung mit der Staatsphilosophie Hegels gewappnet. Seit Ende 1841 hatte er angefangen, an einem gegen die Philosophie Hegels – besonders gegen seine Theorie des Staates – gerichteten Artikel zu arbeiten. Im März 1842 verspricht er Ruge einen Text zu liefern, dessen Kern „die Bekämpfung der constitutionellen Monarchie als eines durch und durch sich widersprechenden und aufhebenden Zwitterdings“[7] sei. Diesen Beitrag, der in den Deutschen Jahrbüchern oder in den Anekdota hätte erscheinen sollen, blieb Marx schuldig, was auf seine immer intensivere Mitarbeit – zuerst als Beiträger, ab Oktober 1842 als Chefredakteur – an der Rheinischen Zeitung zurückgeführt werden kann. Außerdem wurde ihm wohl bewusst, dass diese praktisch-politisch motivierte Tätigkeit ihn zu einer Auseinandersetzung mit Problemen führte, deren Lösung eine tiefere Untersuchung der bestehenden materiellen Verhältnisse verlangte. Die seit Oktober 1842, seit seiner Arbeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung zu konstatierende progressive Radikalisierung der Marxschen Kritik war auch verursacht durch seine Unzufriedenheit hinsichtlich seiner eigenen Einschätzung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Retrospektiv hat er diesen Zusammenhang 1859 in der Vorrede Zur Kritik der politischen Ökonomie notiert: „Im Jahr 1842-43, als Redakteur der ‚Rheinischen Zeitung‘, kam ich zuerst in die Verlegenheit über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen“. Marx beschloss, sich von „der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehn“, und fährt dann fort: Die „erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegel’schen Rechtsphilosophie“.[8]

Die namhaft gemachte Berücksichtigung der „materiellen Interessen“ kommt dann bereits in den im Oktober und November 1842 in der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Artikeln Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz zum Zuge. Hier ergreift er Partei für die Interessen der verarmten Teile der Bevölkerung, denen selbst das Sammeln des trockenen, von den Bäumen gefallenen sogenannten ‚Raffholzes‘ verboten worden war. Die bedingungslose Subsumtion des Einzelnen unter die Allgemeinheit des Staates und das verabsolutierte und keine Ausnahmen duldende Recht des Privateigentums wird scharf kritisiert. Dem zum Handlanger des Privateigentums pervertierten Staat wird die Idee eines Staates kontrastiert, der sich vor allem auch der Interessen der verarmten Klasse anzunehmen hätte. Dessen Gewohnheitsrecht, die gemeinsten Bedürfnisse des menschlichen Lebens zu befriedigen, werde ihm durch das Recht auf Privateigentum ganz prinzipiell streitig gemacht.

Eine eigentümliche Mischung von Moral und Kritik bestimmt Marx‘ Argumentation. Das Holzdiebstahlsgesetz setzt diejenigen ins Unrecht, die, aus purer Not, sich an dem Recht auf Privateigentum vergreifen. Anstatt nun aber gegen einen Staat zu polemisieren, der prinzipienfest die Drangsale der von seiner Gesetzgebung unmittelbar Betroffenen missachtet, erteilt Marx ihm überraschenderweise einen Rat: des „instinktiven Rechtssinns“ seiner verarmten Klasse eingedenk zu sein, sprich, den Gerechtigkeitssinn derselben zu instrumentalisieren, um sie so zur wirklichen Teilnahme am Gemeinschaftsleben zu motivieren.[9] Das institutionalisierte Elend wird politisiert und ausgerechnet einem Staat, der das Sterben gerade erst legalisiert hat, wird angetragen, er möge auch die positiven und legitimen Eigenarten der Sitten der Armen, zu denen eben das Holzsammeln gehört, juristisch anerkennen. Nichts ist leichter und vor allem, in des Wortes doppelter Bedeutung, billiger zu haben als das: Die Eingemeindung der Paupers in den gemeinsamen Wertehimmel.

Immerhin, eine derart affirmative Kritik schien Marx dann doch nicht zufriedenzustellen. Ihm wurde klar, dass er – spiegelverkehrt – den wirklichen Zustand der Gesellschaft zu einer abhängigen Variablen des Rechtswesens des Staates gemacht hatte. Armut ist danach kein soziales Faktum, sondern wird aus der Abwesenheit des politischen Oberaufsehers abgeleitet, wo sie doch, umgekehrt, gerade erst durch die staatliche Gesetzgebung für rechtens erklärt worden ist. Denn genau dafür steht, darüber hinaus, das von Marx selbst geforderte Gewohnheitsrecht der armen Klasse: Es läßt, ein bloß moralisches Palliativ, die Armut innerhalb der sozialen Wirklichkeit unverändert bestehen, indem es ihr lediglich eine politisch-gesetzliche Einkleidung gibt. Die bürgerliche Gesellschaft ist und bleibt eine Klassengesellschaft mit der „Abstraktheit des Staates“ als gesetzgebendem Oberaufseher auch und gerade dann, wenn er sich des Bodensatzes der Gesellschaft rechtsförmlich in der Art annimmt, dass er seine prinzipielle Benachteiligung dadurch festschreibt, daß er ihn unter die – partikulären – Interessen des Privateigentums subsumiert. Faktisch zu kurz gekommen kann der Schein gepflegt werden, als kämen auch die Bedürfnisse der ausnahmslos Unterlegenen zu ihrem Recht. Marx hat, m.a.W., inzwischen die Akkommodation an die ontologisch untermauerte Überlegenheit des Staates selbst durchschaut, deren partieller Fürsprecher er kurz zuvor noch gewesen war.

Im philosophiehistorischen Kontext liest sich das dann als eine Art Bekenntnis etwa so: „Meine Untersuchung mündete in das Ergebniß, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in der politischen Oekonomie zu suchen sei.“[10] Marx‘ Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie ist ein Dokument des Übergangs einer zum Teil idealistischen Position eines kritischen Materialisten, der sich in den 50er Jahren endgültig den ökonomischen Fragen des Kapitals zuzuwenden begann.

III

Nach seiner Zeit bei der Rheinischen Zeitung ist Marx nach Kreuznach übergesiedelt, wo er am Vormittag des 19. Juli 1843 Jenny von Westphalen heiratete. Sie sind beide bis Oktober des Jahres in Kreuznach geblieben. Während dieser Zeit wartete Marx auf Nachrichten von Ruge, der ihn über das Datum und den Ort der Veröffentlichung der Deutsch-Französischen Jahrbücher[11], an denen Marx als Beiträger und Mitverleger mitzuarbeiten sich verpflichtet hatte, unterrichten wollte. Unterdessen studierte er die Geschichte der Französischen Revolution und die Klassiker der politischen Philosophie und nahm eine „kritische Revision“ der Hegelschen Philosophie des Rechts vor. Aus dieser Auseinandersetzung mit Hegel ging ein Manuskript von 157 Seiten hervor, in dem Marx große Teile der Grundlinien der Philosophie des Rechts – es handelt sich dabei hauptsächlich um die §§ der dritten, dem Staate gewidmeten Abteilung – abschrieb und kommentierte.[12]

Das Hauptthema der Marxschen Kritik an der politischen Philosophie Hegels ist die für die Moderne charakteristische Behauptung eines Gegensatzes zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft und der Hegelsche Versuch, diese Extreme theoretisch nach dem Vorbild der preußischen konstitutionellen Monarchie zu versöhnen. Die Marxsche Kritik gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, die Widersprüche oder Akkommodationen Hegels lediglich zu benennen, und erschöpft sich ebensowenig in der Absicht, dem preußischen Staat die Vision eines idealen Gemeinwesens zu kontrastieren. Die „wahrhaft philosophische Kritik“ hat nach Marx vielmehr die „Genesis“ und die „Notwendigkeit“ der wirklichen Widersprüche zu erfassen, egal ob es sich um Widersprüche des preußischen Staates, des modernen Staates oder der Hegelschen Philosophie handelt. Die Widersprüche der Hegelschen Philosophie werden aus ihr selbst heraus erklärt, d.h. aus den ontologischen Voraussetzungen der Hegelschen Spekulation, die den zentralen Gegenstand der Marxschen Kritik bildet. Erst auf der Grundlage der Kritik der spekulativ-logischen Voraussetzungen kommt Marx zu dem hieraus abzuleitenden speziellen Fall der Hegelschen Staatsauffassung.

Die Kritik der Spekulation, womit das Manuskript beginnt, ist eine grundsätzliche, wenn man so will, ontologische Kritik. In dem § 262 bestimmt Hegel den Staat als die „wirkliche Idee“, als den „Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet (…)“. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind laut Marx „das Treibende“, die „conditio sine qua non“, die „Voraussetzungen“ des Staates: „Das Faktum ist, daß der Staat aus der Menge, wie sie als Familienglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft existire hervorgehe“. Spekulatives Denken spricht jedoch dieses Faktum „als That der Idee“ aus, „nicht als die Idee der Menge, sondern als That einer subjektiven von dem Factum selbst unterschiedenen Idee“, und verleiht ihm dadurch eine logisch-vernünftige, von der realen Tatsache unabhängige und verselbständigte Form. Die empirische Wirklichkeit „ist nicht vernünftig wegen ihrer eigenen Vernunft, sondern weil die empirische Thatsache in ihrer empirischen Existenz eine andre Bedeutung hat, als sich selbst“, da sie „nicht als solche, sondern als mystisches Resultat gefaßt“ wird.[13] Die Hegelsche Spekulation verkehrt das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat: „Die Bedingung wird aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Producirende wird als das Product seines Products gesetzt“. Die „wirklichen Subjekte“, Familie und bürgerliche Gesellschaft, werden in Prädikate der Idee verwandelt, während die Idee, das abstrakte Prädikat, „versubjektivirt“ wird. Wenn aber einerseits die Wirklichkeit, die „gewöhnliche Empirie“, „nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen“ wird, dann hat andererseits die versubjektivierte wirkliche Idee „nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein“[14]. Die von Hegel durchgeführte Verkehrung ist keine der empirischen Wirklichkeit – das wäre dann so etwas wie ein Wunder –, sondern allein ihrer „Betrachtungsweise“ oder „Sprechweise“. Hegel gibt der Wirklichkeit eine bloß „scheinbare Vermittlung“, „die Bedeutung einer Bestimmung“, „eines Resultats, eines Produkts“ der Idee, aber er lässt den Inhalt, die Wirklichkeit selbst völlig unberührt.

Die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie ist, wie bereits erwähnt, stark von Feuerbach beeinflusst worden. Dieser Einfluss wurde jedoch von den Kommentatoren oft falsch verstanden; Marx sollte lediglich die Positionen des Subjekts und des Prädikats mehr methodisch als urteilstheoretisch vertauscht und so Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt haben.[15] Marx privilegiert aber in Wahrheit nicht das methodologische Verfahren eines bloßen Austauschs von Subjekt und Prädikat, sondern er konzentriert sich vielmehr auf die Kritik der (onto-)logischen Voraussetzungen, die diesen Stellentausch provozieren. Er setzt also mit seiner Kritik eine Stufe tiefer an. Was Marx als das „Geheimnis“ der Hegelschen Spekulation denunziert ist, dass bei Hegel die Ontologisierung der Idee mit der Ent-Ontologisierung der empirischen Wirklichkeit Hand in Hand geht: Die Idee wird empirisch-real und die Realität wird zum logischen Setzungsakt eines imaginierten Geistes. Konkret gewendet: Die Idee des Staates ist der Schöpfer einer entsprechend vergeistigten Familie und bürgerlichen Gesellschaft. „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt“.[16] Der urteilstheoretischen Umkehrung des Subjekt-Prädikatsverhältnisses korrespondiert dann die ontologische Umkehrung zwischen den empirisch-realen und den idealen Bestimmtheiten, dem konkreten Inhalt und der abstrakten Idee oder, kurz, dem Sein und dem Denken. Die in ein wirkliches Subjekt verwandelte Idee hat dann konsequenterweise die Macht, aus sich selbst, einer creatio ex nihilo gleich, endliche Bestimmtheiten zu entlassen. Sie „erniedrigt sich nur in die ‚Endlichkeit’ der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre Aufhebung ihre Unendlichkeit zu genießen und hervorzubringen“. Das endliche Sein ist nach dieser im übrigen an den Gottesbeweisen der Scholastik orientierten Auffassung nichts weiter als das objektive Moment der unendlichen Idee, das endliche Prädikat des unendlichen Subjekts. Marx kontrastiert diesem theistischen Konstrukt, und zwar unter dem Einfluss Feuerbachs, ein wissenschaftlich zu erforschendes bestimmtes, reales Sein. Seine Logik soll durch die Arbeit des Gedankens erarbeitet werden. In Feuerbachs Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie liest sich das so: „Der Gedanke ist bei H[egel] das Sein; – der Gedanke das Subjekt, das Sein das Prädikat. (…) Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat.“[17]

Feuerbachs Kritik der Hegelschen Spekulation richtet sich also ebenfalls nicht gegen einen bloß methodologischen Fehler, sondern weist das Falsche innerhalb der ontologischen Bestimmung selbst nach, auf der die Methode beruht. Der Gott der Theologen ist folglich kein Geschöpf der wirklichen Menschen, sondern der Geschaffene wird, umgekehrt, zum Schöpfer stilisiert.[18] Das Abhängigkeitsverhältnis wird passenderweise nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch verkehrt. Die theoretische Akkommodation zeitigt unmittelbar, ganz im Sinne des Erfinders, praktische Folgen. Die logische Frage nach dem „Subjekt“ konzentriert sich dann auf die grundsätzliche ontologische Frage: „wer ist das Sein“, bzw. „das Wirkliche“. Die Antwort Feuerbachs auf dieses künstliche Dilemma lautet kurz und bündig: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche.“[19]

Auch Marx setzt sich, genau genommen, nicht nur mit Hegels Logik auseinander, sondern auch er konzentriert sich auf die dieser Gedankenwelt zugrundeliegenden realen Bestimmungen. Marx nimmt nicht vorrangig Anstoß an einer falschen Verwendung der Logik, und an einer Berichtigung derselben ist ihm allenfalls mitlaufend gelegen. Gerade weil sich bei Hegel die Logik letztlich gegen ihre realen Gründe verselbständigt hat, ist es nur konsequent, wenn sie, ein beliebig zu verwendendes Instrument des Gedankens, ein von den zu erkennenden Objekten getrenntes Eigenleben führt; sie weiß etwas, ohne sich auf die Gegenstände ihres Wissens eingelassen zu haben, eben weil es bloß diejenigen ihres Wissens sind. Freilich kann eine derartige formale Logik korrekt funktionieren, ja, sie muß es sogar, sofern man sich bei den jeweils vollzogenen Urteils- und Schlussformen regelkonform verhalten hat. Mit dem gedanklich zu erschließenden „spezifischen Wesen“ der empirischen Realität haben diese am Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs orientierten Formalismen allerdings überhaupt nichts zu tun. Eine Übereinstimmung zwischen den Formen des Gedankens und denen der Wirklichkeit ist hier purer Zufall und ein lediglich mögliches Resultat vorausgegangener Willkür. Ihr fehlt eben die Einsicht in die in der Sache begründete „Notwendigkeit“, weil sie nur, gemäß den Kriterien einer ausgewachsenen Vorurteilskunde, die Notwendigkeit des verselbständigten und anschließend objektivierten Gedankens reflektiert: „Hegel begnügt sich damit. Auf der einen Seite: Kategorie ‚Subsumtion’ des Besondern etc. Die muß verwirklicht werden. Nun nimmt er irgendeine der empirischen Existenzen des preußischen oder modernen Staats (wie sie ist mit Haut und Haar), welche unter anderm auch diese Kategorie verwirklicht, obgleich mit derselben nicht ihr spezifisches Wesen ausgedrückt ist. Die angewandte Mathematik ist auch Subsumtion etc. Hegel fragt nicht, ist dies die vernünftige, die adäquate Weise der Subsumtion? Er hält nur die eine Kategorie fest und begnügt sich damit, eine entsprechende Existenz für sie zu finden. Hegel gibt seiner Logik einen politischen Körper; er gibt nicht die Logik des politischen Körpers.“[20]

Was Hegel also fehlt, ist nicht eine wie auch immer brauchbare Logik nach dem Vorbild der Mathematik etwa, sondern die Einsicht in eine „vernünftige“, d.h. „adäquate Weise“ der „Subsumption“. Ihm ist ironischerweise beim Denken das Kriterium jeder logischen Kategorie abhanden gekommen: nichts weiter als ein Vehikel des theoretischen Einblicks in die wie auch immer geartete ontologische „Notwendigkeit“ zu sein. Folglich produziert sein sich selbst denkendes Denken immer bloß Denksetzungen oder kurz: Tautologien. Marx hingegen interessiert sich für gewisse Bereiche der von ihrer spekulativen Reduzierung auf ein bloßes Erscheinen der logischen Idee befreiten empirischen Realität, also in der Folgezeit beispielsweise für die Verwertungsformen des Kapitals.

In dieser, wenn man so will, neuerlichen kopernikanischen Revolution wird das Gravitationszentrum der Logik neu bestimmt. Der Gedanke der Sache hat einer der Sache und ihrer Bestimmungen zu sein.

IV

Der zweite Aspekt der Marxschen Kritik kreist um das Thema der politischen Entfremdung. Der politische Staat und seine Verfassung ist laut Marx der verselbständigte „Gattungswille“ des tatsächlichen Souveräns. Das Volk ist der „wirkliche Staat“, die Grundlage der Verfassung, weil es die konstituierende Gewalt ist; die Verfassung ist entsprechend nichts weiter als die konstituierte Gewalt. Die politische Entfremdung besteht folglich darin, dass sich das Volk seinem eigenen Werk unterwirft, bzw. ihm durch das Macht- und Gewaltmonopol des Staates unterworfen wird. Was das „Ganze“ war, wird jetzt zum bloßen funktionalen Anhängsel, und vice versa. Das Volk, das vorher der „wirkliche Staat“ war, wird seines Gattungsinhalts beraubt, der nunmehr auf der politischen Ebene hypostasiert wird. Das Ergebnis ist der Gegensatz des Staates und seiner Verfassung von der bürgerlichen Gesellschaft oder von politischem und unpolitischem Staat.

Dieser für den modernen Staat typische Gegensatz ist hinter dem Hegelschen Schleier der Spekulation nicht mehr wahrnehmbar. Der Staat ist für ihn die Verwirklichung des freien, vernünftigen Willens. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts verwirklicht sich der Staat dadurch, daß er die abstrakten Stufen der Familie und bürgerlichen Gesellschaft aufhebt und seine Einheit als konkrete Allgemeinheit realisiert. Der Staat ist der selbstbewusst gewordene freie Wille: „der freie Wille, der den freien Willen will“,[21] und der vernünftige Zweck des Menschen ist das restlose Aufgehen im Staat. In den drei Gewalten der Verfassung ist die Idee des Staates als eine Einheit von Gegensätzen begriffsadäquat verwirklicht.

Nach Marx jedoch ist die Verfassung „nichts als eine Akkommodation zwischen dem politischen und unpolitischen Staat”, ein „Traktat wesentlich heterogener Gewalten“. Sie ist ein Gegensatz von “wirklichen Extremen”, ein “mixtum compositum”.[22] Dieser Dualismus liegt Hegels Konstrukt der konstitutionellen Monarchie zugrunde: Die in der Person des Monarchen Gestalt gewordene fürstliche Gewalt, die der personifizierte Staat ist, abstrahiert von der Pluralität der „Personen“ – den vielen „Einzelheiten“, die das Volk bilden – (§§ 275-286). Die für die Regierungsgewalt tätige Bürokratie der Privilegierten bildet eine Korporation gegen die bürgerliche Gesellschaft (§§ 287-297). In der gesetzgebenden Gewalt schließlich tritt der Gegensatz zwischen der empirischen Einzelheit des Fürsten und der empirischen Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft offen hervor. Er setzt sich fort in der Differenz zwischen der Regierung und den Ständen, um schließlich in der leicht absurden Form der von den Majoratsherren gebildeten zweiten Kammer in Erscheinung zu treten (vgl. die §§ 298-313).

Die Verfassung ist laut Hegel, der hierin Montesquieu folgt, nicht etwa ein Kodex positiver Gesetze, sondern das Produkt des Volksgeistes, in den sich die hauptsächlichen Bestimmungen des vernünftigen Willens zusammenfassen. Um konsequent zu sein, sollte eine solche Auffassung Marx zufolge den Menschen zum „Prinzip der Verfassung“ machen, die „in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip hat, mit dem Bewußtsein fortzuschreiten“.[23] Als etwas Besonderes muss die Verfassung ein „Teil des Ganzen“, also ein Moment des „Gattungswillens“ sein. Insofern er das wahrhaft Allgemeine ist, muss er auch das Ganze sein. In der Hegelschen Spekulation jedoch werden diese zwei Bedeutungen durcheinandergebracht: obgleich Hegel die Verfassung als etwas Allgemeines zu behandeln vorgibt, entwickelt er sie vielmehr als etwas Besonderes. Genau deswegen hat das in einen subordinierten Teil der Verfassung verwandelte Volk kein Recht, „die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[24] Das entpolitisierte Volk ist, bar seines Gattungswesens, zu einer atomistischen Menge, einer gestaltlosen Masse pervertiert worden, die vom verselbständigten Staat eine seinem jeweiligen Kalkül gemäße politische Form verpaßt bekommt. Das Volk tritt entsprechend nicht als es selbst, als der „ganze Demos“ auf, sondern als die auf das ständische Moment reduzierte bürgerliche Gesellschaft. Das ist nach Marx die erste „ungelöste Kollision“ innerhalb des Verfassungsbegriffs: Die Kollision „zwischen der ganzen Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt“[25].

Die zweite Kollision, als direkte Folge der ersten, ist „die zwischen der gesetzgebenden und der Regierungsgewalt, zwischen dem Gesetz und der Exekution“. Durch sie verliert die gesetzgebende Gewalt ihre unterstellte Allgemeinheit und wird ein bloßer „Teil“ des Ganzen, eine besondere Gewalt neben anderen Gewalten: es ist „also dem Gesetz unmöglich, auszusprechen, daß eine dieser Gewalten, ein Teil der Verfassung, das Recht haben solle, die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[26] Der Konflikt zwischen dem Volk und dem politischen Staat stellt sich auf diese Weise als der Konflikt des „Volkes en miniature“ – der gesetzgebenden Gewalt – mit der Regierungsgewalt dar.

Die Marxsche Kritik an der politischen Entfremdung ist zu diesem Zeitpunkt im übrigen unauflöslich mit dem Denken Rousseaus verknüpft. Beide bemängeln, dass die Regierungsgewalt nicht mehr ein dem allgemeinen Willen unterworfener „Teil“ sei. Sie tritt diesem Willen als selbständige Gewalt entgegen, so dass der allgemeine Wille umgekehrt nichts weiter ist als die abhängige Variable der besonderen Gewalt des Staates. Mit der theoretischen Lösung dieses Problems ringt auch der Aufklärer Rousseau. Marx gibt ihm allerdings eine praktische Wendung: „Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist.“[27]

Folglich macht sich Marx in ZKhR für die Entwicklung einer Idee von Demokratie stark, die im Widerspruch steht zur Hegelschen Verteidigung der lediglich abgemilderten Souveränität des Monarchen. In der Monarchie, sowie in allen von der Demokratie abweichenden Staatsformen „hat dies Besondre, die politische Verfassung, die Bedeutung des alles Besondere beherrschenden und bestimmenden Allgemeinen“[28] In der Demokratie hingegen „ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er politische Verfassung ist“.[29] In der Demokratie ist die Macht des allgemeinen Willens nicht von derjenigen des politischen Staates entfremdet. Er verwandelt sich in ihr nicht in einen besonderen, vom Staat getrennten Inhalt: „In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt“.[30] Die Demokratie ist daher die „Wahrheit“, die „Gattung“, „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“.

Es ist allerdings zu beachten, dass in Marx‘ Gedankengang zwei Aspekte der „Demokratie“ unterschieden werden müssen: sie ist zum einen, als „Gattung“, die „wahre Demokratie“ und als „Spezies“ die „politische Republik“. Die „wahre Demokratie“ ist ein politisches Prinzip und nicht etwa ein real existierender Staat. Sie bedeutet die vollständige Verwirklichung des Staates als konkrete Allgemeinheit, die wahre Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. In der wahren Demokratie „geht der politische Staat” genauso „unter“ wie der unpolitische Staat, d.h. die bürgerliche Gesellschaft.[31] Mit dem Begriff „politische Republik“ dagegen charakterisiert Marx die Demokratie innerhalb des „abstrakten Staats“, also die bestehende, noch nicht völlig verwirklichte Demokratie. In diesem Staat, obwohl hier die Verfassung letztlich noch eine politische ist, hört sie doch auf, „nur politische Verfassung zu sein“, und das bedeutet, dass die unpolitischen Ebenen schon von dem politischen „Gattungsinhalt“ durchdrungen sind.

Innerhalb des abstrakten Staates tritt die Frage der politischen Entfremdung in der Form des Gegensatzes zwischen repräsentativer und ständischer Verfassung in Erscheinung. Gegen die bloße Repräsentation der Stände verteidigt Marx „die Ausdehnung und möglichste Verallgemeinerung der Wahl, sowohl des aktiven, als des passiven Wahlrechts“.[32] Hier trifft sich das Marxsche Denken wieder mit demjenigen Rousseaus. Der von der Besonderheit der Interessen geprägt Wille aller (volonté de tous) verwandelt sich in den allgemeinen Willen (volonté générale) vermittelst der „Differenzsumme“ dieser Interessen. Das Volk „will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht“.[33] Ein Quidproquo stellt sich in dem Augenblick ein, wenn sich Gesellschaften (Parteien, Vereinigungen) innerhalb des Volkes zu konsolidieren beginnen: „so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner“ und „die Differenzen werden weniger zahlreich und führen zu einem weniger allgemeinen Ergebnis“. Am Ende dieses Prozesses „gibt es keinen allgemeinen Willen mehr, und die Ansicht, die den Sieg davonträgt, ist trotzdem nur eine Privatansicht“. Gegen diese Fehlentwicklung gibt es, laut Rousseau, nur das eine Mittel, dass „es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll“.[34]

Bei Marx sollten entsprechend die Einzelnen nicht unter die politisch-ständische Form der gesetzgebenden Gewalt subsumiert werden, sondern als Einzelne (als der „ganze Demos“) an dem jeweiligen Staat vermittelst der nach Möglichkeit allgemeinen Wahl teilnehmen. Damit werde die „bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben“, also – mit Rousseau gesprochen – nicht mehr zu einem Konglomerat gegensätzlicher Privatinteressen, sondern zu einer „Differenzsumme“, die zur Bildung des allgemeinen Willens führe. Die Vollendung dieses Prozesses der Verallgemeinerung der bürgerlichen Gesellschaft sei die „Aufhebung“ der Abstraktion selbst: „Indem die bürgerliche Gesellschaft ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Andres, sein Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staats die Forderung seiner Auflösung, aber ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft.“[35]

Hegels Verteidigung der ständischen Verfassung hingegen beruht auf der Auffassung des Volkes als „einer formlosen Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich“ ist. Volk und Staat sind bei Hegel die zwei Extreme eines Syllogismus‘, dessen Vermittlung durch die Stände geschieht. Laut Marx sind die Stände jedoch keine Auflösung, sondern vielmehr die Verwirklichung des Gegensatzes innerhalb des politischen Staates.

Bei Gelegenheit der Kommentierung der §§ 302-304 denunziert Marx die Unzulänglichkeiten des Hegelschen Systems der Vermittlungen.[36] Erstens begeht Hegel Marx zufolge einen Paralogismus, da er die Bedeutung der Stände innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit jener Bedeutung identifiziert, die die Stände auf der politischen Ebene haben. Hegel begreift als reflexives Verhältnis, was laut Marx ein bloßes Abstraktionsverhältnis ist. Die politischen Stände sind für Marx kein Reflex der privaten Stände, also eines vermeintlich Anderen, sondern sie sind nichts weiter als die Abstraktion dieser Stände: Die bürgerliche Gesellschaft wird als „nicht vorhanden”[37] gesetzt. Das politisch-ständische Element bedeutet daher nicht die Aufhebung der Unterschiede innerhalb der gesellschaftlichen Stände – eine wirkliche Vermittlung des Widerspruchs –, sondern das Zudecken dieser nach wie vor bestehenden Unterschiede vermittelst ihrer Eingliederung in eine anachronistische mittelalterliche, politische Form.

Zweitens kaschiere das Hegelsche System der Vermittlungen eine tatsächliche, unversöhnliche Opposition zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Sie sind, Marx zufolge, wirkliche Extreme, die „nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind“. Zwischen ihnen kann es kein reflexives Verhältnis geben, da sie „nichts miteinander gemein“ haben; „sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einander nicht“.[38] Unter dem Einfluss Feuerbachs stellt Marx hier zwar dem Begriff „Reflexion“ einen anderen Begriff der Hegelschen Logik gegenüber: den Begriff der „Selbstbestimmung des Subjekts“.[39] Als wirklicher Staat muss die bürgerliche Gesellschaft die Selbst- bzw. Gattungsbestimmung in sich selbst verwirklichen, weil ansonsten der Staat zu einer „allegorischen, untergeschobenen Bestimmung” wird. Durch die demokratisierte gesetzgebende Macht ist die politische Qualität des Menschen – jeder Einzelne als Moment des Gattungswesens – nicht mehr ein von seiner gesellschaftlichen Qualität getrenntes Wesen. Umgekehrt formuliert: Die gesellschaftliche Qualität des Menschen beweist in der demokratischen Repräsentation ihre politische Eigenart, ihr Gattungswesen. Im Unterschied zu anderen Staatsformen schafft die wahre Demokratie kein politisches Fundament für eine rein private Existenz des Menschen, sondern gibt ihm sein eigenes politisches Wesen bzw. sein „Gattungsdasein“ zurück. Denkt man Rousseau und Feuerbach zusammen, dann kommt es zu einer Synthese der politischen mit der Gattungsrepräsentation. Jeder Mensch repräsentiert den jeweils anderen, weil „jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eignen Wesens repräsentiert“. Er ist Repräsentant nicht mehr im Sinne der dualistischen, politisch-abstrakten Repräsentation, oder kurz, er ist „nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut“.[40]

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Der vorliegende Text ist die überarbeitete deutsche Version der „Einleitung“ der brasilianischen Ausgabe von Marx’ Zur Kritik des hegelschen Rechtsphilosophie, die vom Autor übersetzt wurde. Herr Dr. Frank-Peter Hansen war mir dankenswerter Weise bei der Übertragung ins Deutsche behilflich.
  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1820.
  3. Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA², I/1, 1975, S. 67.
  4. Karl Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, MEGA², I/1, 1975, S. 191-193. Vgl. auch Rubens Enderle, „O jovem Marx e o manifesto filosófico da Escola Histórica do Direito”, in: Crítica Marxista, n. 20, São Paulo 2005.
  5. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA², I/1, S. 100-101.
  6. Karl Marx, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA², I/2, S. 488.
  7. Karl Marx, Karl Marx an Arnold Ruge, 5. März 1842, MEGA², III/1, S. 22.
  8. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, MEGA², II/2, S. 99-100.
  9. Karl Marx, Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, MEGA². I/1, 1975, S. 209.
  10. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, a.a.O., S. 100.
  11. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher wurden erstmals im Februar 1804 in Paris veröffentlicht.
  12. Von dem originalen Text, der angeblich mit dem § 257 des Hegelschen Werkes anfing, sind die vier ersten Seiten verschollen. Deswegen fängt das uns heute bekannte Manuskript der ZKHS mit der Wiedergabe und dem Kommentar des § 261 an und dehnt sich bis auf den § 313 aus, übrigens viele §§ vor dem Ende des Dritten Abschnitts (§ 360). Außerdem fehlen der Pappdeckel und das vordere Deckblatt, was zu Spekulationen darüber führte, welchen Titel Marx diesem Werk geben wollte. Bei seiner ersten Veröffentlichung durch Rjazanov (MEGA¹) 1927 erschien der Text unter dem Titel „Karl Marx: Aus der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261-313)“. Seit der 1982 erschienenen Ausgabe der MEGA² wird er „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ genannt. Dies ist laut dem Verleger der wahrscheinlichste Titel des Werkes, da Marx einige Monate später in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern den Text „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ veröffentlichte. Vgl. MEGA², I/2, S. 584.
  13. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 9.
  14. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 8.
  15. Ein gutes Beispiel für diese metodologisch orientierte Interpretation ist Schlomo Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, Cambridge, Cambridge University Press, 1971, S. 10-17. Vgl. auch Miguel Abensour, La Démocratie cont re l’État. Marx et le moment machiavélien, Collège International de Philosophie Janvier 1997, P.U.F, S. 50 ff.
  16. Karl Marx, ZKhR, a.a.O, S. 16.
  17. Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“. Ludwig Feuerbach – Gesammelte Werke: Kleinere Schriften II. 1839-1846. (Bd. 9), Akademie Verlag, Bd. 9, Berlin 1970, S. 257.
  18. „Die spekulative Philosophie hat sich desselben Fehlers schuldig gemacht als die Theologie – die Bestimmungen der Wirklichkeit oder Endlichkeit nur durch die Negation der Bestimmtheit, in welcher sie sind, was sie sind, zu Bestimmungen, Prädikaten des Unendlichen gemacht.“ Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, a.a.O., S. 250-251.
  19. Ludwig Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“, a.a.O.., S. 316.
  20. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 52.
  21. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 27.
  22. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 61.
  23. A. o. O., S. 20.
  24. A. o. O., S. 61.
  25. Ebd.
  26. Ebd.
  27. Ebd.
  28. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 32.
  29. Ebd.
  30. Ebd.
  31. Ebd.
  32. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 130-131.
  33. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, übers. von Hermann Denhardt, Frankfurt am Main 2005, S. 64.
  34. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, a.a.O., S. 64-65.
  35. Karl Marx, ZKhr, a.a.O., S. 131.
  36. Zu einer detaillierten Analyse der Marxschen Kritik des Hegelschen Systems der Vermittlungen, vgl. Solange Mercier-Josa, Entre Hegel et Marx, Paris, L’Harmattan, 1999, S. 27-73.
  37. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 87.
  38. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 98.
  39. Vgl. dazu Solange Mercier-Josa, a.a.O., S. 38.
  40. Karl Marx, ZKhR, a.a.O.

Hansen, Frank-Peter: Vergessene Bücher V: Beiträge zur Logik von Alois Riehl, 26.09.08

Der nachfolgende Text hätte als nächstes im Marburger Forum unter der Rubrik „Vergessene Bücher“ erscheinen sollen. Möglicherweise geschieht dies auch noch. Ich weiß es nicht. – Daß ich ihn jetzt an dieser Stelle publiziere hat einzig und allein damit zu tun, daß ich mich in dieser Form von Max Lorenzen, dem Herausgeber des Forums und Mitinitiator dieser Reihe, verabschieden möchte. Er ist am 24. August an Herzversagen gestorben. Max Lorenzen war für mich ein stets freundlicher, aufmerksamer und zuvorkommender Gesprächspartner auch über die Entfernung der Städte hinweg, wofür ich mich – zu spät – an dieser Stelle bedanken möchte.

Von Alois Riehl stammt der beherzigenswerte Satz: „Nur wer sein Denken vorzugsweise an Sprachen erzogen und an die Regeln der Grammatik gewöhnt hat, mag auch von den Regeln des Geschehens in der Natur Ausnahmen für möglich halten oder die Naturgesetze bloß als Text-Interpretationen der Naturforscher betrachten“ (Ders.: Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1903, S. 264 f.). Ist dies die ahnungsvoll vorweggenommene Position des Wiener Kreises, dann kontrastiert dieser Mischung von Impressionismus und Formalismus bei dem Realisten Riehl die Einschätzung, daß das „Gesetz der Gravitation … mit allen Bewegungen der Himmelskörper und irdischen Fallerscheinungen (zwar, F.-P.H.) noch nicht gegeben (sei, F.-P.H.), obgleich es in jeder Fallbewegung enthalten ist. Kein Gesetz kann in eine Tatsache rein aufgehen, keines mit der bloßen Summe von Tatsachen gegeben sein, obschon es von allen Tatsachen gilt, die unter ihm stehen. Jedes Gesetz ist ein Satz mit einem Wenn: zwei Massenpunkte würden sich genau nach dem Gesetze ihrer Gravitation annähern, wenn sie allein in der Welt wären“ (S. 260).

Doch nicht um diese zweifelsohne lesenswerte Publikation soll es hier gehen und auch nicht um sein zweibändiges Hauptwerk Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, sondern um die kleinen, unscheinbaren Beiträge zur Logik, die in zweiter Auflage 1912 bei O.R. Reisland in Leipzig erschienen sind. Sie haben es faustdick hinter den Ohren, wie zu demonstrieren sein wird. Und außerdem: wer liest schon gern 1000 und mehr Seiten im Stück?! Bei Romanen mag das ja noch hingehen. Aber wissenschaftliche Fachliteratur in zwei bis drei stattlichen Bänden … Und dann ausgerechnet auch noch Wissenschaftstheoretisches und Logisches … Unwillkürlich schreckt man zurück und schiebt die Scharteken achselzuckend zurück ins Regal. So in diesem speziellen Fall nicht. Denn das Bändchen umfaßt lediglich 68 Seiten. Das ist locker zu bewältigen und zwar mit unverhältnismäßig großem Gewinn, heißt mit spürbarem Erkenntniszuwachs.

Zuvor jedoch: Wer war Alois Riehl? Er kam am 27.4.1844 bei Bozen in Südtirol zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Bozen und der Matura studierte er Philosophie, Geographie und Geschichte an den Universitäten Wien, München, Innsbruck und Graz. 1866 legte er das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. 1868 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Innsbruck, 1870 Habilitation an der Universität Graz. Dort war er bis 1873 Privatdozent und hatte danach eine a.o. Professur für Philosophie inne. 1870 erschien die Untersuchung Realistische Grundzüge. 1871 folgte die Abhandlung Moral und Dogma und 1872 Über Begriff und Form der Philosophie. 1878 wurde Riehl zum o. Professor für Philosophie an der Universität Graz berufen. Seit 1882 war er der Nachfolger von Wilhelm Windelband an der Universität Freiburg. 1876 und 1879 erschienen die Bände I und II,1 seines Hauptwerks Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. 1887 folgte abschließend der Band II,2. Mit diesem Grundlagenwerk, das sich mit der Geschichte und Methode des philosophischen Kriticismus, den sinnlichen und logischen Grundlagen der Erkenntnis und schließlich mit Fragen der Wissenschaftstheorie und Metaphysik auseinandersetzte, verfolgte Riehl die Absicht, Philosophie als reine Wissenschaft unter Ablehnung metaphysischer Spekulation durchzuführen. Die Metaphysik sollte durch die positiven Wissenschaften ersetzt werden. Riehl hatte in Freiburg einen schweren Stand, weil die Metaphysikkritik seines Zweiteilers in der katholischen Bischofsstadt als kirchenfeindlich bewertet wurde und entsprechend auf wenig Gegenliebe stieß. Konzessionen und Rücksichtnahmen aber hielt er in der Wissenschaft für genauso fehl am Platz wie zu befolgende Anstands- und Benimmregeln der akademischen und/oder konfessionell gebundenen Sittenwächter und Verlagszensoren, die, in der einen Variante, heute freilich mehr als damals den Ton in der Szene angeben und gegen den zu verstoßen nicht selten für den davon Betroffenen einem Verschwinden in der Versenkung und einem Vergessenwerden im intellektuellen Niemandsland gleichkommt. – 1896 erfolgte ein Ruf nach Kiel, 1898 die Berufung nach Halle/Saale. 1905 trat er die Nachfolge Wilhelm Diltheys auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin an. 1903 erschien Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 1904 Immanuel Kant. Alois Riehl ist am 21.11.1924 in Neubabelsberg bei Berlin verstorben. – Goethes Credo war auch dasjenige Riehls: „Die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Beharrlichkeit, es auszuführen.“ (Vgl. zum Folgenden auch meine Geschichte der Logik des 19. Jahrhunderts. Eine kritische Einführung in die Anfänge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000, S. 171-175)

Daß die Regeln der Grammatik nicht auch diejenigen der Natur und ihrer Wissenschaften sind, ist dem einleitenden Zitat zu entnehmen. Daß es darüber hinaus angezeigt ist, „die logische Gliederung einer Aussage von dem grammatischen Aufbau des Satzes zu unterscheiden“ hat damit zu tun, daß beispielsweise die Kopula einerseits bloß die „sprachliche Funktion“ hat, „der Aussage die Form eines Satzes zu geben“ (1). Andererseits besteht die logische Bedeutung der Kopula in ihrer prädikativen Natur. Schließt nämlich das bloße Bindewort „keineswegs die Behauptung der Existenz des Subjektes (und der davon abhängigen des Prädikates) des Satzes ein“, dann besteht die logische Bedeutung des Wörtchens „ist“ in dem „Wirklichsein oder Wahrsein“ (20) des ausgesagten Sachverhalts. Außerdem kommt im Urteilsakt „zur bloßen Vorstellung eines Begriffsverhältnisses die weitere Auffassung hinzu, daß dieses Verhältnis allgemeingültig und notwendig sei“ (21). Im Urteil wird von einer bloßen Vorstellung behauptet, daß sie eine Beschaffenheit des Wirklichen sei. Indem wir urteilen, schreiben wir „dem Inhalte Unabhängigkeit von unserem Vorstellen zu, sofern dieses lediglich als subjektive Tätigkeit betrachtet wird. Sooft wir urteilen, urteilen wir im Namen Aller, sei es, daß wir den Inhalt unseres Vorstellens auf die gemeinschaftliche, von unserem Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit beziehen oder ihm allgemeine, für jedes denkende Subjekt verbindliche Gültigkeit zuerkennen“ (17): Objektivität, Allgemeinheit und Notwendigkeit. Diese drei Bestimmungsstücke sind auf jeden Fall für wissenschaftliches Urteilen charakteristisch.

Bevor man urteilt, muß man jedoch nach Möglichkeit gedacht haben. Wie verhält es sich hiermit? Laut Riehl folgendermaßen: „Im Gegensatz zu den anschaulichen, konkreten und darum individuellen Vorstellungen der Sinne und der Einbildungskraft sind die Begriffe gedankliche, abstrakte und daher allgemeine Vorstellungen, welche in unserem Bewußtsein die Stelle der anschaulichen vertreten. Diese Sonderung gedanklicher Vorstellungen von den anschaulichen, den Wahrnehmungen und Erinnerungsbildern, wird durch die Sprache ermöglicht“ (2). Wort und Bedeutung sind, anders als später dann von Wittgenstein vertreten, untrennbar verbunden. Um also den Sinn einer Rede zu erfassen, bedarf es keiner Rückübersetzung in Bilder der Phantasie. Und stets sind es Begriffe und eben keine Anschauungsbilder, die in Rede und Schrift mitgeteilt werden. „Zwar klingen gleichsam die sinnlichen Vorstellungen, deren Stelle das bedeutsame Zeichen vertritt, in unserem Bewußtsein nach oder begleiten wie Schatten die Bewegung unseres Denkens. Man könnte das Zeichen als den Ausstrahlungsmittelpunkt für die betreffenden anschaulichen Vorstellungen betrachten. Müßten aber diese letzteren jedesmal über die Schwelle des Bewußtseins gehoben werden, um das Verständnis der Zeichen zu vermitteln, so würden wir niemals zu jener abgekürzten, verdichteten und darin der Wahrnehmung und Phantasie so überlegenen Art des Vorstellens befähigt sein, die wir, im Unterschied vom Anschauen, Denken nennen. Während die anschaulichen Vorstellungen so verschieden sind wie die Umstände ihrer Erwerbung, sind die begrifflichen, vorausgesetzt nur, daß sie hinlänglich definiert, d.i. durch andere, bekannte Begriffe erklärt werden, für jedermann dieselben“ (3).

Sprachliche Zeichen aber sind für die Bildung von Begriffen auch deswegen unverzichtbar, weil ohne jene diese im Bewußtsein nicht festgehalten werden könnten. Er „würde schon im Entstehen wieder verschwinden, nämlich von den anschaulichen Vorstellungen verdrängt werden“ (4).

Die „Quelle“ und der „Träger“ abstrakter Vorstellungen oder Begriffe ist also laut Riehl die Sprache. Begriffe sind allgemein. Zwar kann der Gegenstand eines Begriffs konkret sein, er selbst jedoch kann es nicht, obwohl beispielsweise jedes einmalige historische Ereignis zum Gegenstand begrifflicher Erkenntnis werden kann. Man hat sich dann eben gedanklich der Notwendigkeit seines Ablaufs versichert, was durch einfaches Hinsehen nicht zu bewerkstelligen ist. „Die Begriffe bleiben somit abstrakt und allgemein, mag auch ihr Gegenstand individuell, ja einzig in seiner Art sein“ (6).

Die Begriffsbildung beruht auf der Tätigkeit des Verallgemeinerns. Darüber hinaus setzt sie „Unterscheidungsfähigkeit“ voraus. Denken nämlich „ist etwas wesentlich anderes als sich unvollständig erinnern. Nicht durch Übersehen der Unterschiede, durch Absehen von den Unterschieden wird das begrifflich Allgemeine gewonnen“ (7). Mithin ist das Bilden der Begriffe einerseits zwar eine Befreiung von den Fesseln der Anschauung, andererseits gewinnt die Unübersichtlichkeit des bloß Angeschauten durch sie eine klare Kontur. In summa: „Außer dem Universum seiner Wahrnehmungen und anschaulichen Vorstellungen gibt es sonach für den Menschen ein Universum von Bedeutungen, das er sich selbst geschaffen hat. Das Mittel dazu war ihm die Sprache. Die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen bildet sein Erkennen“ (8).

Man sollte sich allerdings davor hüten, die empirische Allgemeinheit mit der begrifflichen zu verwechseln. Zur ersteren „gelangen wir durch generalisierende Abstraktion, durch Hervorhebung des Übereinstimmenden in einer Mehrzahl von Fällen, die dadurch zu einem Begriffe zusammengefaßt werden“: sogenannte All-Sätze. Die „begriffliche Allgemeinheit“ hingegen „wird durch analysierende Abstraktion erreicht, durch Zurückführung des in der Vorstellung Gegebenen auf das Einfache und Denknotwendige. (…) Empirisch-allgemeine Sätze sind als Ausdruck übereinstimmend wiederkehrender Beobachtungen und Erfahrungen material (= die Häufigkeit der weißgefiederten Schwäne Sir Karl Poppers innerhalb seines additiv-falsifikatorischen Wissenschaftsverständnisses, F.-P.H.), begrifflich-allgemeine formal; sie dienen zur Erklärung der Erscheinungen, und ist mit ihrer Hilfe eine bestimmte einzelne Erscheinung zum Verständnis gebracht, so haben wir damit auch schon das Verständnis aller Erscheinungen derselben Art erzielt“ (34).

Mit Folgendem hat übrigens – ein Anachronismus – der Frühgeborene Riehl dem Spätgeborenen Popper eine präzise und knappe erklärende Korrektur hinsichtlich seiner desolaten Wissenschaftsauffassung ins Stammbuch geschrieben: „Aus der empirischen Allgemeinheit läßt sich die begriffliche auf direktem Wege nicht herleiten. Selbst die erschöpfende Aufzählung der Fälle, wo diese überhaupt möglich ist, gibt unserem Urteile noch keine strenge Allgemeingültigkeit“. Das sah auch Popper so, allerdings sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen, weil er, unter unkritischer Zugrundelegung der empirischen Allgemeinheit, die streng begriffliche gar nicht erst ins Auge zu fassen vermochte. Es „bedarf“, so fährt Riehl fort, „dazu jederzeit der Unterordnung der Fälle unter einen begrifflichen Satz, ein mathematisches Naturgesetz; haben wir aber einmal einen solchen Satz, so ist wieder die Aufzählung der Fälle entbehrlich geworden“ (ebd.). Empirisch unterfütterte All-Sätze sagen also lediglich aus, daß eine in ihrer Eigenart übrigens nach wie vor unverstandene Tatsache wie auch immer eingeschränkt und folglich bloß vorbehaltlich gültig ist. Begriffliche Verallgemeinerungen wissen, auf Grund der vorgenommenen Identifizierung ihres Gegenstandes, den Grund seiner Begreiflichkeit auszumachen und zu benennen. Sie drücken nichts anderes als das Gesetz aus, „das alles Besondere, das sich aus ihm entwickeln läßt, zugleich in sich enthält“ (37). Folglich gilt die „gewöhnliche Regel, daß Verminderung des Inhaltes gleichbedeutend ist mit Vergrößerung des Umfanges eines Begriffes (…) nur von der äußerlichen, mechanischen Abstraktionsweise durch Wegdenken, nicht von jener wesenhaften Abstraktion, die das einheitliche Gesetz zusammengehöriger Begriffe und Objekte hervorhebt“ (ebd.).

Hinsichtlich mathematischer Objekte, wie nicht allein Riehl sie versteht, sondern wie auch die moderne Mathematik sie zu fassen gewohnt ist, gilt also, daß dort, wo „wir die Objekte unserer Begriffe selbst erzeugen, – richtiger: wo es sich gar nicht um die Objekte selbst handelt, sondern um die Vorstellungsart von Objekten überhaupt, wie in der Mathematik, da beherrschen wir eben dadurch auch alle Bedingungen der Spezifikation des höheren Begriffes in seine niederern, und alle Aussagen über diese Begriffe sind (selbstredend, ist man geneigt zu sagen, F.-P.H.) notwendig von eben derselben strengen Allgemeingültigkeit“ (ebd.). Nur konsequent, daß Riehl vor diesem Hintergrund dafür plädiert, den „Logikkalkül, die Verwandlung alles Schließens in Rechnen“ als „einen neuen Zweig der Mathematik“ anzusehen und nicht als das, „was er nach der Meinung seiner Urheber sein soll, eine allgemeine Theorie der Schlußfolgerungen“ (59 f.).

Hinsichtlich naturwissenschaftlicher Objekte und ihrer eingesehenen Gesetzmäßigkeiten schließlich gilt etwas ganz anderes: „Wären uns auch sämtliche Planeten (und planetarische Körper wie Monde u. dgl.) bekannt, und ließen sich unsere Beobachtungen ins Unendliche vervielfältigen – eine Voraussetzung, die in ihren beiden Teilen nicht zutrifft –, noch immer würden wir nicht berechtigt sein, zu sagen: was ein Planet ist, muß sich nach den Keplerschen Gesetzen um die Sonne bewegen. Das Newtonsche Anziehungsgesetz dagegen macht diese Folgerung auch ohne Vollständigkeit der Erfahrung notwendig. Dieses Gesetz, ein Lehrsatz der theoretischen Mechanik, welcher die Wurfbewegung eines Körpers aus ihren elementaren Antrieben konstruiert, steht vor aller weiteren Erfahrung fest, weil es nicht von zahllosen einzelnen Erfahrungen abstrahiert, sondern durch Zerlegung des in jeder möglichen, hierher gehörigen Erfahrung Wesentlichen ermittelt ist. Es befähigt uns daher zur Voraussage, daß es überall gelten werde, wo seine Bedingungen erfüllt sind, und in der Art, in welcher sie erfüllt sind; hat also absolute, von der Zahl der Fälle seiner Anwendung unabhängige Allgemeingültigkeit“ (36).

Hansen, Frank-Peter: Die Erfahrungsseelenkunde Martin Suters, 31.07.2008

Martin Suter, das As? Die Rezensenten sind voll des Lobes, enthusiasmiert und euphorisch. Wo man hinhört: Aufgeregte Superlative im Rauschen des Blätterwalds. Doch kann das sein? Trifft diese hypertrophe Begeisterung den Schweizer Autor in seinem Kern, oder legt sie falsche, der Sensationsgier geschuldete Fährten?

Was ist er, der Kern dieser ganz besonderen Art von Kriminalliteratur? Der wie auch immer verursachte Wandel der Psyche der dramatis personae, ihr Abrutschen ins nicht Geheure und Kriminelle, nicht mehr Steuerbare, der Verlust ihrer selbst in der Amnesie oder in der Altersdemenz, die sich als der entscheidende Durchgangspunkt für das eigentliche Wiederfinden der in grauer Vorzeit verlorenen Identität herausstellt. Im Zentrum von Suters Romanen steht das fragile, stets gefährdete und labile Gleichgewicht des menschlichen Seelenlebens. Und das heißt: Dieser Romancier spielt ungemein feinfühlig, erfahren und kundig auf der Klaviatur aller nur möglichen Empfindungen, Emotionen und Bewußtseinsstufen.
Suter ist, mit einem Wort, ein Psychologe ersten Ranges! Und das ist er vor allem auch deshalb, weil er es meisterhaft versteht, mit leisen, fein abgestimmten, nuancierten Tönen, unaufgeregt und überhaupt nicht zudringlich den Finger gelassen, treffsicher und mit höchster Präzision in die Wunden zu legen. Anders gesagt, es ist, als ob dieser Autor all das, was er erzählt, selbst erlebt hätte, so sehr gelingt es ihm scheinbar mühelos, in die intimsten Bereiche seiner unheldischen Helden hinabzusteigen. Man spürt, er liebt sie alle. Aber weil er, schwieriges Unterfangen, Distanz wahrt, ist er ihnen erst recht so unglaublich nahe. Und diese gefühlte Nähe überträgt sich auf den gebannten Leser, bei dem sich all die Nöte, Ängste, Hoffnungen, das Getriebensein, das hilflose Suchen, von permanentem Scheitern bedrohte, womögliche Finden, kurz, diese dunklen Abgründe und lichten Höhen des hochgradig gefährdeten Humanus wie von selbst, ungesucht zusammenfinden.Dazu passt es, dass Suters Romane frei sind von verbalen Kraftakten. Dieser Autor hat es nicht nötig, dick aufzutragen. Seine Texte sind von unaufdringlicher Prägnanz und der Ton ist feiner, leichter und schwebender Humor. Diese Leichtigkeit hat, darüber hinaus, auch einiges mit der Art der Komposition zu tun. Kleine, wohlabgemessene Einheiten, die nicht immer chronologisch aneinander anschließen, sondern, in zeitlichem und räumlichem Hin und Her, zu einem perfekt angelegten Verwirr- und Spannungsspiel voller kleiner und großer Überraschungen kunstvoll ineinandergeschoben sind.
Verspielter Ernst auch in den vielen, man merkt es, fundiert und seriös recherchierten Passagen, sei es, um nur ein paar Beispiele zu nennen, dass sie die Vielfalt der Myzelien in der Waldeinsamkeit des Vorgebirges betreffen, sei es das Geschäftsgebaren von überaus geschäftstüchtigen global players und ihrem juristischen Beistand, deren „temporäre Infrastruktur“ bei außerplanmäßigen Landpartien durch ein Faxgerät und einen Papierwolf komplettiert wird, sei es den Umgang von stümperhaft Pfeife rauchenden Verlegern mit ihren unbedarften Autoren oder den zu allen Hoffnungen Anlaß gebenden Stand der Alzheimerforschung.
Apropos Alzheimer: Wie sich Suter in die zurückgenommene Psyche des ungeheuer anrührenden Alzheimerpatienten Konrad Lang alias Thomas Koch einfühlt ist überwältigend! Was mag in einem geistig reduzierten, verloren wirkenden älteren Menschen vorgehen? Hier bekommt der ratlos Fragende eine Antwort, die dem Fatalen mit ganz dezenter, traurig-schöner Heiterkeit das frühkindliche Geheimnis ablauscht. „„Es schneit Fazonetli“, sang Simone. Beide tanzten im Geflimmer, bis sie nicht mehr konnten vor Lachen und Weinen und Glück.“
Und wie fein beobachtet ist es, über ein Gesicht, an dem in regelmäßigen Abständen kleine kosmetische Korrekturen vorgenommen worden sind, zu sagen, daß sein Träger dadurch „etwas frühzeitig Guterhaltenes“ verliehen bekommen habe. Oder daß es auch das gibt, nämlich „empört ignoriert“ zu werden. Oder daß einer von Rührung bei der Vorstellung befallen wird, „zu so einer großen Geste fähig zu sein“. Ganz zu schweigen davon, daß „alle Schwermütigen ständig auf der Suche nach einer Kulisse für ihre Melancholie“ sind. Sehr richtig! Oder wie ist es hiermit: „Notschlüssel für die Feuertür in einer geschlossenen Abteilung! Montiert doch gleich Sprungbretter!“ Last but not least die leise, lakonische Ironie in dem hier: „„Vielleicht ist sie verrückt geworden.“ „Hoffentlich kann sie das beweisen“, sagte Dr. Kundert.“
Schwer, das wußte keiner besser als Schiller, eine tragische Analysis hinzubekommen. Was das ist? Ein guter, weil spannender Kriminalroman, der seine Spannung daraus bezieht, daß man gebannt dem Geschehen folgt, obwohl man doch von Anfang an alles weiß. Denn beängstigend ist nicht so sehr das, was zu geschehen möglicherweise im Begriffe ist, sondern was, als bereits Geschehenes, in seinen unabwendbaren Folgen das unausweichlich und unerbittlich über einen Kommende ist. „Ödipus rex“ ist die tragische Variante, das Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ die komische, die Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ die heitere und „Small World“ die in Trauer lächelnde. Wieso Sophokles, wieso Kleist, wieso Thomas Mann? Nun, auch sie waren psychologisch hochversierte Kriminalautoren. Jeder auf seine Weise. Was folgt daraus? Der aufmerksame Leser weiß es schon längst. Suter ist mehr als ein As. Er ist wie die drei anderen, ich wiederhole mich, ein ganz großer Psychologe!

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart Jg. 8 (2007), Heft 2.

Hettche, Thomas: In dieser Sache sind Daten alles. Zur deutschen Neuausgabe von Bram Stokers Dracula, 17.03.08

Jonathan Harker, ein junger Londoner Anwalt, gerade erst von einer höchst gefahrvollen Geschäftsreise aus Rumänien zurück, betritt am Abend des 2. Oktober 1890 das eheliche Schlafzimmer: „Auf der Kante des Bettes kniete die weiße Gestalt seiner Frau. Neben ihr stand ein großer hagerer Mann, vollkommen in Schwarz gekleidet. Ihr weißes Nachthemd war mit Blut bespritzt, und Blut rann wie ein weißer Faden über des Mannes Brust, die er entblößt hatte.“

Mina Harker selbst berichtet: „Er riß sein Hemd auf und öffnete mit seinen langen Nägeln eine Ader an seiner Brust. Als das Blut zu spritzen begann, ergriff er meinen Nacken und presste meinen Mund auf die Wunde, so daß ich entweder ersticken oder schlucken musste.“ Sie schluckt. Und steht damit in Gefahr, selbst zum Vampir zu werden. Also erklären Jonathan Harker, der Irrenarzt Dr. Seward, der Amerikaner Quincey Morris, Lord Godalming und der holländische Privatgelehrte Abraham van Helsing Dracula jenen Krieg, von dem man weiß, wie er ausgeht.

Und doch: Die Geschichte des Vampirs ist heute seltsam verdeckt vom vagen Wissen um einen historischen Kern, verstellt vom flackernden Schattengemälde Friedrich W. Murnaus und der explodierenden Kinoorgie Francis Coppolas, verfälscht von den geklitterten Plots unzähliger Verfilmungen. Die Neuausgabe ist eine Gelegenheit, den Roman neu zu lesen.

Auf den Spuren von Sherlock Holmes und Siegmund Freud

Bram Stoker, 1847 bei Dublin geboren, lebte als Theaterkritiker und Impresario in London, wo er 1912 starb. „Dracula“, sein einziger großer literarischer Erfolg, erschien 1897: vier Jahre nachdem Sir Arthur Conan Doyle in seinem Tagebuch vermerkt hatte: „killed Holmes“; zwei Jahre nach der Veröffentlichung der „Studien über Hysterie“ Siegmund Freuds. Mit dem prototypischen Detektiv wie mit der Psychoanalyse hat der Roman einiges gemein. Er spielt größtenteils im London Conan Doyles, der ersten modernen Metropole. Wie Holmes und Watson gehören Jonathan Harker und seine Freunde zu jener Sorte von Yuppies, die man damals Dandys nannte, Großstadtmenschen, die auf der Suche nach Informationen über den Verbleib des Vampirs mit den Datenbanken ihrer Zeit, Adreßbüchern, Lexika, Fahr- und Stadtplänen, virtuos umzugehen und die Informationstechnologie von der Kamera über Telegramm und Phonographen zu nutzen verstehen. „Ich nahm ihr das Gepäck ab, bei dem sich auch eine Schreibmaschine befand, und wir fuhren mit der Untergrundbahn nach Fenchurch Street, nachdem ich meine Haushälterin durch Stadttelegramm angewiesen hatte.

Doch im Gegensatz zu Sherlock Holmes, der den Zweifel an der eigenen Rationalität noch mühsam mit Kokain unter euphorischer Kontrolle hält, geht der Weg der Vampirjäger angesichts der dunklen Gefahr ungebremst nach innen. Bram Stokers „Dracula“ ist auch die Geschichte eines Wirklichkeitsverlustes und eine Fallstudie des Schreibens.

Die semiotische Frage: “Liegt es in der Beschaffenheit des Dings selbst oder ist es nur das Medium?

Der Roman besteht, folgt man der Fiktion, aus zwei stenographierten und einem handschriftlichen Tagebuch, Abschriften von Phonographenwalzen, zahlreichen Telegrammen, unzähligen Briefen, einer Denkschrift, einem Logbuch und Ausschnitten aus Tageszeitungen. Die Vampirjäger bringen nicht nur Dracula zur Strecke, ihre Aufzeichnungen setzen sich dabei auch zum Bericht dieser Jagd zusammen.

Als Jonathan Harker sich zu Beginn des Romans nach Transsylvanien aufmacht, können ihn selbst die wüstesten Verwünschungen finsterer Rumänen nicht beeindrucken: „Ordog = Satan, Pokol = Hölle.“ Und als ihm ein Kruzifix geschenkt wird, weiß er „nicht recht, was ich damit anfangen sollte, denn als Mitglied der englischen Staatskirche hatte ich gelernt, solche Dinge als mehr oder minder götzendienerisch anzusehen“. Doch die Wirkung – „Seltsam, dies Ding“ – sensibilisiert ihn schnell für die semiotisch wichtige Frage: „Liegt das in der Beschaffenheit des Dings selbst, oder ist es nur das Medium?“

Gefangen auf Schloß Dracula beginnt er Tagebuch zu führen. „Ich muss etwas tun, sonst werde ich wahnsinnig; deshalb schreibe ich dieses Tagebuch“, und zwar als Stenogramm, damit der Vampir es nicht lesen kann. Und tatsächlich, Dracula „bemerkte beim Öffnen die ihm fremden Zeichen, ein finsterer Zug trat in sein Antlitz, und seine Augen funkelten bösartig.“ Schreiben scheint Jonathan der Ausweg aus der existentiellen Verunsicherung, ob das, was er erlebt, wirklich sei. Schreiben scheint ihm der Einstieg ins Verstehen.

Derweil beschäftigt sich seine Verlobte Mina in England mit einer völlig anderen Weise des Schreibens: „Wenn ich genügend stenographieren kann, bin ich imstande, sein Diktat aufzunehmen und dann mit der Schreibmaschine abzuschreiben; das übe ich auch eifrig.“ Mina, die berufstätige, moderne Frau, schreibt nicht, weil sie fürchtet, wahnsinnig zu werden, sondern weil sie versucht, „es so zu machen wie die Journalistinnen“.

Die zentrale Bedeutung der Textverarbeitung: die Schreibmaschine als Interface

Nur folgerichtig angesichts solcher Fixierung der beiden auf den Schreibakt, daß Jonathan – dem Vampir glücklich entronnen – das Tagebuch, in dem er das Ungeheure notierte, Mina zum Hochzeitsgeschenk macht. „Ich wickelte es“, erzählt Mina, „in weißes Papier; dann band ich es mit einem Endchen blauen Bandes, das ich um meinen Hals getragen hatte.“ Womit ebendieser frei wäre für den zweiten Teil des Abenteuers.

Denn schon ist auch Dracula in London. Sein erstes Opfer ist Minas Freundin Lucy, jene völlig unmoderne Frau, die ihr Tagebuch weder wie Mina in die Maschine tippt noch wie Dr. Seward in den Phonographen spricht oder es in Kurzschrift wie Jonathan verfaßt, sondern handschriftlich mit schnöder Tinte. Als die Freunde nach ihrem Tod beraten, wie der Gefahr zu begegnen sei, ist es Mina, die um die zentrale Bedeutung der Textverarbeitung für den Kampf mit dem Vampir weiß. „Ich bin zu allem bereit. Ich werde meine Schreibmaschine nehmen und sofort beginnen.“ Wobei den Produzenten all der Berichte und Tagebücher die Absichten der jungen Frau anfangs nicht ganz geheuer sind. „Auf dem Tisch, ihm gegenüber, stand etwas, was ich nach den Beschreibungen für einen Phonographen hielt. Ich hatte noch keinen gesehen und interessierte mich deshalb sehr für ihn. Ich war ganz entzückt über die Sache und rief aus: ‚Nun, das übertrifft ja sogar das Stenographieren! Wollen Sie mich etwas hören lassen? Sie haben doch die arme Lucy gepflegt. Darf ich nichts über ihr Sterben hören?’

Mina bekommt ihren Willen: „Ich legte die Metallgabel ans Ohr und lauschte.“ Und beginnt sofort, die Informationen dadurch verfügbar zu machen, daß sie eben das verschwinden läßt, was die Männer zum Schreiben brachte. „Ich habe das Gehörte auf meiner Maschine nachgeschrieben; kein anderer wird die Schläge ihres Herzens je wieder so deutlich hören, wie ich es durfte.“ Denn Mina Harker hat erkannt: „In dieser Sache sind Daten alles; ich denke, wenn wir das ganze Material fertig und in chronologische Ordnung gebracht haben, ist ein großer Schritt vorwärts getan.“ Und so tippt sie alle Tagebücher, Phonographenwalzen und Logbücher ab, erstellt Durchschläge und verteilt sie an die ratlosen Männer und koordiniert den Kampf gegen den Vampir.

Dracula weiß also sehr wohl, was er tut, als er Mina nicht nur beißt und sie zwingt, sein Blut zu trinken, sondern bei seiner Flucht auch nie die gesammelten Dossiers über sich vernichtet. Zu spät. Die emsige Schreiberin, die selbst in der Gefahr schwebt, eine Untote zu werden, hat ihren Texten längst Ewigkeit beschert: „Gottlob haben wir noch eine Kopie im Geldschrank.“ Mina macht es „wie die Journalistinnen“, indem sie die Daten in immer neue Formen transponiert bis zum Triumph der Maschinenschrift als Kopie im Geldschrank. Die Spur des Todes wird dort unterbrochen, wo der Text als unendliche Reproduktion unsterblich wird. Der Verlockung Draculas entspricht Minas Aufruf zum totalen Medienkrieg: „Nichts darf mehr verheimlicht werden.“

Tatsächlich steht der Datentransfer Mina Harkers dem Blutaustausch des Vampirs in nichts nach, wobei die gerade erfundene Schreibmaschine das Interface der verzweigten Datenströme darstellt und Mina die Übermittlungszentrale. Nicht van Helsing, sondern sie in ihrer Leidenschaft für Textverarbeitung, die sie nur notdürftig unter dem Anschein der bigotten Ehefrau verbirgt, ist die eigentliche Gegenspielerin Draculas.

Die Technik des Vampirs dagegen, sich selbst im Angriff auf andere Körper sozusagen handschriftlich zu kopieren, erweist sich als den medialen Bedingungen der Informationsgesellschaft immer weniger gewachsen. Während Mina mit Schreibmaschine, Phonograph und Telegramm die universale Kompatibilität feiert, die kein Original mehr kennen, versucht Draculas Biß, unzählige Originale herzustellen. Unheimlich an ihm ist dabei gerade der anachronistische Anspruch auf den Körper, den die züchtige Mina ständig wegschreibt und der doch wiederkehrt, wenn der Vampir seine Zähne in ihren Hals schlägt.

Im dritten Teil des Abenteuers, der Verfolgungsjagd nach Transsylvanien, wird die Identität von Daten- und Blutaustausch schließlich überdeutlich und Mina zum Medium im eigentlichen Sinn des Wortes. Die Hypnose van Helsings macht sie zum nachrichtentechnischen Instrument, das Bilder und Töne von Draculas Flucht überträgt und den Methoden des Vampirs wie Fledermausflug und Nebelwabern haushoch überlegen ist.

Der High-Tech-Krieg gegen das Böse als Verirrung

Stoker bedeutet dem Leser jedoch, den High-Tech-Krieg gegen das Böse als Verirrung, als Krankheit zu lesen, die mit dem Bösen verschwindet. Indem der Mund des besiegten Vampirs mit Knoblauch gefüllt wird und seine rotglühenden (Kamera-)Augen erlöschen, werden Mikrophon und Objektiv zurückgenommen und der Leser in die heile Welt der Schrift entlassen, in der das Buch mit einem mustergültigen Happy-End der Textverarbeitung schließt. „Ich nahm die Papiere aus dem feuerfesten Schrank, wo sie seit Vollendung unserer Aufgabe geruht hatten. Wir waren nachträglich erstaunt über den Umstand, daß in der ganzen Menge von Material, aus dem der Bericht sich zusammensetzt, kaum ein einziges authentisches Dokument sich befindet; nichts als eine Masse von Blättern mit Maschinenschrift.“

„Unser Schreibzeug schreibt mit an unseren Gedanken“, schrieb Nietzsche auf der gerade erworbenen Schreibmaschine. Es arbeitet auch in den Gedanken der Sekretärin Mina, die sich nach nichts mehr sehnt, als zum Diktat gerufen zu werden.

“Während Mina tippt, gerät ihre Freundin auf die Nachtseite des Maschinenschreibens“, bemerkt der Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler lakonisch. Denn Eckzähne und Typenhebel erzeugen beide durch einen einzigen kurzen Druck Bisse oder Buchstaben an der richtigen Stelle von Papier oder Haut. Lucy führt in ihren Wunden und Träumen das Hauptmerkmal jener Frauenkrankheit vor, die zwei Jahre vor Stokers Roman Freuds „Studien über Hysterie“ beschrieben: das Beherrschtwerden von einem Diktator. Im Diktat als Diktator schließt die Hysterie den Vampir mit der medialen Entwicklung kurz, die Mina schon deshalb so hysterisch zu beherrschen sucht, weil sie selbst von ihr beherrscht wird.

“Nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss”, schrieb Nietzsche

Heute, da die Sprache tatsächlich „a virus from outer space“ zu sein scheint, wie Burroughs meinte, und der ungehinderte Daten- und Blutfluß angesichts elektronischen Krieges und von Aids tödlicher Alltag geworden ist, liegt die Aktualität des Romans nicht in der Gleichsetzung des Blutsaugers mit dem Virus. Vielmehr läßt sich Stokers Schilderung der Geburt des Vampirs aus dem Geiste unserer medialen Moderne als Gleichsetzungskritik lesen. Dracula ist die Kehrseite der heilen Datenwelt, in der wir heute noch so gefährdet leben wie Mina Harker, der die Hostie van Helsings ein Mal auf die Stirn brennt.

„Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss“, formulierte es Nietzsche 1887 in der „Genealogie der Moral“. Angesichts der universalen Übersetzbarkeit von Daten, die kein Original und keinen Autor mehr kennen, verkörpert Dracula den dunklen Schreibmaschinenmythos einer buchstäblichen Schrift aus Malen und Wunden, einer Einschreibung auf dem Körper, deren Verstehen daran scheitert, daß der Beschriftete selbst ist, was er zu lesen versucht.

Bram Stoker: Dracula, 448 S.

* Erstmals abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. März 1993

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Allendorf, Leif: Nichts, was Sie sehen, geschieht in Echtzeit. Über die Schwierigkeit, den Verlauf der Zeit synchron wiederzugeben, 17.03.08

Wer war der erste, der eine Geschichte in Echtzeit erzählte? Sie werden es nicht glauben – Heinrich von Kleist. Es handelt sich um die Anekdote aus dem letzten preussischen Kriege von 1810. Der Regisseur Zoltan Spirandelli drehte 1995 einen achtminütigen Film, bei dessen Kinovorführung ein Sprecher den Kleist-Text vorlas. Das Ergebnis: Der gesprochene Text beschrieb exakt die im Film gezeigten Aktionen. “Dieser Kerl, sprach der Wirt, sprengte, ganz vom Staub bedeckt, vor meinen Gasthof, und rief: ‘Herr Wirt!’ und da ich frage: was gibt’s ‘ein Glas Branntewein!’, antwortet er, indem er sein Schwert in die Scheide wirft: ‘mich dürstet.’ Gott im Himmel! sag ich: will er machen, daß er wegkömmt? Die Franzosen sind ja dicht vor dem Dorf! ‘Ei was’ spricht er, indem er dem Pferde die Zügel über den Hals legt. ‚Ich habe den ganzen Tag nichts genossen!’ Nun, er ist, glaube ich, vom Satan besessen-! He! Liese! ruf ich, und schaff ihm eine ganze Flasche Danziger herbei, und sage: da! und will ihm die ganze Flasche in die Hand drücken, damit er nur reite.“

Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl und Fräulein Else

In der Moderne ist die Suche nach der synchron erzählten Zeit eng verknüpft mit dem so genannten inneren Monolog.

Arthur Schnitzlers 1901 erschienene Erzählung Leutnant Gustl sowie Fräulein Else machen hier den Anfang. Aus letzterer ein Zitat: „Da ist ja die Tür. – Dorsday! Ich falle um. Dorsday! Dort steht er am Fenster und hört zu. Wie ist das möglich? Ich verzehre mich – ich werde verrückt – ich bin tot – und er hört einer fremden Dame Klavierspielen zu. Dort auf dem Divan sitzen zwei Herren. Der Blonde ist erst heute angekommen. Ich hab’ ihn aus dem Wagen steigen sehen. Die Dame ist gar nicht mehr jung. Sie ist schon ein paar Tage lang hier. Ich habe nicht gewußt, daß sie so schön Klavier spielt. Sie hat es gut. Alle Menschen haben es gut … nur ich bin verdammt… Dorsday! Dorsday!“ Zwischen den Zeilen sind die Partituren eines Klavierstücks von Schumann wiedergegeben. Zehn Takte, die während jenes Selbstgespräches im Zimmer gespielt werden.

James Joyce: Ulysses

Ein Tag hat 24 Stunden, das entspricht 1440 Minuten. Da das Lesen einer Buchseite etwa zwei Minuten dauert, würde ein Roman in Echtzeit also 720 Seiten haben. Das entspricht ungefähr der Länge von James Joyce Epos Ulysses, das 1922 erschien. Im Nausikaa-Kapitel dort heißt es: „Mr. Bloom sah ihr nach, wie sie davonhumpelte. Armes Mädchen! Deswegen also war sie auf dem Felsvorsprung sitzen geblieben, als die anderen einen Wettlauf machten. Dacht ich mir doch gleich, daß da irgendwas nicht stimmte, ihrem Gesichtsausdruck nach. Sitzengelassene Schönheit. Bei Frauen ist so ein Mangel gleich zehnfach schlimm. Aber macht sie gefällig. Bin ja bloß froh, daß ichs nicht gewußt hab, wie sie sich da produzierte. Trotzdem, ein kleiner heißer Teufel. Würde sich bestimmt nicht lange zieren. Kriegt man direkt Neugier drauf, wie auf ne Nonne oder ne Negerin oder ein Mädchen mit Brille.“

Virginia Woolf: Mrs Dallowayund Zum Leuchtturm

Aber Joyce tut nur selten so, als versuche er eine adäquate Abbildung des Bewusstseinsstroms. Der Großteil des Romans wird mit Stil- und Sprachklamauk bestritten. Fünf Jahre später lotete Virginia Woolf die Möglichkeiten ihres ganz persönlichen Sekundenstils aus. Hatte sie zuvor in Mrs Dalloway einen ganzen Tag im Rahmen eines üblichen 200-Seiten-Romans geschildert, besteht der erste Teil des 1927 erschienenen Buches Zum Leuchtturm auf einer 130-seitigen Schilderung eines Nachmittags. „Also saßen sie schweigend. Dann wurde sie sich bewußt, daß sie wollte, daß er irgendetwas sagte. Irgendetwas, irgendetwas, dachte sie, während sie weiterstrickte. Irgendetwas reicht schon. (…) Sag doch etwas, dachte sie, weil sie sich sehnte, nur seine Stimme zu hören. Denn der Schatten, das Ding, das sie beide einschloß, begann, so merkte sie, sich wieder um sie zu legen. Sag doch irgendetwas, bat sie, und schaute ihn wie hilfesuchend an. Er schwieg und ließ den Kompaß an seiner Uhrkette hin und her schwingen, während er an Scotts Romane und Balzacs Romane dachte.“ In der quälenden Langsamkeit tauchen immer wieder die gleichen Sätze auf. Eine Berücksichtigung dessen, dass wir, wenn der Strom unseres Gehirns aufgezeichnet würde, kein Drehbuch erhielten, sondern sich endlos wiederholende Lamentationen.

Der US-Film Gegen die Zeit mit Johnny Depp nahm sich erstmals im Film des Themas an. Der biedere Geschäftsmann, dessen Tochter gekidnappt wurde, soll in den nächsten neunzig Minuten einen Menschen töten, sonst stirbt das Mädchen. Anderthalb Stunden hart geschnittenes, solide erzähltes Krimikino. Der formale Griff mit der Übereinstimmung von erzählter und erlebter Zeit – so dies überhaupt übereinstimmt – fällt nicht auf.

Als Film in Echtzeit, oder sagen wir, simulierter Synchronzeit, ließe sich da eher Tom Tykwers Kinoerfolg Lola rennt bezeichnen. Die Heldin läuft in dem Tempo, das die Handlung vorgibt. Umgekehrt bestimmt sie mit ihrem Lauf die Geschwindigkeit der Geschehnisse.

Kiefer Sutherland in 24

Und nun: 24. Ein halbes Dutzend Regisseure und ein ganzes Dutzend Drehbuchschreiber lassen Schauspieler Kiefer Sutherland monatelang durch einen Fall laufen, der angeblich nur vierundzwanzig Stunden dauert. Hier zeigt sich das bizarre Gesetz der Fernsehserie überdeutlich: Es muss dauernd etwas passieren, Autoreifen quietschen, Schüsse krachen, Türen knallen, Flüche schallen. Aber gleichzeitig muss die Handlung auf der Stelle treten, weil sonst der Spaß schnell vorbei wäre. Wiederholt beteuert Agent Bauer, wie er sich um seine Familie sorgt. Die Belegschaft der Antiterrorbehörde ist hauptsächlich damit beschäftigt, gegen den Büronachbarn zu intrigieren. Der schwarze Präsidentschaftskandidat beteuert, dass ehrlich doch am längsten währt. Und zwar um sieben, um acht und um neun – und noch viele Male. Bösartigerweise könnte man dies mit Dialogen aus Gute Zeiten – schlechte Zeiten vergleichen, wo ein Laienschauspieler zum anderen Laienschauspieler sagt: Du kannst doch den Brief nicht vor mir verstecken! Der andere sagt: Ich wollte dich nur schonen. Der erste: Aber der Brief ist an mich adressiert! Der andere: Ich dachte, es wäre besser für dich. Der erste: Und dann versteckst du einen Brief für mich? Und so weiter, bis die Sendezeit totgeschlagen ist.

Fazit: Die Darstellung „in Echtzeit“ ist in der Literatur nur momentweise möglich. Aber auch im Film, der ja eigentlich prädestiniert sein müsste für eine synchrone Darstellung der Zeit, ist die Synchronität eine Fiktion. Das sieht man, wenn die die wirklichen Echtzeit-Filme betrachtet: Das Super-8-Video von Onkel Karls Ostseeurlaub.

Quellen

Bücher

Filme

  • Gegen die Zeit. USA 1995. Regie: John Badham. Mit Johnny Depp und Christopher Walken.
  • Lola rennt. D 1998. Regie: Tom Tykwer. Mit Franka Potente und Moritz Bleibtreu.
  • 24. USA 2001. Regie: div. Mit Kiefer Sutherland und Sarah Clark.

Über T. Gilliams ‚Brothers Grimm‘

Besprochenvon Leif Allendorf

  • Brothers Grimm (The Brothers Grimm), Regie: Terry Gilliam, Produktion: Großbritannien, Tschechien 2005, Laufzeit: 119 Minuten.

Die Gebrüder Grimm gehören zu den erstaunlichsten Personen der Geistesgeschichte. Das von ihnen erstellte Wörterbuch kann sich in seiner Wirkung auf die deutsche Sprache mit Luthers Bibelübersetzung messen. Bekannt sind jedem Kind – nicht nur in Deutschland – die Märchen, die von den Brüdern gesammelt und damit gerettet wurden. Was wäre diese Welt ohne die Geschichten von Rotkäppchen, Dornröschen und Schneewittchen?

Wenn ein Filmemacher wie Terry Gilliam, den man in seiner Heimatsprache als „sophisticated“ bezeichnen könnte, die Geschichte dieser Brüder thematisiert, muss er damit rechnen, dass die Erwartungen hoch sind. Ob ihm dies bewusst war oder nicht: „Brothers Grimm“ – bezeichnenderweise wagte der Verleih es nicht, das Werk auf deutsch als „Gebrüder Grimm“ zu verkaufen – gelingt es, jede Erwartung zu enttäuschen. Als Komödie ist der Film nicht witzig genug, für ein Märchen besitzt er nicht genug Seele, die Action ist mäßig, nur die Kulissen sind eindrucksvoll. Leider hat man diesen Hexenwald bei „Sleepy Hollow“ von Tim Burton schon gesehen.

Perfide: Frankreich als repressive Unterdrückungsmacht

Besonders ärgerlich aber ist die einzige Aussage, zu der sich „Brothers Grimm“ dann doch entschließen kann: die historische. Zwar ist das Thema sozialgeschichtlich weitgehend entkernt. Die übrig bleibende Botschaft lautet: Deutschland ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein von der französischen Besatzungsmacht geknechtetes Land. Illustriert wird diese perfide Darstellung von der Knattercharge General Delatombe (Jonathan Pryce), einem willigen italienischen Handlanger des fremden Regimes. Keine Rede davon, dass die napoleonischen Truppen den Code Civil, also erstmals so etwas wie einen Kanon unveräußerlicher Menschenrechte, nach Deutschland brachte. Man stelle sich vor, im 22. Jahrhundert wird ein Film gedreht, der Deutschland nach Kriegsende 1945 als unschuldiges, von tyrannischen US-Besatzern unterdrücktes Volk zeigt.

Kasperletheater statt gelungener Genrefilm

Die Märchen von Prinzen und Bettlermädchen, von Knechten und Königstöchtern sind unter anderem Ausdruck des jahrhundertealten Traumes kleiner Leute, aus ihrem Elend herauszukommen. Doch Gilliam interessiert das nicht. Er wärmt stattdessen die Geschichte von den Budenzauberern auf, die unverhofft mit wirklicher Magie konfrontiert werden. Auch das haben wir in „Sleepy Hollow“ schon gesehen – mit dem Unterschied, dass Johnny Depp ein besserer Schauspieler ist als Matt Damon und Heath Ledger in diesem Film, und Tim Burton seine Genrefilme souveräner inszeniert als Terry Gilliam.

Was bleibt ist das Spiel von Monica Belucci, die von je her den Flair einer Schaufensterpuppe ausstrahlt. Verschenkt wird bei diesem „Spieglein, Spieglein an der Wand“ auch das Talent von Lena Headey, die immerhin einen guten weiblichen Robin Hood a lá Keira Knightley abgibt.
Ärgerlich an dieser uninspirierten Plünderung archaischer Motive ist ihre Oberflächlichkeit. jeder US-amerikanische Halloween-Kürbiskopf-Massaker-Film besitzt mehr Tiefe als das Kasperletheater von „Brothers Grimm“.

Brocchi, Davide: Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit, 26.01.08

Viele Menschen wissen nicht einmal, was Nachhaltigkeit ist. Wie will man denn Letztere unter diesen Umständen durchsetzen? In diesem Essay präsentiert Nachhaltigkeits-Experte Davide Brocchi Hintergründe und Strategien eines durchführbaren Projekts: die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit.

Das zentrale Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ist die friedliche, gerechte Überwindung einer globalen Krise. Sozioökonomische Polarisierung, Terrorismus, Migrationsströme, Energie- und Wasserknappheit, Zunahme der Weltbevölkerung, Abnahme der biologischen Vielfalt sowie Klimawandel sind Aspekte dieser Krise. Die Nachhaltigkeit ist heute keine Option mehr, sondern eine existenzielle Frage, die jeden betrifft.

Nach den großen Hoffnungen, die mit dem Ende des Kalten Krieges und mit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992 in Rio de Janeiro verbunden waren, ist die Nachhaltigkeitsdebatte mehr und mehr ins Stocken gekommen. Die internationale Gemeinschaft entfernt sich immer mehr von den UN-Millenniumszielen, zu denen unter anderem eine Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 gehört. Sogar in Deutschland werden 13 Prozent der Bevölkerung als arm eingestuft. Die größten Klimasünder USA und China haben das Kyoto-Protokoll noch nicht unterschrieben. In Deutschland kann nicht einmal ein Tempolimit auf den Autobahnen durchgesetzt werden. Viele lokale Agenden 21 sind mitten auf dem Weg stehen geblieben oder vom Kurs abgekommen.

Die verfügbaren Ansätze der Nachhaltigkeit reichen scheinbar nicht aus, um die globale Krise zu stoppen. Wir brauchen deshalb neue Ansätze.

In den letzten Jahren wurde verstärkt auf die Bedeutung der kulturellen Dimension für das Leitbild „nachhaltige Entwicklung“ hingewiesen. Diese Diskussion reicht bereits in das Jahr 1994 zurück. In seinem Umweltgutachten bezog der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) nachhaltige Entwicklung nicht allein auf einen Prozess technologischer Innovation, sondern auf eine kulturelle Umorientierung, bei der auch Produktions- und Konsumverzicht eine Rolle spielen sollten.[1] Der Rat befürwortete ein Vier-Säulen-Modell, das nachhaltige Entwicklung als einen diskursiven Prozess in dem Viereck Ökologie, Ökonomie, Soziales und Kultur versteht.[2]

Zu den charakteristischen Merkmalen einer Kultur der Nachhaltigkeit gehört für Hildegard Kurt und Bernd Wagner ein „Verständnis von Nachhaltigkeit, das gleichberechtigt zu den drei Säulen Ökonomie, Ökologie, Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension umfasst“.[3]

Die Bedeutung der kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit kann durch drei zusammenhängende Fragen erklärt werden:

  • die Frage der Kultur der Nachhaltigkeit – oder besser von Kulturen der Nachhaltigkeit,
  • die Frage der kulturellen Strategien der Nachhaltigkeit,
  • die Frage nach den Faktoren, die die kulturelle Evolution der Gesellschaft hemmen oder fördern.

Bevor diese drei Fragen beantwortet werden, sind einige Anmerkungen zu den Begriffen Kultur, Umwelt und Nachhaltigkeit nötig.

I. Drei Begriffe

Die begriffliche Unschärfe von „Kultur“, „Umwelt“ und „Nachhaltigkeit“ wurde immer wieder beklagt. Ob ihre Verbindung das Problem lösen kann, ist sicher eine berechtigte Frage. Aber Unschärfe ist oft der Preis, den Begriffe zahlen müssen, wenn sie sich auf eine Komplexität beziehen. Weder Kultur noch gesellschaftliche Entwicklung können rein deterministisch oder rein quantitativ erfasst werden. Wir brauchen heute mehr denn je komplexe Begriffe, denn es geht darum, Komplexität zu verstehen und Komplexität mit Komplexität zu regieren.

I.i Kultur

Der heute dominante Kulturbegriff reduziert Kultur auf einen gesellschaftlichen Teilbereich und oft nur auf die Künste. Diese Kultur wird heute ständig funktionalisiert und kann die existenzielle Bedeutung der „kulturellen Vielfalt“ nicht ausdrücken. Deshalb bedarf der Diskurs der Nachhaltigkeit eher eines anthropologischen, semiotischen und soziologischen Kulturbegriffs. Nur ein in diesem Sinne umfassender Kulturbegriff kann die integrative Wirkung von Kultur bewusster machen, zum Beispiel jene zwischen Sozialem, Ökologie und Ökonomie.

Das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen kann mit einem Begriff des Soziologen Pierre Bourdieu beschrieben werden: In beiden Fällen handelt es sich um „strukturierte strukturierende Strukturen“ [Hervorh. v. D. B.].[4] Winston Churchill hat es 1943 in einer Rede vor dem House of Commons etwas einfacher ausgedrückt: „First we shape our buildings, then they shape us.“ Das heißt: Wir schaffen die Kultur, die uns prägt. Wir werden von jener Gesellschaft geformt, die wir gestalten.

Zwischen Kultur und Gesellschaft findet eine ständige Wechselwirkung statt. Kulturen definieren Gesellschaften und Subkulturen bezeichnen Gruppen – und umgekehrt. Der Soziologe Antony Giddens schreibt: „No culture could exist without a society. But, equally, no society could exist without culture.“[5]

Die Kultur zieht Grenzen, die physisch noch nicht existieren, nicht fassbar und nicht sichtbar sind. Es sind die Grenzen zwischen Integration und Ausgrenzung, dem Eigenen und dem Fremden, Ordnung und Unordnung, nützlich und unnützlich, Gut und Böse und schließlich auch zwischen System und Umwelt. Kulturen sorgen für die Kohäsion eines sozialen Systems und regulieren seinen Austausch mit der Umwelt.

In einem sozialen System übt die Kultur zwei Aufgaben aus:

  1. Eine kognitiv-kommunikative Funktion in dem Verhältnis Mensch-Wirklichkeit: Die Kultur dient der Wahrnehmung und der Interpretation der Wirklichkeit; ermöglicht eine Kommunikation und eine Verständigung über die Wirklichkeit (s. Sprache, Weltbild, cognitive maps);
  2. Eine verhaltens- und projektorientierte Funktion in dem Verhältnis Mensch-Umwelt: Die Kultur leitet unser Verhalten. Durch eine gemeinsame Kultur können Menschen ihre Handlungen koordinieren und abstimmen. Kultur ist eine Art „Bauplan der Gesellschaft“. Auf der Basis von Kultur bauen wir eine kontrollierbare künstliche Welt auf, die die natürliche Umwelt immer weiter ersetzt. Die Grenzen, die nur in unserem Kopf existieren, bekommen dadurch eine physische Gestalt und werden zu richtigen Mauern. Rohstoffe werden zu Produkte umgebaut, Felder zu Städten. Am Ende ist die künstliche Welt selbst so ausgedehnt und komplex, dass wir die Peripherien – und nicht die Natur – als „Um-Welt“ erleben.

Zwischen Kultur und Umwelt findet ein Prozess statt, der in der Industrialisierung seinen Höhepunkt hat: Die Konstruktion der Wirklichkeit (Aufgabe A) wird hier zu einer Konstruktion der (Um-)Welt (Aufgabe B). Die Unstimmigkeiten zwischen konstruierten Weltbildern und Umweltwahrnehmung nehmen ab. Die künstliche Welt spiegelt unsere Begriffe wider – und wird erst dadurch ganz begreifbar und kontrollierbar. Alles andere wird in die nicht-kontrollierbare Umwelt externalisiert. Die Technologien spielen in der Möglichkeit dieser Umwandlung eine zentrale Rolle.

In diesem selbstreferenziellen Prozess steckt eine Erklärung für die Umweltkrise als Krise der Modernisierung und der Globalisierung. Derartige Entwicklungsmodelle sind kulturelle Programme – und sollten als solche betrachtet werden.

I.ii Umwelt

Der dominante Umweltbegriff bezieht sich oft nur auf die ökologische Umwelt. Die Um-Welt ist das, was außerhalb von oder neben dem wahrnehmenden Subjekt ist. In der Tat hat die Trennung zwischen Mensch und Natur, Gesellschaft und Natur oder Kultur und Natur eine lange Tradition, zumindest in jener Kultur, die heute globalisiert wird: die westliche.[6] In diesem Punkt führten weder die Renaissance noch die sogenannte wissenschaftliche Revolution zu einem Bruch mit der Vergangenheit. Mit der Separation von res cogitans und res extensa, das heißt von Geist und Körper und von Subjekt und Objekt der Beobachtung, legte René Descartes die Basis für die Gründung der mechanistischen Wissenschaften.[7]

Die ökologische Krise zeigt uns, zu welchen dramatischen Konsequenzen diese kulturbedingte Trennung geführt hat. Sie hatte in der Kultur der Indianer Amerikas keinen Bestand, deshalb wurden die indianischen Kulturen als unzivilisiert betrachtet und bekämpft.

Der Mensch ist ein Teil der Natur, und die Natur ist ein Teil des Menschen. Diese Erkenntnis ist immer noch eine Herausforderung für die Kultur- und die Sozialwissenschaften,[8] aber auch für die ganze Moderne. Ein kultureller Wandel in Richtung Nachhaltigkeit bedeutet auch ein Paradigmenwechsel. Dazu haben unter anderem die Systemtheorien, die wichtige Gemeinsamkeiten mit der Ökologie haben, einen wichtigen Beitrag geliefert.

Der deutsche Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich hat vorgeschlagen, den Umweltbegriff mit dem Begriff „Mitwelt“ zu ersetzen.[9] Der systemtheoretische Umweltbegriff könnte aber weiterhin hilfreich sein, um multidimensionale Prozesse und Zusammenhänge zu verstehen.

In der Systemtheorie sind „soziales System“ und „Umwelt“ nur relative und keine absolute Bezeichnungen: Was wir als System oder als Umwelt erleben, hängt vom kulturellen und kognitiven Standpunkt ab. Zum Beispiel ist der Tropenwald für die Indios ein System – und für uns Umwelt. Die Relativität der Standpunkte wird jedoch verdeckt, wenn Strukturen der sozialen Ungleichheit ins Spiel kommen, etwa Machtverhältnisse. So wird etwa das Recht der Indios auf eine eigene Kultur im eigenen Land nicht anerkannt. Die Globalisierung universalisiert leider nur die Sichtweise der gesellschaftlichen Zentren: Entsprechend gehen wir mit dem Tropenwald und seinen Bewohnern um.

Nach dieser systemtheoretischen Definition ist ein soziales System das, was wir als eigen, vertraut, kontrollierbar, sicher und geordnet erleben – oder als ein solches gestalten. Die Umwelt ist hingegen das, was wir als fremd, unkontrollierbar, unsicher, unnützlich oder chaotisch erleben.

Wenn wir die „Umwelt“ so verstehen, dann gibt es nicht nur eine ökologische, sondern auch eine emotionale Umwelt (z.B. das „Unbewusste“, in seiner tiefenpsychologischen Bedeutung), eine soziale Umwelt (z.B. die Menschen, die wir ausgrenzen; unsere Peripherien) sowie eine multikulturelle Umwelt (die vielen Kulturen, die wir als fremd erleben). Die „Umwelt“ ist die Einheit dieser Umwelten vor einem gesellschaftlichen System und vor einer Kultur.

Unsere dominante Kultur verhält sich zu diesen Umwelten ähnlich. Adorno und Horkheimer schreiben in der Dialektik der Aufklärung, dass im Zuge der Rationalisierung der Gesellschaft durch Technik nicht nur die äußere Natur des Menschen beherrscht wird, sondern auch seine innere.[10] In der Herrschaft über die Natur ist die Herrschaft über den Menschen inbegriffen. Um die äußere Natur zu beherrschen, die menschliche und die nicht-menschliche, muss das Subjekt mit anderen Subjekten zusammenarbeiten und dabei seine eigene innere Natur bezwingen.[11] Die Menschlichkeit teilt ihr Schicksal mit dem Rest der Natur. Dies ist ein wichtiger Grund, um zu erklären, warum soziale und ökologische Bewegung zusammenfinden sollten: Sie kämpfen gegen dieselben Strukturen und im Grunde genommen für dieselben Ziele.

Drei weitere Anmerkungen zum Umweltbegriff sind wichtig:

  • Die Abhängigkeit des Systems von der Umwelt ist immer stärker als umgekehrt. So ist die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Gesellschaft oder die der Gesellschaft von der Natur immer stärker als umgekehrt. Wer gegen dieses Prinzip handelt, lebt gefährlich.
  • Geschlossene Systeme sterben, offene Systeme gibt es nicht bzw. fließen in andere Systeme ein. Das heißt, für die Existenz jedes Systems sind (a) Grenzen und (b) Kommunikation und Austausch mit der Umwelt notwendig. In einer nachhaltigen Entwicklung oder in einer Kultur der Nachhaltigkeit geht es nicht um eine Auflösung der Grenzen und der Unterschiede zwischen System und Umwelt oder zwischen Kultur und Natur, sondern um die Kommunikation über die Grenzen, trotz der Unterschiede.
  • Die Abgrenzung des Menschen von seiner Umwelt ist auch das Resultat der physischen, biologischen, kognitiven und psychischen Grenzen seines Wesens. Weil er begrenzt ist, fühlt er sich in kleinen überschaubaren Systemen sicherer als in offenen, breiten und komplexen Räumen. Der einzelne Mensch kann sich viel mehr mit einem bestimmten Ort und mit einer kleinen Gruppe von Menschen identifizieren als mit der ganzen Welt und der ganzen Menschheit. Die negativen Auswirkungen der Globalisierung zeigen, wie schwierig es für Menschen ist, nach dem Prinzip der globalen Verantwortung zu handeln. Soll sich die Nachhaltigkeit wirklich darauf berufen? Oder kommt eine Regionalisierung eher der Gesellschaft entgegen?

I.iii Nachhaltigkeit

1987 stellte die Sonderkommission World Commission on Environment and Development der UNO unter Vorsitz der Norwegerin Gro Harlem Brundtland ihren Bericht „Our Common Future“ vor,[12] in dem erstmals die Untrennbarkeit von Umwelt und Entwicklung aufgezeigt wird. In dem so genannten Brundtlandbericht ist auch die heute gängige Definition von nachhaltiger Entwicklung enthalten: Nachhaltig ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.

Es wird oft vergessen, dass die sozialen und ökologischen Forderungen, die mit dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung verbunden sind, viel älter als der Brundtlandbericht sind. Die Frage der Gerechtigkeit stellte bereits die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert. Die Umweltdebatte begann 1962 in den USA, mit der Veröffentlichung von „Silent Spring“ durch die Meeresbiologin Rachel Carson. 1975 stellte die schwedische Stiftung Dag Hammarskjöld das Dokument „What now? Another Development“ vor der UN-Vollversammlung vor.[13] Darin waren die Ziele eines alternativen Entwicklungsmodells enthalten: (a) Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen; (b) Self-reliance, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Menschen und der Völker; (c) Eco-Development. Die Zivilgesellschaft kämpft heute für diese Ziele weiter, mit oder ohne Nachhaltigkeitsdebatte. Warum brauchen wir also unbedingt eine solche Debatte? Wem nutzt ein solch schwieriges, ungeliebtes Wort wie „Nachhaltigkeit“? Warum so viele Ressourcen verschwenden, nur um einen neuen diffusen Begriff zu „vermarkten“? Hat diese Debatte die sozialen und ökologischen Forderungen eher gestärkt oder geschwächt?

Wie wir wissen, sind die Meinungen in diesen Fragen geteilt, manchmal zu Recht. Die Debatte über nachhaltige Entwicklung bringt aber auch einige wichtige Neuigkeiten mit sich. Soziale und ökologische Forderungen finden in diesem Begriff zum ersten Mal eine Einheit. Zumindest in der Theorie wird anerkannt, dass die Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens, der Demokratie, der Selbstbestimmung, der Ökologie und letztendlich der Lebensqualität eng miteinander verbunden sind.[14] Die Multidimensionalität der Nachhaltigkeit sowie die systemische Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist eine zentrale Stärke der Nachhaltigkeitsdebatte.

Die Ziele des nachhaltigen Entwicklungsmodells können wie folgt zusammengefasst werden:

  • Überwindung der globalen ökosozialen Krise
  • Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen
  • Intra- und intergenerationale Gerechtigkeit
  • Gleichgewicht zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem.

Die internationale Gemeinschaft hat diese Ziele anerkannt und sie gleichzeitig „gesellschaftsfähig“ gemacht. Internationale Organisationen, Regierungen, Kommunen und sogar Unternehmen haben sich zur Nachhaltigkeit bekannt – zumindest ideell. Die Diskussion über die Alternativen zu der dominanten nicht-nachhaltigen Entwicklung fließt immer mehr in die Nachhaltigkeitsdebatte ein. Diese Debatte wird sehr breit geführt. Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung bildet eine doppelte Brücke: einerseits zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft; andererseits zwischen Süden und Norden der Welt.

Die Nachhaltigkeitsdebatte hat aber nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen. Die konsequente Umsetzung der vier oben genannten Nachhaltigkeitsziele käme einer Revolution gleich. Doch viele Regierungen, Unternehmen und Menschen wünschen sich eine oberflächliche nachhaltige Entwicklung, ohne radikale Veränderungen. Konkrete Maßnahmen, die dem Ernst der Lage entsprächen, blieben bisher aus. Die Schere zwischen den Nachhaltigkeitszielen und der realen gesellschaftlichen Entwicklung öffnet sich immer mehr. Sowohl Weltbevölkerung als auch CO2-Emissionen nehmen weiter zu. Es fehlt nicht mehr an Konferenzen, Studien und Aufrufen, sondern an konkreter Umsetzung der sozialen und ökologischen Ziele sowie an praktischer Erfahrung. Es gibt kaum Nachhaltigkeitslabore, in denen alternative Lebensweisen möglich sind und weiterentwickelt werden.

Die Nachhaltigkeitsdebatte ist sehr auf die Zukunft konzentriert, obwohl einige Probleme wie Armut schon eine lange Geschichte haben. Es entsteht der Eindruck, dass wir noch genügend Zeit haben, um radikale Veränderungen umzusetzen, um Verzicht zu üben.

Ein Teil der Forschung und der Diskussion konzentriert sich auf technologische Lösungen. Dabei wird oft insbesondere ein Weg verfolgt: weiter so wie bisher, ohne bestimmte Strukturen verändern zu müssen. Technologische Lösungen betreffen oft die Symptome und nicht die Ursachen der Probleme.

Aber wir kennen bereits viele bewährte Lösungen. Nicht alle kommen aus dem Westen, nicht alle sind ein Ergebnis des „technologischen Fortschritts“. Es gibt „Traditionen der Nachhaltigkeit“, die schonsehr alt sind. Viele wurden durch die Kolonialisierung ausgelöscht, andere werden heute durch die Globalisierung bedroht. Bewährte Lösungen müssen nicht mehr erfunden werden. Was aber hemmt ihre breite Umsetzung? Diese Frage wird zu selten gestellt.

Eine kritische Analyse der Machtstrukturen, die manchmal die Umsetzung bewährter Lösungen hemmen oder gar verhindern, findet in der Nachhaltigkeitsdebatte selten statt.[15] Das Thema „sozio-ökonomische Ungleichheit“ wird oft auf die Armut in „anderen“ entfernten Ländern reduziert. Im eigenen Land wird zwar die Verbraucherkultur des „Geiz ist geil“ kritisiert – nicht aber die Strukturen, die Armut, Konsum und Ignoranz fördern. Es wird leider nicht ausreichend erkannt, dass die Strukturen der sozialen Ungleichheit zu den zentralen Ursachen der ökologischen Krise gehören.

Mit „Strukturen der sozialen Ungleichheit“ wird hier nicht die selbstbestimmte, sondern die fremdbestimmte Form der Ungleichheit bezeichnet, das heißt die ungerechte Verteilung von Reichtum und sozial-ökologischen Kosten der Entwicklung sowie die ungerechte Verteilung von politischem Einfluss, von Bildung und Information. Die dominante neoliberale Wirtschaftspolitik ist mit einer nachhaltigen Entwicklung unvereinbar, nicht nur weil sie unökologisch ist, sondern auch weil sie zu einer wachsenden fremdbestimmten sozialen Ungleichheit führt. Diese Unvereinbarkeit wird oft in dem Glauben verschwiegen, dass eine nachhaltige Entwicklung neben einer neoliberalen Wirtschaftspolitik möglich sei.

Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung ist in den internationalen politischen Institutionen entstanden. Manche Institutionen und Unternehmen reduzieren ihn auf eine PR-Maßnahme. Die inflationäre Verwendung und gar der Missbrauch des Nachhaltigkeitsbegriffes haben zu seiner Entleerung geführt. Aus diesen Gründen wird der Nachhaltigkeitsbegriff in der Zivilgesellschaft immer noch von Skepsis begleitet. Experten bevorzugen immer wieder andere Begriffe wie „Zukunftsfähigkeit“, „sozial-ökologische Entwicklung“ oder gar die englischen Bezeichnungen „Sustainable Development“ oder „Sustainability“, die schärfer und radikaler erscheinen. Kulturschaffende betrachten das Wort „Nachhaltigkeit“ oft als konservativ. Viele Menschen kennen den Begriff nicht einmal: „Nachhaltigkeit“ betrifft für sie nur Fachexperten, nur eine Elite.

Fazit: Sowohl die Stärken als auch die Schwächen des Nachhaltigkeitsbegriffs sprechen für den Bedarf nach einem neuen Ansatz der Nachhaltigkeit.

II. Die Kulturen der Nachhaltigkeit

„Nachhaltigkeit“ leidet immer noch an einem Geburtsfehler: Der Begriff entstand in den Zentren der globalen Gesellschaft und soll sich nun in den Peripherien durchsetzen. Eine solche Genese birgt eine Gefahr: die Gefahr eines neuen Entwicklungsmodells, das sich als neuverpackte Modernisierung entblößt oder als „politische PR-Maßnahme“ endet. In beiden Fällen würden wir entscheidende Zeit verlieren. Um eine solche Gefahr zu vermeiden, sollten in der Frage der Kulturen der Nachhaltigkeit zuerst zwei Ebenen unterschieden werden: jene der eigenen Kultur (in unserem Fall die westliche) und die multikulturelle Ebene.

II.i Die westliche Kultur

Es ist insbesondere die westliche Kultur, die heute globalisiert wird. Weil diese Kultur eine große Verantwortung bei der Entstehung und bei der Verschärfung der globalen Krise hat, müssen hier ein Paradigmenwechsel und ein Wertewandel stattfinden. Wir brauchen ein radikales sozial-ökologisches Umdenken. Welche Merkmale können eine zukunftsfähige Kultur kennzeichnen? Hildegard Kurt und Bernd Wagner beantworten diese Frage wie folgt:

„Ein Verständnis von Nachhaltigkeit, das gleichberechtigt mit den ‚drei Säulen‛ Ökonomie, Ökologie und Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension umfasst; das die auf Vielfalt, Offenheit und wechselseitigem Austausch basierende Gestaltung der Bereiche Ökonomie, Ökologie und Soziales als kulturell-ästhetische Ausformung von Nachhaltigkeit versteht und verwirklicht.

„Ein Kulturbegriff, der von der Naturzugehörigkeit des Menschen ausgeht und grundsätzlich den Mensch und Natur gleichermaßen umfassenden Lebenszusammenhang mitdenkt.

„Eine Verständigung auf Grundwerte, von denen Gesellschaften zusammengehalten werden. Hierzu zählen: Gerechtigkeit zwischen den jetzt weltweit lebenden Menschen, im Blick auf die künftigen Generationen und im Blick auf die Natur; das Prinzip Verantwortung; Toleranz; der Schutz der Schwachen sowie die Wahrung kultureller und biologischer Vielfalt.

„Ein hohes Maß an Partizipation in allen gesellschaftspolitischen Entscheidungs- und Gestaltungsfragen einschließlich der Demokratisierung aller Aspekte des fortschreitenden Globalisierungsprozesses.

„Ein hoher politischer und philosophischer Stellenwert der Frage nach dem guten Leben und die Pflege einer zukunftsfähigen Lebenskunst.

„Eine Rückführung der Kunst aus ihrer Randposition in die Lebenswelt.

„Interkulturelle Kompetenz im Dialog der Kulturen, da in einer eng verflochtenen Welt eine Zukunftsperspektive nur gemeinsam gesichert werden kann.“[16]

Die Grundsätze einer zukunftsfähigen Kultur liegen nicht nur in der Zukunft und in dem Neuen. Das 20. Jahrhundert war bisher der höchste Punkt der Entwicklung der westlichen Gesellschaft – und gleichzeitig ihr tiefster: zwei Weltkriege, Auschwitz, Hiroshima, Tschernobyl. Wurden diese Erfahrungen genügend und bis zur letzten Konsequenz kulturell verarbeitet? Vieles wird sehr schnell „vergessen“, mit der Folge, dass unser angeblicher Fortschritt heute immer noch stark überschätztwird. Die westliche Gesellschaft sieht sich immer noch als Zentrum der Welt und als Spitze der globalen Entwicklung. „Unterentwickelt“ sind nur die anderen.

Eine Kultur der Nachhaltigkeit kennt die eigenen Grenzen und ist deshalb bescheidener, offener und lernfähiger. Sie begegnet dem Mythos des technologischen Fortschritts mit Skepsis. Dogmen wie „Wachstum“ und „Wettbewerb“, Ideologien und Universalisierungen genauso. Um sich davon zu befreien, braucht der Westen heute eine zweite Aufklärung – und vielleicht auch eine neue wissenschaftliche Revolution. Für diese Revolution haben die Ökologie, die Systemtheorie und die Relativitätstheorie bereits eine gute Basis vorgelegt. Die Erkenntnisse von Charles Darwin, Albert Einstein, Werner Heisenberg, Ilya Prigogine, Herman Daly oder Sigmund Freud wurden aber noch nicht bis zur letzten Konsequenz in die dominante Kultur aufgenommen. Das Ergebnis: Der Entwicklungsgrad wird immer noch auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes reduziert, während die amerikanische Gesellschaft als vorbildhaftes Modell für die ganze Welt durchgekämpft wird.

Die ständige Spezialisierung der Wissenschaften hat nicht unbedingt zu einem stärkeren Bewusstsein für das Ganze beigetragen: Eher das Gegenteil ist wahr. Die Quantifizierung und die Monetarisierung der gesellschaftlichen Prozesse dient zwar ihrer Kontrolle, geht aber oft auf Kosten der qualitativen Dimensionen, die sich nicht auf Zahlen und Geldbeträge reduzieren lassen.

In einer Kultur der Nachhaltigkeit stellt die Wirtschaft die Handlungsmittel – und legt nicht die Handlungsziele fest. Der Markt wird als Teil der Gesellschaft betrachtet – und nicht umgekehrt.

II.ii Die kulturelle Vielfalt

Der Mensch ist kognitiv begrenzt. Die Menschen sind unterschiedlich und leben in unterschiedlichen Lebensräumen. Es gibt nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten. Was sich in einer Situation bewährt, kann für eine andere falsch sein. Alle diese Argumente sprechen gegen die Dominanz einer einzigen Kultur und für eine kulturelle Vielfalt. Eine globalisierte Kultur der Nachhaltigkeit wäre ein Widerspruch in sich: Es kann nur Kulturen der Nachhaltigkeit geben.

In der Kolonialisierung wurden Kulturen zerstört, von denen wir sehr viel lernen können. Dasselbe gilt für die Globalisierung. Die Nachhaltigkeit sollte diesen Fehler nicht wiederholen. Dafür hat sich auch die UNESCO in den letzten Jahren stark gemacht. In dem „Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdruckformen“ (Paris, 2005) wurde die Bedeutung einer kulturellen Vielfalt für das Leitbild der Nachhaltigkeit betont: „Der Schutz, die Förderung und der Erhalt der kulturellen Vielfalt sind eine entscheidende Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung zu Gunsten gegenwärtiger und künftiger Generationen.“

Bei den Menschen wurde die biologische Evolution durch eine kulturelle Evolution ersetzt. Während die Evolutionsfähigkeit natürlicher Systeme auf der biologischen Vielfalt basiert, setzt die Evolutionsfähigkeit gesellschaftlicher Systeme eine kulturelle Vielfalt voraus. Nur so konnte sich der Mensch an die Umweltbedingungen des Tropenwaldes, der Wüste oder des Eises anpassen. Kulturelle Prozesse können das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem System und sozial-ökologischer Umwelt auch negativ beeinflussen. Wenn die kulturelle Vielfalt abnimmt, sinkt auch die gesamte Umweltwahrnehmung der Gesellschaft. Kolonialisierung, Modernisierung und Globalisierung haben einerseits die Vermischung verschiedener Kulturen ermöglicht. Andererseits zeigt das Ergebnis dieser „Vermischung“, wie entscheidend eine Gleichberechtigung der Kulturen und ein Respekt füreinander sind. Die einheimischen Traditionen der „unterentwickelten“ Länder wurden oft bekämpft, als Hindernis für eine Modernisierung nach westlichem Muster. Die Sprache der englischen Kolonialmacht hat sich als Weltsprache durchgesetzt – nicht das Esperanto.

Die Standardisierung der globalen Ernährungsproduktion oder die architektonische Uniformierung der Metropolen der Welt sind Ursache und gleichzeitig Ergebnis dieser kulturellen Verarmung. Sie ist nicht nur auf internationaler Ebene sichtbar, sondern auch innerhalb der westlichen Gesellschaft, die auf ihre wirtschaftliche Dimension zentriert ist. Subkulturen und alternative Lebensweisen haben große Schwierigkeiten, sich in diesem Umfeld zu entwickeln oder auch nur zu bestehen, wenn die ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung nicht stimmt. Die Privatisierung der öffentlichen Räume bedeutet weniger Raum für kulturelle Vielfalt. Die Abnahme der kulturellen Vielfalt hat zu einer Reduktion der Evolutionsfähigkeit und Krisenfähigkeit des gesellschaftlichen Systems geführt. Die Auswahl der Antworten und der Lösungen, die für neue soziale und ökologische Probleme benötigt werden, ist kleiner geworden. Der wissenschaftliche und der technologische Fortschritt werden die existenzielle Bedeutung der kulturellen Vielfalt nie ersetzen können. Eine Natur ohne biologische Vielfalt, sondern aus genmanipulierten Wesen ist nur eine grauenhafte Vorstellung. In diese Richtung fließen aber immer mehr Finanzmittel.

Diese kurze Analyse zeigt, wie eng der Zusammenhang zwischen Kultur und Nachhaltigkeit ist, das heißt auch zwischen kultureller Vielfalt und Nachhaltigkeit. Die Staaten bestimmen sowohl die internationale als auch die innere „Entwicklungspolitik“, das heißt die Rahmenbedingungen, die zu dem Schutz oder der Abnahme der kulturellen Vielfalt führen. Das „Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdruckformen“ ist sicher ein positiver Schritt, der nun umgesetzt werden muss. Schade nur, dass es keine Unterstützung von USA und Israel fand.

III. Die kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit

Wie kommen wir von der heutigen gesellschaftlichen Ordnung, die offensichtlich nicht nachhaltig, aber noch sehr mächtig und zäh ist, zu einer nachhaltigen Ordnung? Wie kommen wir von der wirtschaftszentrierten Kultur der Globalisierung zu einer sozial-ökologischen Kultur der Nachhaltigkeit? Welche Organisations- und Kommunikationsformen fördern die kulturelle Vielfalt – anstatt sie zu zerstören?

Um diese Frage zu beantworten, muss zuerst berücksichtigt werden, dass sich Kulturen vermischen, weil die Menschen miteinander kommunizieren. Wir leben selten in einer einzigen Kultur oder in einem einzigen System. Die Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen verlaufen oft innerhalb von Parteien, Institutionen, Unternehmen, Gruppen oder sogar von Menschen selbst – und nicht zwischen ihnen. Auch in alternativen Organisationen wie Attac befinden sich Merkmale, die eher der dominanten Kultur zugeschrieben werden können. Auch innerhalb nicht-nachhaltiger Unternehmen können kritische Stimmen gefunden werden. Diese Vermischung der Kulturen macht es schwieriger und einfacher zugleich, einen kulturellen Wandel zu fördern.

Wir selbst sind Teil des Systems. Die echte Herausforderung besteht darin, die dominante Kultur von innen zu ändern – und das gilt insbesondere in Zeiten der Globalisierung. Wer sein Verhalten konsequent an sozial-ökologischen Werten ausrichtet, riskiert heute die Ausgrenzung. Wer die Integration, die Karriere oder die soziale Sicherheit in Vordergrund stellt, riskiert oft die reine Anpassung an den gegebenen Strukturen. In beiden Fällen kann man zur Nachhaltigkeit nicht wirklich beitragen. Wie kann man diesem Dilemma entkommen?

Die Strategiedebatte wird von zwei Positionen beherrscht: Konsens oder Konflikt, Realismus oder Fundamentalismus. Dabei geht es eigentlich nur um eines: um den Umgang mit Macht- und Interessenstrukturen, die unsere Gesellschaft beherrschen. Wenn gesellschaftliche Akteure nicht gleichberechtigt sind, dann werden die Ergebnisse der Kommunikation eher vom Stärkeren bestimmt – und nicht unbedingt vom Besseren. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen den drei Nachhaltigkeitssäulen Wirtschaft, Soziales und Ökologie: Es gibt eine starke Säule und zwei schwache.

Einige Befürworter der „Nachhaltigkeit“ vertreten eine pragmatische und manchmal opportunistische Position: Sie sind sich der entscheidenden Bedeutung der Strukturen sozialer Ungleichheit zwar bewusst, vermeiden aber jede Kritik an Regierung und Konzernen. Sie denken nämlich, dass man nur mit Macht und Geldern etwas ändern kann – und nicht gegen sie. Eine kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit akzeptiert diese Logik nicht und handelt auf der Metaebene der gesellschaftlichen Kommunikation. Die Rolle der sozialen Ungleichheit wird analysiert und öffentlich thematisiert. Es wird bewusst gemacht, dass Organisationsformen wie Demokratie oder Technologien wie Massenmedien Ungerechtigkeit legitimieren, aber auch bekämpfen können. Psychosoziale Faktoren werden ebenso berücksichtigt. Nicht nur rationale, sondern auch emotionale Faktoren wie Gruppendynamik, Persönlichkeit, Bedürfnisse oder Gewohnheiten hemmen oder beeinflussen den sozialen Wandel stark.

Schließlich hat die Bildung Bedeutung. Nicht nur der Bildungsgrad, sondern auch die Qualität der Bildung sind für eine nachhaltige Entwicklung wichtig. Neben anderen gesellschaftlichen Institutionen bilden Schulen und Hochschulen auch die Denkweisen und Lebenseinstellungen von Menschen aus. Nur wer in breiten Horizonten denken kann und Zusammenhänge versteht, kann die Ursachen von komplexen Problemen begreifen und nachhaltige Lösungen vorschlagen. Dies spricht für eine trans- und interdisziplinäre Ausbildung. Eine autoritäre Pädagogik hemmt die kreative Partizipation an der Mitgestaltung der Gesellschaft. Nur wer keine Angst hat, Hierarchien zu widersprechen und die eigenen Bedürfnisse vor einer Gruppe klar auszudrücken, kann sich politisch effektiv betätigen und Nachhaltigkeit fördern.

Wenn sich bestimmte Institutionen nur als Ordnungshüter verstehen und verhalten – oft unabhängig davon, ob diese Ordnung nachhaltig ist oder nicht, dann müssen andere gesellschaftliche Akteure den sozial-ökologischen Wandel vorantreiben. In einer nicht-nachhaltigen Ordnung reicht es einer Botschaft nicht, besser und nachhaltig zu sein, um sich durchzusetzen. Eine neue Kultur braucht soziale Träger, um sozial wirksam zu werden.

Die Zivilgesellschaft hat dieses Potenzial. Nachhaltigkeit braucht aber keine gewöhnlichen politischen Bewegungen, sondern politische Kulturbewegungen, die von Geisteswissenschaftlern, Journalisten, Psychologen, Künstlern, Migranten (u.a.) mitgestaltet werden. Durch netzwerkartige Strukturen sollten diese Bewegungen integrierend und offen wirken statt elitär. Im internen Prozess sollten sich Dynamik und Vielfalt gegen Starrheit und Uniformierung durchsetzen – nicht umgekehrt.

Zivilgesellschaftliche (Basis-)Initiativen können eine wichtige Rolle bei der Umorientierung zu nachhaltigkeitsorientierten Lebensstilen einnehmen.[17] Sie können die Funktion von kulturellen „Nachhaltigkeitslabors“ (oder „Nachhaltigkeitspionieren“) erfüllen, in denen beispielhaft neue Lebens-, Konsum- und Arbeitsmodelle erprobt und gelebt werden, von denen gesamtgesellschaftliche Lernprozesse ausgehen.[18]

Auch die Künste bieten ein besonderes Potenzial für die Nachhaltigkeitsziele, nicht nur als alternatives oder als außergewöhnliches Medium. Zu den Künsten gehören u.a. die bildenden und die darstellenden Künste, der Film, die Literatur, die Musik, die Fotografie und die Architektur. Der niederländische Soziologe Hans Dieleman nennt sieben Gründe, warum Künstler „change agents in sustainability“ sein können[19]

  • Einige Künstler interessieren sich für die Nachhaltigkeitsziele und machen sie zum Thema der eigenen Kunst;
  • Nachhaltigkeit bedeutet systemisches, vernetztes Denken.[20] Bei einer ganzheitlichen, integrativen Betrachtung der Wirklichkeit haben die Künstler weniger Probleme als die Wissenschafter. Die Künste fördern den Perspektivwechsel.
  • Nachhaltigkeit bedeutet Wandel. Gesellschaftliche Transformationsprozesse sind nicht nur rationale Prozesse, sondern auch emotionale. Sie betreffen zum Beispiel Gewohnheiten. Die Künste haben die Fähigkeit, rationale Botschaften zu emotionalisieren und emotionale Bedürfnisse zu politisieren.
  • Nachhaltigkeit bedeutet, etwas Neues zu schaffen. Die Künste bergen eine höhere innovative und visionäre Kraft als zum Beispiel Politik und Wissenschaft.
  • Unsere Gesellschaft braucht eine reflexive Modernisierung, um ihre Krise zu überwinden – so der Soziologe Ulrich Beck.[21] Diese Art „psychoanalytische Therapie der Gesellschaft“ darf sich aber nicht auf eine ästhetische Reflexion reduzieren, sondern muss auch eine innere Reflexion beinhalten. Die Künste können diese Reflexion besser fördern. Die meisten Menschen denken nicht wie „Fachexperten“. Ihre Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und mit sich selbst braucht andere Wege.
  • Die Künste können den Lernprozess fördern, der in der Integration von Theorie und Praxis benötigt wird. Dabei geht es um ein „reflective management“. Normalerweise vergleichen wir unsere praktischen Erfahrungen mit den vorhandenen kognitiven Mustern. In der Nachhaltigkeit geht es jedoch auch um den umgekehrten Prozess, bei dem vorhandene kognitive Muster der Wirklichkeit angepasst bzw. neue kognitive Muster entwickelt werden.

Zum siebten Grund, den Dieleman nennt, komme ich später, denn er betrifft die Kultur als Ganze und nicht nur die Künste. Durch die Künste kann man der Tendenz zur Selbstreferentialität von gesellschaftlichen Diskursen entgegenwirken. Eine Nachhaltigkeit, die zur „Expertenlyrik verkommt“,[22] kann nämlich wenig bewegen.

IV. Die kulturelle Evolution

Es gibt einen Prozess, in dem Ordnung und Dynamik von Systemen eine Synthese finden: die Evolution. In der Evolution passt sich das System den veränderten Umweltbedingungen an, um die eigene Existenz zu sichern. Evolution ist oft mit einer Umorganisation des Systems verbunden (organisationale Transformation).[23] Voraussetzungen dieser dynamischen Ordnung oder geordneten Dynamik des Systems sind die Wahrnehmung der Umwelt, die Kommunikation mit der Umwelt, die Offenheit und die Flexibilität der Strukturen innerhalb des Systems sowie die Fähigkeit zur Selbstorganisation.

Das, was in der Natur die biologische Evolution ist, stellt in der Gesellschaft die kulturelle Evolution dar. Die biologische Evolution wurde bei den Menschen durch eine kulturelle Evolution ersetzt.

Wenn wir heute die globale Krise überwinden möchten, müssen wir uns folgende Fragen stellen:

  • Was hemmt die kulturelle Evolution des gesellschaftlichen Systems?
  • Was fördert sie?

Der größte Hemmfaktor der kulturellen Evolution ist die Verbindung von:

  • Strukturen der sozialen Ungleichheit mit
  • selbstreferentiellen Kulturprozessen (Dogmen wie Markt, Wachstum und Wettbewerb; Mythos des Fortschrittes; Intoleranz gegenüber Alternativen; Spezialisierung; usw.) und
  • bestimmten Technologien, wie zum Beispiel Waffen, Geld, Technologien der sozialen Kontrolle und Massenmedien.

Zu den Förderfaktoren der kulturellen Evolution zählt vor allem die Umweltwahrnehmung, das heißt die Auseinandersetzung mit dem Fremden. Das Experimentieren, die Erfahrung, die Recherche, die Kritik, die Reflexion, die Kreativität, das Lernen, die politische Partizipation sowie die intra- und interkulturelle Kommunikation sind Möglichkeiten, um sich der Umwelt anzunähern. Emotionen und Sexualität sind weitere Faktoren, die die gesellschaftliche Dynamik fördern. Diese Dynamik kann viele verunsichern und überfordern – und ist nicht immer erwünscht. Nicht jeder kann mit jedem etwas teilen. Die Offenheit gegenüber dem Fremden setzt vor allem ein Vertrauen in sich selbst voraus sowie einen günstigen gesellschaftlichen Kontext, der freie Räume und Autonomie zulässt und respektiert. Kommunikation in der Vielfalt soll dabei von jedem gefördert werden.

Fazit: Wer sich für eine nachhaltige Gesellschaft einsetzen möchte, sollte die Förderfaktoren der kulturellen Evolution leben – und deren Hemmfaktoren bekämpfen.

V. Schlusswort

Die Umwelt war in den sechziger Jahren eine juristische Frage, in den siebziger eine politische und ab den neunziger eine Frage des Managements und des Marktes. Heute wird sie immer mehr zu einer kulturellen Frage. Dies ist für den Soziologen Hans Dieleman der siebte Grund, um zu erklären, warum gerade heute Künstler wichtige „change agents in sustainability“ werden können. Doch seine Aussage hat eine weiter reichende Bedeutung.

Wenn die Kultur das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem System und Umwelt reguliert, dann ist die heutige Umweltkrise eine kulturelle Krise. Sie braucht deshalb kulturelle Lösungen und eine kulturelle Strategie. Die globalisierte Kultur soll dabei durch eine Vielfalt von Kulturen der Nachhaltigkeit ersetzt werden. Welche sozialen Träger, welche Bildungsinstitutionen, welche Kunst- und Kommunikationsformen diesen Prozess unterstützen können, ist dabei keine zweitrangige Frage. Marshall und Herbert McLuhan lehren uns, dass auch das Medium die Botschaft ist.[24] Es ist ganz anders, ob man Natur über den Fernsehbildschirm oder durch direkte Erfahrung erlebt; ob man Menschen trifft oder mit ihnen mailt. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Begriff von oben durchgesetzt wird – oder eine Gesellschaft von unten mitgestaltet werden darf.

In der Nachhaltigkeit ist der Weg das Ziel und das Ziel der Weg. Der systemische Ansatz lehrt uns, dass man zwischen Prozess und Ergebnis der Entwicklung nicht allzu sehr unterscheiden sollte. Für eine Kultur der Nachhaltigkeit bedeutet dies etwas sehr Wichtiges: Wenn nicht nur die Inhalte, sondern auch die Typologie des Mediums, die Organisationsform oder der künstlerische Prozess eine Kultur bestimmen, dann braucht die Nachhaltigkeit nicht nur neue Paradigmen, Weltbilder oder Werte (Kultur der Nachhaltigkeit), sondern auch neue Kommunikationsformen (kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit), die eine kulturelle Evolution ständig fördern und die Durchsetzung von selbstreferentiellen Weltbildern (Ideologien) hemmen.

Der kulturelle Wandel ist heute viel langsamer, als es die globale Krise erfordert. Andererseits nehmen wir gerade diese Gesellschaft als hochdynamisch wahr: Jede Woche werden neue Produkte auf dem Markt präsentiert. Informationen werden im Sekundentakt veröffentlicht. Noch nie wurde soviel über Zeitknappheit im Alltag geklagt, weil die Menschen „soviel zu tun haben“. Diese ist aber eine selbstreferentielle Dynamik, die in einem krassen Gegensatz zu der evolutionären Starrheit des Systems steht. Der extrem schleppende Verlauf des Kyoto-Prozesses belegt es.

Weil das System zu starr ist, um sich zu ändern, versucht man, mit Technologien die Umwelt dem System anzupassen – oder zumindest die Reaktionen der Umwelt zu kontrollieren. Diese Logik zeichnet die Industrialisierung, die Modernisierung und die Globalisierung aus – und „Entwicklung“ wird oft mit diesen drei Begriffen gleichgesetzt. Deshalb kann eines hier besonders empfohlen werden: Um die globale Krise zu überwinden, brauchen wir heute nicht mehr Entwicklung, sondern mehr kulturelle Evolution.

Zum Autor

Davide Brocchi

Dipl.-Sozialwissenschaftler und Kulturmanager, wurde 1969 in Rimini (Italien) geboren und ist 1992 nach Deutschland eingewandert. Heute lebt er in Köln und leitet das Institut Cultura21 e.V., das das Verhältnis zwischen Kultur und Nachhaltigkeit erforscht und eine kulturelle Evolution der Gesellschaft fördert (www.cultura21.de).

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Vgl. SRU (Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhafte umweltgerechte Entwicklung.Stuttgart: SRU, 1994.
  2. Gerhard Voss: Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung – Darstellung und Kritik. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, 4/1997. Köln: Deutscher Instituts-Verlag, 1997. S. 32.
  3. Hildegard Kurt; Bernd Wagner (Hrsg.): Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit. Essen: Klartext Verlag, 2002. S. 13.
  4. Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974.
  5. Vgl. Anthony Giddens: Sociology. Cambridge, 1989.
  6. Ansgar und Vera Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: J. B. Metzler, 2003. S. 19.
  7. Vittorio Hösle: Philosophie der ökologischen Krise. München: C. H. Beck, 1991. S. 54.
  8. Vgl. Karl-Werner Brand: Nachhaltige Entwicklung: Eine Herausforderung für die Soziologie. Opladen: Leske + Budrich, 1997.
  9. Vgl. Klaus Michael Meyer-Abich: Aufstand für die Natur: Von der Umwelt zur Mitwelt. München: Hanser, 1990.
  10. Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1966.
  11. Max Horkheimer: Eclisse della ragione. Turin: Einaudi, 1969. S. 84-85 (erschienen in Deutschland unter dem Titel „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1967).
  12. Völker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp Verlag, 1987.
  13. Alberto Tarozzi: Visioni di uno sviluppo diverso. Torino: Gruppo Abele, 1990. S. 43.
  14. Vgl. die Leitidee von Cultura21, 25.11.2006.
  15. Vgl. Helga Eblinghaus, Armin Stikler: Nachhaltigkeit und Macht: Zur Kritik von Sustainable Development. Frankfurt: IKO- Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1996.
  16. Hildegard Kurt, Bernd Wagner: Ibid. 2002, S. 14.
  17. Michael Wehrspaun, Christian Löwe, Martina Eick: Die Bedeutung von Basisinitiativen für die Verankerung einer Kultur der Nachhaltigkeit. Berlin: Umweltbundesamt, FG I 2.2/III 1.3, Januar 2004.
  18. Lucia Reisch, Gerhard Scherhorn: Wie könnten nachhaltige Lebensstile aussehen? Auf der Suche nach dem ethischen Konsum, in: Der Bürger im Staat: Nachhaltige Entwicklung. Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung, Heft 2/1998.
  19. Hans Dieleman: Artists as change agents in sustainability. Vortrag vom 22.11.2006 in der Lüneburger Universität.
  20. Vgl. Frederic Vester: Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. München: dtv, 2002.
  21. Ulrich Beck, Wolfgang Bonß: Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001.
  22. Werner Schenkel: Kultur, Kunst und Nachhaltigkeit?, in: Hildegard Kurt, Bernd Wagner: Ibid. 2002, S. 33.
  23. Vgl. David J. Krieger: Einführung in die allgemeine Systemtheorie. München: W. Fink Verlag, 1998. S. 39-42.
  24. Vgl. Marshall und Herbert M. McLuhan: Das Medium ist die Botschaft. The Medium is the Message. Gespräche und Interviews. Hamburg: Philo Verlag, 2005.

Der Fall Humbert-Humbert. Klaus Beier spricht mit Camilo Jiménez über Humbert Humbert, 26.01.08

Vladimir Nabokovs Roman Lolita wurde oft als eine Verharmlosung der Pädophilie angesehen. Aber handelt es sich bei der Geschichte der 12-jährigen Dolores Haze und des 37-jährigen Humbert Humbert tatsächlich um einen Fall von Pädophilie? Professor Klaus Beier antwortet.

Der Leser des Romans hat manchmal den Eindruck, dass Lolita kein durchschnittliches Kind ist. Mehr noch nimmt man wahr, dass sie den Protagonisten, Humbert Humbert, der mit ihrer Mutter verheiratet ist, verführt. In manchen Kulturen hätten beide heiraten und eine Ehe führen können, ohne dass jemand Anstoß daran genommen hätte. Warum würden wir heute Humbert Humbert dermaßen strikt beurteilen?

Bei Lolita ist eine wichtige Überlegung anzuführen: Eine Jugendliche kann nicht mit einem Kind verglichen werden; die Pubertät beginnt bei Mädchen durchschnittlich mit elfeinhalb und bei Jungen etwa mit zwölf Jahren. Zu dieser Zeit stehen die Gehirne massiv unter dem Einfluss von Hormonen. Der Jugendliche befindet sich zunehmend auch auf sexueller Reizsuche – das Kind nicht. Diesem geht es um emotionale Bindungspartner.

Wie kann man sich das vorstellen?

Stellen Sie sich eine Antenne vor, durch die Kinder ihre Kontaktgestaltung organisieren. Die Antenne empfängt beim Kind folgende Informationen: Wer ist für mich eine emotional bedeutsame Bezugsperson? Wo fühle ich mich sicher und geborgen?

Und Lolita ist offenbar kein Kind.

Sie ist in die Pubertät gekommen und damit beginnt das Jugendalter – auch wenn sie erst zwölf Jahre alt sein mag. Im Übrigen besteht ein besonderes Verhältnis zu ihrer Mutter und familienstrukturelle Aspekte können bei der jugendlichen Entwicklung nicht außer Acht gelassen werden. Lolita konkurriert mit der Mutter, was eine zusätzliche Motivation für sie sein dürfte, Humbert Humbert für sich einzunehmen.

Zu verurteilen wäre also, dass Humbert Humbert diese kritischen Aspekte verkannt und sie sogar ausgenutzt hat.

Als Erwachsener sollte man mit fürsorglicher Distanz auf Entwicklungsaspekte von Jugendlichen reagieren – und sich keinesfalls von eigenen Interessen leiten lassen. Es gibt gute Gründe, warum Jugendliche zunehmend versuchen, erotische Attraktivität auszustrahlen. Erwachsene dürfen das nicht auf sich beziehen. Dass erotische Signale gesendet werden, muss man dem Jugendlichen zugestehen – was bei Kindern übrigens komplett wegfällt.

Humbert Humbert ist dann kein Pädophiler?

Er ist zunächst mal eine Romanfigur, die ich nicht explorieren kann. Aus sexualmedizinischer Sicht muss man aber auf folgendes hinweisen: Es gibt Männer, die auf Kinder orientiert sind, und andere, die ausschließlich auf Jugendliche orientiert sind. Diese letzteren haben in der Fachwelt sogar extra Namen: Ephebophile orientieren sich auf männliche Jugendliche und Parthenophile auf weibliche Jugendliche. Für diese Männer sind Kinder uninteressant und erwachsene Frauen auch. Da es bei Lolita genau um die Übergangsphase geht, wäre bei Humbert Humbert also allenfalls eine parthenophile – und keine pädophile – Neigung zu vermuten.

Das Gespräch führten Britta Verlinden und Camilo Jiménez.

War Kurt Cobain der Novalis des 20. Jahrhunderts? Martin A. Völker spricht mit Ronald Klein über Kurt Cobain und die Romantik, 25.01.08

Dr. Martin A. Völker lehrt Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin. In den letzten Jahren hat er innerhalb seiner Lehre und Forschung versucht, eine „Integrale Ästhetik“ zu entwickeln. Ausgehend von theoretischen Überlegungen des Psychologen und Philosophen Ken Wilber hat er in zahlreichen Einzelbeiträgen an einer Sozial- und Kulturgeschichte ästhetischen Denkens und ästhetischer Erfahrung gearbeitet. Schwerpunktmäßig setzt er sich mit Körperdiskursen, Schönheitskonzepten und Lebensweisen zwischen 1700 und 1900 auseinander. Ronald Klein sprach mit ihm über die vermeintliche Transformation der Romantik im anti-modernistischen Denken und in der Popmusik.

In der Schule erfährt man, dass die Romantik mehr als die Blaue Blume darstellt. Kannst Du kurz für alle, die damals ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwendeten, erläutern, was die drei Phasen der Romantik kennzeichnete?

Zur Thematisierung der Romantik im Schulunterricht kann ich allen Betroffenen nur raten, gezielt wegzuhören und sich um die wirklich relevanten Fragen zu kümmern: Wie finde ich einen Freund, eine Freundin, wie werde ich endlich die Pickel und die Nazis an der Schule los? Die Schüler sollten weghören, damit sie nicht unempfindlich werden gegenüber den Dramen und Tragödien des Lebens, die sich zwischen zwei Buchdeckeln ausbreiten. So, wie die Blaue Blume, die Novalis, also Friedrich von Hardenberg, in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen beschreibt, zumeist behandelt wird, hat sie wenig mit dem Leben, mit dem täglich gelebten Leben eines Gymnasiasten, gemein. Man lässt die Schüler kurz an dieser Blume riechen, aber das wäre schon viel, nämlich ein sinnliches Erlebnis, das man in Schulen selten genug hat. Die Blaue Blume bleibt innerhalb des Unterrichts ein geruchloses Gebilde. Sie bleibt einem fremd, sie gehört der Gedankenwelt eines anderen an, den wir kaum kennen. Damit die Blaue Blume erlebbar wird, müsste man über feuchte Träume, die erwachende Sexualität eines jungen Mannes sprechen, über den Bergbau, über den mütterlichen Uterus als Urhöhle des Menschen und die kulturelle Produktivität des Schmerzes. Das überfordert jeden Lehrer. Die Fremdheit aber, die Abstraktheit, unter der auch ich als Schüler zu leiden hatte, erzeugen Lehrer, indem sie u. a. die ganze Literaturgeschichte in starre Phasen einteilen: alles läuft geordnet wie in einem Leichenzug ab, ohne Analyse der soziokulturellen Umstände und konkreten Biographien: Aufklärung, Sturm-und-Drang, Klassik und Romantik, als ob die Aufklärer schweigen würden, während die Romantiker zu schreiben beginnen. Die Rollen sind klar verteilt: Die Aufklärer, das sind die bösen Rationalisten, die monströsen Verfechter des ökonomischen Fortschritts; am anderen Ende erwarten uns die Romantiker, die rückwärtsgewandten Propheten, die Heilsbringer und Märtyrer der Poesie, wobei natürlich auch die Romantiker einen Haufen unverständliches und süßliches Zeug geschrieben haben. Aber selbst das eigene Leben lässt sich nicht in Kindheit und Erwachsensein aufteilen. Die interessanten Fragen bestehen doch darin, inwiefern die Kindheit immer wieder das Erwachsenwerden überschattet und in das Erwachsenssein eingreift. Welche kindlichen Sehnsüchte und Allmachtsphantasien schleppe ich mit mir herum; strukturiert das verdrängte Kind in mir meine momentanen Verhaltensweisen; welche kindliche Vorstellung wächst sich zu einer Neurose, zu einer psychischen Deformation aus? Auf die Literaturgeschichte übertragen erweist es sich als unzureichend, eine Phase ohne Ecken und Kanten mit ihren seltsam wenigen Protagonisten, die oft zufällig an die Oberfläche gespült worden sind, kennenzulernen. Man muss stattdessen fragen, was eine Phase motiviert, welches Gedankengut in sie hineinragt, womit sie kämpft, was sie verdrängt, was sie unbewältigt lässt und weiterreicht. Hieran knüpft sich eine genaue Analyse der Lebensläufe der Protagonisten, eine konkrete Behandlung der jeweiligen sozialen und psychischen Verfassung und familiären Situation.

In Deinen Augen kommt das Ästhetische im Schulunterricht zu kurz, wird überlagert von Epochenfragen und Interpretationen, so als wäre die Literatur zwecks späterer Analyse verfasst worden.

Bereits dem Abiturienten fällt auf, dass die Literaturgeschichte nur den Bruchteil jener Literaten behandelt, die jede Epoche aufzuweisen hat. Da muss er stutzig werden, unbequeme Fragen stellen, er muss die Vergessenen aus dem Abfalleimer der Geschichte herausholen, ebenso wie jeder einmal im Leben an den Punkt kommt, an dem es darum geht, die Familiengeheimnisse zu lüften und die Leichen im Keller aufzuspüren, um sich und die Welt verstehen, sich mit ihr aussöhnen zu können. Eine solche kritische Literaturgeschichte der Übergänge, der Erinnerung an das Verdrängte, ist selten irgendwo, schon gar nicht in der Schule, anzutreffen.

Kommen wir noch einmal zu den verschiedenen Phasen der Romantik.

Mit philiströser Gelehrtengeste könnte ich die Romantik in drei Phasen einteilen: in die Phase der Frühromantik (1790–1801), in der die Programmzeitschrift Athenaeum von Friedrich und August Wilhem Schlegel herausgegeben wird und in der man u. a. in Jena, inspiriert von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre und Johann Wolfgang Goethes Roman Wilhelm Meister, versucht, Gesellschaftskritik poetisch zu formulieren und die Ideale der Französischen Revolution auf ästhetisches Gebiet hinüberzuretten; die Hochromantik (1801–15) u. a. in Heidelberg, mit ihrer Volkslieddichtung und den Märchensammlungen; die Spätromantik (1820–1850), in der die Inhalte der vorhergehenden beiden Phasen trivialisiert werden und die – katholisch geprägt – im Feld der Politik restaurative und reaktionäre Züge annimmt. Auf diese grobe Einteilung könnte ich verweisen, wenngleich sich die Wirklichkeit vielschichtiger und komplizierter darstellt. Von dem, was im Zeitalter der Romantik passiert, wissen wir recht wenig. Wir kennen nur eine äußerst geringe Anzahl von Namen, es gibt einige große Werkausgaben, die Autoren der zweiten, dritten oder vierten Reihe kennen wir nicht. Wer kennt heute Friedrich Hugo von Dalberg (1760–1812), der dem Denken der Sturm-und-Drang-Generation entstammt und als Musikschriftsteller und Kulturtheoretiker die Frühromantik vorbereitet? Wer kennt heute den aus Estland stammenden Heinrich Dahl (1770–1807), der Romantik als Lebensform, als Bewusstseinsstörung und tiefempfundenen Riss zwischen Subjekt und Welt begreift? Wer kennt heute Louise Brachmann (1777–1822), die mit ihren Gedichten und Novellen auf die Nachtseiten der Biedermeierzeit hinweist und Angst und Depression ästhetisiert. Stellen wir uns ein Gesicht vor, so behandeln wir als Forscher permanent die große, hervorstehende Nase, die äußeren Umrisse erkennen wir verschwommen, die eigentliche Physiognomie bleibt uns verborgen.

Ursprünglich schien die Romantik dem Philisterhaften entgegengesetzt. Romantisch entstammt etymologisch dem Altfranzösischen und bezeichnet die Volkssprache, das Romanhafte, im Gegensatz zu den in Latein abgefassten Versen des höfischen Romans. Romantisch wurde damals ausschließlich pejorativ gebraucht. Steckt in der Emanzipation (der Sprache) latent trotzdem auch das Völkische, das Reaktionäre, das vor allem im 20. Jahrhundert damit assoziiert wurde? Man denke beispielsweise an Fichte.

Es gibt Romantiker, die man reaktionär nennen könnte, weil sie wie Friedrich de la Motte-Fouqué mit ihrer Vorliebe für mittelalterliche Gestalten und Themen feudale Zeiten verherrlichen. Man muss dabei bedenken, dass viele Romantiker zunächst als vehemente Streiter gegen eine zerstörerische Vernunft auftreten, sie vermeiden Klarheit und Realitätsbezug, weil ihnen ein Leben in einer prosaischen Welt, in der es weniger um Freiheit als um ökonomische Notwendigkeit geht, würdelos erscheint. Über die von der aufklärerischen Vernunft entblößte, sezierte und ausgebeutete Natur breiten sie den Schleier des Rätselhaften, Unverständlichen und Wunderbaren. Die Gefahr besteht nun darin, sich im Wunderbaren zu verlieren, sich selbst rätselhaft und fremd zu werden, mit abergläubischen Vorstellungen den Obskurantismus zu stärken. An dem Punkt, an dem man erkennen muß, daß es aussichtslos ist, die Welt zu poetisieren, und man aus dem Rausch der Poesie erwacht, wenden sich einige Romantiker wie Clemens Brentano, Joseph Görres, Adam Müller oder Friedrich Schlegel dem Katholizismus zu, um der Beliebigkeit und den Ausschweifungen der Imagination zu entrinnen, um das überindividuelle Leben in ein starres, geradezu höfisches Korsett einzupassen, weil die uferlose Phantasie, die oft groteske Gestalten hervorbringt und an die eigene Sexualität erinnert, einem einen gehörigen Schrecken eingejagt hat.

Es gibt ein lateinisches Sprichwort: „Ordo ab Chao“, was so viel wie „aus Chaos erwächst Ordnung“ bedeutet. Die Ordnung, von der wir sprechen, trägt aber ambivalente Züge?

Wer wie die Romantiker um 1800 lustvoll den Status quo der Gesellschaft und der Kunst demontiert, sehnt sich irgendwann nach einem festen Grund. Wer den Opiumtraum der Poesie überlebt wird ein eitler Geck, dessen Geist tot ist, dessen Körper aber weiterhin auf der Erde umherwandelt. In dieser Weise beschreibt Heinrich Heine den späteren Verfall der Romantik. August Wilhelm Schlegel verwandelt sich in einen fetten, mit Orden dekorierten Philister.

In Heines Polemik, das ist die Pointe, steckt jene Respektlosigkeit, die für die Frühromantik charakteristisch ist. Heine wirft den Romantikern vor, dass sie mit ihrer späteren Anpassung, Zahmheit und Staatsnähe ihre Wurzeln verraten hätten, und damit avanciert er zum Vollstrecker ihres Erbes. Eine Gesellschaft, die ihre Fähigkeit und den Mut zur Veränderung verliert, ist eine solche, in der Romantiker, die radikal nach Versäumnissen, Verdrängungsmechanismen und Handlungsspielräumen fragen, gedeihen. Man muss sie gewähren lassen, um eine bessere Welt zu errichten, man muss auf ihre Verspießerung hoffen, damit sie das mühsam Erreichte nicht wieder einreißen.

Es wäre jedoch bedauerlich, die Romantik, die ein sehr heterogenes Gebilde und ein in ihrer Vielschichtigkeit fast noch unerforschtes Gelände darstellt, auf die gehörige Portion Antisemitismus, die in ihr steckt, zu verkürzen. Sinnvoller wäre es stattdessen, (fast unbekannte) Schriftsteller wie Saul Ascher (1767–1822), die im frühen 19. Jahrhundert gegen romantischen Judenhass und reaktionäre Tendenzen anschreiben, mit historisch-kritischen Editionen aufzuwerten. Richtig ist, dass die Epoche der Romantik, im Zeichen der Napoleonischen Kriege, eine Zeit des aufkeimenden Nationalismus darstellt. Deutschtümelei und Franzosenhass sind Bestandteile der Romantik, aber nicht die Romantik selbst. Es ist immer sinnvoller historisch-konkret zu arbeiten, über das romantische Denken bei einzelnen Personen, Gruppierungen oder in unterschiedlichen Städten, auch jenseits der bekannten Zentren, zu forschen.

Der Literaturwissenschaftler Alexander von Bormann postulierte 1984: „Die Romantik ist wieder da“ und führte dies auf die Erschütterung des Glaubens an gesellschaftlichen Fortschritt zurück: Ölkrise, „Nullwachstum“, Rohstoffverknappung. Ist die Romantik tatsächlich wieder da?

Ich bin da sehr kritisch und glaube nicht, dass die Romantik wieder da ist. Sie war eine ungeheuer komplexe Bewegung, die, ausgehend von Kunst, mit Spott, Ironie, Polemik und theoretischer Ernsthaftigkeit versuchte, auf allen Gebieten des Lebens die Würde des Menschen gegen die Unfreiheit der Ökonomie und die zerstörerischen Potenzen der Vernunft zu verteidigen. Sie hat die Zeit ihrer Wirksamkeit und Notwendigkeit gehabt, auch wenn sie als Dekoration weiter unter uns weilt. Deutsche Feuilletonisten steigen zwar immer wieder gerne mit der Romantik ins Bett und unterhalten Affären von unterschiedlicher Dauer. Aber jede Affäre verweist doch am Ende nur auf ungebührliches Verhalten. Man kann sich den bürgerlichen, gutsituierten, publikumswirksamen Romantiker des 19. Jahrhunderts schlecht als Ökofreak mit Latzhose, der selbstgepflanzte Biokartoffeln erntet, als linken Sozialarbeiter oder Quartiersmanager in Berlin-Neukölln vorstellen. Zur Romantik gehört, über das Schreckliche in der Welt zu schreiben, ohne es je erlebt zu haben oder durchleben zu wollen. Der Weltschmerz speziell bei männlichen Autoren der Romantik ist oft, nicht immer, zu sehr zur Pose erstarrt, als das er motivieren könnte, wirklich etwas zu verändern. Seien wir einmal ehrlich: Welcher Weltschmerz hätte jemals die Welt verändert? Jeder Schmerz ruft sofort das geeignete Betäubungsmittel auf den Plan.

Bildet die Globalisierung diesbezüglich sogar einen Beschleuniger, weil sich in der Romantik Moderne-Kritiker von links und rechts zu Hause fühlen?

Romantik ist auch als Fluchtbewegung zu begreifen. Romantiker wie Novalis wenden sich ihrer Innerlichkeit zu, sie suchen ihre Idealwelt im individuellen Denken und in der Kunst. Der Romantiker verschließt die Augen vor dem tatsächlichen Elend der Welt, weil er denkt, tatsächlich nichts verändern zu können. So gesehen ist die Romantik natürlich wieder da, die Betäubungsindustrie des westlichen Welt ist genuin romantisch. Joey Ramone singt trefflich gequält: „I wanna be sedated“. Ein eher aufklärerisch gesinnter Mensch würde vielleicht darin übereinstimmen, dass die Welt grauenhaft sei, sie wäre für ihn aber nie so grauenhaft, daß er nicht auf die Idee käme, sie trotzdem, mit klaren Kopf, verändern zu wollen. Während der Pessimismus den Romantiker zur Introspektion zwingt, überschätzt der optimistische Aufklärer seine Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Beides kann böse enden, weshalb man sich von Romantikern und Aufklärern gleichermaßen fernhalten sollte.

Weder mit pseudoromantischer Irrationalität noch mit einem Denken, das sich in die Grenzen der instrumentellen und ökonomischen Vernunft einschließt, lässt sich der globale Raubtierkapitalismus, der dem Menschen die Würde nimmt und seinen natürlichen Lebensraum ruiniert, überwinden. Lassen wir die Aufklärung des 18. und die Romantik des 19. Jahrhunderts ruhen: wir sollten lernen, selbständig und verantwortungsbewusst zu leben, was nicht ausschließt, sich immer wieder von Geschichte inspirieren zu lassen. Wer aber denkt, mit den Lösungsangeboten vergangener Jahrhunderte die heutigen Probleme beschreiben und bewältigen zu können, täuscht sich gewaltig, weil er lediglich alte Kulissen vor die neuen schiebt.

Nebenbei: Nicht jeder, mit Eichendorff, ›Taugenichts‹, der in einem Straßencafé im Prenzlauer Berg seinen Laptop aufklappt und zu arbeiten vorgibt, ist ein Romantiker. Ebenso wenig der, der sich unrettbar in phantastischen Welten, wie sie das Internet oder Computerspiele bereithalten, verliert. Während der erste Typ einen Menschen vorstellt, wie ihn sich die Wirtschaftsbosse vorstellen, nämlich auf keiner Gehaltsliste stehend, bis zum Elend selbstverantwortlich, beziehungslos und weltweit einsetzbar, trifft den zweiten der Spott Heines, der über die verkommene Romantik Ludwig Tiecks ironisch lobend ausruft: »Ja, seine Phantasie ist ein holdseliges Ritterfräulein, das im Zauberwalde nach fabelhaften Tieren jagt, vielleicht gar nach dem seltenen Einhorn, das sich nur von einer reinen Jungfrau fangen läßt.«

Die Welt zu poetisieren bedeutet keineswegs, sie computergestützt aufzuhübschen. Die Romantik ist, richtig verstanden, kein Oberflächenphänomen. Romantik zielt auf Überwindung der Konflikte zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, sie deutet auf Versöhnung hin, keine Versöhnung allerdings, die sich nur deshalb einstellt, weil man zu bequem und arriviert geworden ist, um konstruktiv miteinander zu streiten. Wie sieht es aber heute aus? Alles Getrennte strebt weiter auseinander und wird sich niemals wiederfinden. Von Romantik keine Spur.

Wie bewertest Du den Einfluss der Romantik auf die Pop-Kultur? In den 90igern boomten TV-Serien, die das Irrationale thematisierten. Angefangen bei phantastischen Formaten wie „Twin Peaks“ (Lynch) und „Geister“ (von Trier) über „Akte X“ bis zu Durchschnittsware wie „Buffy“ oder „Dark Angel“.

Zunächst zu der Serie Akte X: Für die Literatur- und Kulturwissenschaft wäre es durchaus ein Gewinn, wenn es mehr Forscher gäbe, die wie Fox Mulder gezielt die X-Akten der deutschen und europäischen Literatur untersuchen und aufbereiten würden. Wen interessiert der totgepflegte Backcatalog der Beatles, wenn man stattdessen den rohen Studiosessions und den produktiven Gesprächen während des künstlerischen Entstehungsprozesses lauschen könnte. Ich möchte die vibrierenden Energien, die in der Geschichte stecken, spüren und erlebbar machen. Der Kanon lässt mich kalt. Deshalb begebe ich mich auf die Suche nach vermeintlichen Monstern, weil mich das Unangepasste, das an den Nahtstellen zwischen unterschiedlichen Epochen entsteht und das normalerweise nicht sein darf, weil es der Kanon so will, interessiert.

Man könnte Fox Mulder als letzten Romantiker bezeichnen, der immer wieder auf die Seltsamkeiten und das Abnorme innerhalb der geregelten und rationalisierten Welt hindeutet. Er ist deshalb der letzte, weil er das romantische Denken an sein Ende führt: Ihm ist völlig klar, dass Wirklichkeit konstruiert, erlogen und poetisch erzeugt wird, trotzdem sucht er nach der wahren Wirklichkeit, nach der unumstößlichen Wahrheit, die irgendwo ›da draußen‹ existieren soll. Ein solches Verhalten endet natürlich entweder im Wahnsinn oder im Philistertum.

Die angesprochenen Serien nehmen sich ausschließlich des Phantastischen, eines Details des romantischen Denkens, an, weil sich das gut verkauft und die Menschen immer zu interessieren scheint. Es wäre indessen grundfalsch, überall Romantik wittern zu wollen, es wird viel Unsinn geredet. Vielleicht war Kurt Cobain der Novalis des 20. Jahrhunderts, vielleicht war Novalis der James Dean des 19. Das sind alles leere Worte, die sich leicht sagen lassen, die man gerne hört, weil ihnen eigentlich keine Bedeutung innewohnt. Wenn irgendwo die Namen Novalis, Schlegel, Brentano und Hoffmann fallen, muss das nicht notwendig etwas mit Romantik zu tun haben. Es existiert die Romantik ausschließlich im 19. Jahrhundert, alles andere ist fades Surrogat, Mode, Kommerz.

Die Gothic-Szene und deren erweitertes Umfeld bezieht sich explizit auf die Romantik (man denke zum Beispiel an den Eichendorff-Sampler). Siehst Du bei weiteren Künstlern einen direkten Einfluss oder zumindest die Transformation der Ideen und Ästhetik der Romantik?

Es sieht auf den ersten Blick wirklich so aus, als würden sich die Gothic-Szene und andere Jugendbewegungen auf die Romantik beziehen. Wenn man diesen Leuten allerdings zuruft: »Toll, wie ihr die Hymnen an die Nacht musikalisch umgesetzt habt. Wahnsinn, wie ihr die Dunkelheitseuphorie von Novalis hörbar machen könnt.«, dann zieht man fragende Blicke aus teilweise grotesk geschminkten Gesichtern auf sich. Mit Romantik im eigentlichen Sinne hat das natürlich wenig zu tun. Oft sind es alte Schulthemen, an die man sich im Probenraum mehr schlecht als recht erinnert. Letztlich sind Jugendbewegungen und Romantik keineswegs identisch. Ich achte jede kindliche Freude am Höhlenbau, Verstecken und an der Kostümierung, aber warum muss man von Romantik reden? Es hat wohl mehr damit zu tun, sich erfolgreich von anderen, von den Eltern insbesondere, zu unterscheiden, sich mit Gleichgesinnten über Kleidung und Musik zu definieren. Novalis war der Ansicht, dass u. a. der Tod ein gewaltiges Reflexionspotential besitzt, das leider kein jugendlicher Grübelzwang auszuschöpfen vermag.

Ich meine, Michel Houellebecq könnte als ein Nachfolger der Romantik gehandelt werden. Er muss sich nicht mit großen Namen schmücken, und ein allgemeiner, trivialer Weltschmerz liegt ihm fern. Scharfzüngig und klar analysiert er die Geschichte und das Sosein der westlichen Zivilisation. Ein Leitspruch seines Schreibens lautet: »Die Welt ist entfaltetes Leid. An ihrem Ursprung steht ein Knoten aus Leid. Alle Existenz ist eine Ausdehnung und ein Zermalmen. Alle Dinge leiden, bis sie sind. Das Nichts erbebt vor Schmerz, bis es das Sein erlangt: in einer furchtbaren Krise.« Was in diesem Fragment zunächst ganz schrecklich aussieht, geht aus mythologischen, naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Traditionen hervor. H. betont das Werden, die Dynamik des Lebens, die sich nicht in menschliche Kategorien pressen lässt, betont das Lebensgefährliche am Leben und die unglaublichen, kreativen Kräfte, die jede Krise freisetzt. Das schmerzhafte Entfachen von Kreativität ist genuin romantisch.

Im scheinbaren Gegensatz zur Romantik bleibt Houellebecq die Versöhnung schuldig. Er sagt: »Haben Sie keine Angst vor dem Glück; es existiert nicht.« Ich bin der Ansicht, dass eben dies eine sehr beglückende und befreiende Aussage und Erfahrung ist bzw. sein kann: Houellebecq bricht mit allen Glücksversprechen, die die Gesellschaft bereithält, er wendet sich gegen den von der Gesellschaft erzeugten Zwang, in einer bestimmten Weise glücklich zu sein/zu werden. Wer den Glücks- und Heilsversprechen entsagt, der setzt sich nicht zur Ruhe, wird nicht faul und träge, wartet nicht, bis die ferne Glückszeit anbricht, der handelt im Hier und Jetzt. Wer das große Glück aus den Augen verliert, der wird demütig, der schätzt den schönen Augenblick, ohne auf ein Endziel zu schielen, der geht mit Menschen um, ohne von ihnen eine Gegenleistung zu erwarten, ohne sie zu instrumentalisieren und zu Objekten, die er für sein Glück und Seelenheil benötigt, herabzuwürdigen. Wer dem Glück am Ende des Horizontes den Rücken zukehrt, taugt nicht zum Fanatiker und ist deshalb erlösungsfähig.

Es ist befreiend, unglücklich sein zu dürfen, sich selbst ohne Betäubung in seinem Schmerz kennenzulernen. Aber dem Schmerz folgt die Geburt von etwas Großem, für das man nie den Sinn verlieren darf. Ein Ausbruch aus dem Ist-Zustand der Welt lohnt immer, da bin ich ganz Romantiker. Alles eine Frage der Desorganisation. Ich mache von meinem ›Verwirrungsrecht‹, wie Friedrich Schlegel sagen würde, Gebrauch.

Dr. Völker, vielen Dank für das Gespräch.