Galerie im Turm: Die Ästhetik des Widerstands

Besprochen von Leif Allendorf

Der vor gut drei Jahrzehnten verstorbene Peter Weiss ist der große Unzeitgemäße. Wenn man heute das Fernsehinterview mit dem Schriftsteller, Künstler und Filmemacher aus den 80er Jahren betrachtet, fühlt man sich in eine andere Welt versetzt. Die Vorstellung, mit Kunst die Gesellschaft zu verändern, ja der Gedanke, die Gesellschaft überhaupt verändern zu können, erscheint heute utopischer denn je.

Umso verdienstvoller, dass die Galerie im Turm im Juni und Juli diesen Jahres Weiss‘ Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ mit einer Ausstellung würdigt. Die Initiatorinnen Julia Lazarus und Moira Zoitl, deren Schau bereits im Februar in Wien zu sehen war, wollen die dem Roman zugrunde liegenden Themen nach eigenen Angaben „in der Gegenwart neu verorten und der Frage nachgehen, inwieweit die in Peter Weiss‘ aufgestellten Thesen für das künstlerische und das politische Feld auch heute noch Gültigkeit haben“. Dazu wurden Künstler, die sich bereits mit dem Werk des Schriftstellers beschäftigt haben, eingeladen, einen Beitrag zu gestalten.

Die Räumlichkeiten der Galerie im Turm am Frankfurter Tor im Berliner Stadtteil Friedrichshain sind eher übersichtlich. Die meisten Bildwerke sind grafischer Natur: ein Jugendlicher mit Zwille, eine imaginäre Weltkarte mit Bedeutungsorten, ein Diagramm der „Ersten globalen Friedensdemonstration“ von 2003. In Filmbeiträgen werden Performances dokumentiert wie Hubert Lobnings „Die Baustelle“ von 2013, wo Arbeiter in prekären Beschäftigungsverhältnissen, meist Flüchtlinge mit ungesichertem Status, weithin sichtbar riesige Holzbohlen durch die Wiener Innenstadt trugen.

Das Begleitprogramm der Ausstellung ist beeindruckend: Workshops, öffentliche Leseproben, Ortsbegehungen im Pergamon-Altar und eine Führung durch die Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit Hans Coppi, dem Sohn eines der von den Nazis ermordeten kommunistischen Widerstandskämpfer, der in Weiss‘ Roman eine zentrale Rolle spielt. Weniger überzeugend sind die künstlerischen Arbeiten selbst. Verglichen mit der titanischen Arbeit an seiner – von den Kritikern fast durchweg angefeindeten – Romantrilogie des Peter Weiss ist eine heutige Performance nur ein schwacher Abklatsch. Peter Weiss selbst hatte eine Aktion des Pariser Künstlers Jean Tinguely als „Jahrmarktsscherz“ kritisiert, in der eine Parade von lärmenden Blechwagen durch die französische Hauptstadt paradierte.

Die Ästhetik des Widerstands. 13. Juni – 23. Juli 2014. Galerie im Turm, Frankfurter Tor 1, 10234 Berlin.

NAURU ist überall

Besprochen von Leif Allendorf

  • FOLLIET, Luc: Nauru – Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte. Wagenbach-Verlag 2011. ISBN: 978-3803126542.
Nauru                                            © Wagenbach Verlag

 

In seiner Studie „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ beschreibt der Amerikaner Jared Diamond in einem Gedankenspiel, wie der letzte Baum der Osterinsel von der Urbevölkerung gefällt wurde. Der ganze Wald ist bereits abgeholzt worden, damit die Pazifikbewohner die berühmten Steinstatuen errichten und transportieren konnten. Nun ist nur noch ein letzter Baum übrig. Die Bewohner der Osterinsel waren keine dummen Kreaturen, es waren Menschen von Verstand wie wir. Und trotzdem fällten sie um etwa 1500 nach Christus den letzten Baum und zerstörten damit sehenden Auges die letzte Möglichkeit, dass sich die Insel wieder bewaldete. Was mag den Holzfällern durch den Kopf gegangen sein, als sie den letzten Baum der Insel mit ihren Steinäxten niederwarfen?

Fünfhundert Jahre später ereignete sich auf Nauru, einer ebenfalls kleinen isolierten Pazifikinsel, ein ähnliches Desaster. Die polynesische Bevölkerung benutzte keine Steinäxte, um ihre idyllische Heimat zu ruinieren. Auch waren Bagger, Kräne und Fabrikschlote nicht das Mittel, um den Untergang herbeizuführen (obwohl sie der Insel ihre Spuren hinterlassen haben). Das Inselparadies am anderen Ende der Welt wurde mithilfe der freien Marktwirtschaft zerstört.

Nauru ist etwa 20 Quadratmeter groß und wird von weniger als 10.000 Menschen bewohnt. Der Vogelkot hat sich auf der Oberfläche aus abgestorbenen Korallen im Laufe der Jahrtausende zu einer Phosphatschicht vermengt. Phosphat ist eine Ressource, die sich mit Erdöl vergleichen lässt. Weltweit werden damit ausgelaugte Böden gedüngt. So wie die Industrie Erdöl benötigt, ist die globale Landwirtschaft auf Phosphat angewiesen. Wer über diese Ressource verfügt, ist reich. Und Nauru bestand aus Millionen und Abermillionen Tonnen dieser Substanz.

In der Zeit vor, während und nach den beiden Weltkriegen war Nauru ein Spielball der Kolonialmächte und Machtblöcke. Doch in den 60er Jahren hatten einige junge Inselbewohner Universitäten in Australien und die USA besucht und wussten nun, wie die westliche Welt ihre Heimat ausbeutete. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen erlangte die Insel 1968 ihre Unabhängigkeit und die alleinige Kontrolle über den Handel mit Phosphat, der bislang in der Hand britischer und australischer Firmentrusts gelegen hatte. Die unermesslichen Erträge flossen direkt in die Taschen der Inselbewohner und machten die bislang armen Menschen quasi über Nacht zu Millionären. Von der Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit befreit verbrachten die Nauruer ihre vollständige Zeit damit, ihr Geld mit vollen Händen auszugeben, mit wöchentlich neu erworbenen Luxusautos um die einzige Straße der Insel zu kurven und chinesischen Gastarbeitern die Maloche des Phosphatabbaus zu überlassen.

Wer zu viel Geld hat, um es auszugeben, der legt es an. Und wird es richtig angelegt, dann bringt dies noch mehr Geld, das wiederum angelegt werden muss. Die Befreier Naurus hatten dies auch geplant, um die Zukunft des winzigen Inselstaates zu sichern. Irgendwann würden die Phosphatvorkommen erschöpft sein – und dann musste Nauru auf anderen Beinen stehen. Durch Unerfahrenheit und Leichtsinn gerieten die Dollarmillionen in die Hände windiger Spekulanten, die es darauf angelegt hatten, die Naivität der Nauruer zu benutzen, um sich selbst zu bereichern. Das dafür verantwortliche Establishment Naurus – fast jede Familie stellte irgendwann einen verantwortlichen Minister oder Behördenchef – fürchtete sich, die Fehlschläge einzugestehen und versuchte, die Verluste mit noch größeren Unternehmungen wiedergutzumachen, die allerdings noch größere Verluste verursachten. Verdrängung und Verleugnung der dringendsten Probleme und Fehlentwicklungen ließen das reichste Land der Erde unausweichlich auf den ökonomischen Untergang zusteuern. Den Abschluss der unabwendbaren Abwärtsspirale stellte der verzweifelte Versuch dar, mit Krediten wieder zu Geldmitteln zu kommen, was aber letzten Endes nur bewirkte, dass weitere Kredite aufgenommen werden mussten, um die Zinsen des vorhergehenden Darlehens zu beziehen.

Überliefert hat uns diese Geschichte der französische Journalist Luc Folliet in seinem Buch „NAURU – Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte“, das soeben im Wagenbach-Verlag erschienen ist. Ende 2005 reiste er nach Nauru, „um selbst zu sehen, ob das alles wahr ist“. Können wir s glauben? Auf GoogleEarth kann man den Namen der Insel eingeben. Die Weltkugel dreht sich, wendet uns den unendlichen Pazifischen Ozean zu und zoomt auf eine winzige Insel, etwa vier Kilometer lang und drei Kilometer breit. Wir können weiter hinabtauchen und erkennen die Ringstraße, die entlang der Küste einmal um die Insel führt. Wir erkennen die Start- und Landebahn im Süden, direkt neben der Hauptstadt Yare. Im Nordosten sehen wir den verfallenen Fischereihafen Yanibare.

Die Bewohner von Nauru sind nicht törichter als andere Menschen. Auf ihrer winzigen Insel zeigen sich die Folgen ihres Handels nur rascher. Sie taten nichts anderes als die Ölstaaten, die mit gigantischen Bauvorhaben protzen, aber völlig verdrängen, dass die Millionen von Petrodollars mit dem schwarzen Gold versiegen. Und nichts anderes als jeder Bewohner der westlichen Welt, der dem Klima nichts mehr wünscht als dass es sich wieder erholt, der aber, wenn er aufgefordert wird, auf Autofahren und zwei Ferienflüge im Jahr zu verzichten, der Ansicht ist, das gehe nun wirklich zu weit, da müsse das Klima eben Zugeständnisse machen.

Das eingangs erwähnte Fällen des letzten Baums der Osterinsel ist ein noch viel schlimmeres Verbrechen, wenn man bedenkt, dass die Osterinsulaner ihr Eiland für die ganze Welt und sich selbst für die einzigen Bewohner hielten. Sie glaubten also nicht nur, den letzten Baum ihrer Insel, sondern den letzten Baum des ganzen Planeten zu zerstören. Was den Menschen der Osterinsel nicht möglich ist, könnte die globalisierte Wirtschaftsgesellschaft schaffen: die weitgehende Vernichtung der eigenen Zivilisation. Und wenn das geschieht, dann tun wir eines Tages das, was die Nauruer seit dem Zusammenbruch ihrer Wirtschaft tun: Mit einer Angel ans Ufer treten, um etwas auf dem Mittagstisch zu bekommen.

Dieser Artikel ist zunächst bei 60Minuten in Berlin erschienen (http://www.60minuten.net).

PRO und KONTRA: „Scheißkerle“ vom Roman Maria Koidl

Besprochen

  • KOIDL, Roman Maria: Scheißkerle. Warum es immer die Falschen sind. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. ISBN: 978-3-455-50154-4.

Der vorliegende Titel hat in der Redaktion dermaßen polarisierte Reaktionen ausgelöst, dass wir uns – einmalig in der Geschichte des „besprochen“-Magazins – entschlossen haben, die unterschiedlichen Positionen in einem „Pro“ und einem „Kontra“ wiederzugeben.

KONTRA
von Daniela Nagorka

Bereits nach dem ersten Blick auf Cover und Titel von Roman Maria Koidls „Scheißkerle“ weiß man, was man in etwa von diesem Buch zu erwarten hat, nämlich Betrachtungen zur Verdrossenheit von Frauen gegenüber Männern, ironisches Klagen und Anekdoten über Probleme zwischen den Geschlechtern. Schon nach den ersten drei Seiten hat man dann die Gewissheit: Kein Klischee wird ausgelassen, jedes einzelne wird gnadenlos ausgeschlachtet und nervig zugespitzt. Allein das Cover bedient schon drei davon. Die Farbauswahl soll wohl eine Anspielung auf die kitschigen Vorlieben der Frau sein, der Frosch symbolisiert den (manchmal vorübergehend) verwunschenen Prinzen, den sich jede Frau wohl wünscht, und der Titel steht für das (Vor-)Urteil, dass Frauen die meisten bis alle Männer wegen zahlreicher Enttäuschungen einfach scheiße finden. Rein äußerlich lockt das Buch vermutlich tatsächlich mehr weibliche Leserinnen an.

Liest man sich dann doch ein wenig in den Stoff hinein, wirkt der Autor (zumindest auf die der vermutlich angesprochenen Zielgruppe zugehörigen Rezensentin) allerdings nicht unbedingt als Frauenversteher. Eher im Gegenteil: Einige könnten sich ein wenig veräppelt vorkommen. Einem Mann nimmt man das alles irgendwie nicht so ab, weil man sich fragt, ob er selbst überhaupt versteht, worüber er da schreibt. Diesen ganzen Ratschlägen, Erklärungen und Warnungen fehlt es an Überzeugungskraft und auch Ehrlichkeit, die vermutlich eher vorhanden wären, wenn das Buch eine Frau geschrieben hätte, die es nicht nur oberflächlich beurteilen kann, sondern aus dem Inneren, aus selbst erfahrenen Emotionen heraus.

Dieses Buch dient lediglich der Massenunterhaltung einer bestimmten Zielgruppe, nämlich den weiblichen „thirty somethings“ ohne Partner oder mit einem Exemplar Mann an ihrer Seite, das man eigentlich nie haben wollte. Somit eignet es sich zur Eigentherapie, die notgedrungen allerdings erfolglos bleiben wird – es sei denn, man schwört den Männern komplett ab – , denn der Autor selbst lässt kein gutes Haar an seinesgleichen. Er kann auch nicht umhin, die Single-Frau ab 30 als Unbelehrbare mit Helfersyndrom abzustempeln, die immer wieder an die falschen Männer gerät, also beispielsweise an solche, die sich nicht binden wollen und deshalb vorgeben, noch geschädigt und verletzt aus der vorherigen Beziehung zu kommen, oder solche, die eine Basis für ihre Lügen und Betrügereien schaffen, indem sie zunächst Mitleid erwecken.

Jedenfalls wird eine Frau, die auf Partnersuche ist oder in einer ernüchternden Beziehung steckt und sich an einigen Stellen des Buches wiederfindet, selbst mit einer riesigen Portion Galgenhumor und Selbstironie wahrscheinlich nicht über das Geschriebene schmunzeln können, sondern sich eher im Selbstmitleid baden, weil sie sich durch die Parallelen zu ihren eigenen Erfahrungen in ihrem Unglück auch noch bestätigt sieht. Welchen Zweck verfolgt also dieses Buch? Sollen enttäuschte Frauen etwa ihre allerletzten Hoffnungen begraben, doch noch einen beziehungswilligen und -fähigen Partner zu finden, einen Mann, der ehrlich zu lieben imstande ist?

Vielleicht eignet sich das Werk eher für Männer, die einmal wissen möchten, wie Frauen über sie denken, um über ihr Verhalten nachzudenken und die Frauen einfach mal mit Anderssein zu überraschen, damit sie nicht mehr nur ein Frosch unter vielen sind – falls er das überhaupt will. Der Autor unterstellt dem Großteil der Männerschaft nämlich Vorsätzlichkeit, wenn es um das Betrügen, Demütigen oder Manipulieren von Frauen geht, um mehrere von ihnen parallel beglücken zu können. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass solch strategisches Vorgehen tatsächlich von ihnen gesteuert wird, weil doch vom Autor häufiger betont wird, dass Männer eher einfach gestrickt und leicht zu durchschauen sind. Übrigens werden Frauen, die auf das betrügerische, sadistische Verhalten solcher Typen hereinfallen, vom Autor verständnisvoll als Opfer bezeichnet – analog zur Rechtsterminologie in Fällen von „seelischer Grausamkeit“.

Sicher mag es all diese Fälle geben, dennoch kann wohl niemand behaupten, dass Affären und Liebesbeziehungen allein aus permanenten Machtspielchen, Unterdrückung, Manipulation und Betrügereien bestehen. Gerade in den mittleren Kapiteln verliert das Buch diesbezüglich nämlich jegliche Komik und Ironie. Stattdessen werden ernst gemeinte Erklärungen in der Kindheit und der Erziehung gesucht. So seien beziehungsmissratenen Männern als Kind einfach keine Grenzen gesetzt worden. Und Frauen hätten in ihren Beziehungen noch immer unter Aufmerksamkeitsdefiziten und Verlustängsten zu leiden, wenn sie vom Vater nicht genügend beachtet wurden. Aha, so simpel ist das also. Und die passende Lösung hält der „Experte“ in seinem „Ratschlag-Katalog“ im Anhang unter der Nummer 17 auch bereit: Da helfe nämlich nur noch der Gang zum Psychologen.

War es nun wirklich nötig, dieses Buch zu schreiben? Sobald man sich in einer der darin geschilderten Situationen befindet, bestimmt meist sowieso das Herz über den Kopf. Man wird sich kaum an die Tipps in diesem Ratgeber erinnern, geschweige denn nach ihnen handeln.
Der Autor hat es sich etwas leicht gemacht: Er hat lediglich sämtliche Klischees, Vorurteile, Enttäuschungen, die jeder kennt und denen man täglich begegnet, gesammelt. Die verbitterten Reaktionen der von ihm interviewten Frauen auf seine Belehrungen hat er in teils gewollt lustige, teils schönsprachige Sätze verpackt. Hin und wieder findet man einen intelligent formulierten Satz, was aber nichts am mäßigen Gesamteindruck dieses Buches ändert. Man gewinnt keinerlei Mehrwert bei der Lektüre dieses Buches, außer vielleicht, der Leser ist ein Mann, der Nachhilfe in dem bekommen möchte, was seine Geschlechtsgenossen nach Meinung des Autors naturgemäß am besten können …

 

PRO
von Leif Allendorf

Es wird wohl kaum einen Leser geben, dem beim Lesen dieses Buches nicht auf Anhieb drei Personen im Bekanntenkreis einfallen, die exakt dem von Roman Maria Koidl beschriebenen Muster entsprechen. Gute Freundinnen, die an einem Partner festhalten, über dessen Benehmen ein halbwegs vernünftiger Mensch nur den Kopf schütteln kann, Bekannte, die verzweifelt darauf warten, „dass er sich noch meldet…“. Doch der Autor beschränkt sich glücklicherweise nicht darauf, einen Missstand zu thematisieren und zu beschreiben. Stattdessen geht er minutiös den Verhaltensstrukturen auf den Grund, die es möglich machen, dass kluge attraktive Frauen Mitte dreißig wertvolle Zeit, manchmal sogar Jahre damit verschwenden, einem Mann nachzulaufen, der dies offenbar nicht verdient.

Liebesbeziehungen rühren an den empfindlichsten und verletzlichsten Teil unseres Selbst. Eine Enttäuschung ist hier notwendig eine Katastrophe, ein Scheitern die totale persönliche Niederlage. Eine Bindung aufzubauen dauert Jahre, sie zu zerstören kann eine Sache von Minuten sein. Außerdem hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Zusammenleben nur zum kleineren Teil aus romantischen Momenten besteht – und beiderseits großer Geduld bedarf. Ist es da nicht angemessen, an einer Partnerschaft festzuhalten, auch wenn sie einer längeren Krise unterworfen wird?
Im Prinzip ja. Die Sache wird nur problematisch, wenn hier mit falschen Karten gespielt wird, wenn beispielsweise wie in Koidls Fallstudie die Frau ihrem Partner (oder Verehrer, oder verheiratetem Liebhaber) einen Vertrauenskredit einräumt, den dieser nicht im Traum zurückzuzahlen gedenkt, sondern im Gegenteil vorhat, das Konto so weit wie möglich zu überziehen und sich mit dem Gewinn aus dem Staub zu machen. Diese persönlichen Dramen nachvollziehbar zu machen, in diesen individuellen Schicksalen ganz simple objektiv nachvollziehbare Verdachtsmomente, Indizien und Beweise aufzuzeigen, mit Koidls Worten „Spiele aufdecken und sie beenden“: das ist das große Verdienst von „Scheißkerle“, einem Ratgeber, für den besonders spricht, dass er sich sehr skeptisch zu Ratgeberbüchern äußert.

Über weite Strecken gibt der Autor wider, welche Geschichten er sich von Frauen aus seinem Bekanntenkreis anhören musste und wie die Betroffenen ganz offensichtlich schreckliche Beziehungen schönredeten und auf eindeutig hoffnungslose Fälle setzten. Es folgt die Schilderung vergeblicher Versuche, mit logischen Argumenten das Netz aus Selbstbetrug zu zerreißen. Abschließend versucht Roman Maria Koidl, Erklärungen dafür zu finden, dass kritische Frauen ihre Kritikfähigkeit verlieren, vernünftige Menschen sich in völlig illusorischen Hoffnungen ergehen und Personen, die sich im Leben sonst sehr gut durchzusetzen wissen, sich plötzlich hin- und herschubsen lassen. Da ist der jedem Menschen innewohnende Wunsch, geliebt zu werden und die Angst, einsam zu werden und zu bleiben. In extremen Fällen hat eine verkorkste Beziehung zum Vater die Tochter so sehr geschädigt, dass sie sich unbewusst in aussichtslose Partnerschaften einlässt, um sich in ihrer Verbitterung bestätigt zu sehen.

Natürlich hat Koidls Sammlung von Fallstudien auch Schwächen. So gehört die Vorstellung, dass Männer nur „das eine“ wollen, während es Frauen nur um „das Gefühl“ geht, in die Mottenkiste. Auch die wiederholte Beteuerung, Frauen seien eh die besseren Menschen, bewegt sich irgendwo zwischen Galanterie und Schleimerei. Entscheidend ist, dass Koidl ein nobles Ziel verfolgt: Die Tricks und Kniffe der „Scheißkerle“ kann er als Mann unbefangen öffentlich machen. Würde eine Frau dies tun, so hätte es einen faden Beigeschmack. Und damit erweist Koidl sich wirklich als Kavalier.

 

Metzlers Kleist-Handbuch: Ein unentbehrliches Standardwerk

Besprochen von Leif Allendorf

  • BREUER, Ingo: Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. J.B. Metzler 2009. ISBN: 978-3-476-02097-0 Pick It!.

Heinrich von Kleist erlebte – zeitgleich mit Friedrich Nietzsche – in den achtziger Jahren eine Renaissance. Dann wurde es wieder etwas ruhig um ihn, ehe in jüngerer Zeit eine Reihe von Untersuchungen erschien. So schaffte Jens Bisky endlich das Gerücht von Kleists vermeintlicher Homosexualität aus der Welt, indem er darauf hinwies, dass es „schwul“ im Preußenadel des 19. Jahrhunderts nicht gab.

Das bei Metzler erschienene Handbuch nimmt sich den Dichter nun systematisch von allen Seiten vor. Die Lebensgeschichte wird knapp gehalten, über sie kann man sich in jeder Biografie informieren. Den Großteil des 500-seitigen Bandes nimmt die Analyse des Werks ein, die unter allen möglichen Aspekten erfolgt. So folgt auf die ausführliche Darstellung und Deutung der Dramen, Novellen und sonstigen Schriften eine Untersuchung, wie jede Epoche von der Antike über die Aufklärung und die zu Kleists Lebzeiten aktuelle romantische Bewegung auf Autor und Schriften gewirkt – oder eben nicht gewirkt hat. Von Kleists freiem Umgang mit der Historie beispielsweise zeugt das Geschichtsbild seiner Dramen: Das Stauferreich wird in der „Herrmannsschlacht“ in die Zeit der römischen Antike verlegt, bei „Michael Kohlhaas“ herrscht noch im 16. Jahrhundert das mittelalterliche Fehdewesen. Auf knappstem Raum finden sich brillante Interpretationen wie die des Gedichts „Der Schrecken im Bade“. Von den unzähligen Aspekten, die folgen, seien nur ein halbes Dutzend willkürlich herausgegriffen: Adelskultur, Bildende Kunst und Rhetorik, Erkenntnis, Natur und Staat. Souverän werden aktuelle und neumodische Forschungsansätze geprüft: Psychoanalyse, Dekonstruktion, Medienwissenschaft.

Interessant ist auch die Rezeptionsgeschichte des Kleistschen Oevres aufgearbeitet. Die Wirkung in Deutschland steht in einem so krassen Missverhältnis zur quasi Nichtbeachtung im Ausland, dass man sich trefflich fragen kann, wie ein Dichter so „deutsch“ sein kann, dass er nicht exportierbar ist.

Das von Ingo Breuer mitverfasste und betreute Kleist-Handbuch ist eine unerschöpfliche Quelle von Informationen und Anregungen und wird auf absehbare Zeit das unentbehrliche Standardwerk zu diesem Thema sein.

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Über „Feuer brennt nicht“ von Ralf Rothmann

Besprochen von Leif Allendorf

  • ROTHMANN, Ralf: Feuer brennt nicht. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009. ISBN 978-3518420638.

Die Handlung ist wirklich nicht originell: Ein Mann im so genannten besten Alter verlässt den wilden Kreuzberger Kiez und zieht mit seiner langjährigen Lebensgefährtin in den beschaulichen Südosten Berlins. Er ist Schriftsteller, wird von Selbstzweifeln geplagt und geht fremd. Nun stammt diese Geschichte aber aus der Feder von Ralf Rothmann, und wer dessen Roman „Stier“ gelesen hat, diese Geschichte des Maurerlehrlings, der nicht „so eine panierte Schweineseele“ wie seine Kollegen werden will, der miterlebt, wie Punk und New Wave in Düsseldorf einbrechen und die Welt auf den Kopf stellen, der als Krankenpfleger beobachtet, wie Menschen nur noch als Verschiebemasse behandelt werden, und der schließlich nach Berlin geht, um Schriftsteller zu werden – wer also von dieser Geschichte bezaubert wurde, dem wird es schwer fallen, sich der Elegie „Feuer brennt nicht“ zu entziehen.

Das liegt zum einen daran, dass die Milieus präzise beschrieben werden. Da ist Kreuzberg, das Idyll der Berufsjugendlichen, aber jetzt nur noch heruntergekommen. Und dann gibt es Köpenick, den fernsten Ausläufer Berlins, die S-Bahn Richtung Erkner, Friedrichshagen, den Speckgürtel, Schöneiche. Bemerkenswert, dass knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ein Westdeutscher immer noch so tut als seien die Ostdeutschen außerirdische Wesen, der es also zwei Dekaden lang geschafft hat, jeden persönlichen Kontakt über die einstige Grenze zu vermeiden.

Umso tieferen Einblick erhalten wir in das Liebesleben des Schriftstellers mit der etwas jüngeren ehemaligen Buchhändlerin. Es ist eine ganz gewöhnliche Beziehung, doch wie man sich wehtut, wenn man zusammen ist, das beschreibt Rothmann mit schmerzhafter Intensität. Wir leiden mit dem Erzähler, auch wenn der im Unrecht ist. Eingebunden in den Hauptstrang sind zwei wunderbare Personenstudien: die Geliebte, eine vom Ehrgeiz zerfressene erfolgreiche Akademikerin, sowie der alternde Schriftsteller und einstige Mentor des Ich-Erzählers, dessen scheinbare Überlegenheit sich zunehmend als soziale Inkompetenz entlarvt.

Einzig störend sind Passagen, in denen Rothmann über das Schreiben selbst räsonniert. Das haben wir schon in den Achtzigern gelesen – und uns schon damals gelangweilt. „Die Unwahrheit fängt mit dem Kunstwillen an, dem Arrangement, aber das merkt man nicht.“ Eben. Das Buch ist am stärksten dort, wo es sich ganz auf die Handlung verlässt. Alina hat nämlich auch ein Geheimnis, und dass Rothmann das letzte Wort ihr überlässt, spricht für den Autor.

Ralf Rothmanns Romane machen den Leser nicht klüger – aber weiser.

 

Über „Umkehrungen“ von Azadeh Baharestani und Ziba Maghrebi

Besprochen von Leif Allendorf

  • „Umkehrungen“. artport Wedding, Biesentaler straße 16, 13359 Berlin
    Eröffnung: Fr., 28.11.08 ab 20 Uhr, geöffnet bis 15. Januar 2009
    Öffnungszeiten: Sunday Wedding, 30.11.08 15 -18 Uhr, sowie nach Vereinbarung (Tel. 0178-5947507)

Die Berliner Galerie „artport“ ist seit Jahren fester Bestandteil der Einrichtung „Kolonie Wedding“, jenem Versuch, dem so genannten Soldiner Kiez durch die verstärkte Präsenz von kulturellen Angeboten einen Anstoß zu geben. Der Kuratorin Ariane Blankenburg gelingt es dabei, Künstler aus verschiedenen Ländern für ihre Ausstellungen zu gewinnen.

Seit November 2009 ist bei „artport“ eine Doppelausstellung zu besichtigen, die Schau „Umkehrungen“ der iranischen Fotografinnen Azadeh Baharestani und Ziba Maghrebi. Während die erste sich wegen ihres Studiums in Berlin aufhält, arbeitet die zweite als Übersetzerin und freie Journalistin in Teheran tätig. Beide Frauen haben in den vergangenen Monaten ihre Umgebung fotografiert. Azadeh Baharestani fotografierte „am liebsten nach dem Regen, wenn Straße und Wege unwirtlich, kaum begehbar sind und grosse Pfützen uns zu Umwegen zwingen“. Da sei sie öfter stehen geblieben und habe in den Bildern, die sich in den Pfützen spiegelten, einen ganz neuen Blick bekommen für die Straßen,durch die sie täglich geht: „Umkehrungen“ eben.

Ihre Freundin Ziba Maghrebi fotografierte parallel dazu in Teheran alltägliche Szenen. Obwohl die Straßen auf den Schwarzweißbildern voller Menschen und Autos ist, geht von den Fotos eine eigentümliche Stille aus. Die Aufnahmen wurden aus großer Entfernung gemacht, wodurch ein distanzierter und sachlicher Blick entsteht.

 

Über „Die Beute“ von Phoebe Müller

Besprochen von Leif Allendorf

  • MÜLLER, Phoebe: Die Beute: Erotische Erzählungen. Konkursbuch-Verl. Gehrke, Tübingen 2007. ISBN: 978-3887693688.

Die Karlsruher Autorin Phoebe Müller hat einen beachtlichen Weg hinter sich. In den 80er Jahren veröffentlichte sie im Selbstverlag Erzählungen unter dem Titel „Die Eingeweide des Himmels“. Es waren Geschichten des Weltschmerzes, die das Gefühl schildern, wenn man literarisch interessiert ist in einer Stadt, die wie Karlsruhe nicht das geringste Interesse an Literatur hat. Ihr Romandebüt „Fernes Feuer“ landete irgendwo zwischen Nichtbeachtung und Geheimtipp. Inzwischen gibt es sogar in Karlsruhe so etwas wie eine literarische Szene – dank des unermüdlichen Einsatzes von Menschen wie dem Leiter des Oberrheinischen Dichtermuseums, Hansgeorg Schmidt-Bergmann, oder dem umtriebigen Schriftsteller Matthias Kehle. Aber Phoebe Müller hat die Karlsruher Provinzbühne verlassen. Seit einiger Zeit veröffentlicht sie erotische Erzählungen im konkursbuch-Verlag von Claudia Gehrke. Geschichten dieser Art sind zur Zeit schwer in Mode. Der Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf hat eigens ein Spin-off dafür gegründet: In der Reihe „Anais“ verlegen drei junge Verlegerinnen die Erotikromane junger Autorinnen. Das Strickmuster dieser Geschichten ist immer dasselbe. Im Gegensatz zu den Klassikern, auf die sich heutige Texte dieser Art berufen zu dürfen glauben, Anais Nin oder Pauline Reage, handelt es sich um Dutzendware, die sich konsumieren lässt wie Pralinen oder Sekt.
Nicht so die Erzählungen in Phoebe Müllers neuestem Band „Die Beute“. Zwar mutet der Handlungsablauf meist genau so an wie bei den erwähnten Routineprodukten: zwei Menschen begegnen sich, haben Sex und gehen wieder auseinander. Bei Phoebe Müller kommt aber noch eine weitere Ebene hinein, ein Gefühl des Unbehagens. Es scheint, als ob das Ungenügen, das die Protagonisten bei „konventionellen“ Sex empfinden, die Autorin daran hindert, die übliche Erotik-Wohlfühlprosa zu produzieren, jenen Prosecco zum Lesen, der gegenwärtig so erfolgreich ist. Deutliches Zeichen dieses Unbehagens sind die von Erzählung zu Erzählung sich steigernden Verletzungen, die sich die Liebespartner zufügen. Je stärker die Leere empfunden wird, desto krasser findet sich dies in den sado-masochistischen Praktiken wider. Dies verleiht dem Buch die „Beute“ eine existenzielle Tiefe, die den meisten Konkurrentinnen Phoebe Müllers fehlt.

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Ein Handbuch zum Schlagwort ´68 – Der Mythos „1968“ einmal nüchtern betrachtet

Besprochenvon Leif Allendorf

  • KLIMKE, Martin/ SCHARLOTH, Joachim (Hg.): 1968. Ein Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart; Weimar 2007. ISBN 978-3-476-02066-6.

In entnervender Gleichförmigkeit werden im „Jubiläumsjahr“ 2008 die immergleichen Bilder gezeigt, Zitate wiederholt und Kämpfe ausgetragen. Dabei führt die Beschränkung auf ausgetretene Pfaden zu keiner neuen Erkenntnis. Da ist das von Martin Klimke und Joachim Scharloth bei Metzler herausgegebene „Handbuch 1968“ eine willkommene Abwechslung. Denn dort werden die Mechanismen untersucht, die erst zur Entstehung des Begriffs „1968“ geführt haben, was Aufschluss darüber gibt, warum der Diskurs 40 Jahre danach so arm ausfällt: „In den letzten Jahren hat sich der Schwerpunkt der Erforschung der Studentenbewegung aber immer mehr von der Geschichte der Ereignisse hin zu einer Geschichte von Repräsentationen verlagert.“ Die Popularität der eigentlich marginalen Studentenbewegung verdankt sich ihrer medialen Verfälschung: das Happening ist alles, die Absicht gilt nichts, die Form des Protests wird zum Selbstzweck und damit entleert.

Um dieser Oberflächlichkeit zu entgehen ist es schon hilfreich, den zeitlichen Rahmen zu erweitern: die 60er Jahre als Vorbereitung, die 70er als Resultat zu betrachten und auf langfristigere Entwicklungen einzugehen. Die Einflüsse der Popmusik und neuer Spielfilmtechniken werden in dem verdienstvollen Band ebenso untersucht wie das, was danach kam, die RAF, eine neue Frauenbewegung usw. Aber auch geografisch wird hier der Blick über den Tellerrand gewagt: „Die Interdependenz und die Adaptionsprozesse der Protestbewegungen in den verschiedensten Ländern rücken somit zunehmend in das Blickfeld einer Geschichtswissenschaft, die sich von nationalstaatlichen Paradigmen ablöst, und sich auch dem Entstehen einer transnationalen Zivilgesellschaft im Gefolge der 1960er Jahre zuwendet.“

Zutreffend stellen die Autoren fest, dass trotz aller Bemühungen um seine Historisierung: ›1968‹ hat seinen Platz im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik noch nicht gefunden hat. Es steht als „Mythos, Chiffre, Zäsur, als Heldenlied oder Verwünschungsarie“ noch immer im Zentrum der Frage nach einer Selbstdefinition der Geschichte der Bundesrepublik. Die Aufregung über die Sponti-Vergangenheit des ehemaligen Außenminister Joschka Fischer oder die RAF-Ausstellung im Jahr 2003 beweisen die noch immer vorhandene Polarisierungskraft jener Ereignisse vor vier Jahrzehnten.

Neben einer solchen „Polarisierung“ wäre auch ein höheres Niveau zu wünschen. Das „Handbuch 1968“ trägt da einen ersten Schritt zu bei.

 

 

Allendorf, Leif: Nichts, was Sie sehen, geschieht in Echtzeit. Über die Schwierigkeit, den Verlauf der Zeit synchron wiederzugeben, 17.03.08

Wer war der erste, der eine Geschichte in Echtzeit erzählte? Sie werden es nicht glauben – Heinrich von Kleist. Es handelt sich um die Anekdote aus dem letzten preussischen Kriege von 1810. Der Regisseur Zoltan Spirandelli drehte 1995 einen achtminütigen Film, bei dessen Kinovorführung ein Sprecher den Kleist-Text vorlas. Das Ergebnis: Der gesprochene Text beschrieb exakt die im Film gezeigten Aktionen. “Dieser Kerl, sprach der Wirt, sprengte, ganz vom Staub bedeckt, vor meinen Gasthof, und rief: ‘Herr Wirt!’ und da ich frage: was gibt’s ‘ein Glas Branntewein!’, antwortet er, indem er sein Schwert in die Scheide wirft: ‘mich dürstet.’ Gott im Himmel! sag ich: will er machen, daß er wegkömmt? Die Franzosen sind ja dicht vor dem Dorf! ‘Ei was’ spricht er, indem er dem Pferde die Zügel über den Hals legt. ‚Ich habe den ganzen Tag nichts genossen!’ Nun, er ist, glaube ich, vom Satan besessen-! He! Liese! ruf ich, und schaff ihm eine ganze Flasche Danziger herbei, und sage: da! und will ihm die ganze Flasche in die Hand drücken, damit er nur reite.“

Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl und Fräulein Else

In der Moderne ist die Suche nach der synchron erzählten Zeit eng verknüpft mit dem so genannten inneren Monolog.

Arthur Schnitzlers 1901 erschienene Erzählung Leutnant Gustl sowie Fräulein Else machen hier den Anfang. Aus letzterer ein Zitat: „Da ist ja die Tür. – Dorsday! Ich falle um. Dorsday! Dort steht er am Fenster und hört zu. Wie ist das möglich? Ich verzehre mich – ich werde verrückt – ich bin tot – und er hört einer fremden Dame Klavierspielen zu. Dort auf dem Divan sitzen zwei Herren. Der Blonde ist erst heute angekommen. Ich hab’ ihn aus dem Wagen steigen sehen. Die Dame ist gar nicht mehr jung. Sie ist schon ein paar Tage lang hier. Ich habe nicht gewußt, daß sie so schön Klavier spielt. Sie hat es gut. Alle Menschen haben es gut … nur ich bin verdammt… Dorsday! Dorsday!“ Zwischen den Zeilen sind die Partituren eines Klavierstücks von Schumann wiedergegeben. Zehn Takte, die während jenes Selbstgespräches im Zimmer gespielt werden.

James Joyce: Ulysses

Ein Tag hat 24 Stunden, das entspricht 1440 Minuten. Da das Lesen einer Buchseite etwa zwei Minuten dauert, würde ein Roman in Echtzeit also 720 Seiten haben. Das entspricht ungefähr der Länge von James Joyce Epos Ulysses, das 1922 erschien. Im Nausikaa-Kapitel dort heißt es: „Mr. Bloom sah ihr nach, wie sie davonhumpelte. Armes Mädchen! Deswegen also war sie auf dem Felsvorsprung sitzen geblieben, als die anderen einen Wettlauf machten. Dacht ich mir doch gleich, daß da irgendwas nicht stimmte, ihrem Gesichtsausdruck nach. Sitzengelassene Schönheit. Bei Frauen ist so ein Mangel gleich zehnfach schlimm. Aber macht sie gefällig. Bin ja bloß froh, daß ichs nicht gewußt hab, wie sie sich da produzierte. Trotzdem, ein kleiner heißer Teufel. Würde sich bestimmt nicht lange zieren. Kriegt man direkt Neugier drauf, wie auf ne Nonne oder ne Negerin oder ein Mädchen mit Brille.“

Virginia Woolf: Mrs Dallowayund Zum Leuchtturm

Aber Joyce tut nur selten so, als versuche er eine adäquate Abbildung des Bewusstseinsstroms. Der Großteil des Romans wird mit Stil- und Sprachklamauk bestritten. Fünf Jahre später lotete Virginia Woolf die Möglichkeiten ihres ganz persönlichen Sekundenstils aus. Hatte sie zuvor in Mrs Dalloway einen ganzen Tag im Rahmen eines üblichen 200-Seiten-Romans geschildert, besteht der erste Teil des 1927 erschienenen Buches Zum Leuchtturm auf einer 130-seitigen Schilderung eines Nachmittags. „Also saßen sie schweigend. Dann wurde sie sich bewußt, daß sie wollte, daß er irgendetwas sagte. Irgendetwas, irgendetwas, dachte sie, während sie weiterstrickte. Irgendetwas reicht schon. (…) Sag doch etwas, dachte sie, weil sie sich sehnte, nur seine Stimme zu hören. Denn der Schatten, das Ding, das sie beide einschloß, begann, so merkte sie, sich wieder um sie zu legen. Sag doch irgendetwas, bat sie, und schaute ihn wie hilfesuchend an. Er schwieg und ließ den Kompaß an seiner Uhrkette hin und her schwingen, während er an Scotts Romane und Balzacs Romane dachte.“ In der quälenden Langsamkeit tauchen immer wieder die gleichen Sätze auf. Eine Berücksichtigung dessen, dass wir, wenn der Strom unseres Gehirns aufgezeichnet würde, kein Drehbuch erhielten, sondern sich endlos wiederholende Lamentationen.

Der US-Film Gegen die Zeit mit Johnny Depp nahm sich erstmals im Film des Themas an. Der biedere Geschäftsmann, dessen Tochter gekidnappt wurde, soll in den nächsten neunzig Minuten einen Menschen töten, sonst stirbt das Mädchen. Anderthalb Stunden hart geschnittenes, solide erzähltes Krimikino. Der formale Griff mit der Übereinstimmung von erzählter und erlebter Zeit – so dies überhaupt übereinstimmt – fällt nicht auf.

Als Film in Echtzeit, oder sagen wir, simulierter Synchronzeit, ließe sich da eher Tom Tykwers Kinoerfolg Lola rennt bezeichnen. Die Heldin läuft in dem Tempo, das die Handlung vorgibt. Umgekehrt bestimmt sie mit ihrem Lauf die Geschwindigkeit der Geschehnisse.

Kiefer Sutherland in 24

Und nun: 24. Ein halbes Dutzend Regisseure und ein ganzes Dutzend Drehbuchschreiber lassen Schauspieler Kiefer Sutherland monatelang durch einen Fall laufen, der angeblich nur vierundzwanzig Stunden dauert. Hier zeigt sich das bizarre Gesetz der Fernsehserie überdeutlich: Es muss dauernd etwas passieren, Autoreifen quietschen, Schüsse krachen, Türen knallen, Flüche schallen. Aber gleichzeitig muss die Handlung auf der Stelle treten, weil sonst der Spaß schnell vorbei wäre. Wiederholt beteuert Agent Bauer, wie er sich um seine Familie sorgt. Die Belegschaft der Antiterrorbehörde ist hauptsächlich damit beschäftigt, gegen den Büronachbarn zu intrigieren. Der schwarze Präsidentschaftskandidat beteuert, dass ehrlich doch am längsten währt. Und zwar um sieben, um acht und um neun – und noch viele Male. Bösartigerweise könnte man dies mit Dialogen aus Gute Zeiten – schlechte Zeiten vergleichen, wo ein Laienschauspieler zum anderen Laienschauspieler sagt: Du kannst doch den Brief nicht vor mir verstecken! Der andere sagt: Ich wollte dich nur schonen. Der erste: Aber der Brief ist an mich adressiert! Der andere: Ich dachte, es wäre besser für dich. Der erste: Und dann versteckst du einen Brief für mich? Und so weiter, bis die Sendezeit totgeschlagen ist.

Fazit: Die Darstellung „in Echtzeit“ ist in der Literatur nur momentweise möglich. Aber auch im Film, der ja eigentlich prädestiniert sein müsste für eine synchrone Darstellung der Zeit, ist die Synchronität eine Fiktion. Das sieht man, wenn die die wirklichen Echtzeit-Filme betrachtet: Das Super-8-Video von Onkel Karls Ostseeurlaub.

Quellen

Bücher

Filme

  • Gegen die Zeit. USA 1995. Regie: John Badham. Mit Johnny Depp und Christopher Walken.
  • Lola rennt. D 1998. Regie: Tom Tykwer. Mit Franka Potente und Moritz Bleibtreu.
  • 24. USA 2001. Regie: div. Mit Kiefer Sutherland und Sarah Clark.