Verbrecher und Menschenkenner zugleich

Besprochenvon Andrea Hajnalka Meisel

  • Köhlmeier, Michael: Die Abenteuer des Joel Spazierer. München: Hanser, 656 S., 24,90 €.

In Michael Köhlmeiers Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ durchreist der Hochstapler András Fülöp, der sich Joel Spazierer nennt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Länder Mitteleuropas. Seine Reise, die in Ungarn beginnt, führt ihn über Österreich, Deutschland bis nach Mexiko und wieder zurück ins heimische Wien. Dabei entpuppt er sich mehr und mehr als skrupelloser Betrüger, Manipulator, Hochstapler und Mörder, während der Leser gleichzeitig über seine eigene Sympathie mit dem Helden staunt.

Als die Großmutter vom kommunistischen Geheimdienst Ungarns verhaftet wird, bleibt der vierjährige Protagonist allein in der Wohnung zurück. Er ernährt sich von den Vorräten in der Wohnung. Die Tiere auf seinem bestickten Kissen werden in seiner Phantasie zu realen Personen, mit deren Hilfe das Kind die Einsamkeit übersteht. Seitdem klafft eine Lücke zwischen seiner Wahrnehmung und der seiner Mitmenschen.

Als der Junge später selber verhört wird, antwortet er nur mit „Ja“, „Nein“ und „Weiß nicht“. Es ist eine Frage-Antwort-Technik, mit der er erfolgreich falsches Spiel treibt. So lernt er schon im Kindesalter, wie man Menschen manipuliert. Die Familie flieht schließlich vor dem Regime nach Österreich, wo sich der inzwischen Neunjährige erfolgreich prostituiert.
Er wird von einem ungarischen Geheimdienstler entführt, der ihn künftig als seinen Sohn ausgibt und als solchen behandelt. Er lernt Ausweise zu fälschen und seine Identität zu verändern. Der Geheimdienstoffizier setzt sich ab und lässt das Kind zurück, woraufhin András einen obdachlosen desertierten Soldaten der US-Armee trifft. Mit diesem tut er sich zusammen, lebt im Wald und sichert das Überleben durch Hauseinbrüche und Raubüberfälle. Ihre gemeinsame Wanderschaft führt nach Österreich, wo András wieder zu dem Schoß seiner Familie zurückkehrt.
Zurück in Wien sucht er die Freundschaft eines reichen Mitschülers. Beim Einbruch in dessen Haus, wird er gestellt. Zum ersten Mal gelingt es ihm nicht seine Mitmenschen zu manipulieren und er wird verurteilt. Im Gefängnis ersticht er seinen vormaligen Beschützer, schiebt den Mord dessen Rivalen in die Schuhe und sichert so für den Rest seiner Haft eine gewisse Machtposition.
Aus der Haft entlassen trifft er auf Janna, einer Drogenabhängigen, die er vergeblich zu retten versucht. Nach dem Einzelversuch einen Mitmenschen zu helfen, führt er weiterhin ein wechselhaft-erfolgreiches Leben als Trickbetrüger, bis ein Schriftsteller ihm freies Wohnen anbietet unter der Bedingung, dass er seine Lebensgeschichte aufschreibt.
Nach und nach versteht der Leser, dass es dem alten, zur Ruhe gekommenen Erzähler nicht darum geht, seine Taten retrospektiv als verwerflich zu erklären. Es ist nicht seine Absicht, sich von seiner Schuld freizusprechen, sondern einzig und allein Regeln menschlichen Sozialverhaltens zu verstehen, diese imitieren zu können und die Moral als willkürliche Wahrheit zu klassifizieren. Seinen Höhepunkt erfährt diese Imitation, als sich Joel Spazierer durch die Lektüre von Ernst Thälmanns Biographie erfolgreich als sein rechtmäßiger Enkel ausgibt und dem politischen Kader der DDR eine Biographie vorgaukelt, die ihm eine Karriere als Professor für wissenschaftlichen Atheismus an der Humboldt-Universität verschafft. Ein gesichertes Einkommen, einen hochkarätiger Freundeskreis und zwei Familien fügen sich wie nebenbei auch in diese Logik.

Obwohl sich der Held geistig nicht entwickelt, sondern bis zum Schluss kompromisslos seine Interessen durchsetzt, so leidet er auch doch selbst unter den Konsequenzen seines Lügenlebens. Während sich der Schelm des Picaroromans seines Erfolgs sicher sein kann, ist das Scheitern ein wichtiges Element im Lebenslauf Joel Spazierers. Immer wieder holt ihn seine Vergangenheit ein, zwingt ihn dazu, alles aufzugeben und eine neue Existenz an einem anderen Ort aufzubauen.
Michael Köhlmeier bricht mit den Traditionen des Schelmenromans, indem er seinen Held nicht nur als augenzwinkernden Kritiker der Gesellschaft beschreibt, sondern auch als gescheiterte Existenz, die sich am Ende fragen lassen muss, was ihm dieses Wissen über die Funktionsweisen des Menschen nützt. Mit allen menschlichen Wünschen, Bedürfnissen, Abtrünnigkeiten und Scheinheiligkeiten vertraut, ist er fähig, das Verhalten seiner Mitmenschen berechnen und vorhersehen zu können. Dies hat aber nichts mit tiefem gegenseitigem Verständnis und mit Nähe zu tun. Es ist das völlige Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen, das in der Psychologie als psychopathisch bezeichnet. Joel Spazierers einziges erklärtes Ziel ist das Hier und Jetzt ist, er hat keine langfristigen Ziele. Sein Lebensmotto ist „unnütz zu sein wie eine Lilie auf dem Felde“. So bleibt der Leser am Ende des Romans mit einem merkwürdig leeren Gefühl zurück. Fraglich ist auch, warum der österreichische Erzähler den Erfolg von Joel Spazierers Täuschungskunst gerade in der DDR als besonders erfolgreich inszeniert.
Die Geschichte von Joel Spazierer ist streckenweise lang, zu lang. Vermutlich ist dies dem Glauben des Erzählers geschuldet, dass „unwichtige Details“ die Glaubwürdigkeit einer Biographie erhöhen. Nur leider hat es den unerwünschten Effekt, dass der Leser zuweilen das Ende des Romans herbeisehnt. Dennoch gelingt es Köhlmeier mit kaltblütiger Präzision die Tricks und Finessen eines erfolgreichen Gauners zu beschreiben, was das Lesen zu einem genüsslichen Erlebnis werden lässt.

Im Gespräch mit der Trauer

Besprochen von Andrea Hajnalka Meisel

  • Barbara Pachl-Eberhart: Vier minus drei. Wie ich nach dem Verlust meiner Familie zu neuem Leben fand. München: Heyne, 351 S., 8,99 €.

Welchen Sinn hat es, wenn zwei Kleinkinder mit Ihrem Vater von einem Zug überrollt werden und tödlich verunglücken? Der tragische Unfall einer Familie in Österreich aus dem Jahr 2008 ging auch durch die deutschen Medien. Es ist nicht nur das Unglück, das die einzige Überlebende der Familie, die Mutter, prominent werden ließ. Es ist ihr Mut, sich diesem Schicksal zu stellen, ihr Glaube an die Sinnhaftigkeit dieser Tragik und ihre Hoffnung auf eine glückliche Zukunft auch nach dem Verlust ihrer Familie. Über die Zeit nach dem tödlichen Unfall berichtet Barbara Pachl-Eberhart in ihrem autobiografischen Buch Vier minus drei.
Die Autorin erzählt zunächst in chronologischer Reihenfolge ihre Erlebnisse und streut einige Erinnerungen an gemeinsame glückliche Augenblicke als Familie mit ein. Sie selbst arbeitet zu dieser Zeit als Clown in einem Kinderkrankenhaus. Eines Tages, bei einem alltäglichen Einkauf im Supermarkt, erfährt sie über das Telefon von dem Unfall. Ihr Ehemann Helmut ist sofort tot. Auch die Kinder überleben ihre lebensgefährlichen Verletzungen nicht. Allerdings bekommt die Mutter die Möglichkeit, in den letzten Lebenstagen der Kinder Abschied zu nehmen und gewinnt in dieser Zeit die Zuversicht, dass ihre Seelen weiterleben.
Während eines Waldspazierganges nach dem Unfall verspürt die Autorin eine große Fröhlichkeit bei dem Gedanken an ihre Tochter Fini. Nach der Rückkehr in das Krankenhaus ist ihre Tochter bereits tot. Sie stellt sich den Tod daher als fröhlichen Übergang in eine unvergängliche Welt vor und malt sich ihre verstorbene Familie als glückliche Engel aus, die auf Wolken sitzen und ihr von Ferne zuschauen. Aber auch andere spirituelle Gesichtspunkte regen zum Nachdenken an. Alltägliche Vorkommnisse, wie z.B. das Grafitti „Sei mutig!“ am Ort des Unglücks interpretiert sie als Zuspruch ihres verstorbenen Ehemannes.
Warum die Autobiographie dennoch nicht zu einem der zahlreichen esoterischen Bücher verkommt, ist, weil die Autorin selber die eigenen Zweifel nicht verdrängt. Auch sie wägt innerlich ab zwischen den Argumenten für und gegen den Glauben. „Die Stimme in meinem Kopf ist manchmal sehr kritisch. Sie will es genau wissen.“ Und sie ist sich nicht immer sicher, dass sie mit einem Wiedersehen nach dem Tod rechnen darf. Sie glaubt daran, weil sie daran glauben will. Und es ist auch letztendlich Mut, sich der Verzweiflung nicht zu überlassen.

Sprache heilt

Obgleich die Geschichte von Barbara Pachl-Eberhart sprachlich schlicht gehalten ist, so ist sie allerdings ein erstaunliches Zeugnis vom therapeutischen Potenzial von Sprache. Es gibt dem Leser einen inspirierenden Einblick in die Möglichkeiten des Sprechens auch in Extremsituationen, in denen scheinbar nur noch Sprachlosigkeit existieren kann. So richtet die Autorin kurz nach dem Unglück einen offenen Brief an ihre Mitmenschen. Sie schreibt in ihrem Tagebuch Nachrichten an ihre verstorbenen Angehörigen. Sie formuliert einen Brief an den Schaffner derjenigen Eisenbahn, die ihre Familie umgebracht hat. Und sie begibt sich in Gesprächstherapien. All dieses Sprechen ermöglicht letztlich die Hoffnung nicht aus den Augen und Herzen zu verlieren.
Aber auch sie braucht nach dem Unglück eine Zeit des Schweigens und der Zurückgezogenheit. Dennoch bekommt sie durch diese Formen des Sprechens ein sensibles Bewusstsein für den Prozess der eigenen Trauer. Sie nimmt dabei die zahlreichen Tabus wahr, die im Kontext von Tod existieren. So wird ihre ausgefallene Idee, die Beerdigung als fröhliches „Seelenfest“ zu begehen und dabei farbige Kleidung zu tragen von einigen Nachbarn kritisch kommentiert. Durch das Schreiben und Reden über die eigene Trauer schafft sie es aber ihre eigenen Bedürfnisse zu respektieren und Tabus zu überschreiten. Daher lässt sie es sich auch nicht nehmen, ihren Sohn in Gegenwart von ihren Clownkollegen und bei fröhlicher Musik in den Tod zu begleiten.
Barbara Pachl-Eberhart versteht den Schicksalsschlag zwar als herbe Zumutung, akzeptiert ihn aber auch im Vertrauen darauf, dass er zu ihr gehöre. So trägt sie das, was sie erlebt hat, „wie einen würdigen, ehrenvollen Mantel“, der ihr angezogen wurde. Und sie träumt von einer Welt, „in der jede Form der Trauer“ als königlich geachtet wird. Das Buch ist empfehlenswert für alle, die sich mit der Frage „Wie kann Gott so viel Leid zulassen?“ auseinandersetzen und auch für diejenigen, die die Kraft zur Lebensbejahung nach einem Schicksalsschlag wiederfinden möchten.