„Lilting“ – Die Grenzen der Kommunikation

Besprochen von Anne Brauer

  • Lilting, Regie: Hong Khaou, Produktion: UK 2014, Laufzeit: 86 Minuten.

Manchmal lässt sich mehr sagen, indem nichts gesagt wird, oder, wie im Fall von „Lilting“, vieles nur in Andeutungen geschieht. Der mehrfach nominierte Film erzählt die Geschichte von Junn (Cheng Pei-pei), einer chinesisch-kambodschanischen Rentnerin. Vor vielen Jahren ist sie mit ihrer Familie nach England gezogen, um ihrem Sohn Kai (Andrew Leung) bessere Chancen zu bieten. Nach dem Tod ihres Mannes wird Kai ihr einziger Bezugspunkt, da sie sich auch nach all den Jahren in der Fremde weigert, Englisch zu lernen. Inzwischen lebt sie in einem Altersheim, was sie ihrem Sohn zum Vorwurf macht.

Kai würde sie zwar gerne zu sich holen, doch wohnt er mit seinem Freund Richard (Ben Wishaw) zusammen. Seine Mutter kennt Richard nur als Kais Mitbewohner, denn von seiner Homosexualität und Beziehung zu Richard hat Kai ihr aus Angst vor ihrer Reaktion nicht erzählt. Als Kai bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, ist Junn irritiert, als Richard sie besucht und ungewöhnlich tief von Kais Tod getroffen zu sein scheint. Um die Sprachbarriere zu überwinden und Junn eine Freude zu machen, engagiert Richard eine junge Übersetzerin (Naomi Christie). Vann ermöglicht es erstmals, dass Junn sich mit ihrem Verehrer Alan (Peter Bowles), einem weiteren Bewohner des Altersheims, austauschen kann. Doch es stellt sich heraus, dass gerade die Möglichkeit, miteinander zu sprechen, die Beziehung zerstört. Und auch als Richard Junn anbietet, zu ihm zu ziehen, reagiert die alte Dame ablehnend.

Der Film setzt verschiedene Kunstgriffe ein, wie zu wie Szenen erst teilweise, und später vollständig oder aus einer anderen Perspektive zu zeigen. Die Anfangsszene, in der Kai seine Mutter das letzte Mal besucht, wird später noch einmal gezeigt – diesmal aber mit Kais deutlichem Zögern, seiner Mutter von seiner Beziehung zu Richard zu erzählen. In einer surrealen Szene werden, während die Kamera durch den Raum schwenkt, nacheinander die Paare Kai und Richard, Junn und Alan, Richard und Vann, und Junn und Kai beim Tanzen gezeigt. Da sie aus der Handlung herausgenommen ist, wirkt sie allerdings auch befremdlich. Trotz der melancholischen Grundstimmung hat der Film auch lustige Züge: Richard arrangiert ein Rendezvous für Alan und Junn. Während die beiden Turteltauben ihr Essen genießen, überlegen Richard und Vann in der Küche unter amüsiertem Kichern, was für Unanständigkeiten sich die beiden Alten wohl erzählen.

Es ist ein langsamer, leiser Film über Kommunikation und ihre Grenzen. Wenn Junn spricht, werden zumeist Untertitel eingeblendet, doch an einigen Stellen wird der Zuschauer, genauso wie Richard oder Alan, im Ungewissen gelassen. Der Höhepunkt des Films ist die Aussprache zwischen Junn und Richard, die ohne Dolmetscherin miteinander reden und ein Verständnis über die Sprache hinaus finden.

An einigen Stellen hätte mehr Hintergrund gegeben werden können. Es ist zum Beispiel schade, dass auf die Familiengeschichte Junns nicht eingegangen wird. Es wird lediglich erwähnt, dass sie vor 40 Jahren in Kambodscha gelebt hat und somit vermutlich vor dem Schreckensregime der Roten Khmer geflohen ist. Der Film behandelt, neben Kommunikation, viele weitere Themen, die aber oft nur angedeutet werden: Homosexualität, ‘coming out’, die Unvereinbarkeit von Kulturen, Tod, Verlust und die Schuld zwischen Eltern und Kindern. Der Film stimmt nachdenklich, und sein schwer nachvollziehbarer Titel „Lilting“ (aus dem Englischen: trällernd, im singenden Tonfall sprechend), der laut Regisseur auf die trällernden Qualitäten des Filmes verweist, deutet schon die teilweise kryptische Umsetzung der Handlung an.

Das Geheimnis hinter der Maske

Besprochen von Nicolai Busch

  • The Dark Knight Rises, Regie: Christopher Nolan, Produktion: USA, Großbritannien, Laufzeit: 165 Minuten.

Es ist sicher kaum möglich, “The Dark Knight Rises“ zu sehen, ohne an Christopher Nolans zweiten Teil der Batman-Triologie zu denken. Wer den 2008 erschienenen Vorgänger erlebt hat, erinnert sich vor allem an eines sehr genau: Ein von tiefen Narben geziertes, weiß-rot geschminktes Gesicht mit grün gefärbten Haaren und gelben Zähnen, flatternde Spielkarten mit Hofnarren darauf und grässlich schallendes Gelächter. In seiner vielleicht brillantesten Rolle als Joker bleibt Heath Ledger für viele unvergessen.

Rückblick – der Joker – das authentische Böse

Auch wer Nolans neuen Batman sieht, wird sich an die Figur des Jokers erinnern müssen. Gerade weil der Joker jenen Typus des bösartigen Widersachers darstellt, den man in “TDKR“ schmerzlich vermisst. Man vermisst den Widerling, der Batman, einen Superhelden, mit durchaus fragwürdigen Motiven und zwiespältiger Identität in den Selbstzweifel treibt. Man vermisst das authentische Böse, das der versnobten Gesellschaft Gothams einen Spiegel vorhält, um sie schließlich ihrer Lügen zu strafen. Und seien wir ehrlich – eine Comic-Geschichte, in der der Held die kriminellen Folgen eines ausufernden kapitalistischen Systems bekämpft, zu welchen er als überaus wohlhabender Unternehmer theoretisch selbst beiträgt, lässt einen Bösewicht vermissen, der diesem Helden seine alberne Maske entreißt. In Erinnerung ist uns Heath Ledger in seiner großartigen Rolle vor allem geblieben, weil wir als Zuschauer erkennen mussten, dass das Böse als lustig geschminkter Psychopath funktioniert, während das Gute Gothams im schwarzen Multifunktionsoverall nur einen halbwegs authentischen Eindruck vermittelt.

Batman – Die irritierende Zwiespältigkeit des Guten

In Nolans aktuellstem Meisterwerk fehlt dieser “Alles-entlarvende-Widersacher“ nicht nur vollständig, er scheint in einer Welt, in der man „nicht mehr neu anfangen kann“, wie Selina Kyle alias Catwoman im Film bald bekennt, auch nicht länger notwendig. Es braucht den entlarvenden Widersacher nicht, weil im letzten Teil der Trilogie die Lüge nicht aus dem Handeln einzelner Personen resultiert. Im neusten Batman-Film ist die Lüge, welche die Gesellschaft vor dem Chaos bewahrt, eine viel größere – ja, eine systemimmanente. Wir erinnern uns, dass es in “TDK“ dem Helden primär darum ging, Verantwortung für das Morden des allerorts geachteten Staatsanwalts Harvey Dent zu übernehmen, um das öffentliche Ansehen und das Moralverständnis der Bürger Gothams nicht zu gefährden. Im aktuellsten Werk Christopher Nolans scheint dieselbe Moral der Menschen nun allein von der Erhaltung eines sich auch außerfilmisch in der Legitimationskrise befindenden Finanzsystems abhängig. In “TDKR“ ist es nicht die Moral und auch nicht das Leben, es ist das kapitalistische System, an das sich der Held und die Bewohner Gothams klammern, während der Bösewicht Bane mit der atomaren Vernichtung Gothams droht. Und es ist der Milliardär Bruce Wayne, der als Märtyrer lieber selbst draufginge, als dass eine bürgerliche Revolution die Welt auslöscht und damit den amerikanischen Liberalismus beendet.

Die Apokalypse als einzige Lösung der Systemkrise im Film

Was die im neuen Batman stattfindende, sozialistische Revolution selbst betrifft, so bedeutet diese scheinbar nicht mehr und nicht weniger als die ultimative Zerstörung Gothams und damit die Zerstörung jeder möglichen Form eines gesellschaftlichem Systems. Schnell wird deutlich: In Nolans letztem Streich ist der Feind nur ein hoffnungsloser, sozialistischer Terrorist, dem die Zerstörung allen Lebens näher liegt, als irgendeine neue, gesellschaftliche Ordnung zu etablieren oder das alte System zu reformieren. Schon der Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Zizek hat 2005 darauf aufmerksam gemacht, dass es Hollywood heute näher liegt, den Planeten Erde durch einen fiktiven Kometen oder einen Virus in Schutt und Asche zu legen, als den Weg aus der Systemkrise, oder eine Debatte konträrer politisch-wirtschaftlicher Vorstellungen spannend zu inszenieren. Der seit jeher beliebte Endzeitfilm liegt wieder voll im Trend, auch weil die westliche Bevölkerung kontinuierlich jegliche Hoffnung auf eine politische Lösung der Krise verliert.

Das Motiv der Maske bei Brecht und Nolan

Das war nicht immer so: Vor langer Zeit vertrat einmal ein deutscher Dramatiker die Vorstellung, ein Schauspiel müsse die Zuschauer dazu bewegen, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Dieser Dramatiker ließ seine Schauspieler bewusst aus der Rolle fallen und veranlasste sie unter anderem dazu Masken zu tragen, was einen kritischen Abstand zwischen Zuschauer und Figur zur Folge haben sollte. Die Rede ist selbstverständlich von Bertolt Brecht und dessen Idee des epischen Theaters. Anders als bei Brecht dient die Maske im Hollywoodfilm nur scheinbar der Verfremdung der Figur und viel eher der Verfremdung einer durch die Figur verinnerlichten Ideologie. Bei Nolan scheint der sympathische Milliardär Bruce Wayne so sehr mit der kapitalistischen Idee verhaftet, dass es für den Zuschauer unmöglich wird, jener Idee noch kritisch entgegenzutreten. Wenn in “TDKR“ der maskierte Held die Welt rettet, verliert sich die kritische Distanz des Zuschauers in der tragischen Darbietung eines in jedem Fall unausweichlichen und unveränderbaren Schicksals. Im Moment da Gotham die Auslöschung droht, spielen auch der soziale Kontext und die wahren Motive des die Menschheit rettenden Finanzjongleurs genauso wenig eine Rolle, wie jene des Widersachers und Revolutionärs Bane. Im Moment des Abspanns zählt allein die Freude über das gerade erlebte, 250 Millionen Dollar teure Actionabenteuer. Und erst wenn im Kinosaal das Licht angeht, kommt dem ein oder anderen vielleicht der Gedanke an eine großartige These des Philosophen Guy Debord: „Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Anhäufung, dass es zum Bilde wird.“

 

Diese Rezension erschien zuerst am 9. August 2012 auf media-bubble.de.

Paulette – Eine raubeinige Krimikomödie nach einer wahren Geschichte

Besprochen von Pia Klein

  • Paulette. Frankreich 2012. 87 Min. Regie: Jérôme Enrico. Mit Bernadette Lafont, Carmen Maura, Dominique Lavanant.

Die alte Paulette lebt in einem der berüchtigten Pariser Banlieues. Früher betrieb sie mit ihrem Mann ein Café. Nun ist der Mann gestorben. Das Café ist von Asiaten aufgekauft worden. Die Rente reicht hinten und vorne nicht. Paulette weiß sich aber mit Erfindungsreichtum und Schätzen aus den Müllcontainern zu helfen. Bis sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen kann und ihre komplette Wohnungseinrichtung gepfändet wird. In ihrer Verzweiflung eifert die alte Dame schließlich den Halbstarken im Viertel nach und wird eine Hasch-Dealerin. Darin ist sie bald so erfolgreich, dass sie den professionellen Drogenhändlern zur missliebigen Konkurrentin wird.

Die Ausländer haben ihr alles weggenommen. Darüber klagt sie bei ihrem Beichtvater, der zwar schwarz ist, es aber Paulette zufolge verdient hätte weiß zu sein. Schwarz ist auch der Mann, den ihre Tochter geheiratet hat. Doch der ist praktischerweise Polizist. Was liegt da näher, den Schwiegersohn auf dem Revier zu besuchen und ihm die Geheimnisse der Drogenfahndung zu entlocken? Ein brutaler Kontrast zum schwarzen Humor des Films ergibt sich, als Paulette von konkurrierenden Dealern zusammengeschlagen wird. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass Regisseur Jérôme Enrico eine wahre Begebenheit erzählt. Das Ende kommt dennoch sehr aufgesetzt daher. Die neue Bilderbuchfamilie verkauft Haschkekse in Holland – ganz legal. Warum kauft die raffinierte Alte mit dem Geld aus der Dealerei nicht ihr Café von den Asiaten zurück?
Bernadette Lafont spielt die Charaktere der Paulette wunderbar griesgrämig überzeugend und ist die eigentliche Attraktion des Films. Ein würdiger Abschluss der Filmkarriere der im Juli 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Schauspielerin.

 

„Schatten der Vergangenheit“: Schöne Frauen in langweilig verwirrendem Psychodrama

Besprochen von Juliane Besch

  • Don’t look back – Schatten der Vergangenheit, (Original-Titel: Ne te retourne pas), Regie: Marina de Van, Produktion: Frankreich 2009, Laufzeit: 106 Minuten.

Jeanne (gespielt von Sophie Marceau) lebt in einer perfekten Pariser Familienidylle. Als sie beginnt, nach den Gründen für ihre fehlenden Erinnerungen aus der frühen Kindheit zu suchen, nimmt das Drama seinen Lauf: Sie fängt an, ihre Umgebung und sich selbst verändert wahrzunehmen. Ihre Mutter, ihr Mann und ihre Kinder sehen plötzlich völlig anders aus und auch die Wohnung scheint nicht mehr die alte zu sein.

Der Blick in den Spiegel wird für Jeanne zum Schockerlebnis. Es scheint sich eine Parallelwelt aufzutun. Zunehmend verzweifelt sucht sie Hilfe in der Psychiatrie – jedoch vergeblich. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit reist sie nach Italien. Dort wird sie mit ihrem Kindheitstrauma, einem schweren Autounfall, bei dem ihre Freundin stirbt, konfrontiert, und es gelingt ihr schließlich die Aussöhnung mit dem erlebten Leid. Jeanne kann sich endlich innerlich von der Getöteten trennen und befreit von psychischen Problemen weiterleben.

Die beiden Darstellerinnen, Sophie Marceau und Monica Bellucci, sind ohne Frage eine Augenweide. Auch das Thema der Traumabewältigung ist an sich nicht uninteressant. Zu Beginn nimmt einen die Verzweiflung angesichts der sich verschiebenden Wahrnehmung auch mit. Man fühlt sich wie in einem dieser Albräume, in denen sich die vermeintlich heimatliche Haustür als die einer anderen Familie erweist. Leider wirken die in die Gesichter hineingemorphten fremden Augen kaum gruselig, da sie einfach zu unecht aussehen. Bis auf eine kleine Irritation am Anfang gibt der Effekt nicht viel her. Ab jetzt sieht man Jeanne beim Leiden zu, ohne selbst betroffen zu sein. Der Höhepunkt dieser misslungenen Darstellung einer Metamorphose bildet das skurril wabernde fremde Gesicht (von Monica Bellucci) in Jeannes eigenem. Das erinnert an mittelmäßige Horrorfilme und wirkt hier eher albern.

Innerhalb der Geschichte erscheinen mehrere Aspekte unplausibel, wie zum Beispiel die Tatsache, dass der Psychiater, den Jeanne am Anfang ihrer Erkrankung aufsucht, die offensichtlich schwer verstörte Frau einfach wieder nach Hause schickt. Zudem bleibt die psychische Genesung irgendwie wenig nachvollziehbar. Die Erinnerung an den Unfall selbst scheint Jeanne am Ende zu genügen, um zu heilen.

Insgesamt ist „Schatten der Vergangenheit“ ein Film, den man sich anschauen kann, wenn einem halbgare Metamorphosen zwischen zwei Frauen und die Idee psychischen Wahnsinns ausreichen. Alle, die mehr wollen, werden sich nach spätestens der Hälfte des Films langweilen, da man dann verstanden hat, worauf die Geschichte hinausläuft. Man wartet nur noch ab, bis die Hauptdarstellerin es auch endlich versteht.

 

„Le Havre“ – Flache Geschichte, schöne Bilder

Besprochen von Juliane Besch

  • Le Havre, Regie und Drehbuch: Aki Kaurismäki, Produktion: Finnland, Frankreich, Deutschland 2011, Laufzeit: 93 Minuten.

In der französischen Hafenstadt Le Havre lebt ein älteres Ehepaar, Marcel und Arletty, mit dem Hund Laika in einem kleinen Haus. Marcel verdient Geld, indem er Schuhe putzt, seine Frau kümmert sich um den Haushalt. Als ein Schiffscontainer mit illegalen Einwanderern entdeckt wird, kann Idrissa, ein schwarzer Junge, fliehen und trifft im Hafen zufällig auf Marcel. Während sich dieser um ihn kümmert – ihn bei sich wohnen lässt und seinen Großvater in England ausfindig macht – liegt Arletty mit einer schweren Krankheit im Krankenhaus. Um Idrissas Fahrt nach England zu finanzieren, veranstalten Marcels Nachbarn ein Konzert. Der Junge entgeht mit ihrer Hilfe den Denunziationen eines anderen Nachbarn. Der Kommissar – eigentlich mit der Ergreifung beauftragt – deckt Idrissa in seinem Versteck auf einem Fischkutter, der ihn nach England bringen soll, als ihn Polizisten suchen. Derweil gesundet Arletty im Krankenhaus wie durch ein Wunder. Mit Marcel kehrt sie in ihr kleines Haus zurück.

Was eine spannende Geschichte über Flüchtlingspolitik und menschliche Solidarität sein könnte, entpuppt sich als eine Art ruhiges Erwachsenenmärchen in altmodischer Requisite.  Wer eine absolut plausible und vielleicht sogar politisch anspruchsvolle Geschichte sucht, wird enttäuscht werden. Dass Arletty erst schwer krank ist und dann plötzlich gesundet, ist genauso unrealistisch wie die selbstverständliche Hilfe der Nachbarn, Idrissa zu verstecken. Dass es Marcel problemlos gelingt, über andere Flüchtlinge Idrissas Großvater in England zu finden, erscheint mit dem Wissen über reale europäische Flüchtlingspolitik naiv. Es sind diese wundersamen Wendungen, die die Geschichte zu einem Märchen werden lassen: wichtiger als Plausibilität ist die symbolische Kraft der Ereignisse. Arlettys spontane Gesundung am Ende des Films mag unrealistisch sein – sie steht als Symbol für die Überwindung aller Probleme.

Die Charaktere selbst wirken wie Karikaturen. Der Kommissar ist das Klischee eines französischen Polizisten der 70er Jahre, auch sein Peugeot ist stilecht. Zudem werden die Motive und Emotionen der Figuren wenn überhaupt dann metaphorisch gezeigt. So ist der Kommissar von einer Ananas genauso überfordert wie von Idrissa. Warum Marcel den Flüchtlingsjungen überhaupt aufnimmt und warum der Polizist den Jungen dann fliehen lässt, bleiben unklar. Wer tiefere Einsichten in menschliches Handeln sucht, sucht sie in diesem Film vergeblich.

Aber es gelingt Kaurismäki, mit minimalen Mitteln Spannung aufzubauen. Sehr eindrucksvoll sind beispielsweise die Gesichter der Flüchtlinge, als die Tür des Containers geöffnet wird.

Was die Geschichte sympathisch macht, ist der Verzicht auf perfekte Schönheit und Erfolg á la Hollywood. Die Figuren sind alle älter und stehen eher am Rande der Gesellschaft: weder die Kneipenwirtin noch der Gemüsehändler, die Bäckerin oder Marcel haben es wirklich weit gebracht.

Interessant ist der Film, wenn schon nicht durch seine Story, durch Kaurismäkis Stilmittel. Durch sehr statische Bilder wirkt der Film fotografisch und bisweilen wie ein Theaterstück. Selbst in Momenten größter Bewegung, zum Beispiel wenn Idrissa vor der Polizei flieht, bleibt die Einstellung relativ ruhig. Außerdem spielt Kaurismäki intensiv mit Farben, so erscheinen fast alle Räume in Blaugrau, kontrastiert mit dem Gelb eines Kleides und einigen Tupfern Rot.

Insgesamt ist die Geschichte selbst keine Meisterleistung, denn sie erzählt nichts, was man nicht so oder besser wüsste. Wer aber ein eher künstlerisches Interesse am Film hat und sich trotzdem nicht mit einer allzu seichten Geschichte quälen will, ist mit „Le Havre“ gut bedient.

 

„Der Duft von Lavendel“

Besprochenvon Camille Buscot

  • Der Duft von Lavendel, Regie und Buch: Charles Dance. Produktion: Großbritannien 2004, Laufzeit: ca. 100 Minuten.

Ein älterer Mann verliebt sich in eine junge Frau. Nichts Untypisches. Doch was, wenn sich eine in die Jahre gekommene Frau in eine jungen Mann verliebt?

Die zwei alten Schwestern, Ursula und Janet (gespielt von Judi Dench und Maggie Smith) leben in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in einem idyllischen Haus direkt an der Küste von Cornwall. Nach einem Sturm wird ein junger Pole namens Andrzej an den Strand gespült. Die beiden Damen nehmen sich seiner an und pflegen ihn. Trotz der anfänglichen Verständigungsprobleme entwickelt sich eine tiefe familiäre Beziehung zwischen Andrzej und den Schwestern. Der junge Mann bringt Leben in den Alltag der alten Damen, Ursula verliebt sich sogar in Andrzej.
Nach und nach erinnert sich Andrzej an seine Liebe zur Musik und zum Geigenspiel. Als die junge attraktive Malerin Olga von dem Talent Andrzejs hört und ihn fördern möchte, wird Ursula eifersüchtig.

Diese Geschichte, die auf einer Kurzgeschichte von William John Locke beruht, könnte an sich sehr interessant sein, denn die Liebe einer älteren Frau zu einem jungen Mann wird sonst nur selten in Filmen angesprochen.
Doch bleibt in dieser Darstellung das Dramaturgische hinter dem Visuellen zurück. Wie so oft bei britischen Filmen ist der Film geprägt von schönen Landschaftsaufnahmen in weichen Farben und schöner (jedoch nicht besonders origineller) Musik, die der prominente Geiger Joshua Bell eigens für diesen Film komponiert hat. Die Handlung bleibt inhaltlich ziemlich flach und zieht sich in die Länge. Dies liegt leider auch an Daniel Brühl, der hier den begabten Gestrandeten lustlos an der Grenze zum Klischee spielt.
Zum Glück können die anderen Schauspieler das wiedergutmachen. Allen voran die beiden berühmten britischen Schauspielerinnen Judi Dench und Maggie Smith, die durch ihre sensible und facettenreiche Spielweise die Beziehung der beiden Schwestern und den Umgang mit der Eifersucht Ursulas sehr gut darstellen und damit den Film aufwerten. Die energische Haushälterin (sehr gut gespielt von Miriam Margolyes, bekannt aus Harry Potter) sorgt für eine Prise des berühmten britischen schwarzen Humors.

Der Duft von Lavendel ist die erste Regie- und Drehbucharbeit von Charles Dance, der bis dahin nur als Schauspieler tätig war (unter anderem Nebenrollen in „James Bond“-Filmen, „Phantom der Oper“ und „Swimming Pool“). Doch leider schafft er es trotz sehr guter Schauspielern nicht, die Geschichte mit ausreichend Tiefe zu erzählen.

Es ist wunderbar, Maggie Smith und Judi Dench zusammen in einem Film zu sehen, doch wird ihnen „Der Duft von Lavendel“ leider nicht gerecht.

 

„Es wird alles gut, mein Schatz!“ – Paolo Virzis Tragikkomödie „Das ganze Leben liegt vor dir“

Besprochen von Ulrike Frenzel

  • Das ganze Leben liegt vor dir, Regie: Paolo Virzì, Produktion: Italien 2008, Laufzeit: 117 Minuten.

Der italienische Regisseur Paolo Virzi erzählt die tragischkomische Geschichte der frischgebackenen Philosophieabsolventin Marta. Ihr perfekter Abschluss bringt ihr zwar viele lobende Worte ein, ist ihr bei der Arbeitssuche allerdings keine Hilfe. Und so führt Martas Überlebenskampf auf dem Stellenmarkt unerwartet in die schillernde Callcenterabteilung der Firma „Multiple“, für die sie nun halbtags ein fragwürdiges Multifunktionsküchengerät an Hausfrauen verkaufen soll. Marta, charmant und lebensfroh, stürzt sich voll Optimismus auf ihre neue Aufgabe und ist zur eigenen Überraschung so erfolgreich darin, Kundinnen über den Tisch zu ziehen, dass sie schnell zu Multiples bester Telefonistin wird.

Verwirrt über die eigene Skrupellosigkeit, befremdet von der sektengleichen Leistungsideologie des Callcenters, überfordert von ihrer neuen Rolle als arbeitendes Mitglied der Gesellschaft und mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie nicht ganz sicher, ob das nicht alles nur ein großer Scherz ist, durchlebt sie alle Facetten ihrer neuen Arbeit.

Aber sie gehört nie wirklich dazu. Sie versucht, die außerirdische Parallelwelt mit seinen indoktrinierten Verkäufern und eitlen Chefs philosophisch zu ergründen, nutzt ihren philosophischen Überbau letztendlich aber dazu, in diesem System noch effektiver zu funktionieren. Durch ihre Augen beobachtet der Film das Arbeitsleben, ironisiert es, ohne Lösungen anzubieten. Das erfolgsorientierte Callenter ist nicht brutaler als der Rest der Gesellschaft und auch wenn hier am Ende die Lichter ausgehen, ist Multiple in der Filmwelt nur ein kleiner Fisch. Dem Unheil ist nicht beizukommen. Das Gefühl stellt sich erst recht ein, wenn Marta stellvertretend für die ganze Zunft mit den gut gemeinten Hilfsangeboten des engagierten, aber naiven Gewerkschafters Conforti abrechnet. „In Wahrheit verhaltet ihr euch nur großkotzig. Eure Schäfchen sind im Trockenen, ihr kriegt ein festes Gehalt und eure Frauen warten zu Hause.“ Der Niedriglohnsektor ist in seiner Dynamik für althergebrachte Kontrollmechanismen nicht mehr greifbar. „Was erwartest du von ihnen? Für sie ist dieser Drecksjob die einzige Chance, die sie haben“, kommentiert Marta frustriert das Los ihrer leicht manipulierbaren Kolleginnen, die froh sind, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. Ob das so stimmt, ob sie wirklich keine Wahl haben, bleibt dem Zuschauer überlassen.

Der Film ist bitter, ohne seinen Optimismus einzubüßen. Sonnige, strahlend helle Filmfarben transportierten eine vernichtende Gesellschaftskritik. Der Schluss ist versöhnlich, wirkt aber höchstens auf den ersten Blick als Happy End. Marta findet weder Schutz in einer sicheren Anstellung noch in einer neuen Liebe. All ihre bis zur Lebensunfähigkeit verblendeten Multiple-Kolleginnen werden lediglich in eine unsichere Freiheit entlassen, mit der sie nichts anzufangen wissen. Kein Hollywood, kein Märchen. In Wahrheit wird nichts abgeschlossen. Und ohne Geld geht es nun mal nicht. Trotz all der Ironie und Absurdität, mit der der Film aufwartet, lässt er einen mit dem unguten Gefühl zurück, dass vieles gar nicht wirklich überspitzt ist. Aber ganz bestimmt wird alles gut …

Berlin: Die Sinfonie der Großstadt (1927)

Besprochen von Marcel Hanke

Großstädte versprühen einen gewissen Charme, sei es durch ihre Betriebsamkeit, die Anonymität oder das Vorhandensein verschiedenster Kulturen. Oftmals sind sie die heimlichen Stars in vielen großen Produktionen. Doch schon 1927 stand eine Stadt im Mittelpunkt eines Filmes: „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ von Walter Ruttmann. Es ist eine Dokumentation über einen Tag aus dem Berlin der Dreißiger Jahre, seine Glanz – und Schattenseiten. Der Film beginnt mit einer Zugfahrt. In einer wunderbaren Sequenz aus schnellen Schnitten, nähern wir uns dem morgendlichen Berlin. An uns vorbei fliegen Felder, Häuser und Strommasten. Die Stadt schläft noch, als der Zug im Anhalter Bahnhof ankommt. Es ist 5 Uhr morgens. Die Kamera streift durch leere Straßen und zeigt eine verborgene Schönheit, eine Unschuld, wie man sie im Verlauf des Filmes nicht mehr zu sehen bekommen wird. Nur eine Katze und ein Schutzmann sind auf den Beinen, als die Stadt langsam erwacht und die ersten Personen auf die Straßen strömen. Schon bald ist aus den wenigen Menschen eine Masse geworden, welche sich auf den Bahnsteigen tummelt und ihre Arbeit beginnt. Die Stadt hat zu Leben begonnen. Wie wild fahren nun die Züge und Busse durch die Gegend. Sie sind das System, das Alles am Laufen hält und werden den ganzen Film lang auftauchen. Weitere wunderbar geschnittene Passagen schließen sich an, als mehrere Tore geöffnet werden und nahtlos ineinander fließen. Detailgetreue Ansichten von Maschinen gewähren einen, besonders aus unserer Sicht, nahezu einmaligen und nostalgischen Blick in die Arbeitsverhältnisse der damaligen Zeit. Aber nicht nur das geschäftige Treiben der Arbeiter wird dem Zuschauer näher gebracht, sondern auch das Leben der Frauen und Kinder, wie sie zur Schule strömen, den Einkauf erledigen. Auch hier greift Ruttmann auf schon bekannte Elemente zurück, wie die ineinander laufenden Schnitte. Ein weiteres Highlight im Film ist sicherlich die Sequenz in der Mittagspause, da dort das gesellschaftliche Leben kompakt zusammengefasst wird. Man springt von Tisch zu Tisch. Vom einfachen Essen der Arbeiter, zum dekadenten Mahl der Oberschicht. So gibt es teilweise signifikante Unterschiede in der Gesellschaft und Ruttmann zeigt sie auf: einen Mann, der Zigarettenstummel sammelt; Kinder, die im Dreck spielen – die Armut ist allgegenwärtig. Passend zu diesen gegensätzlichen Szenen gibt es eine Passage im Film, die das Leben in der Großstadt gut widerspiegelt: die Achterbahnfahrt zum Ende des Filmes symbolisiert wunderbar das stetige Auf und Ab in einer Großstadt bzw. im Sein allgemein. Dazu passen auch die eingestreuten Sequenzen vom Selbstmord der Frau, wobei man hier doch davon ausgehen kann, dass diese Szene gestellt sei. Ein Indiz ist sicher der starke close-up auf die Augen, welcher schon expressionistische Züge annimmt und sicherlich nicht so entstanden sein kann, wie die restlichen Aufnahmen. Des Weiteren gibt es noch ein, zwei Einstellungen, die ebenso künstlich gewirkt haben. Man sollte sich jedoch nicht an solchen Kleinigkeiten hochziehen, da man so das Werk ganz klar abwertet, und das hat es nicht verdient. Allein das Herzblut, welches investiert wurde, die eineinhalb Jahre Dreharbeiten; sie zeugen von der Liebe Ruttmanns zu diesem Projekt und verdienen Anerkennung. Natürlich wiederholen sich einige Passagen im Film, aber ist es nicht in der Realität auch so? Natürlich stellt man sich die Frage, warum eigentlich Berlin, da der Film eigentlich genauso gut hätte in Paris, London oder New York gedreht werden können. Doch da liegt der große Reiz in diesem Werk, da „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ ein Film über jede der genannten Großstädte sein könnte, weil sie nach dem gleichen Prinzip funktionieren und am Leben gehalten werden. Es ist die allgemeine Faszination an diesen Schmelztiegeln, seinen Bewohnern, seinen Mechanismen, die diesen Film und die Städte so interessant machen. Verpackt in eine ansprechende musikalische Untermalung, dürfte sich dieses Stück lebendige Geschichte in den Herzen von Filmliebhabern festsetzen. Wenn sich dann der Film, also auch der Tag, dem Ende neigt, und man die Menschen beim abendlichen Tanzen, Speisen und Genießen des Lebens beobachtet, so möchte man meinen, dass der Tag wohl nie enden würde. Doch dann kommen einem die Anfangsszenen ins Gedächtnis und man weiß, dass auch die Stadt bald zur Ruhe kommt und ihren verdienten Schlaf erhält, damit es am nächsten Tag wieder vom Neuen losgehen kann. Sicherlich ist dies kein einfacher Film, da er von seinem Zuschauer Aufmerksamkeit und bei einigen vielleicht auch Durchhaltevermögen fordert, doch man wird nicht enttäuscht sein, und wenn man die Chance hat diesen Film zu sehen, dann sollte man diese auch ergreifen.
© Frankies Filmecke

Bestellen!

Troja – ein Mythos wird entkernt

Besprochenvon Thomas Weber

  • Troja, Regie: Wolfgang Petersen, Produktion: USA, Malta, Großbritannien 2004, Laufzeit: 165 Minuten.

Wolfgang Petersen hat in seinem Streifen alles eliminiert, was den Stoff interessant macht.

Es gibt Stoffe, die kehren mit schöner Regelmäßigkeit in den kulturindustriellen Verwertungskreislauf zurück, der immer wieder die gleichen Geschichten remediatisiert, sie zu neuen Clustern und Produktzyklen zusammenstellt. Dabei verändert sich der Stoff bei jeder Bearbeitung und sagt weniger etwas mittels seiner schon hinreichend erzählten Story aus, sondern vielmehr durch die Art und Weise eben jener Bearbeitung.

Troja-Cluster mit Brad Pitt und Wolfgang Petersen

Wolfgang Petersens Verfilmung des Troja-Stoffes mit Brad Pitt in der Rolle des Achill ist eines der herausragenden Ereignisse des neuen Troja-Clusters vor allem auf Grund der öffentlichen Aufmerksamkeit, die dem Film zu Teil wurde. Die Art und Weise der Petersen-Inszenierung erzählt dabei eine Geschichte der mythologischen Entkernung: die Debatte der Götter, die sich in Homers Epos immer wieder in das Geschehen einmischten, wurden ebenso aus dem von Petersen linear und eindimensional konstruierten Handlungsstrang eliminiert, wie die rund 10 jährige Belagerung von Troja oder gar die homophilen Neigungen des Helden Achill, mit denen ein Star wie Brad Pitt sich beim amerikanischen Publikum offenbar nicht den Ruf „ruinieren“ wollte.

Industrielle Verwertung

Sogar Mike Hillenbrand von der amazon.de-Redaktion, dem industriellen Verwerter der seit dem 17.09.04 erhältlichen DVD/VHS – Version, fällt auf: “Hollywood-Star und ‘sexiest man alive’ Brad Pitt dreht immer mal wieder Filme, in denen er seinen gelungenen Körper seinen weiblichen Fans präsentieren darf. Mit Troja legt er einen der besseren Streifen aus dieser Kategorie vor. Das Epos lebt hauptsächlich von seiner und Eric Banas Ausstrahlung, der Achills Widersacher Hektor spielt. Während die meisten anderen ihrer Kollegen gegen die aufwendig inszenierten Bilder und Special Effects hoffnungslos unterliegen (einzig wirklich erwähnenswerte Ausnahme ist hier Priamos-Darsteller Peter O’Toole), können Pitt und Bana dem opulent ausgestatteten Drama ihren Stempel aufdrücken. An ihnen liegt es sicher nicht, dass trotz aller Bildgewalt ein etwas schaler Beigeschmack nach dem Filmgenuss bleibt.”

Reduktion des Stoffes

Und sogar den Zuschauern fallen offensichtliche Schnitzer auf; so schreibt etwa Philipp Weinreuter als Rezensent für amazon.de: “Fangen wir also kurz und knapp mit einigen wesentlichen Inhalten an die fehlen, bzw. falsch sind:

* die Götter, der Apfel der Zwietracht werden ausgeklammert, keine Athene, keine Hera, keine Aphrodite, keine Heirat von Pelus und Thetis, kein Apollon usw.
* 10 Jahre Belagerung werden unterschlagen,
* Menelaos wird völlig unnötiger Weise von Hektor erstochen,
* Agamemmnon wird von Brisis erstochen,
* Ajax kommt viel zu kurz und wird auch von Hektor besiegt,
* auf griechischer Seite fehlen Dimomedes, Philoktetes und Neoptolemos gänzlich,
* Änäas komm auf trojanischer Seite viel zu kurz.”

Dabei ist ein Vergleich von literarischer Vorlage und filmischer Umsetzung mit Vorsicht zu genießen. Veränderungen sind häufig notwendig oder unumgänglich. Doch es fragt sich, wohin die Modifikationen führen sollen?

Internationales Popcorn-Kino

Bei Petersen kommt jedenfalls eine Troja-Geschichte heraus, die wie geschaffen ist fürs internationale Popcorn-Kino, nach gängigen Drehbuchrezepten angerichtet, frei von komplexen Zusatzstoffen, gewürzt mit hinreichend bekannten Stars (oder solchen, die es werden wollen wie Diane Kruger) und garniert mit durchaus beeindruckenden special effects, die die Kosten für das visuell aufgemotzte Schlachtengetümmel weiter in die Höhe treiben und damit auch die Budgets, an denen künftige Filme sich zu orientieren haben, wenn sie dem Zuschauer einfach nur eine gute Geschichte erzählen wollen.

Bestellen!

Ein Quantum Bond

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • Ein Quantum Trost (Quantum of Solace), Regie: Marc Forster, Produktion: UK, USA 2008, Laufzeit: 106 min.

Die ersten eineinhalb Minuten oder gefühlte tausend Einstellungen lang bietet sich eine rasante Autoverfolgungsjagd dar, bei der es nichts zu erkennen gibt, die allenfalls gekannt werden kann.
Denn wer wen verfolgt, ist durch den hektischen Schnitt nicht zu erfassen. Allein durch das eigene Genrewissen weiß man: Bond wird gejagt, aufwendige Action kommt vor dem Vorspann, und der Hauptdarsteller stirbt nicht schon nach fünf Minuten. Darauf folgt mit dem Vorspann die einzige Konstante, die die alten Bond-Filme mit dem aktuellen Kinofilm Ein Quantum Trost des Regisseurs Marc Forster verbindet.
Die Handlung des neuen Films knüpft unmittelbar an Casino Royal an. James Bond (Daniel Craig) liefert Mr. White an seine Chefin M (Judi Dench) aus. White erzählt von der bislang unbekannten Organisation Quantum, worauf eine wilde Hatz zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft beginnt. Zuerst verschlägt es Bond nach Haiti, wo er das Bond-Girl Camille (Olga Kurylenko) trifft, die ihn zu Bond-Bösewicht Dominic Greene (Mathieu Amalric) führt, der seinerseits Camille töten will, welche dann – gegen ihren Willen – von Bond gerettet wird. Österreich, Italien und Bolivien sind weitere Stationen, Vertrauen, Freundschaft und Umweltschutz sind die Themen. Außerdem geht es für Bond immer auch um Rache. „Vesper, sie hat alles für sie gegeben. Vergeben Sie ihr. Vergeben sie sich selbst“, röchelt der sterbende Helfer Mathis Bond zu. Schließlich kann Bond seinen Widersacher Greene in einem unwirklichen, aber wirklich gebauten Hotel in der Wüste Boliviens stellen. Es endet, wie es enden muss: Das Hotel fliegt in die Luft, Bond kann Camille gerade so ein zweites Mal retten und anschließend den fliehenden Greene fangen und in der Wüste zum Verdursten aussetzen.
Am Ende des Films warten ein paar Erzählstränge auf Fortsetzung, und die Frage bleibt, was ist das für ein Bond, der sich etwas vergeben muss und Feinde mit einer Flasche Motoröl dem Verdursten aussetzt? Daniel Craig setzt in seiner zweiten Verkörperung des Agenten mit der Lizenz zum Töten den Weg fort, der in Casino Royal eingeschlagen wurde. Er ist der Rambo des 21. Jahrhunderts. Ein Einzelkämpfer, ein Gejagter seines eigenen Schattens, kein Souverän. Diese Rolle erledigt Craig allerdings sehr cool, er brilliert sogar.
Ganz anders die weiteren Figuren. Sie bleiben blass. Vielleicht liegt es bei Dominic Greene daran, dass er nichts Böseres plant, als einem Land die eigenen Wasservorräte zu verkaufen. Firmen wie Nestlé und Coca Cola oder die französischen Mischkonzerne Suez und Veolia tun dies schon seit mehr als zehn Jahren. Er ist ein ungewöhnlicher Bösewicht, da Mathieu Amalric das ursprüngliche Wesen Bonds mehr verkörpert denn Craig, er ist charmant und schläft mit dem Bond-Girl.
Judy Dench spielt M kühl, ist aber immer präsent. Bond-Girls wurden traditionell mehr ihrer oberflächlichen Reize und nicht ihrer schauspielerischen Fertigkeiten wegen besetzt. Allerdings leidet Olga Kurylenko wie ihre Schauspielkollegen nicht an fehlendem Talent, sondern unter mangelndem Raum und Plastizität der Figur. Sie macht das Beste aus dieser unscheinbaren Camille, die zwar eigene Rachepläne verfolgt, aber immer auf Bond angewiesen ist. Alle Schauspieler erfüllen die Figuren mit Leben – aber immer nur so weit, wie es die Figuren ermöglichen. Dem Film fehlen, Bond ausgenommen, ansprechende Charaktere.
Dabei gab es sie immer. Es existiert eine lange Liste skurriler Bond-Nebendarsteller wie den Beißer oder Oddjob. Im neuen Bond – leider bleibt die Figur viel zu klein – ist es der zweite CIA-Mann mit seinem Schnauzer und seiner undurchschaubaren Art, der wirkt, als hätten Tarrantino oder die Coen-Brüder heimlich einen ihrer überdrehten Charaktere in Ein Quantum Trost eingeschmuggelt. So darf auch eben dieser Charakter folgendes sagen: „Richtig oder falsch spielt keine Rolle. Wir handeln aus der Not heraus.“ Die CIA steckt sowohl mit Greene als auch mit Bonds Arbeitgeber unter einer Decke, spielt mit allen ein Spiel.
Darum dreht sich der Film: Die festgefügten Wahrheiten sind ins Wanken geraten. Schwarz und Weiß haben ebenso wie Connery, Moore oder Brosnan ausgedient. Es lebe die postmoderne Uneindeutigkeit mit einer Prise Moral. Und das hat Ein Quantum Trost mit seinen Vorläufern gemein – ihn bewegt, was gerade die Welt bewegt. Wenn dies früher die Angst vor der Atombombe und der Kalte Krieg waren, sind es heute Umweltzerstörung und die knapper werdenden Rohstoffe.
Nicht ohne Grund also gräbt Greene den Bolivianern das Wasser ab. In Zukunft wird Wasser wahrscheinlich zu den wertvollsten Rohstoffen der Welt gehören, und es spricht für Dominic Greene und den Trust Quantum, dies erkannt zu haben. Die Darstellung überzogener Action kennt der geneigte Zuschauer aus den Stirb Langsam, Die Bourne- oder Star Wars Filmen. Er ist gewissermaßen daran gewöhnt, dass ihm in kaum übersichtlichen Bildern die Farben um die Ohren fliegen und am Ende das Gute siegt. Schon immer war die Action in Bond-Filmen Unsinn, wenn man realistische Maßstäbe anlegt. Negativ stechen allerdings einige Parallelmontagen hervor, wie zum Beispiel jene in der Oper. Wenn zwischen der Verfolgungsjagd und der dramatischen Opernschlussszene hin und her geschnitten wird, ist das zwar künstlerisch gemeint, wirkt aber nur künstlich. Insgesamt ist die Darstellung der Action in Ein Quantum Trost derart überdreht, dass der entstehende Bilderflickenteppich nur noch mit hektischen
Schnitten, wackligen Großaufnahmen und dramatischer Musik kaschiert und einzig noch mit Genrewissen verstanden werden kann.
Wichtig ist: Der neue Bond ist ein Prequel zur eigentlichen Serie. Das hat ja schon bei Star Wars nicht richtig funktioniert. Bei einem Prequel ist man mehr noch als bei einem Sequel den eingeführten Figuren der Reihe verpflichtet. Aber Figuren sind immer Figuren ihrer Zeit, und die Zeit Bonds ist zunächst einmal abgelaufen. Aktuell ist an dem neuen Bond höchstens seine innere Zerrissenheit. Die Lust am Spiel mit der Erzählung, wie man sie von Departed, der Bourne-Reihe oder auch dem Gangster-Klamauk um die Bande Danny Oceans finden kann, verliert sich zwischen dem Anspruch, den alten Bond zu aktualisieren, ihm gerecht zu werden, ihn zu erneuern und so weiter. Es dürfte schwer werden, aus dem aktuellen Bond den Bond zu formen, den der Zuschauer kennt, einen charmanten Agenten und Frauenhelden. Zumindest darauf darf man im nächsten Film gespannt sein.