Rückblick ohne Ostalgie. Musiker André Herzberg im Interview mit Leif Allendorf, 03.11.05

André Herzberg, Jahrgang 1955, war als Sänger der DDR-Band „Pankow“ für eine Jugendgeneration von Ostdeutschen das, was im Westen Herbert Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen waren. Nach der Wende war es still um das einstige Idol. 2005 sprach er erstmals über das Thema jüdische Identität in der DDR.

Was bedeutete jüdische Herkunft in der DDR? Gab es da eine bestimmte Erwartungshaltung der anderen?

Das wurde überhaupt nicht thematisiert. Es gab einen Status, den man von offizieller Seite Leuten zuerkannt hat, die in direkter Konfrontation zum Nazi-Regime gestanden hatten: entweder „Opfer des Faschismus“ oder „Kämpfer gegen den Faschismus“. Meine Mutter gehörte aufgrund ihrer frühen KPD-Mitgliedschaft zu der zweiten Gruppe, die höher angesehen wurde. Es gab in diesem Zusammenhang kleine Privilegien, eine Wohnung, Geld. So bekam ich bis zum Ende des Studiums einen monatlichen Zuschuss. Dass meine Eltern Juden waren, wurde dabei nicht angesprochen

Es gab also eine Gemeinsamkeit von Gegnern des Faschismus, es wurde kein Schisma gemacht zwischen jüdisch und kommunistisch?

Meine Tante, die Auschwitz überlebt hatte, hatte den etwas niedrigeren Status als Opfer des Faschismus, was ich absurd finde, da meine Mutter mit der Emigration ein vergleichsweise harmloses Schicksal hatte.

Wurde das Thema jüdische Herkunft im Freundes- und Bekanntenkreis zur Sprache gebracht?

Der Bekanntenkreis meiner Eltern bestand zum größten Teil aus jüdischen Immigranten. Es war ein familiärer Kreis, zu dem beispielsweise die Schriftstellerin Barbara Honigmann gehörte. Die Kinder verkehrten mit den anderen Immigrantenkindern. Ich gehörte schon nicht mehr richtig dazu, wohl aber meine älteren Geschwister.

Ihre Mutter hat sich stark mit dem Staat DDR identifiziert. Wie ist sie mit dem Thema jüdische Herkunft umgegangen?

Meine Mutter hat in traumatischer Weise über diese Dinge gesprochen. Sie erzählte, wie sie aus ihrer Wohnung geflüchtet ist und ihre Mutter zurückgelassen hat, wie sie nach Deutschland zurückgekehrt ist und die Mutter war tot. Aber all das nur in Andeutungen. Was Judentum ausmacht und jüdisches Leben, damit wollten meine Eltern nichts zu tun haben. Sie waren nicht religiös und sind als gute Kommunisten aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten.

Wie stehen Sie selbst dazu? Hat jüdische Identität für Sie eine Relevanz?

Das ist ein ganz langer Prozess, von den Andeutungen über die Wahrnehmung der Andersartigkeit bis zum Abbröckeln des vorgegebenen Antifaschismus in der DDR. Während meiner Lehre in der NVA erlebte ich, dass die meisten kein Problem mit der Nazi-Zeit hatten und in dem Kriegsende keinen Bruch, sondern einen nahtlosen Untergang sahen. So wurde beispielsweise auf unserer Stube von den Soldaten heimlich Hitlers Geburtstag gefeiert.

Ein zynischer Scherz?

Das war eher nach dem Motto: Was verboten ist, macht uns gerade scharf. Das kam bei der Sauferei dann zum Vorschein. Für mich war das völlig verblüffend, weil es in völligem Widerspruch zu meiner Erziehung und dem Weltbild stand, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich war entsetzt, habe das aber für mich behalten.

Ist die Militärzeit nicht generell eine Notsituation, die man zu überstehen versucht und erst später darüber nachdenkt?

Dieses Später hat bei mir sehr lange gedauert. In den Siebzigerjahren war der Staat Israel noch der zionistische Feind gewesen. In der letzten Phase der DDR wurde das Thema Israel etwas freundlicher behandelt. Ich hatte in erster Linie eine ablehnende Haltung gegen die Schule, gegen meine Eltern, gegen das Leben in der DDR. Irgendwann trug die jüdische Identität dazu bei, dass ich mich völlig als Außenstehender fühlte. Eine tiefere Beschäftigung damit kam aber erst nach der Wende.

Wie sah die aus?

Das ist ein noch nicht abgeschlossener Prozess. Ich habe Schwierigkeiten mit der jüdischen Identität. Das halte ich in Deutschland überhaupt für schwierig, wenn man sich nicht völlig religiös orientiert. Die jetzt bestehende jüdische Gemeinde wird im Osten von russischen Einwanderern dominiert, die weitgehend unter sich bleiben. Und die westdeutsche Gemeinde ist mir ebenfalls fremd, weil diese Menschen ebenfalls einen ganz anderen Lebenshintergrund haben als ich. Erst bei meinen Reisen nach Israel zu Verwandten dort in den Neunzigerjahren hat bei mir ein Nachdenken über die eigene Familie eingesetzt, und damit verbunden ein gewisser Normalitätsprozess. Vorher war das bei mir alles unter der Decke gewesen.

Wessen Initiative waren die Besuche in Israel? Die Ihrer Eltern?

Nein, meine eigene. Meine Eltern sind diesen Schritt nicht mitgegangen, sondern bei 1989 stehen geblieben. Mein Vater blockt das bis heute völlig ab. Er war kommunistischer Hardliner und hat diese Seite seiner Biografie ausgeblendet.

Welche Verwandten haben Sie in Israel besucht?

Verwandte meines Vaters, die mein Vater nie gesehen hat, die aber von uns wussten und mich sehr herzlich aufgenommen haben. Dass sie im Kibbuz leben, hat mir den Kontakt erleichtert. Die Kibbuzbewegung hat ja starke Ähnlichkeit mit der linken Bewegung des Sozialismus. Als ich dort ankam, kam mir das alles sehr vertraut vor. Es war wie im Osten, LPG, sozialistischer Großbetrieb, die blauen Arbeitsoveralls, die die Leute trugen, Wandbilder, die mich an Planerfüllung erinnerten. Nur mit dem wichtigen Unterschied, dass dort das Tor offen war, und nicht, wie in der DDR, verschlossen. Jeder kann kommen, und wer nicht bleiben will, kann gehen. Ich habe mich dort so wohl gefühlt, dass ich mit diesem Begriff jüdische Identität erstmals unbefangen umgehen konnte.

Sie sind ganz ohne Großeltern aufgewachsen?

Absolut. Meinen Großeltern väterlicherseits ist es gelungen, nach Amerika zu kommen. Von dort aus sind sie dem Bruder meines Vaters nach Südafrika gefolgt, wo sie mittlerweile verstorben sind. Ich habe sie nie gesehen, nur ein paar dürftige Zeilen bekommen, in einem Brief, den mein Großvater mir geschrieben hat. Daneben gab es in dieser Generation nur noch die Großmutter mütterlicherseits, die in Auschwitz umkam. Es ist also der totale Bruch in der Familie.

Ein Bruch, den die übrige Bevölkerung nicht hatte.

Da gibt es natürlich auch Einschnitte, Väter, die nicht aus dem Krieg zurückkehrten. Ich bin nicht der einzige, den das betrifft. In Familien beispielsweise, wo Angehörige in die Nazi-Diktatur involviert waren, dürfte das Schweigen ebenfalls verbreitet sein. Ich glaube allerdings, dass im Fall meiner Eltern, wo das Jüdischsein überhaupt nicht artikuliert wurde, das Sprechen darüber extrem schwierig ist.

Sie sind das jüngste von drei Kindern. Wie gehen Ihr Bruder und Ihre Schwester mit diesem Thema um?

Über den Kopf. In meiner Familie ist es typisch, mit so etwas sehr rational umzugehen. Mein Bruder hat sich geradezu wissenschaftlich mit dem Thema Judentum, Nazizeit und Überleben beschäftigt und hat Bücher zu dem Thema veröffentlicht. Das Gefühl bleibt auf diese Art meiner Ansicht nach außen vor.

Kennen Sie Menschen, die damit anders umgegangen sind?

Barbara Honigmann kommt aus ähnlichen Verhältnissen wie ich. Ihre jüdische Hochzeit in Ost-Berlin 1984, die ich miterlebt habe, hat große Aufmerksamkeit erregt. Sie ist dann nach Straßburg übergesiedelt, und ich hatte den Eindruck, dass hier jemand völlig unvermittelt von einer Identität in die andere springt. Es hat mich irritiert, dass sie sich in ihren darauf folgenden Büchern nur noch jüdisch definiert. Ich lebe mit einer gebrochenen Identität, ich fühle mich genauso als Deutscher wie als Jude.

Wir haben über Einschnitte gesprochen. Die Wende war sicher auch ein Einschnitt für den Musiker André Herzberg. Sie haben den Westen aber bereits vor 1989 kennen gelernt.

Ich durfte ab Mitte der Achtzigerjahre reisen. Ideologisch hat man sich abgeschottet. Aber es gab gleichzeitig Wirtschaftsinteressen, und die Band „Pankow“ war ein kleiner Wirtschaftsfaktor. Die wirtschaftlichen Interessen siegten, und sie ließen uns touren. Für mich war das ein Ventil. Auch wenn der Wahnsinn, die Verhältnisse, in denen ich in der DDR lebte, von außen betrachtet noch viel wahnsinniger erschien, ich konnte mich wie ein Engel auf beiden Seiten bewegen. Ich habe das genossen, aber auch gemerkt, wie wahnsinnig fremd und verloren ich mich im Westen fühlte und wie froh ich war, anschließend wieder in die heimische Höhle zu kriechen, wo ich mich auskannte.

Nun existiert die Höhle nicht mehr und der Westen ist zu Ihnen nach Prenzlauer Berggekommen. Fühlen Sie sich fremd und verloren?

Eine gewisse Fremdheit ist geblieben. Das hängt auch mit meiner beruflichen Situation zusammen. Das Publikum nimmt mich nach wie vor als Sänger der Gruppe „Pankow“ wahr. In diese Rolle werde ich – wie bei der jüngsten Ostalgie-Welle – immer wieder hineingedrängt.

Um aus Rolle herauszutreten haben Sie Ihr letztes Album als André Herzberg und nicht unter dem Etikett „Pankow“ herausgebracht. Außerdem sind Sie als Autor tätig. Mit Erfolg?

Ich verstehe mein Handwerk und ich weiß, was ich tue. Die Resonanz auf die Musik und das Buch ist gut, aber der kommerzielle Erfolg ist bislang ausgeblieben.

Sicherlich war es in einer Nischengesellschaft leichter, etwas bekannt zu machen, als im gegenwärtigen Überangebot.

Es mag auch daran liegen, dass das Thema DDR gerade nicht en vogue ist – es sei denn, im Rahmen von Ostalgie-Shows.