Die fiktive Realität. Dr. Christian Hißnauer im Gespräch mit Alexander Karl, 09.10.2013

Egal ob Doku-Soap oder Reportage – Dokumentationen in allen erdenklichen Facetten flimmern tagtäglich über die Bildschirme. Doch eines zeichnet sie alle aus: Sie enthalten immer auch Fiktion. Ausführlich hat sich Dr. Christian Hißnauer, Jahrgang 1973, mit den diversen Doku-Formaten beschäftigt und promovierte 2010 mit seiner Arbeit über „Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen“ an der Universität Göttingen. Heute ist er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.

Alexander Karl sprach mit ihm über die Fiktion in Dokumentationen, die Darstellung der RAF und Daniela Katzenberger.

Herr Hißnauer, für Sie zählen auch Reality-TV-Formate wie Big Brother zur Dokumentation. Worin liegt das wissenschaftliche Interesse, Formate wie “Big Brother” und “Daniela Katzenberger – Natürlich blond” zu untersuchen?

Christian Hißnauer: Es gibt unterschiedliche Ansätze, mit denen man die diversen dokumentarischen Formate bewerten kann. Bei einer Reportage lassen sich journalismusethische Maßstäbe anlegen, anhand derer auch bewertet werden kann. Das ist bei “Big Brother” und “Daniela Katzenberger – Natürlich blond” anders. Hier greifen keine journalistischen Standards, es geht nur um Unterhaltung. Da wird beispielsweise Daniela Katzenberger in allerlei Situationen gezeigt und wie sie darauf reagiert. Etwa, wie sie sich ihre Brüste neu machen lässt. Das kann man unterhaltsam finden oder nicht, aber mehr will dieses Format nicht. Eine klassische Dokumentation über Brustvergrößerung würde hingegen viel mehr Hintergrundberichte bringen und auch das Kriterium der faktischen Richtigkeit würde eine Rolle spielen. Das ist bei Daniela Katzenberger vollkommen egal. Im Zweifelsfalle sogar, ob sie sich die Brüste hat machen lassen oder nicht.

Egal ob Doku-Soap, Reality-TV oder klassische Reportage: In all diesen Formaten schaut man Menschen – ob Schauspieler oder nicht – zu. Man bekommt Einblicke in ihre Lebenswelt. Hat Dokumentarismus auch immer etwas mit Voyeurismus zu tun?

Die Frage ist: Wo fängt Voyeurismus an? Wenn eine Sozialreportage Einblicke in fremde Lebensbereiche gibt, besteht immer die Gefahr, dass es voyeuristisch wird. Es kommt auf den Standpunkt an, aber auch auf die Inszenierung. Wenn bei Reality-TV-Programmen nur Höhepunkte aneinander gereiht werden, dann wirkt es schneller voyeuristischer als in einer klassischen Reportage, in der die Protagonisten ausführlich zu Wort kommen. Letztendlich zeigt man aber durchaus die gleichen Sachen.

Sie sagen, dass Dokumentationen immer fiktionale Aspekte enthalten.

Ja, bei jeder Art von Dokumentation spielt der Autor mit fiktionalen Aspekten – und das auf ganz verschiedenen Arten. Ein Beispiel: Als Autor legt man den Anfangspunkt und den Endpunkt einer Geschichte fest. Genauso die Zwischenschritte. Damit suggeriert man als Autor, dass alles Wichtige erzählt wurde. Alles, was ausgeblendet wird, wird somit automatisch zum Nicht-Wichtigen. Für den Protagonisten, den man darstellt, kann das ganz anders aussehen. Ganz stark hat man das bei Eberhard Fechner, der aus ganz verschiedenen Interviews einen Film zusammensetzt. Dabei schneidet er die Menschen so zusammen, als würden sie miteinander reden. Und das, obwohl die Interviews vielleicht tausende von Kilometern voneinander entfernt aufgenommen wurden. Das ist erfundene Geschichte auf der Basis von Fakten, weil das Erzählte die Schöpfung des Autors ist.

Dokumentarismus umfasst also ein weites Feld. Doch wenn der Dokumentarismus-Begriff so stark zwischen Realität und Fiktion schwankt – warum entscheidet man sich dann, ein Buch über Fernsehdokumentarismus zu schreiben?

Zum einen ist das Thema auch dadurch spannend und es gibt bisher wenig Literatur zum Fernsehdokumentarismus. Zum anderen haben wir täglich mit Dokumentationen und Doku-Soaps zu tun, die mal mehr oder weniger erfunden sind. Die Frage ist also: Wie unterscheiden sich die Formate? Wie geht der Zuschauer damit um?

Der Zuschauer scheint vor allem in den letzten Jahren sein Gefallen an Doku-Soaps, wie eben “Daniela Katzenberger – Natürlich blond“, gefunden zu haben.

Das stimmt, sie sind ja auch oft krawallig. Aber man muss davon ausgehen, dass es verschiedene Nutzungsmotive gibt. Einige Zuschauer erheben sich über die Formate und verstehen, dass die Sendung gefaked ist. Andere erhoffen sich tatsächlich Lebensberatung von “Raus aus den Schulden“. Das ist nicht neu, sondern gab es auch schon bei den Daily-Talkshows in den 1990er Jahren.

Fernab von Daniela Katzenberger und Co. beschäftigen Sie sich auch intensiv mit der Geschichte und Darstellung der RAF. Warum setzen Sie sich – wie auch die deutsche Fernsehlandschaft – so intensiv mit diesem Thema auseinander?

Es gibt unheimlich viele Filme und Dokumentationen, die sich mit der RAF beschäftigen. Mir geht es darum, wie über die Medien Geschichtsbilder erzeugt werden. Und die verändern sich. Jede Generation macht sich sein eigenes Bild von der RAF, genauso wie auch von Hitler.

Was bedeutet das konkret?

Wir haben heute andere Filme zu diesen Themen als vor zwanzig Jahren. Die Aussagen sind auch andere. Beispielsweise die Landshut-Entführung von 1977 in Mogadischu: Wenn wir Dokumentationen aus den siebziger oder achtziger Jahren sehen, wird dies gerahmt in dem Thema des palästinensischen und internationalen Terrorismus. Damals spielte die RAF wenn überhaupt nur am Rande eine Rolle. Heute tritt die Rahmung in dem Bild des internationalen Terrorismus zurück. Stattdessen wird die Landshut-Entführung als eine Hilfsaktion für die RAF dargestellt, sogar teilweise so, als hätte die RAF dies in Auftrag gegeben – was wohl so nicht ganz stimmt. Damit werden nicht nur die Entführung, sondern auch ihre Opfer der RAF zugeschrieben. Das bekannte Ziel der RAF waren staatliche Repräsentanten und Wirtschaftsbosse. Jetzt ist es die ganz normale Bevölkerung, jeder Urlaubsflieger hätte ein Opfer werden können. Und durch die neuen Opferbilder entstehen auch neue Geschichtsbilder.

Kann man davon ausgehen, dass auch die NSU bald so ausführlich behandelt wird?

Bei der NSU verhält es sich anders, alleine schon durch die Opferstruktur. Momentan richtet sich der Fokus ganz stark auf das Versagen des Staates, was übrigens auch im ganzen RAF-Diskurs keine Rolle mehr spielt. Wir wissen etwa, dass die ersten Waffen damals vom Verfassungsschutz in die Szene gebracht worden sind. Es wird immer gesagt, dass die Terroristen reden sollten. Aber auch der Verfassungsschutz sollte hier – ähnlich wie beim NSU – sein Schweigen aufgeben. Übrigens fehlt heute im RAF-Diskurs ein Opferbild – nämlich jene, die unschuldig bei Hausdurchsuchungen oder Polizeikontrollen erschossenen worden sind. Davon gibt es mindestens fünf Menschen. Und das wird völlig tot geschwiegen.

Das Buch zum Interview: Hißnauer, Christian: Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen. UVK, 2011. 416 Seiten, 32,00 Euro.

 

Das Interview erschien zuerst am 21. November 2012 auf media-bubble.de.

Weber, Thomas: Ravensbrück – Zwei WebSites oder Die Frage nach der medialen Perspektivierung des Holocausts, 05.03.09

AVINUS Magazin Sonderedition Nr. 4, Berlin 2008.

Kompletter Artikel als PDF-Version: Ravensbrück. Zwei WebSites oder die Frage nach der medialen Perspektivierung des Holocausts.

Abstract

Der Aufsatz befasst sich mit der Problematik von Gedenkkultur im Web 2.0 am Beispiel von zwei unabhängig voneinander entstandenen WebSites zum Frauenkonzentrationslager Ravensbrück: derjenigen der Gedenkstätte Ravensbrück und derjenigen der Bundeszentrale für Politische Bildung zu Ravensbrück. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf einer Analyse der medialen Transformation von Gedenkkultur durch das Internet und einer Reflexion über mögliche Qualitätskriterien (wie z.B. „Transmersion“) von WebSites.

Enderle, Rubens: Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx, 23.10.08

Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx[1]

von Rubens Enderle

I

Bereits wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Grundlinien der Philosophie des Rechts[2] im Jahr 1820 kam der Hegelschen Staatstheorie für die politische Debatte innerhalb Deutschlands eine erhebliche Bedeutung zu. Die in zwei Gruppen geteilten Schüler Hegels – die Jung- bzw. Linkshegelianer und die Alt- bzw. Rechtshegelianer – entfesselten einen aufgeregten Streit um die politisch-theoretische Erbschaft des Meisters. Es handelte sich hauptsächlich um die Interpretation des Themas der Versöhnung des Vernünftigen mit dem Wirklichen. Für die Junghegelianer ging es um den Beweis, dass das Wirkliche nicht unmittelbar mit dem empirisch-positiv Bestehenden identifiziert werden dürfe, sondern durch die Arbeit des Negativen vermittelt auf eine höhere Stufe des Begriffs gehoben werden müsse. Damit verfolgten die Junghegelianer die – theoretische – Absicht, der Hegelschen Staatstheorie ihren humanistischen, emanzipatorischen Inhalt zurückzugeben. Praktisch bemühten sie sich als journalistisch Tätige um die Verwirklichung dieses vernünftig-begrifflichen Inhalts: Sie propagierten die Überführung der nach wie vor absolutistischen preußischen Monarchie in eine zumindest konstitutionelle Monarchie, wobei sie zunächst nicht offen demokratische Positionen vertraten. In diesem Bestreben sind sie seit 1841 noch bestärkt worden, als sich nämlich herausstellte, dass die von Friedrich Wilhelm IV. initiierte Verfassungsreform allenfalls ein halbherziger Kompromiss war. Die konstitutionelle Monarchie war nicht einmal ein Ausgleich zwischen den Interessen des (Feudal-) Adels und den Reformkräften, so dass die Junghegelianer sich gedrängt sahen, der Hegelschen Staatstheorie zugunsten einer Propagierung demokratischen Gedankenguts den Rücken zu kehren.

Obwohl Marx dem junghegelianischen Denken damals nahe stand, gab es doch auch gravierende Differenzen. Anfang 1841, anläßlich seiner Doktorarbeit, denunzierte er die Kritiker Hegels als „moralisch“ und „unphilosophisch“, wenn sie sich polemisch über Hegels sogenannte „Akkommodation“ äußerten. Sie vertraten irrtümlicherweise die Ansicht, Hegel habe sich aus taktischen Gründen und Opportunitätsrücksichten den politischen Gegebenheiten angepaßt und vergaßen darüber, dass Hegel – philosophisch gesprochen – in einem „unmittelbaren, substantialen, sie (hingegen, R.E.) in (einem, R.E.) reflectirten Verhältniß zu seinem System standen“. Anders gesagt, Hegels Fehler war der seines Systems und eben keine persönlich motivierte Vorsichtsmaßregel eines Ängstlichen. Eine wirkliche philosophische Kritik hätte Marx zufolge also folgendes zu leisten gehabt: zu demonstrieren, dass „die Möglichkeit dieser scheinbaren Accomodationen in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Princips selber ihre innerste Wurzel hat“, oder, noch prononcierter, dass die als eigentlich systemfremd beanstandete Akkommodation ans Bestehende das Prinzip der Philosophie Hegels sei. Also habe man die innerliche Entwicklung von Hegels Denken, seine ureigene Logik offenzulegen, die, metaphorisch gesprochen, „bis an deren äußerste Peripherie sein eigenstes geistiges Herzblut hinpulsirte“. Diese Rekonstruktion könne aber, ihrer Befangenheit wegen, keine moralisch fundierte Kritik leisten, sondern bloß eine, die am „Fortschritt des Wissens“ ihr Maß habe; die Rede ist von immanenter Kritik. „Es wird nicht das particulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform construirt, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben, und damit zugleich darüber hinausgegangen“.[3] Anstelle des mißbilligenden Deutens auf sogenannte Unzulänglichkeiten Hegelschen Denkens habe die wahre Kritik sie aus ihrem Grund heraus zu begreifen und damit an ihnen selbst als unwahr zu widerlegen.

Diese erste Marxsche Erklärung des Begriffs der „philosophischen Kritik“ ist 1842 in einen Artikel der Rheinischen Zeitung wiederaufgenommen und weiter entwickelt worden. In einer Art Glosse gegen die Historische Rechtsschule und ihren Vorläufer Gustav Hugo demonstrierte Marx den in Wahrheit romantischen Hintergrund von Hugos vermeintlichem Kantianismus und sprach in diesem Zusammenhang von einem „Betrug“. Darüber hinaus verglich er die „gemeine Skepsis“ der Historischen Rechtsschule mit der „Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts“, d.h. mit der skeptischen Note der durch Kant beeinflußten und ins Subjektive modifizierten Aufklärungsphilosophie. Während die Skepsis der Historischen Rechtsschule den Schein von Rationalität nur deswegen kritisiert, um sich dem bloß Positiven nur umso bedingungsloser auszuliefern, sucht die aufgeklärte Kritik das hinter diesem Schein verborgene Wesen sichtbar werden zu lassen. Dieses Wesen gibt sich dem geschichtlich geübten Blick als die „Loslösung des neuen Geistes von alten Formen, die nicht mehr werth und nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“, zu erkennen. Hier kann man einerseits mutmaßen, dass es sich um eine hegelianisierende Interpretation der Kantischen praktischen Philosophie handelt. Allerdings sollte man sich andererseits nichts vormachen: Marx vertritt keinesfalls einen Moralismus, dessen Spezifikum es ist, die Historie an noch dazu apriorischen Sollensmomenten zu blamieren. Nicht um eine abstrakte Idee der Vernunft, nicht um das Kantische Noumenon eines subjektiven Geistes geht es ihm, sondern darum, den Begriff der in sich notwendigen geschichtlichen Entwicklung zu erfassen. Die Skepsis des 18. Jahrhunderts zertrümmerte bloß das Zertrümmerte, verwarf das ohnehin Verworfene. Der „neue Geist“ hingegen befreite sich von den „alten Formen, die dank der eigenen Entwicklung dieses Geistes nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“. Kantisch an diesem durch Hegel vermittelten Standpunkt ist allenfalls noch die insgesamt aufklärerisch-kritische Grundeinstellung bei Marx. Ohne eine auch praktisch werdende Kritik gibt das „Verworfene“ dem „neuen Leben“ keinen Raum, der „neue Geist“ bleibt an die „alten Formen“ gebunden und man wird Zeuge der „Verfaulung“ einer Welt, die sich in diesem Zerfallsprozess „selbst genießt“.[4] Die Kritik, so läßt sich zusammenfassend sagen, ist keine, die die Welt an einer externen Rationalität blamieren möchte, sondern sie selbst ist nichts weiter als eine rationale Betrachtung geschichtlicher Abläufe, sozusagen deren Selbstbewusstwerden, wodurch, so die Unterstellung, der Boden bereitet wird für die Verwirklichung wahrer Rationalität.

In dem Manuskript Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie (ZKhR) und dem Briefwechsel von 1843, der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde, gibt Marx der Idee der „philosophischen Kritik“ ihre endgültige Gestalt. In der ZKhR kontrastiert er sie sowohl dem spekulativen Dogmatismus Hegels als auch dem „entgegengesetzten, dogmatischen Irrthum“ der „vulgären Kritik“, d.h. derjenigen der Berliner Gruppe der Freien, deren wichtigste Mitglieder Bruno Bauer und Max Stirner waren. Die „vulgäre Kritik“ nimmt in Hinblick auf die empirische Wirklichkeit eine arrogante Haltung ein. Sie befaßt sich mit den Widersprüchen des Bestehenden nur deswegen, um, in intellektuellem Hochmut, alles Reale und die in ihr beheimatete menschlich-sinnliche Praxis inklusive der sogenannten „Masse“ verachten zu können. Beschäftigt sich die „vulgäre Kritik“ beispielsweise mit der Verfassungsfrage, dann macht sie lediglich „auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc.“ und „findet überall Widersprüche“. Sie ist „selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft, so wie man früher etwa das Dogma der heiligen Dreieinigkeit durch den Widerspruch von 1 und 3 beseitigte“. Die „wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung“ dagegen „faßt“ die Widersprüche „in ihrer eigenthümlichen Bedeutung“, „begreift ihre Genesis, ihre Nothwendigkeit“, und „zeigt die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn“.[5]

Kurze Zeit später, in einem Brief vom September 1843, behauptet Marx, dass die „kritische Philosophie“ sich auf zwei Bereiche erstrecken müsse: den des Theoretischen von Religion und Wissenschaft und den des Praktischen der Politik. Ihre Aufgabe sei die „Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf“. Das Thema des „Selbstbewusstseins“ nimmt also immer noch einen zentralen Platz im Marxschen Denken ein. Das Neue im Vergleich zu den anderen Texten besteht hier allerdings in einem merklichen Einfluss Feuerbachs, der im Februar 1843 die Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie veröffentlicht hatte. Marx schreibt an Ruge: „Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.“[6] Es handelte sich letztlich darum, die Kritik über die Grenzen des Feuerbachschen Denkens hinauszuführen, da dieses in dem engen theoretischen Rahmen der Religion und Wissenschaft gefangen war. Zu bedenken freilich bleibt auch: Die Feuerbachsche Anthropologie wird dennoch zum entscheidenden Vorbild für die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie.

II

Mit der Waffe der Kritik ausgerüstet war Marx für seine Abrechnung mit der Staatsphilosophie Hegels gewappnet. Seit Ende 1841 hatte er angefangen, an einem gegen die Philosophie Hegels – besonders gegen seine Theorie des Staates – gerichteten Artikel zu arbeiten. Im März 1842 verspricht er Ruge einen Text zu liefern, dessen Kern „die Bekämpfung der constitutionellen Monarchie als eines durch und durch sich widersprechenden und aufhebenden Zwitterdings“[7] sei. Diesen Beitrag, der in den Deutschen Jahrbüchern oder in den Anekdota hätte erscheinen sollen, blieb Marx schuldig, was auf seine immer intensivere Mitarbeit – zuerst als Beiträger, ab Oktober 1842 als Chefredakteur – an der Rheinischen Zeitung zurückgeführt werden kann. Außerdem wurde ihm wohl bewusst, dass diese praktisch-politisch motivierte Tätigkeit ihn zu einer Auseinandersetzung mit Problemen führte, deren Lösung eine tiefere Untersuchung der bestehenden materiellen Verhältnisse verlangte. Die seit Oktober 1842, seit seiner Arbeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung zu konstatierende progressive Radikalisierung der Marxschen Kritik war auch verursacht durch seine Unzufriedenheit hinsichtlich seiner eigenen Einschätzung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Retrospektiv hat er diesen Zusammenhang 1859 in der Vorrede Zur Kritik der politischen Ökonomie notiert: „Im Jahr 1842-43, als Redakteur der ‚Rheinischen Zeitung‘, kam ich zuerst in die Verlegenheit über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen“. Marx beschloss, sich von „der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehn“, und fährt dann fort: Die „erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegel’schen Rechtsphilosophie“.[8]

Die namhaft gemachte Berücksichtigung der „materiellen Interessen“ kommt dann bereits in den im Oktober und November 1842 in der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Artikeln Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz zum Zuge. Hier ergreift er Partei für die Interessen der verarmten Teile der Bevölkerung, denen selbst das Sammeln des trockenen, von den Bäumen gefallenen sogenannten ‚Raffholzes‘ verboten worden war. Die bedingungslose Subsumtion des Einzelnen unter die Allgemeinheit des Staates und das verabsolutierte und keine Ausnahmen duldende Recht des Privateigentums wird scharf kritisiert. Dem zum Handlanger des Privateigentums pervertierten Staat wird die Idee eines Staates kontrastiert, der sich vor allem auch der Interessen der verarmten Klasse anzunehmen hätte. Dessen Gewohnheitsrecht, die gemeinsten Bedürfnisse des menschlichen Lebens zu befriedigen, werde ihm durch das Recht auf Privateigentum ganz prinzipiell streitig gemacht.

Eine eigentümliche Mischung von Moral und Kritik bestimmt Marx‘ Argumentation. Das Holzdiebstahlsgesetz setzt diejenigen ins Unrecht, die, aus purer Not, sich an dem Recht auf Privateigentum vergreifen. Anstatt nun aber gegen einen Staat zu polemisieren, der prinzipienfest die Drangsale der von seiner Gesetzgebung unmittelbar Betroffenen missachtet, erteilt Marx ihm überraschenderweise einen Rat: des „instinktiven Rechtssinns“ seiner verarmten Klasse eingedenk zu sein, sprich, den Gerechtigkeitssinn derselben zu instrumentalisieren, um sie so zur wirklichen Teilnahme am Gemeinschaftsleben zu motivieren.[9] Das institutionalisierte Elend wird politisiert und ausgerechnet einem Staat, der das Sterben gerade erst legalisiert hat, wird angetragen, er möge auch die positiven und legitimen Eigenarten der Sitten der Armen, zu denen eben das Holzsammeln gehört, juristisch anerkennen. Nichts ist leichter und vor allem, in des Wortes doppelter Bedeutung, billiger zu haben als das: Die Eingemeindung der Paupers in den gemeinsamen Wertehimmel.

Immerhin, eine derart affirmative Kritik schien Marx dann doch nicht zufriedenzustellen. Ihm wurde klar, dass er – spiegelverkehrt – den wirklichen Zustand der Gesellschaft zu einer abhängigen Variablen des Rechtswesens des Staates gemacht hatte. Armut ist danach kein soziales Faktum, sondern wird aus der Abwesenheit des politischen Oberaufsehers abgeleitet, wo sie doch, umgekehrt, gerade erst durch die staatliche Gesetzgebung für rechtens erklärt worden ist. Denn genau dafür steht, darüber hinaus, das von Marx selbst geforderte Gewohnheitsrecht der armen Klasse: Es läßt, ein bloß moralisches Palliativ, die Armut innerhalb der sozialen Wirklichkeit unverändert bestehen, indem es ihr lediglich eine politisch-gesetzliche Einkleidung gibt. Die bürgerliche Gesellschaft ist und bleibt eine Klassengesellschaft mit der „Abstraktheit des Staates“ als gesetzgebendem Oberaufseher auch und gerade dann, wenn er sich des Bodensatzes der Gesellschaft rechtsförmlich in der Art annimmt, dass er seine prinzipielle Benachteiligung dadurch festschreibt, daß er ihn unter die – partikulären – Interessen des Privateigentums subsumiert. Faktisch zu kurz gekommen kann der Schein gepflegt werden, als kämen auch die Bedürfnisse der ausnahmslos Unterlegenen zu ihrem Recht. Marx hat, m.a.W., inzwischen die Akkommodation an die ontologisch untermauerte Überlegenheit des Staates selbst durchschaut, deren partieller Fürsprecher er kurz zuvor noch gewesen war.

Im philosophiehistorischen Kontext liest sich das dann als eine Art Bekenntnis etwa so: „Meine Untersuchung mündete in das Ergebniß, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in der politischen Oekonomie zu suchen sei.“[10] Marx‘ Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie ist ein Dokument des Übergangs einer zum Teil idealistischen Position eines kritischen Materialisten, der sich in den 50er Jahren endgültig den ökonomischen Fragen des Kapitals zuzuwenden begann.

III

Nach seiner Zeit bei der Rheinischen Zeitung ist Marx nach Kreuznach übergesiedelt, wo er am Vormittag des 19. Juli 1843 Jenny von Westphalen heiratete. Sie sind beide bis Oktober des Jahres in Kreuznach geblieben. Während dieser Zeit wartete Marx auf Nachrichten von Ruge, der ihn über das Datum und den Ort der Veröffentlichung der Deutsch-Französischen Jahrbücher[11], an denen Marx als Beiträger und Mitverleger mitzuarbeiten sich verpflichtet hatte, unterrichten wollte. Unterdessen studierte er die Geschichte der Französischen Revolution und die Klassiker der politischen Philosophie und nahm eine „kritische Revision“ der Hegelschen Philosophie des Rechts vor. Aus dieser Auseinandersetzung mit Hegel ging ein Manuskript von 157 Seiten hervor, in dem Marx große Teile der Grundlinien der Philosophie des Rechts – es handelt sich dabei hauptsächlich um die §§ der dritten, dem Staate gewidmeten Abteilung – abschrieb und kommentierte.[12]

Das Hauptthema der Marxschen Kritik an der politischen Philosophie Hegels ist die für die Moderne charakteristische Behauptung eines Gegensatzes zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft und der Hegelsche Versuch, diese Extreme theoretisch nach dem Vorbild der preußischen konstitutionellen Monarchie zu versöhnen. Die Marxsche Kritik gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, die Widersprüche oder Akkommodationen Hegels lediglich zu benennen, und erschöpft sich ebensowenig in der Absicht, dem preußischen Staat die Vision eines idealen Gemeinwesens zu kontrastieren. Die „wahrhaft philosophische Kritik“ hat nach Marx vielmehr die „Genesis“ und die „Notwendigkeit“ der wirklichen Widersprüche zu erfassen, egal ob es sich um Widersprüche des preußischen Staates, des modernen Staates oder der Hegelschen Philosophie handelt. Die Widersprüche der Hegelschen Philosophie werden aus ihr selbst heraus erklärt, d.h. aus den ontologischen Voraussetzungen der Hegelschen Spekulation, die den zentralen Gegenstand der Marxschen Kritik bildet. Erst auf der Grundlage der Kritik der spekulativ-logischen Voraussetzungen kommt Marx zu dem hieraus abzuleitenden speziellen Fall der Hegelschen Staatsauffassung.

Die Kritik der Spekulation, womit das Manuskript beginnt, ist eine grundsätzliche, wenn man so will, ontologische Kritik. In dem § 262 bestimmt Hegel den Staat als die „wirkliche Idee“, als den „Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet (…)“. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind laut Marx „das Treibende“, die „conditio sine qua non“, die „Voraussetzungen“ des Staates: „Das Faktum ist, daß der Staat aus der Menge, wie sie als Familienglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft existire hervorgehe“. Spekulatives Denken spricht jedoch dieses Faktum „als That der Idee“ aus, „nicht als die Idee der Menge, sondern als That einer subjektiven von dem Factum selbst unterschiedenen Idee“, und verleiht ihm dadurch eine logisch-vernünftige, von der realen Tatsache unabhängige und verselbständigte Form. Die empirische Wirklichkeit „ist nicht vernünftig wegen ihrer eigenen Vernunft, sondern weil die empirische Thatsache in ihrer empirischen Existenz eine andre Bedeutung hat, als sich selbst“, da sie „nicht als solche, sondern als mystisches Resultat gefaßt“ wird.[13] Die Hegelsche Spekulation verkehrt das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat: „Die Bedingung wird aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Producirende wird als das Product seines Products gesetzt“. Die „wirklichen Subjekte“, Familie und bürgerliche Gesellschaft, werden in Prädikate der Idee verwandelt, während die Idee, das abstrakte Prädikat, „versubjektivirt“ wird. Wenn aber einerseits die Wirklichkeit, die „gewöhnliche Empirie“, „nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen“ wird, dann hat andererseits die versubjektivierte wirkliche Idee „nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein“[14]. Die von Hegel durchgeführte Verkehrung ist keine der empirischen Wirklichkeit – das wäre dann so etwas wie ein Wunder –, sondern allein ihrer „Betrachtungsweise“ oder „Sprechweise“. Hegel gibt der Wirklichkeit eine bloß „scheinbare Vermittlung“, „die Bedeutung einer Bestimmung“, „eines Resultats, eines Produkts“ der Idee, aber er lässt den Inhalt, die Wirklichkeit selbst völlig unberührt.

Die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie ist, wie bereits erwähnt, stark von Feuerbach beeinflusst worden. Dieser Einfluss wurde jedoch von den Kommentatoren oft falsch verstanden; Marx sollte lediglich die Positionen des Subjekts und des Prädikats mehr methodisch als urteilstheoretisch vertauscht und so Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt haben.[15] Marx privilegiert aber in Wahrheit nicht das methodologische Verfahren eines bloßen Austauschs von Subjekt und Prädikat, sondern er konzentriert sich vielmehr auf die Kritik der (onto-)logischen Voraussetzungen, die diesen Stellentausch provozieren. Er setzt also mit seiner Kritik eine Stufe tiefer an. Was Marx als das „Geheimnis“ der Hegelschen Spekulation denunziert ist, dass bei Hegel die Ontologisierung der Idee mit der Ent-Ontologisierung der empirischen Wirklichkeit Hand in Hand geht: Die Idee wird empirisch-real und die Realität wird zum logischen Setzungsakt eines imaginierten Geistes. Konkret gewendet: Die Idee des Staates ist der Schöpfer einer entsprechend vergeistigten Familie und bürgerlichen Gesellschaft. „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt“.[16] Der urteilstheoretischen Umkehrung des Subjekt-Prädikatsverhältnisses korrespondiert dann die ontologische Umkehrung zwischen den empirisch-realen und den idealen Bestimmtheiten, dem konkreten Inhalt und der abstrakten Idee oder, kurz, dem Sein und dem Denken. Die in ein wirkliches Subjekt verwandelte Idee hat dann konsequenterweise die Macht, aus sich selbst, einer creatio ex nihilo gleich, endliche Bestimmtheiten zu entlassen. Sie „erniedrigt sich nur in die ‚Endlichkeit’ der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre Aufhebung ihre Unendlichkeit zu genießen und hervorzubringen“. Das endliche Sein ist nach dieser im übrigen an den Gottesbeweisen der Scholastik orientierten Auffassung nichts weiter als das objektive Moment der unendlichen Idee, das endliche Prädikat des unendlichen Subjekts. Marx kontrastiert diesem theistischen Konstrukt, und zwar unter dem Einfluss Feuerbachs, ein wissenschaftlich zu erforschendes bestimmtes, reales Sein. Seine Logik soll durch die Arbeit des Gedankens erarbeitet werden. In Feuerbachs Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie liest sich das so: „Der Gedanke ist bei H[egel] das Sein; – der Gedanke das Subjekt, das Sein das Prädikat. (…) Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat.“[17]

Feuerbachs Kritik der Hegelschen Spekulation richtet sich also ebenfalls nicht gegen einen bloß methodologischen Fehler, sondern weist das Falsche innerhalb der ontologischen Bestimmung selbst nach, auf der die Methode beruht. Der Gott der Theologen ist folglich kein Geschöpf der wirklichen Menschen, sondern der Geschaffene wird, umgekehrt, zum Schöpfer stilisiert.[18] Das Abhängigkeitsverhältnis wird passenderweise nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch verkehrt. Die theoretische Akkommodation zeitigt unmittelbar, ganz im Sinne des Erfinders, praktische Folgen. Die logische Frage nach dem „Subjekt“ konzentriert sich dann auf die grundsätzliche ontologische Frage: „wer ist das Sein“, bzw. „das Wirkliche“. Die Antwort Feuerbachs auf dieses künstliche Dilemma lautet kurz und bündig: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche.“[19]

Auch Marx setzt sich, genau genommen, nicht nur mit Hegels Logik auseinander, sondern auch er konzentriert sich auf die dieser Gedankenwelt zugrundeliegenden realen Bestimmungen. Marx nimmt nicht vorrangig Anstoß an einer falschen Verwendung der Logik, und an einer Berichtigung derselben ist ihm allenfalls mitlaufend gelegen. Gerade weil sich bei Hegel die Logik letztlich gegen ihre realen Gründe verselbständigt hat, ist es nur konsequent, wenn sie, ein beliebig zu verwendendes Instrument des Gedankens, ein von den zu erkennenden Objekten getrenntes Eigenleben führt; sie weiß etwas, ohne sich auf die Gegenstände ihres Wissens eingelassen zu haben, eben weil es bloß diejenigen ihres Wissens sind. Freilich kann eine derartige formale Logik korrekt funktionieren, ja, sie muß es sogar, sofern man sich bei den jeweils vollzogenen Urteils- und Schlussformen regelkonform verhalten hat. Mit dem gedanklich zu erschließenden „spezifischen Wesen“ der empirischen Realität haben diese am Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs orientierten Formalismen allerdings überhaupt nichts zu tun. Eine Übereinstimmung zwischen den Formen des Gedankens und denen der Wirklichkeit ist hier purer Zufall und ein lediglich mögliches Resultat vorausgegangener Willkür. Ihr fehlt eben die Einsicht in die in der Sache begründete „Notwendigkeit“, weil sie nur, gemäß den Kriterien einer ausgewachsenen Vorurteilskunde, die Notwendigkeit des verselbständigten und anschließend objektivierten Gedankens reflektiert: „Hegel begnügt sich damit. Auf der einen Seite: Kategorie ‚Subsumtion’ des Besondern etc. Die muß verwirklicht werden. Nun nimmt er irgendeine der empirischen Existenzen des preußischen oder modernen Staats (wie sie ist mit Haut und Haar), welche unter anderm auch diese Kategorie verwirklicht, obgleich mit derselben nicht ihr spezifisches Wesen ausgedrückt ist. Die angewandte Mathematik ist auch Subsumtion etc. Hegel fragt nicht, ist dies die vernünftige, die adäquate Weise der Subsumtion? Er hält nur die eine Kategorie fest und begnügt sich damit, eine entsprechende Existenz für sie zu finden. Hegel gibt seiner Logik einen politischen Körper; er gibt nicht die Logik des politischen Körpers.“[20]

Was Hegel also fehlt, ist nicht eine wie auch immer brauchbare Logik nach dem Vorbild der Mathematik etwa, sondern die Einsicht in eine „vernünftige“, d.h. „adäquate Weise“ der „Subsumption“. Ihm ist ironischerweise beim Denken das Kriterium jeder logischen Kategorie abhanden gekommen: nichts weiter als ein Vehikel des theoretischen Einblicks in die wie auch immer geartete ontologische „Notwendigkeit“ zu sein. Folglich produziert sein sich selbst denkendes Denken immer bloß Denksetzungen oder kurz: Tautologien. Marx hingegen interessiert sich für gewisse Bereiche der von ihrer spekulativen Reduzierung auf ein bloßes Erscheinen der logischen Idee befreiten empirischen Realität, also in der Folgezeit beispielsweise für die Verwertungsformen des Kapitals.

In dieser, wenn man so will, neuerlichen kopernikanischen Revolution wird das Gravitationszentrum der Logik neu bestimmt. Der Gedanke der Sache hat einer der Sache und ihrer Bestimmungen zu sein.

IV

Der zweite Aspekt der Marxschen Kritik kreist um das Thema der politischen Entfremdung. Der politische Staat und seine Verfassung ist laut Marx der verselbständigte „Gattungswille“ des tatsächlichen Souveräns. Das Volk ist der „wirkliche Staat“, die Grundlage der Verfassung, weil es die konstituierende Gewalt ist; die Verfassung ist entsprechend nichts weiter als die konstituierte Gewalt. Die politische Entfremdung besteht folglich darin, dass sich das Volk seinem eigenen Werk unterwirft, bzw. ihm durch das Macht- und Gewaltmonopol des Staates unterworfen wird. Was das „Ganze“ war, wird jetzt zum bloßen funktionalen Anhängsel, und vice versa. Das Volk, das vorher der „wirkliche Staat“ war, wird seines Gattungsinhalts beraubt, der nunmehr auf der politischen Ebene hypostasiert wird. Das Ergebnis ist der Gegensatz des Staates und seiner Verfassung von der bürgerlichen Gesellschaft oder von politischem und unpolitischem Staat.

Dieser für den modernen Staat typische Gegensatz ist hinter dem Hegelschen Schleier der Spekulation nicht mehr wahrnehmbar. Der Staat ist für ihn die Verwirklichung des freien, vernünftigen Willens. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts verwirklicht sich der Staat dadurch, daß er die abstrakten Stufen der Familie und bürgerlichen Gesellschaft aufhebt und seine Einheit als konkrete Allgemeinheit realisiert. Der Staat ist der selbstbewusst gewordene freie Wille: „der freie Wille, der den freien Willen will“,[21] und der vernünftige Zweck des Menschen ist das restlose Aufgehen im Staat. In den drei Gewalten der Verfassung ist die Idee des Staates als eine Einheit von Gegensätzen begriffsadäquat verwirklicht.

Nach Marx jedoch ist die Verfassung „nichts als eine Akkommodation zwischen dem politischen und unpolitischen Staat”, ein „Traktat wesentlich heterogener Gewalten“. Sie ist ein Gegensatz von “wirklichen Extremen”, ein “mixtum compositum”.[22] Dieser Dualismus liegt Hegels Konstrukt der konstitutionellen Monarchie zugrunde: Die in der Person des Monarchen Gestalt gewordene fürstliche Gewalt, die der personifizierte Staat ist, abstrahiert von der Pluralität der „Personen“ – den vielen „Einzelheiten“, die das Volk bilden – (§§ 275-286). Die für die Regierungsgewalt tätige Bürokratie der Privilegierten bildet eine Korporation gegen die bürgerliche Gesellschaft (§§ 287-297). In der gesetzgebenden Gewalt schließlich tritt der Gegensatz zwischen der empirischen Einzelheit des Fürsten und der empirischen Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft offen hervor. Er setzt sich fort in der Differenz zwischen der Regierung und den Ständen, um schließlich in der leicht absurden Form der von den Majoratsherren gebildeten zweiten Kammer in Erscheinung zu treten (vgl. die §§ 298-313).

Die Verfassung ist laut Hegel, der hierin Montesquieu folgt, nicht etwa ein Kodex positiver Gesetze, sondern das Produkt des Volksgeistes, in den sich die hauptsächlichen Bestimmungen des vernünftigen Willens zusammenfassen. Um konsequent zu sein, sollte eine solche Auffassung Marx zufolge den Menschen zum „Prinzip der Verfassung“ machen, die „in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip hat, mit dem Bewußtsein fortzuschreiten“.[23] Als etwas Besonderes muss die Verfassung ein „Teil des Ganzen“, also ein Moment des „Gattungswillens“ sein. Insofern er das wahrhaft Allgemeine ist, muss er auch das Ganze sein. In der Hegelschen Spekulation jedoch werden diese zwei Bedeutungen durcheinandergebracht: obgleich Hegel die Verfassung als etwas Allgemeines zu behandeln vorgibt, entwickelt er sie vielmehr als etwas Besonderes. Genau deswegen hat das in einen subordinierten Teil der Verfassung verwandelte Volk kein Recht, „die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[24] Das entpolitisierte Volk ist, bar seines Gattungswesens, zu einer atomistischen Menge, einer gestaltlosen Masse pervertiert worden, die vom verselbständigten Staat eine seinem jeweiligen Kalkül gemäße politische Form verpaßt bekommt. Das Volk tritt entsprechend nicht als es selbst, als der „ganze Demos“ auf, sondern als die auf das ständische Moment reduzierte bürgerliche Gesellschaft. Das ist nach Marx die erste „ungelöste Kollision“ innerhalb des Verfassungsbegriffs: Die Kollision „zwischen der ganzen Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt“[25].

Die zweite Kollision, als direkte Folge der ersten, ist „die zwischen der gesetzgebenden und der Regierungsgewalt, zwischen dem Gesetz und der Exekution“. Durch sie verliert die gesetzgebende Gewalt ihre unterstellte Allgemeinheit und wird ein bloßer „Teil“ des Ganzen, eine besondere Gewalt neben anderen Gewalten: es ist „also dem Gesetz unmöglich, auszusprechen, daß eine dieser Gewalten, ein Teil der Verfassung, das Recht haben solle, die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[26] Der Konflikt zwischen dem Volk und dem politischen Staat stellt sich auf diese Weise als der Konflikt des „Volkes en miniature“ – der gesetzgebenden Gewalt – mit der Regierungsgewalt dar.

Die Marxsche Kritik an der politischen Entfremdung ist zu diesem Zeitpunkt im übrigen unauflöslich mit dem Denken Rousseaus verknüpft. Beide bemängeln, dass die Regierungsgewalt nicht mehr ein dem allgemeinen Willen unterworfener „Teil“ sei. Sie tritt diesem Willen als selbständige Gewalt entgegen, so dass der allgemeine Wille umgekehrt nichts weiter ist als die abhängige Variable der besonderen Gewalt des Staates. Mit der theoretischen Lösung dieses Problems ringt auch der Aufklärer Rousseau. Marx gibt ihm allerdings eine praktische Wendung: „Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist.“[27]

Folglich macht sich Marx in ZKhR für die Entwicklung einer Idee von Demokratie stark, die im Widerspruch steht zur Hegelschen Verteidigung der lediglich abgemilderten Souveränität des Monarchen. In der Monarchie, sowie in allen von der Demokratie abweichenden Staatsformen „hat dies Besondre, die politische Verfassung, die Bedeutung des alles Besondere beherrschenden und bestimmenden Allgemeinen“[28] In der Demokratie hingegen „ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er politische Verfassung ist“.[29] In der Demokratie ist die Macht des allgemeinen Willens nicht von derjenigen des politischen Staates entfremdet. Er verwandelt sich in ihr nicht in einen besonderen, vom Staat getrennten Inhalt: „In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt“.[30] Die Demokratie ist daher die „Wahrheit“, die „Gattung“, „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“.

Es ist allerdings zu beachten, dass in Marx‘ Gedankengang zwei Aspekte der „Demokratie“ unterschieden werden müssen: sie ist zum einen, als „Gattung“, die „wahre Demokratie“ und als „Spezies“ die „politische Republik“. Die „wahre Demokratie“ ist ein politisches Prinzip und nicht etwa ein real existierender Staat. Sie bedeutet die vollständige Verwirklichung des Staates als konkrete Allgemeinheit, die wahre Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. In der wahren Demokratie „geht der politische Staat” genauso „unter“ wie der unpolitische Staat, d.h. die bürgerliche Gesellschaft.[31] Mit dem Begriff „politische Republik“ dagegen charakterisiert Marx die Demokratie innerhalb des „abstrakten Staats“, also die bestehende, noch nicht völlig verwirklichte Demokratie. In diesem Staat, obwohl hier die Verfassung letztlich noch eine politische ist, hört sie doch auf, „nur politische Verfassung zu sein“, und das bedeutet, dass die unpolitischen Ebenen schon von dem politischen „Gattungsinhalt“ durchdrungen sind.

Innerhalb des abstrakten Staates tritt die Frage der politischen Entfremdung in der Form des Gegensatzes zwischen repräsentativer und ständischer Verfassung in Erscheinung. Gegen die bloße Repräsentation der Stände verteidigt Marx „die Ausdehnung und möglichste Verallgemeinerung der Wahl, sowohl des aktiven, als des passiven Wahlrechts“.[32] Hier trifft sich das Marxsche Denken wieder mit demjenigen Rousseaus. Der von der Besonderheit der Interessen geprägt Wille aller (volonté de tous) verwandelt sich in den allgemeinen Willen (volonté générale) vermittelst der „Differenzsumme“ dieser Interessen. Das Volk „will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht“.[33] Ein Quidproquo stellt sich in dem Augenblick ein, wenn sich Gesellschaften (Parteien, Vereinigungen) innerhalb des Volkes zu konsolidieren beginnen: „so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner“ und „die Differenzen werden weniger zahlreich und führen zu einem weniger allgemeinen Ergebnis“. Am Ende dieses Prozesses „gibt es keinen allgemeinen Willen mehr, und die Ansicht, die den Sieg davonträgt, ist trotzdem nur eine Privatansicht“. Gegen diese Fehlentwicklung gibt es, laut Rousseau, nur das eine Mittel, dass „es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll“.[34]

Bei Marx sollten entsprechend die Einzelnen nicht unter die politisch-ständische Form der gesetzgebenden Gewalt subsumiert werden, sondern als Einzelne (als der „ganze Demos“) an dem jeweiligen Staat vermittelst der nach Möglichkeit allgemeinen Wahl teilnehmen. Damit werde die „bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben“, also – mit Rousseau gesprochen – nicht mehr zu einem Konglomerat gegensätzlicher Privatinteressen, sondern zu einer „Differenzsumme“, die zur Bildung des allgemeinen Willens führe. Die Vollendung dieses Prozesses der Verallgemeinerung der bürgerlichen Gesellschaft sei die „Aufhebung“ der Abstraktion selbst: „Indem die bürgerliche Gesellschaft ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Andres, sein Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staats die Forderung seiner Auflösung, aber ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft.“[35]

Hegels Verteidigung der ständischen Verfassung hingegen beruht auf der Auffassung des Volkes als „einer formlosen Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich“ ist. Volk und Staat sind bei Hegel die zwei Extreme eines Syllogismus‘, dessen Vermittlung durch die Stände geschieht. Laut Marx sind die Stände jedoch keine Auflösung, sondern vielmehr die Verwirklichung des Gegensatzes innerhalb des politischen Staates.

Bei Gelegenheit der Kommentierung der §§ 302-304 denunziert Marx die Unzulänglichkeiten des Hegelschen Systems der Vermittlungen.[36] Erstens begeht Hegel Marx zufolge einen Paralogismus, da er die Bedeutung der Stände innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit jener Bedeutung identifiziert, die die Stände auf der politischen Ebene haben. Hegel begreift als reflexives Verhältnis, was laut Marx ein bloßes Abstraktionsverhältnis ist. Die politischen Stände sind für Marx kein Reflex der privaten Stände, also eines vermeintlich Anderen, sondern sie sind nichts weiter als die Abstraktion dieser Stände: Die bürgerliche Gesellschaft wird als „nicht vorhanden”[37] gesetzt. Das politisch-ständische Element bedeutet daher nicht die Aufhebung der Unterschiede innerhalb der gesellschaftlichen Stände – eine wirkliche Vermittlung des Widerspruchs –, sondern das Zudecken dieser nach wie vor bestehenden Unterschiede vermittelst ihrer Eingliederung in eine anachronistische mittelalterliche, politische Form.

Zweitens kaschiere das Hegelsche System der Vermittlungen eine tatsächliche, unversöhnliche Opposition zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Sie sind, Marx zufolge, wirkliche Extreme, die „nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind“. Zwischen ihnen kann es kein reflexives Verhältnis geben, da sie „nichts miteinander gemein“ haben; „sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einander nicht“.[38] Unter dem Einfluss Feuerbachs stellt Marx hier zwar dem Begriff „Reflexion“ einen anderen Begriff der Hegelschen Logik gegenüber: den Begriff der „Selbstbestimmung des Subjekts“.[39] Als wirklicher Staat muss die bürgerliche Gesellschaft die Selbst- bzw. Gattungsbestimmung in sich selbst verwirklichen, weil ansonsten der Staat zu einer „allegorischen, untergeschobenen Bestimmung” wird. Durch die demokratisierte gesetzgebende Macht ist die politische Qualität des Menschen – jeder Einzelne als Moment des Gattungswesens – nicht mehr ein von seiner gesellschaftlichen Qualität getrenntes Wesen. Umgekehrt formuliert: Die gesellschaftliche Qualität des Menschen beweist in der demokratischen Repräsentation ihre politische Eigenart, ihr Gattungswesen. Im Unterschied zu anderen Staatsformen schafft die wahre Demokratie kein politisches Fundament für eine rein private Existenz des Menschen, sondern gibt ihm sein eigenes politisches Wesen bzw. sein „Gattungsdasein“ zurück. Denkt man Rousseau und Feuerbach zusammen, dann kommt es zu einer Synthese der politischen mit der Gattungsrepräsentation. Jeder Mensch repräsentiert den jeweils anderen, weil „jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eignen Wesens repräsentiert“. Er ist Repräsentant nicht mehr im Sinne der dualistischen, politisch-abstrakten Repräsentation, oder kurz, er ist „nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut“.[40]

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Der vorliegende Text ist die überarbeitete deutsche Version der „Einleitung“ der brasilianischen Ausgabe von Marx’ Zur Kritik des hegelschen Rechtsphilosophie, die vom Autor übersetzt wurde. Herr Dr. Frank-Peter Hansen war mir dankenswerter Weise bei der Übertragung ins Deutsche behilflich.
  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1820.
  3. Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA², I/1, 1975, S. 67.
  4. Karl Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, MEGA², I/1, 1975, S. 191-193. Vgl. auch Rubens Enderle, „O jovem Marx e o manifesto filosófico da Escola Histórica do Direito”, in: Crítica Marxista, n. 20, São Paulo 2005.
  5. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA², I/1, S. 100-101.
  6. Karl Marx, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA², I/2, S. 488.
  7. Karl Marx, Karl Marx an Arnold Ruge, 5. März 1842, MEGA², III/1, S. 22.
  8. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, MEGA², II/2, S. 99-100.
  9. Karl Marx, Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, MEGA². I/1, 1975, S. 209.
  10. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, a.a.O., S. 100.
  11. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher wurden erstmals im Februar 1804 in Paris veröffentlicht.
  12. Von dem originalen Text, der angeblich mit dem § 257 des Hegelschen Werkes anfing, sind die vier ersten Seiten verschollen. Deswegen fängt das uns heute bekannte Manuskript der ZKHS mit der Wiedergabe und dem Kommentar des § 261 an und dehnt sich bis auf den § 313 aus, übrigens viele §§ vor dem Ende des Dritten Abschnitts (§ 360). Außerdem fehlen der Pappdeckel und das vordere Deckblatt, was zu Spekulationen darüber führte, welchen Titel Marx diesem Werk geben wollte. Bei seiner ersten Veröffentlichung durch Rjazanov (MEGA¹) 1927 erschien der Text unter dem Titel „Karl Marx: Aus der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261-313)“. Seit der 1982 erschienenen Ausgabe der MEGA² wird er „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ genannt. Dies ist laut dem Verleger der wahrscheinlichste Titel des Werkes, da Marx einige Monate später in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern den Text „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ veröffentlichte. Vgl. MEGA², I/2, S. 584.
  13. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 9.
  14. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 8.
  15. Ein gutes Beispiel für diese metodologisch orientierte Interpretation ist Schlomo Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, Cambridge, Cambridge University Press, 1971, S. 10-17. Vgl. auch Miguel Abensour, La Démocratie cont re l’État. Marx et le moment machiavélien, Collège International de Philosophie Janvier 1997, P.U.F, S. 50 ff.
  16. Karl Marx, ZKhR, a.a.O, S. 16.
  17. Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“. Ludwig Feuerbach – Gesammelte Werke: Kleinere Schriften II. 1839-1846. (Bd. 9), Akademie Verlag, Bd. 9, Berlin 1970, S. 257.
  18. „Die spekulative Philosophie hat sich desselben Fehlers schuldig gemacht als die Theologie – die Bestimmungen der Wirklichkeit oder Endlichkeit nur durch die Negation der Bestimmtheit, in welcher sie sind, was sie sind, zu Bestimmungen, Prädikaten des Unendlichen gemacht.“ Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, a.a.O., S. 250-251.
  19. Ludwig Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“, a.a.O.., S. 316.
  20. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 52.
  21. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 27.
  22. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 61.
  23. A. o. O., S. 20.
  24. A. o. O., S. 61.
  25. Ebd.
  26. Ebd.
  27. Ebd.
  28. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 32.
  29. Ebd.
  30. Ebd.
  31. Ebd.
  32. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 130-131.
  33. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, übers. von Hermann Denhardt, Frankfurt am Main 2005, S. 64.
  34. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, a.a.O., S. 64-65.
  35. Karl Marx, ZKhr, a.a.O., S. 131.
  36. Zu einer detaillierten Analyse der Marxschen Kritik des Hegelschen Systems der Vermittlungen, vgl. Solange Mercier-Josa, Entre Hegel et Marx, Paris, L’Harmattan, 1999, S. 27-73.
  37. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 87.
  38. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 98.
  39. Vgl. dazu Solange Mercier-Josa, a.a.O., S. 38.
  40. Karl Marx, ZKhR, a.a.O.

Gliech, Oliver: Die Sklavenrevolution von Saint-Domingue/ Haiti und ihre internationalen Auswirkungen (1789/91 – 1804/25), 28.05.08

Nicht nur der erste unabhängige Staat Lateinamerikas, sondern auch die erste Revolution, die maßgeblich von versklavten Bevölkerungsschichten getragen wurde – Oliver Gliech liefert mit seinem Artikel eine ausführliche Erläuterung der Geschehnisse, die in den Folgejahren der Französischen Revolution zur Abschaffung der Sklaverei im heutigen Haiti führten.

In der Geschichte der lateinamerikanischen Staatenwelt stellt Haiti einen Sonderfall dar, der in vieler Hinsicht bemerkenswert ist. Im späten 18. Jahrhundert wurde das Land zum Schauplatz der einzigen erfolgreichen Sklavenrevolution der Weltgeschichte, und es waren ehemalige Sklaven, die dort 1804 den ersten unabhängigen Staat des Subkontinents ins Leben riefen. Heute zählt diese karibische Republik zu den ärmsten Staaten der westlichen Hemisphäre – vor ihrer Unabhängigkeit hingegen galt sie, damals noch „Saint-Domingue“ genannt und zum französischen Überseeimperium gehörend, als wertvollste Plantagenwirtschaft ihrer Zeit. Gestützt auf die Arbeit von etwa einer halben Million Sklaven entwickelte sich diese Plantagenökonomie zum Hauptlieferanten von Zucker und Kaffee – tropische Handelsgüter, die in Europa und Nordamerika auf eine rege Nachfrage stießen und die im Laufe des 18. Jahrhunderts zum festen Bestandteil der westlichen Konsumkultur wurden. Auf einer Fläche, die kleiner war als das heutige Belgien, lebten um 1789 etwa ebenso viele afrikanische Zwangsarbeiter wie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Als die Französische Revolution ausbrach, erfassten ihre Ausläufer bald die tropischen Kolonien Frankreichs. In Saint-Domingue begann eine eigene karibische Revolution, in deren Folge die Kolonie schließlich außer Kontrolle geriet. Zunächst wurde diese koloniale Revolution von den ortsansässigen weißen Pflanzern getragen, bald jedoch fiel die Initiative an die schwarzen Sklaven. Ihr Aufstand führte zur Abschaffung der Sklaverei, zur Unabhängigkeit der Kolonie, zur Zerstörung der Plantagenwirtschaft und zur Entmachtung der alten kolonialen Eliten. Dieser dramatische Prozess soll im folgenden genauer untersucht werden.

I. Die französische Kolonie Saint-Domingue vor 1789

Bereits kurze Zeit nach der Entdeckung Amerikas stellte der französische König Franz I. die vom Papst 1493 sanktionierte Weltordnung in Frage, die die neu entdeckten außereuropäischen Territorien zwischen Spanien und Portugal aufteilte. „Man zeige mir das Testament Adams, das mich von der Teilung der Welt ausschließt“ – mit diesem Ausspruch wies der Monarch die exklusiven Herrschaftsansprüche der iberischen Mächte zurück.[1] Bis das Königreich den Worten Taten folgen ließ, vergingen freilich mehr als hundert Jahre. Während bretonische und normannische Schmuggler und Korsaren schon sehr früh in der Karibik präsent waren, trat Frankreich jenseits des Atlantiks erst seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Kolonialmacht auf den Plan. Obwohl in den 1630er Jahren unter der Ägide von Kardinal Richelieu eine eigene Kolonialpolitik einsetzte, dauerte es geraume Zeit, bis diese ernstzunehmende Resultate zeigte. In den folgenden hundert Jahren hatte diese in Amerika drei Stoßrichtungen: Zum einen gelang es Frankreich, in der karibischen Inselwelt Fuß zu fassen, zum anderen erzielte es beträchtliche Geländegewinne in Kanada und westlich des Mississippi. Alle drei Regionen hatten eines gemeinsam: Angesichts der Ausdehnung des amerikanischen Kontinents hatten die Spanier den Anspruch aufgegeben, das gesamte von ihnen in Übersee beanspruchte Territorium in Besitz zu nehmen. Es gab in diesen Regionen entweder keine spanischen Siedler und Stützpunkte oder sie waren zu schwach, um das Vordringen europäischer Konkurrenzmächte zu verhindern. Wenn nun nach und nach die meisten karibischen Inseln mit Ausnahme von Cuba und Puerto Rico von den Feinden Spaniens besetzt wurden, so waren diese Mächte (die Niederlande, England und Frankreich) zunächst nicht primär daran interessiert, dort Plantagen zu errichten. Diese Inseln wurden vielmehr als Stützpunkte für Kaperfahrten gegen die spanischen Silberflotten und reichen amerikanischen Hafenstädte genutzt und sollten im Kriegsfall als Sprungbrett für die Eroberung von Teilen des amerikanischen Festlands dienen. Erst als sich diese Expansionsabsichten als illusorisch erwiesen, wurde die wirtschaftliche Erschließung der karibischen Besitzungen mit Nachdruck betrieben.

Die Kolonie Saint-Domingue ging aus einstmals unabhängigen Siedlungen französischer Freibeuter hervor, die sich auf der Westhälfte der spanischen Insel Santo Domingo strategisch günstige Rückzugsgebiete geschaffen hatten, von denen aus sie die aus Havanna absegelnden Silberflotten abfangen konnten. Santo Domingo war kurz nach der Entdeckung Amerikas zeitweilig in den Rang der wichtigsten spanischen Kolonie aufgestiegen und hatte als Experimentierfeld für die spätere Inbesitznahme des amerikanischen Festlands gedient – mit verheerenden Folgen für die indigenen Ureinwohner. Durch Zwangsarbeit, Seuchen und Misshandlung wurden die einheimischen Arawaken innerhalb weniger Jahrzehnte ausgerottet. Als die vorhandenen Goldvorkommen zur Neige gingen, verloren die spanischen Siedler das Interesse an Santo Domingo; ein beträchtlicher Teil von ihnen wanderte in das jüngst eroberte Mexiko ab. Die relativ früh etablierte Zuckerwirtschaft der Insel verfiel im Laufe des 17. Jahrhunderts. Santo Domingo hatte für die Spanier seine strategische und ökonomische Bedeutung eingebüßt; nur der Ostteil der Insel blieb in spanischer Hand.[2]

Dieser Umstand begünstigte eine Ansiedlung französischer Freibeuter im Nordwesten Santo Domingos. Von den konkurrierenden Hegemonialmächten bedrängt, sahen diese sich nach wenigen Jahrzehnten autonomer Existenz genötigt, ihr Mutterland um militärische Unterstützung zu bitten. Die französische Krone kam diesem Ansinnen nach, unterwarf aber die Freibeuterrepublik ihrer Herrschaft und verleibte sich den Westen der Insel ein. In Anlehnung an die ursprüngliche spanische Bezeichnung erhielt die Kolonie den Namen Saint-Domingue. Zunächst wurden monopolartig organisierte Handelskompanien mit der Erschließung und Besiedlung betraut, doch erwiesen sich diese als unfähig, die ihnen angetragene Aufgabe zu erfüllen. Weder gelang es ihnen, eine ausreichende Zahl von Kolonisten anzuwerben, noch erkannten sie die überragende ökonomische Bedeutung des Rohrzuckers.[3] Erst seit 1697, als Spanien im Vertrag von Rijswick das französische Eigentum an der Kolonie akzeptierte, war sie vor spanischen Überraschungsangriffen sicher. Der Aufstieg Saint-Domingues zur bedeutendsten Plantagenwirtschaft vollzog sich in der Zeitspanne zwischen 1700 und 1789. Zunächst wurden Tabak und Indigo, dann Zucker und ab den 1720er Jahren auch Kaffee angebaut. Während sich der Tabak aufgrund der übermächtigen Konkurrenz Virginias nicht halten konnte, wurde die Produktpalette der Kolonie um Baumwolle ergänzt. Bei diesen vier tropischen cash crops blieb es bis zum Ende der Kolonialzeit – denn über andere bedeutende Rohstoffe, die für die Metropole von Interesse gewesen wären, verfügte Saint-Domingue nicht.

Alle Exportgüter der Kolonie mit Ausnahme des Kaffees konkurrierten in Europa mit Produkten, die ganz ähnliche Eigenschaften hatten und für die bereits eine breite Nachfrage bestand. Als preisgünstiger Ersatz konnten sie deshalb schnell bedeutende Marktanteile erobern: Der Rohrzucker vermochte klassische Süßstoffe wie Honig zu ersetzen und fand Verwendung als Arzneimittel und Luxussymbol an den Tafeln der Reichen.[4] Die Baumwollfasern entwickelten sich aufgrund ihrer besonderen Verarbeitungsqualitäten schnell zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für Wolle, Flachs und Hanf; Indigo, ein aus Schmetterlingsblütlern gewonnener blauer Farbstoff, erbrachte weit höhere Hektarerträge als der in Europa gebräuchliche Färberwaid. Während die beiden für die Textilindustrie benötigten Rohstoffe auch von einer Vielzahl anderer Produzenten angeboten wurden, erlangten die französischen Karibikinseln auf dem europäischen Zucker- und Kaffeemarkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und namentlich nach dem Siebenjährigen Krieg ein geradezu erdrückendes Übergewicht. Zahlreiche andere Regionen verfügten über ähnliche Anbaubedingungen – warum gelang es also den Franzosen, eine solche marktbeherrschende Stellung zu erlangen? Dieser Erfolg hatte viele Ursachen. Zum einen existierten natürlich auch in Brasilien und im spanischen Amerika Zuckerpflanzungen. Diese Kolonien waren freilich weit stärker besiedelt und verfügten, im Gegensatz zur karibischen Inselwelt, über größere Binnenmärkte – der Zucker wurde überwiegend vor Ort konsumiert. Auch das Produktionsniveau in den englischen Zuckerkolonien war hoch, doch gelangte der jamaikanische Zucker nur auf englische Märkte, denn der dort früh einsetzende Massenkonsum trieb den Eigenverbrauch in die Höhe. Zudem stutzte der Verlust Kanadas und Louisianas das französische Kolonialreich jenseits des Atlantiks auf die karibischen Inseln zurück. Das französische Kapital konzentrierte sich folglich hier, während sich für andere Kolonialmächte weit mehr Anlagemöglichkeiten boten. Neben Vorsprüngen im Know-How und dem bedenkenlosen Verschleiß hunderttausender afrikanischer Sklaven trug das französische Konzessionsrecht zum ökonomischen Aufschwung bei: Es sah für die Kolonien kein Eigentum an Grund und Boden vor, sondern band die Vergabe von Landrechten an den Plantagenbetrieb. Zeigten sich Kolonisten unfähig, die Produktion aufrechtzuerhalten, fielen ihre Ländereien an die Krondomäne zurück. All diese Faktoren trugen zum Erfolg der karibischen Plantagenwirtschaft bei, der seinerseits die Ökonomie des Mutterlandes nachhaltig beeinflusste. Blieb in Frankreich eine industrielle Revolution aus, so erlebte das Land doch in den Jahrzehnten vor der Revolution eine regelrechte „Handelsrevolution“, die ihre Dynamik weitgehend den Kolonialwaren verdankte.[5] Insbesondere die am Atlantik und der Kanalküste gelegenen Hafenstädte profitierten von diesem karibischen Boom. Bordeaux, La Rochelle, Bayonne und Le Havre waren in hohem Maße am Kolonialhandel beteiligt, während sich Nantes weitgehend auf den Sklavenhandel spezialisiert hatte. Neben Paris stellten diese Städte und ihr Umland den größten Teil der karibischen Plantagenbesitzer und gerieten nach Ausbruch der Revolution in den Brennpunkt der kolonialen Agitation.

Durch ihre enge Anbindung an die europäischen Märkte wurden die karibischen Kolonien zu einem integralen Bestandteil des europäischen Wirtschaftslebens. Vor allem die zunehmende Verbreitung des Kaffeekonsums, die durch die französischen Exporte ermöglicht wurde, hatte tiefgreifende Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten und die Kultur West- und Mitteleuropas. Der Kaffee nahm im Osmanischen Reich aufgrund des islamischen Alkoholverbots jenen Platz ein, den in den christlichen Reichen berauschende Getränke innehatten. Von Anfang an hatte sein Konsum gemeinschaftsstiftende Funktionen – nicht nur der Kaffee, sondern auch die Kaffeehäuser wurden von den Europäern aus dem „Morgenland“ übernommen. Die historische Bedeutung dieser Institution steht außer Frage: Die Kaffeehauskultur hatte im 18. Jahrhundert maßgeblichen Anteil an der Entstehung einer aufgeklärten Öffentlichkeit. Als Ort nüchterner Geselligkeit stieg das Café zum bürgerlichen Gegenmodell der volkstümlichen Taverne und des adligen Salons auf – es fungierte zugleich als Nachrichtenbörse und Debattierklub. Zugleich begann der Kaffee im Privaten, den Alkohol zurückzudrängen. Der Frühstückskaffee ersetzte beispielsweise die im deutschen Sprachraum weit verbreitete morgendliche Biersuppe. Gleichzeitig etablierte sich das weibliche Kaffeekränzchen als Konkurrenz zum männlichen Kaffeehaus, was wiederum die Nachfrage nach dem koffeinhaltigen Wachmacher in die Höhe schnellen ließ.[6]

Der Kolonialwarenboom führte in den zwei Jahrzehnten vor Ausbruch der Revolution zu einer massiven Expansion der sklavengestützten Plantagenwirtschaft Saint-Domingues. Doch trotz ihrer Prosperität war diese Kolonie ein Koloss auf tönernen Füßen. Denn es gab viele Faktoren, die ihre Stabilität bedrohten.[7] Das quantitative Verhältnis von Sklaven zu freien Europäern fiel fast überall in der Karibik zuungunsten der weißen Herrenschicht aus. In Saint-Domingue lag es etwa bei 1:10. 40.000 Weiße und etwa ebenso viele freie Farbige standen 500.000 Sklaven gegenüber, der größte Teil von ihnen waren bossales – in Afrika geborene Schwarze, die ein Leben in Freiheit noch gekannt hatten und die sich schwerer beherrschen ließen als in der Sklaverei Geborene. Je geringer die Chancen, der Sklaverei auf legalem oder illegalem Wege zu entkommen, desto größer war die Revoltebereitschaft der Betroffenen. Eine Aussicht auf Freilassung bestand nur für wenige Sklaven in Vertrauenspositionen, die ihren Herren jahrelang gedient hatten. Als Insel bot Saint-Domingue zudem im Gegensatz zum amerikanischen Festland nur wenige Rückzugsmöglichkeiten für geflohene Sklaven (Maroons). Die Arbeit auf den Zuckerplantagen verschliss die Schwarzen in wenigen Jahren, und man bemühte sich kaum, ihr Los ein wenig zu erleichtern. Das Recht, eine Familie zu gründen, blieb ein seltenes Privileg. Kleidung, Wohnraum und Ernährung waren oftmals erbärmlich[8]. Während das Créole, eine Mischung aus Französisch und diversen afrikanischen Sprachen, eine Verständigung ermöglichte, waren es vor allem zwei Dinge, die die Zwangsarbeiter zusammenschweißten: die Praxis der täglichen Arbeit und die Religion. Der von vielen Sklaven praktizierte Vaudou/Voodoo-Kult bot ihnen einen spirituellen Raum, der der Kontrolle der Weißen entzogen blieb. Synkretistische Glaubenskomplexe dieser Art, in denen sich die spirituellen Traditionen der Herkunftsländer der Sklaven vermischten, entstanden in allen karibischen Kolonien. Im Voodoo fehlten übergeordnete Hierarchien – Priester, die zugleich Sklaven waren, bildeten die oberste geistliche Instanz. Damit konnte sich diese Religion gut an die Gegebenheiten der Plantagenwirtschaften anpassen. Ihre Rolle als gemeinschaftsstiftende Instanz ist gar nicht zu überschätzen. Initiierte des Kultes gerieten während einer Zeremonie in Trance und verwandelten sich, für alle Gläubigen sichtbar, in einen Gott des Voodoo-Pantheons, der als solcher weissagte und Befehle erteilte. Selbst wenn die „Besessenen“ sich später nicht daran erinnern konnten, wuchs ihnen doch etwas vom Prestige der gespielten Rolle zu. Ein einfacher Feldarbeiter konnte sich in den Kriegsgott Ogou oder gar in Baron Samedi – den Tod – verwandeln, und dies konnte für die soziale Kontrolle in einer Plantage fatale Konsequenzen haben. Im einfachen Leben weit unterhalb der Weißen stehend und von diesen verachtet, konnte ein einfacher Zuckerschneider über Nacht auf spirituellem Wege weit über diese hinaus geschleudert werden. Voodoo war nicht, wie oft behauptet wird, ein Element des Widerstands gegen die koloniale Ordnung, doch besaß er das Potential, sich in ein solches zu verwandeln. Hatten die weißen Herren auf den Plantagen die Macht, so fehlte ihnen die kulturelle Hegemonie, die Herrschaft über die Köpfe ihrer Sklaven.

In der kolonialen Ordnung, die zugleich auf einer Hierarchie der „Rassen“ beruhte, nahmen die freien Farbigen eine Zwischenposition ein. Sie, und nicht etwa die Weißen, bildeten das Gros der Kreolen. Zwar standen die Europäer an der Spitze der Gesellschaftspyramide, aber damit endeten bereits ihre Gemeinsamkeiten. Die zeitgenössische Schematik unterteilte sie in „große“ und „kleine“ Weiße, wobei die erste Gruppe von reichen Plantagenbesitzern, Kaufleuten sowie der Elite der Zivilverwaltung und der Kolonialarmee gebildet wurde. Als örtliche Notablen beherrschten die Zuckerbarone das soziale Leben ihrer Gemeinden. Doch wurden die Eliten durch den kolonialen Absentismus spürbar geschwächt. Viele Plantagenbesitzer zogen Frankreich der Karibik vor und sahen in den Pflanzungen nur eine willkommene Einnahmequelle, die es ihnen erlaubte, in Europa ein luxuriöses Leben zu führen. Die Verwaltung ihrer Plantagen überließen sie Mittelsmännern vor Ort. Am anderen Ende der weißen Gesellschaft standen landarme oder landlose Siedler, Handwerker, Verwalter, Küstenschiffer und Kleinhändler. Diese Untergliederung zeichnet freilich ein unscharfes Bild von der weißen Gesellschaft. Zwischen den genannten Gruppen gab es eine Mittelschicht kapitalschwacher Pflanzer, die sich materiell nicht wesentlich von vielen freien Farbigen unterschieden. Neben den ortsansässigen „kleinen Weißen“, deren Existenz halbwegs abgesichert war, zog die Kolonie eine große Zahl von Menschen ohne soziale Bindungen an, die mit den zuvor Genannten wenig gemein hatten. Die urbanen Zentren Saint-Domingues waren überwiegend Hafenstädte. Viele ihrer Bewohner gehörten zur „amphibischen“ Bevölkerung, so genannt, weil sie regelmäßig vom Meer aufs Land und umgekehrt wechselte.[9] Die einlaufenden Schiffe tauschten regelmäßig einen Teil ihrer Mannschaften aus. Erkrankte oder rebellische Matrosen wurden von Bord gewiesen, viele desertierten. Sie zogen auf der Suche nach Arbeit übers Land, oder ließen sich erneut als Matrosen anwerben. Diese „amphibischen“ Unterschichten, wegen der Gefahren auf dem Meer im Umgang mit Waffen, meist sogar mit Kanonen geübt, bildeten in Krisenzeiten ein schwer kalkulierbares Unruhepotential.

II. Die Revolution von Saint-Domingue

Die große Zeitenwende von 1789 hatte sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Karibik bereits geraume Zeit zuvor angekündigt. Zwei politische Grundsatzdebatten drohten, die Grundfesten der kolonialen Ordnung zu erschüttern. Die erste stellte die Legitimität der unfreien Arbeit in Frage, die zweite drehte sich um das Maß an politischer Partizipation, das den karibischen Inseln zugestanden werden sollte. Die Philosophen der Aufklärung hatten zwar nicht einheitlich Stellung gegen die Sklaverei bezogen, eine Reihe prominenter Autoren verdammte sie jedoch grundsätzlich.[10] Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ argumentierte dabei naturrechtlich, Raynals „Geschichte beider Indien“, ein Bestseller seiner Zeit, gipfelte in der Ankündigung, dereinst werde das Unrecht der Sklaverei zum Umsturz der Verhältnisse in den Kolonien führen, ein schwarzer Spartacus werde die unterdrückten Afrikaner in die Freiheit führen. Diese publizistischen Attacken, formuliert von Raynals Co-Autoren Diderot und Pechmeja, erreichten ein breites Publikum und gelangten auch nach Saint-Domingue, wo sie unter anderem in die Hand belesener Haussklaven fielen. 1788 wurde in Paris mit der „Gesellschaft der Freunde der Schwarzen“ eine abolitionistische Vereinigung nach englischem Vorbild geschaffen, die zunächst den Kampf gegen den Sklavenhandel auf ihre Fahnen schrieb. Obwohl diese Entwicklung die Kolonisten beunruhigte, schätzten sie die Gefahr für ihr Eigentum nicht sonderlich hoch ein. Auch die nordamerikanische Revolution wurde von pathetischer Freiheitsrhetorik begleitet, doch am Ende ließ man die Sklaverei bestehen. Die kolonialen Lobbyisten, die sich ihrerseits organisierten, gaben sich angesichts der ökonomischen Bedeutung der Plantagenwirtschaften siegessicher. Ihr Ziel bestand nicht nur darin, die Sklaverei zu bewahren, sondern die gesamte Kolonialpolitik der Kontrollgewalt der Metropole zu entziehen, die bislang der Marineminister innehatte, bald darauf aber von der 1789 ins Leben gerufenen Pariser Nationalversammlung übernommen wurde. Früh offenbarten sich allerdings unüberbrückbare Interessengegensätze innerhalb der kolonialen Eliten. Auf der einen Seite standen die in Frankreich ansässigen reichen Absentisten, die vom „Club Massiac“ vertreten wurden.[11] Diese wollten die Herrschaft über Saint-Domingue an sich ziehen und sie aus der Ferne ausüben. Die in der Kolonie ansässigen Notablen forderten ihrerseits eine Vertretung in den französischen Generalständen, deren Einberufung 1789 den Beginn der Revolution markierte und die sich später gegen den Willen des Königs zur verfassungsgebenden Versammlung erhoben. Als entsprechende Wahlen für Saint-Domingue verboten wurden, gründeten örtliche Notable in jeder der drei Provinzen der Kolonie ein geheimes Komitee, um eigene Abgeordnete zu benennen. Damit begann die erste Phase der Revolution von Saint-Domingue.

Es waren zunächst einzelne Fraktionen der örtlichen Eliten, die sich gegen die absolutistische Kolonialregierung erhoben. Ihr Unmut richtete sich zum einen gegen die bestehenden Handelsbeschränkungen: Mit Ausnahme weniger Freihäfen durften die Kolonisten ihre Waren nur an französische Händler verkaufen, was ihnen trotz des weit verbreiteten Schmuggels empfindliche Einnahmeeinbußen bescherte. Einen weiteren Konfliktherd bildete die bestehende Militärverfassung. Da die Kolonie über eine Küstenlinie von über 1000 km Länge verfügte, war sie ohne Hilfe der Kolonisten nicht zu verteidigen. Dieser Umstand hatte die Kolonialregierung früh veranlasst, die Siedler zu Milizdiensten zu verpflichten. Die Kommandanten dieser Milizen stiegen neben den Zuckerbaronen zu den heimlichen Herrschern auf lokaler Ebene auf. Sie hatten nicht nur die Befehlsgewalt über die Kolonisten, sie wachten auch über die Durchführung der Gesetze und prüften die Steuererklärungen ihrer Mitbürger. Die Militärverfassung wurde folglich von vielen Pflanzern als Zumutung empfunden, doch zugleich hatte sie dazu geführt, dass die Masse der Kolonisten über Waffen verfügte. Die sich nun anbahnende Revolte der Weißen richtete sich auch gegen die Modernisierungsbestrebungen der Zivilverwaltung ihrer Kolonie. Seit 1785 trug François de Barbé-Marbois als Intendant für diese die Verantwortung. Er trat mit einem ambitionierten Reformprojekt an, das vor allem darauf zielte, die Infrastruktur der Insel zu verbessern und die Einnahmen des Fiskus zu erhöhen. Zum Bau von Straßen und Brücken griff er rigoros auf die corvée zurück, einen Frondienst, der die Kolonisten zwang, Sklaven unentgeltlich für öffentliche Arbeiten zur Verfügung zu stellen. Die öffentlichen Unternehmer, die im Auftrag des Intendanten die Straßen bauten, pflegten die ihnen anvertrauten Sklaven zu ruinieren, auch verloren gerade kleinere Pflanzer durch die corvée wichtige Arbeitskräfte. Zugleich erlaubte sich der Intendant mit seiner Finanzreform einen schweren Tabubruch. Bis zu seinem Amtsantritt bestanden die öffentlichen Finanzen aus einem anarchisch anmutenden Gewirr verschiedener Abgaben und Kassen. Augenscheinlich machten sich Staatsfunktionäre ebenso wie Kolonisten die Vorteile dieser Undurchschaubarkeit zunutze. Funktionäre, die öffentliche Mittel veruntreuten, gestatteten vielen Kolonisten, einen Teil ihrer Steuerlast als Schulden anschreiben zu lassen, die dann nicht eingefordert wurden – im Gegenzug wurde die Entwendung von Steuermitteln nicht kritisiert. Barbé-Marbois versuchte, ein übersichtliches Finanzsystem zu etablieren, reklamierte mit Entschiedenheit die ausstehenden Schulden und drohte damit, das Netz der Korruption zu zerschneiden. All dies trieb schließlich Notable und „kleine Weiße“ auf die Barrikaden. Ihr gemeinsamer Kampf gegen einen als „despotisch“ empfundenen Staat war zunächst erfolgreich. Die Nationalversammlung in Paris erkannte die Abgeordneten der Kolonisten an. Saint-Domingue erhielt das Recht, ein Kolonialparlament zu wählen. Der verhasste Modernisierer Barbé-Marbois verließ die Kolonie, nachdem man ihm offen mit Gewalt gedroht hatte.

Der Triumph der kolonialen Eliten über den Staat war freilich nur von kurzer Dauer. Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind hatte ihnen für kurze Zeit inneren Zusammenhalt verliehen; dieser ging verloren, als die Kolonialregierung am Boden lag. In der weißen Gesellschaft Saint-Domingues brachen nun alte Gegensätze auf, die bald bürgerkriegsähnliche Züge annahmen. Mächtige Interessengruppen versuchten, das entstandene Machtvakuum zu nutzen, um selbst die Herrschaft in der Kolonie an sich zu reißen – und sie zeigten keinerlei Bereitschaft, die anderen Kolonisten daran zu beteiligen. Hatte der Staat bislang als Schiedsrichter gewirkt, so erwiesen sich die konkurrierenden Notablen als unfähig, an die Stelle der alten Legalität eine neue zu setzen. Saint-Domingue war zudem durch einen ausgeprägten Regionalismus gekennzeichnet, der sich nun konfliktverschärfend auswirkte. Die Kolonie bestand aus zwei langgestreckten Halbinseln, die jeweils die Nord- und die Südprovinz bildeten und die durch die Westprovinz als Landbrücke verbunden wurden. Drei in West-Ost-Richtung verlaufende Höhenzüge der karibischen Cordilleren durchzogen diese Provinzen und bildeten natürliche Barrieren. Während sich die gesamte Infrastruktur der Kolonie zum Meer hin ausrichtete, wurde ihre innere Erschließung durch diese Gebirgszüge verhindert. Die einzelnen Provinzen standen infolgedessen kaum miteinander in Verbindung. Eine die ganze Kolonie überspannende Eliteformation mit unanfechtbarem Führungsanspruch konnte unter diesen Bedingungen nicht entstehen, und so erhielten die Unruhen der Jahre 1789 und ’90 zusätzlich eine regionalistische Note. Die Wahlen zum Kolonial- und zu den Provinzversammlungen standen unter diesem Vorzeichen. Das Zentralparlament Saint-Domingues, das in Saint-Marc (Westprovinz) tagte (April-August 1790), manifestierte bald autonomistische Tendenzen. Die Eliten der den Norden beherrschenden Hafenstadt Cap Français traten diesen Bestrebungen als Verteidiger des status quo entgegen und bezichtigten die Autonomisten des Verrats an Frankreich. Freilich fehlte den Autonomisten die Macht, sich in eine echte Unabhängigkeitsbewegung zu verwandeln. Drei Viertel aller weißen Kolonisten waren gebürtige Franzosen, mithin repräsentierten die Kreolen – üblicherweise die natürlichen Träger des Separatismus – nur eine Minderheit. Im August 1790 kam es zum offenen Eklat zwischen der Nordprovinz und der Versammlung von Saint-Marc. Der Gouverneur warf der Kolonialversammlung vor, sich vom Mutterland lösen zu wollen, und zerschlug sie militärisch. Er löste damit landesweite Unruhen aus. Handelte es sich zunächst um einen Machtkampf innerhalb der kolonialen Eliten, so ermutigte das allgemeine Chaos die „kleinen Weißen“, sich in den Konflikt einzumischen. Aus Armut weit mehr an persönlicher Bereicherung als an politischen Programmen interessiert, trieb ihr Eingreifen die allgemeine Destabilisierung voran.

Seit der Mitte des Jahres 1789 wurde die koloniale Revolution von einer weiteren Ebene überlagert, die schließlich die zweite Phase des Konflikts beherrschen sollte. Entgegen dem geltenden Recht waren die freien Farbigen Saint-Domingues von allen Wahlen ausgeschlossen worden. Der 1685 erlassene Code Noir, der die Prinzipien des Kolonialrechts festgelegt hatte, stellte Freie afrikanischen Ursprungs den Weißen weitgehend gleich. Die Erklärung der Menschenrechte vom August 1789 stärkte diese Position. Das Zensuswahlrecht bezog im Prinzip wohlhabende Farbige mit ein, die Weißen von Saint-Domingue hingegen hatten sie stillschweigend übergangen. Nach der Einberufung der Versammlung von Saint-Marc gingen die weißen Eliten einen Schritt weiter: Sie beanspruchten die Gesetzgebung in Kolonial- und damit auch in „Rasse“-Fragen für sich allein. Dies wäre auf eine Festschreibung der Sklaverei und der bestehenden „rassischen“ Hierarchien hinausgelaufen, und dagegen liefen die farbigen Plantagenbesitzer nunmehr Sturm. Ihre Lobby, geführt von Julien Raymond, versuchte die Pariser Nationalversammlung auf ihre Seite zu ziehen. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, beschloss eine kleine Zahl von Farbigen unter Führung von Ogé und Chavannes im Jahr 1790, in Saint-Domingue zu den Waffen zu greifen. Da ihre Schicksalsgenossen passiv blieben, brach der Aufstand rasch zusammen. Die Führer der Revolte wurden gefangen genommen und Anfang 1791 zum Tode verurteilt. Ihre Richter ließen sie in Cap rädern – eine besonders schmerzhafte Hinrichtungsart, die in Europa längst verschwunden war. Die Leichen wurden zur Abschreckung auf Pfählen ausgestellt, in vielen Städten folgten pogromartige Ausschreitungen gegen die Farbigen.[12] Erneut hatten die weißen Eliten Saint-Domingue einen höchst zweifelhaften Sieg errungen. Als gute Taktiker und schlechte Strategen gelang es ihnen, kurzfristig ihre Vorherrschaft abzusichern, doch hatten sie die farbigen Pflanzer auf üble Weise erniedrigt. Langfristig entfremdeten sie sich aus „rassischem“ Hochmut eine wichtige Fraktion ihrer Besitzklasse und machten sich damit auf Dauer einen potentiellen Verbündeten zum Feind. Als schließlich der Sklavenkrieg ausbrach, sollte ihnen dieses politische Fehlkalkül das Genick brechen.

In den Jahren 1789-91 veränderte sich die politische Landschaft Frankreichs und damit auch die Voraussetzungen der Kolonialpolitik maßgeblich. Kritiker wie Verteidiger der Sklaverei waren gleichermaßen in der Nationalversammlung vertreten. Der mächtige Club Massiac und die Kaufmannschaft der Atlantikstädte übten massiven Druck aus, um die Eigentumsrechte der Pflanzer und damit die Sklaverei zu bewahren. Sie erreichten, dass die Kolonialgesetzgebung einem von ihnen dominierten Komitee übertragen wurde, und setzten zugleich alles daran, jede öffentliche Erörterung des Themas zu unterbinden. Sklavereifeindliche Theaterstücke wie etwa jenes der Feministin Olympe de Gouges wurden abgesetzt, Abolitionisten von Schlägerbanden bedroht. Die sozialen Konflikte zwischen Eliten und städtischen Unterschichten konnten gerade in Paris schnell eskalieren, und in einer Zeit, in der revolutionärer Freiheitspathos immer stärker um sich griff, konnte ein offener Einsatz der Koloniallobby für die Sklaverei fatale Folgen für diese haben. Eine Übertragung der Gesetzgebung an im Geheimen tagende Zirkel und eine semantische Verschleierung der Sklaverei, die von den Verantwortlichen immer seltener offen beim Namen genannt wurde, schienen einen Ausweg aus diesem Dilemma zu bieten. Zugleich griff die Koloniallobby zunehmend auf nationalistische Diskurse und Appelle an die „Rassensolidarität“ zurück, um ihre Positionen unangreifbar zu machen. Die afrikanischen Sklaven seien zu primitiv, um die gleichen Rechte wie Europäer zu erhalten. Frankreich verdanke seine Prosperität vorrangig den Kolonien, und angeblich hingen bis zu 4 Millionen Arbeitskräfte im Mutterland unmittelbar von der Sklavenwirtschaft ab. Entsprechend brandmarkte man die Gegner des kolonialen Systems als Feinde Frankreichs – ihr Erfolg würde den ökonomischen Triumph des Erzfeindes England herbeiführen. Obwohl die meisten Behauptungen der Koloniallobby frei erfunden waren, hinterließen sie ihren Eindruck in der Öffentlichkeit.

Die erste Phase der Französischen Revolution endete in der kolonialen Frage mit einem Patt. Die Interessen der Besitzklassen setzten sich bis 1791 weitgehend durch. Selbst in der Frage der rechtlichen Gleichstellung der freien Farbigen schwankte die Nationalversammlung. Das Gesetz, das sie am 15. Mai 1791 zu ihren Gunsten erließ und das in Saint-Domingue die Solidarität der Besitzenden über die „Rassengrenzen“ hinweg erzwingen sollte, wurde vor Ort von den Weißen strikt zurückgewiesen. Dies nun führte zu einem Aufstand farbiger Plantageneigentümer im Norden und Westen der Kolonie. Eine weitere mächtige Konfliktpartei trat in die politische Arena. Die Nationalversammlung entschloss sich schließlich zur Intervention. Eine Zivilkommission wurde entsandt, um die Verantwortlichen der Unruhen dingfest zu machen und der französischen Justiz zu überantworten. Gleichzeitig wurden in Saint-Domingue Wahlen zu einem neuen Kolonialparlament ausgeschrieben. Doch führten diese Maßnahmen nicht zu einer Stabilisierung der Lage. Denn inzwischen hatten sich in Frankreich Dinge ereignet, die die Revolution in völlig neue Bahnen lenken sollte. Mitte Juni 1791 beschloss König Ludwig XVI., ins Ausland zu fliehen und von dort aus eine gewaltsame Gegenrevolution anzuführen. Die Revolution hatte dem Absolutismus ein jähes Ende bereitet und den Grundstein für eine konstitutionelle Monarchie gelegt. Der König unterwarf sich dieser Entwicklung nur zum Schein und suchte nach einer passenden Gelegenheit, den revolutionären Spuk zu beenden und seine alte Machtposition zurückzugewinnen. Seine Flucht zu Verbündeten am Rhein diente diesem Ziel. Doch der Monarch wurde vor der Grenze gefasst und nach Paris zurückgebracht. Dies stürzte zunächst das Königtum, bald auch das sie tragende Besitzbürgertum in eine Systemkrise, die schließlich 1792 in die Revolutionskriege, die Abschaffung der Monarchie und die Machtübernahme der Jakobiner mündete. Viele der reichen karibischen Absentisten hatten sich eng an die Krone gebunden und gingen gemeinsam mit ihr unter. Die Konsequenzen, die diese Radikalisierung der Revolution für die Kolonien hatte, ließen nicht lange auf sich warten.

Die Nachricht von der gescheiterten Flucht des Königs erreichte Saint-Domingue Mitte August 1791. Die ganze Kolonie schien zu diesem Zeitpunkt in Bewegung. Die Kämpfe mit den aufständischen Farbigen waren im vollen Gange, viele weiße Kolonisten verließen ihre Plantagen, um die Rebellen niederzuwerfen oder um an politischen Versammlungen teilzunehmen. Hunderte von ihnen waren unterwegs, um der Eröffnung der zweiten Kolonialversammlung beizuwohnen. Diese massenhafte Abwesenheit lockerte die soziale Kontrolle auf vielen Plantagen. Die Sklaven der Nordprovinz erreichte die Nachricht von der Gefangennahme Ludwigs XVI. zugleich als spektakuläres Gerücht: Der König habe die Abschaffung der Sklaverei beschlossen und sei von den Weißen mit Gewalt daran gehindert worden, dies in die Tat umzusetzen. Ihre Herren hatten über zwei Jahre hinweg ihre Differenzen vor den Augen ihrer Sklaven gewaltsam ausgetragen und einen Teil der Afrikaner sogar bewaffnet. Langsam und unmerklich hatte sich auf vielen Plantagen der Schutzwall aufgelöst, der die Herren in Form der privilegierten Haussklaven umgab. Letztere waren es, die über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügten und gelegentlich auch die Plantagen verlassen durften. Diese Gelegenheit nutzten Haussklaven der Nordprovinz, um sich heimlich zu treffen und einen Aufstand vorzubereiten. Mitte August 1791 war der Zeitpunkt zum Losschlagen aus den genannten Gründen besonders günstig.

Die Ereignisse des ersten Tages des großen Sklavenaufstands von Saint-Domingue sind mythenumrankt. Ihr historischer Kern lässt sich nur mit Mühe freilegen.[13] Lange Zeit galt eine nächtliche Voodoo-Zeremonie im Bois Caïman in der Nordprovinz als Startschuss der Revolte. Die Authentizität späterer Beschreibungen ist jedoch ebenso umstritten wie das Datum, an dem es stattfand. Um den 14. August 1791 trafen sich die Organisatoren des Aufstands – Haussklaven und Aufseher –, um ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren. An anderem Orte scheint unter Leitung des Voodoo-Priesters Boukman ein Blutbund zwischen Aufständischen geschlossen worden zu sein. Beide Ereignisse werden oftmals verwechselt. Eine Woche später (22. August) erhoben sich die Sklaven in den Gemeinden Acul und Limbé. In den darauffolgenden Tagen griff der Aufstand auf die Plantagen der reichen Ebene um Cap Français über, den Tagungsort des neuen Kolonialparlaments. Die Weißen wurden von der Insurrektion völlig überrascht. In kurzer Zeit lagen weite Teile der Nordprovinz in der Hand der Aufständischen. Zahlreiche Weiße wurden in diesem ersten Ansturm getötet, doch gingen die Aufständischen überwiegend gegen Kolonisten und Verwalter vor, die sie schlecht behandelt hatten. Viele Europäer flohen in die nahegelegenen Städte. Kolonisten, die vormals Offiziere gewesen waren, befestigten ihre Plantagen und organisierten den Widerstand. Der Sklavenkrieg verschärfte sich zusehends und die in Bedrängnis geratenen Pflanzer kannten bei der Aufstandsbekämpfung kein Erbarmen. Feldherren wie der Kaffeepflanzer und falsche Marquis de Rouvray drangen mit Stoßtrupps in das Aufstandsgebiet vor und massakrierten alle Schwarzen, die ihnen in die Hände fielen. Boukman, der zu den Aufstandsorganisatoren gehört hatte, geriet bald in Gefangenschaft der Weißen. Sein Kopf wurde neben dem eines Pfarrers aufgespießt, der sich den Schwarzen angeschlossen hatte. Kolonialarmee und Kolonisten gingen in die Gegenoffensive über und warfen das Gros der Aufständischen nieder. Die Führer der Revolte suchten um Verhandlungen nach, doch forderte das Kolonialparlament von ihnen eine bedingungslose Unterwerfung. Da die offene Konfrontation mit den gut ausgerüsteten Kolonialtruppen zu gefährlich wurde, griffen die Aufständischen mehr und mehr auf Praktiken des Guerillakriegs zurück. Sie konnten sich solange im Bergland halten, bis im Frühjahr 1792 in Europa die Revolutionskriege ausbrachen und Spanien in den Krieg eintrat. Ab diesem Zeitpunkt verbündeten sich die revoltierenden Sklaven, die offiziell für den König kämpften, mit den Spaniern und wurden von diesen mit Waffen versorgt. In der Westprovinz Saint-Domingues flammten unterdessen die Kämpfe zwischen Weißen und freien Farbigen von neuem auf. Die aus Frankreich entsandten Zivilkommissare versuchten vergeblich, die Kampfparteien zu versöhnen und mussten schließlich das Scheitern ihrer Mission eingestehen. Der Zerfall der Kolonie schien unmittelbar bevorzustehen.

In Paris war unterdessen ein neues Gesetz zur rechtlichen Gleichstellung der freien Farbigen erlassen worden. Die neue Nationalversammlung (Législative) beauftragte eine zweite Kommission mit seiner Umsetzung. Diesmal wurden ihnen mehrere Tausend Soldaten zur Verfügung gestellt. Die drei Kommissare Sonthonax, Polverel und Ailhaud begaben sich in den Hexenkessel eines kolonialen Kriegs, der zunehmend unübersichtlicher wurde und in eine Vielzahl von Teilkonflikten zerfiel – Ailhaud ergriff sehr bald die Flucht, die beiden anderen blieben. Die Fehden zwischen den weißen Kolonisten hörten mit dem Sklavenkrieg keineswegs auf, sondern verschärften sich sogar noch. Einzelne Zuckerbarone wie der Chevalier de Borel hielten sich Privatarmeen und fielen in Raubrittermanier in Nachbargemeinden ein. Nachdem die freien Farbigen der West- und Südprovinz sich erst einmal militärisch organisiert hatten, ließen sie sich nicht mehr demobilisieren. Sie blieben bis zur Unabhängigkeit ein politischer Faktor von Gewicht. Zugleich setzte eine Fluchtwelle ein, die viele weiße Kolonisten in die umliegenden Kolonien führte.

Die Kommissare Sonthonax und Polverel gehörten zum Jakobinerklub, dessen egalitäre Grundhaltung bekannt war. Die Kolonisten ahnten, dass hier zwei Feinde der Sklaverei mit quasi diktatorischen Vollmachten in Saint-Domingue gelandet waren. Der Jurist Sonthonax stieg bald zur prägenden Kraft der Kommission auf. Offiziell gehörte es zu seinen Aufgaben, die Unruhen einerseits, den Sklavenaufstand andererseits notfalls mit Gewalt zu beenden. Er nutzte seine Vollmachten, um die ihm feindlich gesinnte Kolonialversammlung aufzulösen, und begann, Farbige systematisch in militärische Kommandoposten zu bringen. Manifestierte sich offener Widerstand von Seiten der Weißen, ließ Sonthonax die Verantwortlichen verhaften und nach Frankreich verschiffen. Nachdem sich der ihm unterstellte Gouverneur Galbaud weigerte, mit ihm zusammenzuarbeiten, eskalierte der Konflikt in der Nordprovinz. Nur mit Hilfe aufständischer Sklaven gelang es Sonthonax, die in Cap verschanzten Anhänger des Gouverneurs niederzuwerfen. Koalitionsunfähig und nicht bereit, ihren Rassedünkel zu überwinden, hatten sich die weißen Eliten mehrheitlich gegen Frankreich erhoben und damit selbst ins Abseits manövriert. Sonthonax dekretierte im August 1793 die Abschaffung der Sklaverei, in der Hoffnung, damit einen Teil der inzwischen mit den Spaniern verbündeten Schwarzen auf seine Seite zu ziehen. Tatsächlich gelang es ihm, die meisten der ihm feindlich gesinnten Kolonisten aus Saint-Domingue zu vertreiben. Wenig später landeten im Süden und Norden englische Truppen, um die Kolonie zu erobern. Viele französische Pflanzer verbanden mit der englischen Invasion die Hoffnung, die alten Verhältnisse wiederherstellen zu können, und schlossen sich deshalb den Feinden Frankreichs an. Im Februar 1794 bestätigte der französische Konvent die Abschaffung der Sklaverei und dehnte sie auf alle kolonialen Besitzungen aus. Einer kleinen Gruppe intriganter Kolonisten war es inzwischen gelungen, die Abberufung der beiden Zivilkommissare zu erwirken, denen Verrat an der Revolution vorgeworfen wurde. Allein die Kolonialarmee und ihr Gouverneur Laveaux hielten nach der Verhaftung von Sonthonax und Polverel im Chaos des tropischen Mehrfrontenkriegs die Stellung.[14] Mit der Flucht vieler weißer Kolonisten waren die freien Farbigen auf republikanischer Seite zur prägenden Kraft aufgestiegen, als ein bis dahin kaum bekannter Offizier der schwarzen Revolte auf die Bühne trat, der schließlich zum Revolutionsführer aufsteigen sollte.

Toussaint Louverture, um den es hier geht, war 1743 als kreolischer Sklave auf der Plantage des Grafen Noé geboren worden. Er stammte direkt vom König der Arada (Dahomey), Gaou-Guinou ab, und er wusste um seine fürstliche Herkunft. Freigelassen, hatte er bis zur Revolution ein bescheidenes Dasein als Grundbesitzer mit eigenen Sklaven geführt und sich zu einem unbekannten Zeitpunkt der Sklavenrevolte angeschlossen.[15] Die Aufstandsführer Biassou und Jean-François verstanden sich nicht als Revolutionäre mit weitreichenden Visionen. Spanien hatte sie zu Verbündeten und Offizieren gemacht, und dies genügte ihnen. Toussaint Louverture befehligte in ihrem Auftrag die strategisch wichtige Ebene von Gonaives. Als er 1794 beschloss, die Seiten zu wechseln, befand sich die Republik gerade in einer wenig beneidenswerten Lage. Über seine Motive, die Seiten zu wechseln, ist viel gerätselt worden. Strebte er als Sprössling aus Fürstengeschlecht nach der Macht und nutzte dabei die Freiheitssehnsucht der Schwarzen nur als Vehikel, oder hatte er die Eroberung der Kolonie als Heimstatt ehemaliger Sklaven zu seinem Lebenswerk erkoren? Mit letzter Sicherheit lässt sich diese Frage nicht beantworten, beide Intentionen schließen sich keineswegs aus. Im Gegensatz zu den anderen schwarzen Aufstandsführern hatte er eine Vision, erwies sich als brillanter Feldherr und Politiker. Nachdem er sich der Republik angeschlossen hatte, begann er, die Mächte gegeneinander auszuspielen. Die Invasoren Spanien und England führten in Saint-Domingue einen Abnutzungskrieg gegen die französische Armee, ohne einen entscheidenden Sieg zu erringen. Währenddessen schonte Louverture seine Kräfte und stieg mit ihrer Hilfe nach dem Rückzug Spaniens 1795 zur beherrschenden Kraft der Kolonie auf. Seit 1797 Gouverneur der Kolonie, drängte er alle Vertreter Frankreichs nach und nach ins Abseits. Großbritannien musste einsehen, dass eine Eroberung der Insel nicht zu bewerkstelligen war, und zog sich 1798 zurück. Der Weg zur Macht stand Louverture nunmehr offen.[16]

Das Projekt des schwarzen Machthabers lässt sich mit wenigen Punkten charakterisieren. Unmissverständlich strebte er nach einem Autonomiestatus, wenn nicht gar nach der Unabhängigkeit von Frankreich. Es war nicht sicher, ob dies seinem Machtinteresse oder der realistischen Einschätzung zuzuschreiben war, dass die Abschaffung der Sklaverei nicht von Dauer sein würde. Das zweite Ziel bestand in der Wiederherstellung der Plantagenwirtschaft, allerdings ohne Sklaverei. Ein schwarzes Autonomieprojekt war ohne eine solide finanzielle Basis nicht zu realisieren, und Alternativen zur Zucker- und Kaffeewirtschaft gab es nicht. So führte Louverture neue Formen des Arbeitszwangs ein und rief weiße Kolonisten als Investoren ins Land.[17] Bis 1802 gelang ihm auf diese Weise ein beachtlicher Aufschwung, das Produktionsniveau blieb freilich weit unter dem der vorrevolutionären Zeit, was angesichts der kriegsbedingten Zerstörungen auch nicht weiter verwunderlich war. Doch die Masse der ehemaligen Feldsklaven hatte es satt, auf den Zuckerplantagen zu arbeiten. Sie strebten ein Dasein als Kleinbauern mit eigener Parzelle an, die allein der Selbstversorgung diente. Toussaint Louverture blieb zwar ihr Held, seinen politischen Visionen hingegen verweigerten sie sich. Als Napoleon 1802 kurzfristig Frieden mit Großbritannien schloss, entsandte er eine militärische Expedition nach Saint-Domingue, um dem schon weit fortgeschrittenen Autonomieprojekt Louvertures ein gewaltsames Ende zu bereiten. Zunächst kapitulierten die Schwarzen vor der Übermacht der französischen Streitkräfte, und der schwarze Gouverneur wurde gefangen genommen. Er starb bald darauf in französischer Festungshaft. Als die Sklaverei wieder eingeführt wurde, erhoben sich die Schwarzen. Ein verheerender, mit großer Grausamkeit geführter Guerillakrieg folgte, der 1803 mit der Niederlage der Franzosen endete. Die Kolonie erklärte am 1.1.1804 ihre Unabhängigkeit und nahm den Namen Haiti an. Der erste Staat Lateinamerikas lebte zwei Jahrzehnte mit der Gefahr einer gewaltsamen Rückeroberung durch Frankreich. Erst 1825 erkannten die einstigen Kolonialherren die Unabhängigkeit Haitis an, zwangen es aber im Gegenzug zur Zahlung einer hohen Entschädigungssumme an die ehemaligen Plantagenbesitzer.

Die siegreiche Sklavenrevolution hinterließ nicht nur in der Karibik und den USA, sondern auch in Europa einen tiefen Eindruck. Viele weiße Kolonisten aus Saint-Domingue waren nach Jamaica, Cuba, Venezuela und in die USA geflüchtet. Sie übten erheblichen Einfluß auf die öffentliche Meinung ihrer Gastländer aus. Unfähig, die eigene Verantwortung für den Sklavenaufstand zu erkennen, machten die karibischen Vertriebenen die „Philanthropen“, d.h. die Gegner der Sklaverei, für das hereingebrochene Unheil verantwortlich. Ihre Agitation hatte schwerwiegende Konsequenzen. Namentlich in Cuba und dem Süden der USA – Louisiana gehörte zu Siedlungsschwerpunkten der Flüchtlinge – hat sie die friedliche Beseitigung der Sklaverei um Jahrzehnte verzögert, galt doch eine Kritik an dieser Institution fortan als krimineller Akt. Zugleich hatten die Emigranten erheblichen Anteil am Aufbau der Plantagenwirtschaften ihrer Gastländer.

Doch die Revolution von Saint-Domingue kam auch den Gegnern der Sklaverei zugute. In einer Reihe von Ländern löste sie kleinere Aufstände der Zwangsarbeiter aus, die freilich ausnahmslos gescheitert sind. 1795 beispielsweise führte José Leonardo Chirino im venezolanischen Bergland von Coro eine schwarze Insurrektion an, die sich auf das Vorbild Saint-Domingues berief. Auch in Louisiana wurde die Lage bedrohlich. Die von den französischen Flüchtlingen mitgebrachten Sklaven standen im Ruf, mit revolutionärem Gedankengut infiziert zu sein.[18] In den spanischen Kolonien des nördlichen Südamerika verhalf der haitianische Einfluss den afrikanischen Zwangsarbeitern sogar zur Freiheit. Als die südamerikanische Unabhängigkeitsbewegung in die Defensive geraten war, erhielt Simón Bolívar, einer ihrer Führer, von dem damals bereits unabhängigen Haiti materielle Unterstützung. Im Gegenzug verpflichtete er sich, im Falle seines Sieges die Sklaverei zu beseitigen. Bolívar hat sein Versprechen gehalten.[19] Daneben prägt die haitianische Revolution das politische Bewusstsein vieler Afroamerikaner bis in unsere Tage. Der Triumph ehemaliger Sklaven über drei europäische Großmächte, ihre Machtübernahme und die Vertreibung der weißen Herren – all dies stand in einem so deutlichen Kontrast zur Lebenswirklichkeit amerikanischer Schwarzer, die wegen ihrer Hautfarbe von Geburt an schwerwiegende Nachteile erleiden mussten und die am Boden einer neuen, unangreifbar wirkenden „Rassen“-Hierarchie lebten: Die Sklavenrevolution lieferte den Beweis, dass solche Machtverhältnisse nicht ewig währen. Entsprechend interpretierten viele Afroamerikaner dieses historische Ereignis als Beweis ihrer eigenen Stärke.[20] Die Vergangenheit wird hier nicht akademisch angegangen – als tote Materie – sondern politisch – als Hoffnungsspender und Teil einer eigenen afroamerikanischen Erfolgsgeschichte, deren Abschluss noch in ferner Zukunft liegt.
Auch im deutschsprachigen Raum stieß das epische Ereignis des Sklavenkriegs auf breites Interesse.[21] Alle wichtigeren Bücher zum Sklavenkrieg wurden ins Deutsche übersetzt, so etwa Bryan Edwards‘: „Geschichte des Revolutionskrieges in Sankt Domingo“ (1798). Heinrich von Kleist, in der gleichen Festung wie der Aufstandsführer Toussaint Louverture inhaftiert, widmete dem Umsturz eine Novelle: „Die Verlobung in St. Domingo“. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass im frühen 19. Jahrhundert auf dem deutschsprachigen Buchmarkt weit mehr Titel über Haiti zu kaufen waren als in unseren Tagen. Über die Gründe für dieses Interesse lässt sich nur spekulieren. Die Revolution als welthistorisches Ereignis weckte Sehnsüchte gerade in jenen Ländern, in denen ein ähnliches Ereignis ausblieb. Als exotisches Thema profitierte es von der hohen Nachfrage nach Reiseliteratur. Zudem hatten die Schwarzen von Saint-Domingue mit Napoleon den gleichen Feind wie die deutschsprachigen Staaten Mitteleuropas, und in der Karibik wurde der Korse weit früher besiegt als in Europa.

Wie eingangs bereits erwähnt, gehört Haiti heute zu den ärmsten Ländern des Westens, und in vieler Hinsicht ist diese Armut eine späte Last des kolonialen Erbes. Die Sklaverei war ein überaus gewaltsames System, das die ihm Unterworfenen entzweite, moralisch korrumpierte und von jeglicher Bildung fernhielt. Die Sklaven hatten als Zwangsgemeinschaften keine gemeinsamen Traditionen und Normen. Nahezu mittellos wurden sie in die Freiheit entlassen. Die langjährigen Kriege bis zur Unabhängigkeit zerstörten die Infrastruktur der Kolonie und militarisierten die schwarze Gesellschaft. Die Nachbarländer behandelten die Schwarzenrepublik wie einen Paria. Zur Wiederbelebung seiner Plantagen fehlte das nötige Kapital. All dies waren denkbar schlechte Ausgangsbedingungen für die Gründung einer Nation. Die Freiheit bedeutete deshalb für das haitianische Volk einen Aufbruch in neue Abhängigkeiten. Den Preis für das Interesse unserer europäischen Vorfahren an Zucker und Kaffee zahlen die Nachfahren der Sklaven noch heute.

Quellen

Endnoten    (↵ returns to text)

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Jiménez, Camilo: Tagebuch eines Ehrgeizigen. Arthur Schopenhauers Studienjahre in Berlin, 11.08.06

Einleitung

Die folgende Arbeit befasst sich mit dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer und seinem Leben als Student der Friedrich-Wilhelms Berliner Universität. Schopenhauer lebte zwischen 1811 und 1813 in Berlin, wo er drei Semester studierte. Diese Jahre stehen für die erste von drei Perioden, die Schopenhauer in Berlin verbrachte: 1820 kehrte er in die Stadt zurück und blieb dort bis 1822, während er dort als Privatdozent tätig war. 1825 kam er wieder nach Berlin und lebte dort bis zum Ausbruch der Cholera-Seuche im Jahr 1830, wobei er ein Einzelgänger im intellektuellen Milieu der Berliner Universitätsphilosophen blieb.

Die drei Berliner Aufenthalte Arthur Schopenhauers bieten aufschlussreiche Einblicke für die Erforschung der frühen Geschichte der Berliner Universität.

In Glossen, Notizen-, Vorlesungs- und Studienheften, Briefen, Gesprächen sowie in den Vorworten und an zahlreichen Stellen seiner philosophischen Werke zeigte sich Schopenhauer — als Student, Doktorand und Privatdozent — als unermüdlicher und ständiger Kritiker der Berliner Universität, besonders ihrer zwei wichtigsten Akteure: Fichte und Hegel.

Diese Kritik an die Universitäts-Philosophie, die oft nur als willentlicher und sarkastischer Spott betrachtet wird, vermochte die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen allerdings kaum zu erregen. Das allgemeine Desinteresse an Schopenhauers Aversion gegen Hegel und die Universität allgemein hatte zunächst bei den Studierenden und Kollegen, aber langfristig auch in der akademischen Umgebung deutscher Universitäten eine unmittelbare Wirkung auf das philosophische und biographische Ansehen Schopenhauers. Nicht ohne Grund entzündete sich das Interesse für sein Werk und seine Person erst 1848, zwölf Jahre vor seinem Tod, als um die Zeit der März-Revolution auch der Gesamtanspruch des Deutschen Idealismus’ obsolet wurde und die Philosophie neue Wege ging, wobei Schopenhauers Willens-Lehre eine wichtige Rolle spielte.

Aber obgleich Schopenhauers Teilnahme am Diskurs der Universitäts-Philosophie keine historische Relevanz zuerkannt werden kann, haben seine Berliner Jahre — dies bestätigen alle wichtigen Biographen des Philosophen sowie die detaillierte Studie des Schopenhauer-Forschers Yasuo Kamata — eine für die Begriffsentwicklung des jungen Schopenhauer wesentliche Bedeutung. Schopenhauer war nie gerne in Berlin. Trotzdem befand sich dort die Universität, wo er als Student zwischen dem 23. und 25. Lebensalter zu den Überzeugungen kam, die ihn allmählich dazu führten, Fichtes Bewusstseinslehre abzulehnen und sich somit von dem aufblühenden Deutschen Idealismus definitiv abzugrenzen. Dort verfasste er einen großen Teil seiner Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Vermutlich sind die Grundlagen seines philosophischen Hauptwerks, Die Welt als Wille und Vorstellung, ebenfalls dort entstanden. Auch war Berlin der Ort, wo der 32-jährige zwischen 1820 und 1822 — unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung —sich vergeblich als großer Philosoph und Antipode Hegels zu etablieren versuchte; wo er sich als Dozent versuchte und in dem Vorhaben vollkommen scheiterte. Es ist nicht zuletzt auch der Ort, wo der Philosophie Professor zwischen 1825 und 1830 auch die unfruchtbarste Periode seines Lebens erlebte.

Eine kritische Gesamtdarstellung von Schopenhauers Berliner Jahren existiert bisher nicht. Trotzdem haben neueste Auseinandersetzungen sowohl mit dem Leben des Philosophen[1] als auch mit der Geschichte der Berliner Universität[2] Schopenhauers drei Berliner Perioden eine beträchtliche Bedeutung zuerkannt. Es ist die Absicht der vorliegenden Arbeit, sich einer der drei Berliner Aufenthalte — nämlich dem ersten — kritisch zu nähern.

Die folgenden Seiten bieten eine Darstellung vom Leben des Studenten Arthur Schopenhauer. Folglich werden neben dem Berliner Aufenthalt zwischen 1811 und 1813 die zwei Jahre miteinbezogen, die der junge Schopenhauer zuvor als Medizin-Student in Göttingen verbrachte. Besonders berücksichtigt wird hier das zugängliche Quellenmaterial. Der vorliegende Text will diese Dokumente im biographischen Kontext der Studienjahre Schopenhauers einordnen anstatt sie selbst zu analysieren. Auch werden fünf der einschlägigsten Werke über das Leben Schopenhauers zu Rate gezogen, nämlich die Biographien von Wilhelm vom Gwinner, Eduard Grisebach, Arthur Hübscher, Walter Schneider und Rüdiger Safranski.

Der Medizin-Student in Göttingen

Am 9. Oktober 1809 immatrikulierte sich der 21-jährige Arthur Schopenhauer als Student der Medizin an der Göttinger Universität. Vier Semester verbrachte Schopenhauer in Göttingen, bevor er nach Berlin abreiste, um dort das Studium der Philosophie zu beginnen. Von diesen zwei Jahren in Göttingen weiß man, dass sie dafür ursächlich waren, dass der einst überzeugte Medizinstudent seine Absichten in dem Bereich aufgab und sich für die Philosophie entschied.[3]

Und in der Tat verwandelte sich das Medizinstudium an der Göttinger Institution bereits nach dem ersten Semester zu einer Beschäftigung mit der Medizin, vor allem aber mit den Naturwissenschaften und der Philosophie. Schopenhauers Biograph Eduard Grisebach — zusammen mit Wilhelm von Gwinner eine der wichtigsten Quellen zur Lebensgeschichte Schopenhauers — beide haben den Philosophen persönlich gekannt — berichtet, es sei im Sommersemester 1810 gewesen, als Schopenhauer zum Entschluss gekommen sei, sich dem Studium der Philosophie zu widmen.[4] Schopenhauers Vorlesungshefte sowie die Register der Universitätsbibliothek liefern ein anschauliches Bild dieses Wandels.

Ein Vergleich von Schopenhauers Fächerauswahl[5] im Wintersemester 1809/10 und dem darauf folgenden Sommersemester zeigt drei relevante Änderungen im Studienplan des Medizinstudenten. Zum einen fällt sofort auf, dass weder Anatomie, die Schopenhauer bei Hempel neben Naturgeschichte und Mineralogie bei Blumenbach, Mathematik bei Thibaut und „Staatengeschichte“ bei Heeren im Wintersemester besucht hatte, noch andere Fächer der Medizin auf dem Studienkalender für das Sommersemester 1810 erscheinen. Dagegen vermehren sich die naturwissenschaftlichen Fächer auf dem Plan: Er besuchte Vorlesungen über Chemie bei Stromeyer, Physik bei Tobias Mayer und Botanik bei Schrader.

Zweitens muss man die Vorlesung über die „Geschichte der Kreuzzüge“ beim Historiker Arnold Heeren sowie die über „Allgemeine Philosophie“ bei dem damals berühmten Philosophen Gottlob Ernst Schulze hervorheben, die Schopenhauer auch während des zweiten Göttinger Semesters hörte. Der Autor der anonym veröffentlichten Kritik der Kantischen Vernunftkritik Aenesidemus oder die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie habe dem jungen Studenten geraten, „sich im ‚Privatfleiß’ nur Platon und Kant zuzuwenden und keinen anderen zu sehen, nämlich nicht den Aristoteles und den Spinoza.“[6] Es scheint, dass der Einfluss Schulzes eine bedeutende Rolle bei Schopenhauers Abwendung von der damals aufkeimenden nachkantischen Entwicklung der deutschsprachigen Philosophie spielte. Und das, obwohl Schopenhauer in den Randglossen der Vorlesungshefte vom „Rindvieh Schulze“ sprach, den Vortragenden öfters für einen „Sophisten“ hielt und den Vorlesungsstoff nicht selten als „Gewäsch“ oder „Unsinn“ bezeichnete.[7] Er blieb dennoch Zeit seines Lebens dankbar gegenüber Schulze,[8] an dessen viva vox im Vorlesungssaal er sich Jahre später im Gespräch mit Julius Frauenstädt erinnerte.[9]

Entschlossen, Philosophie zu studieren, besuchte Schopenhauer Schulzes Vorlesungen weiter: eine über „Metaphysik und Psychologie“ im dritten und noch eine über „Logik“ im vierten Semester.

Die dritte Neuigkeit in Schopenhauers Studienplan im zweiten Semester an der Göttinger Universität ist der lateinische Privatunterricht, den Arthur wöchentlich bei Professor Kirsten besuchte. Seine „Freizeit“ in Göttingen, welche mit dem Desinteresse an der medizinischen Fakultät zunehmend länger wurde, verbrachte Schopenhauer fern vom so genannten „Studentenleben“. Zusätzlich zum Lateinunterricht widmete er täglich mehrere Stunden der Nachlektüre von den von Professor Kirsten besprochenen lateinischen Autoren. Außerdem weiß man, dass Schopenhauer das Flötenspielen weiter lernte, dass er sogar Gitarrenunterricht nahm, dass er ein in der Stadt bekannter Spaziergänger war und ansonsten hauptsächlich dafür sorgte, sich genügend Zeit für die Bewältigung seines ehrgeizigen Studienplans zu nehmen.

Zu den erwähnten Vorlesungen kamen dann im dritten und im vierten Semester die Philosophievorlesungen Schulzes sowie Vergleichende Anatomie und „Physiologie“ bei dem von ihm geschätzten Professor Blumenbach zu[10]; dann im Wintersemester 1810/11 Vorlesungen über Physik, Astronomie und Meteorologie bei Tobias Mayer sowie „Alte Geschichte“ bei Heeren; und zuletzt — im Sommersemester 1811 — eine Vorlesung über „Alte Geschichte und Ethnographie“ bei Heeren und „Reichsgeschichte“ bei Lüder.

Der persönliche Studienplan Arthur Schopenhauers in Göttingen bestand allerdings nicht nur aus Vorlesungen, die er oft ungern besuchte,[11] sondern auch im privaten Studium der Schriften Fichtes und Schellings. Arthur Hübscher, Biograph und Herausgeber von Schopenhauers Werken und Briefen, bestätigt — nach einer Prüfung der Ausleih-Register der Göttinger Universitätsbibliothek —, dass Schopenhauer sich schon bald von Fichtes und Schellings nachkantischen Lehren, die unter Studenten und Lehrenden en vogue waren, wieder abwandte[12]. Stattdessen, so Hübscher, habe sich Schopenhauers Denken, „Schulzes Rat gemäß, in der geistigen Nachfolge Platons und Kants“ gebildet. „Aristoteles, Spinoza und nicht minder Leibniz (…) bleiben zunächst beiseite“[13]: In der Tat waren die ersten Bücher, die Schopenhauer aus der Bibliothek entlieh, zwei Schriften Schellings, Von der Wertseele und Idee zu einer Philosophie der Natur, sowie die gesamten Dialoge Platons in der Schleiermacherschen Übersetzung[14]. Das Wintersemester 1810/11 begann für Schopenhauer — nach der Lektüre von Schulzes Aenesidemus und von der „Metaphysik“ Vorlesung Schulzes beeinflusst — „mit einem nachhaltigen Studium Platons und Kants“[15]. Zu Anfang des Sommersemesters 1811 entlieh er die Kritik der reinen Vernunft, worauf die systematische Auseinandersetzung mit den Schriften Kants im Herbst folgte[16].

Trotz des engen Kalenders des Medizinstudenten Schopenhauer und seiner allgemeinen Aversion gegen das Studentenleben in Göttingen („man schlüge überhaupt viel zu viel Zeit mit den Collegen todt“[17] pflegte Schopenhauer regen Umgang mit Kommilitonen, insbesondere mit zwei Schulfreunden aus dem Gymnasium in Gotha, Friedrich Gotthilf Ossan[18] und Ernst Anton Lewald; mit dem US-Amerikaner William Backhouse Astor, dem sich Schopenhauer „der Sprache halber“ genähert hatte, und der später als Begründer der Astor Bibliothek in New York Millionär wurde; sowie mit Christian Carl Josias von Bunsen.[19] Die Gruppe Schopenhauer, Astor und Bunsen hieß schon bald der „Göttinger Bund“, von dem Bunsen und Schopenhauer bis ins hohe Alter sprachen[20].

Grisebach berichtet außerdem von einem Göttinger Tischgenossen Schopenhauers, Karl Peck, von dem man weiß, dass er Jahre später den Philosophen Schopenhauer zu Besuch hatte und, nachdem der eher unangenehme Besucher fort war, seine Meinung zu dem Altbekannten grundlegend änderte[21].

Besonders gut verstand sich Arthur Schopenhauer mit Carl Bunsen, „dem Leibgesellschafter Schopenhauers“ — wie ihn Carl Georg Bähr einmal nannte[22] -, der auf Schopenhauer den Eindruck eines Genies machte. Arthur lud ihn nach Weimar ein, um die Osterferien im Haus seiner Mutter zu verbringen.

In diese Zeit fällt das erste Treffen des eher schüchternen Schopenhauer mit Goethe.[23] Schopenhauer brachte während dieser Weimarer Ferien seinen Freund Bunsen ins Haus des Dichters, Philosophieprofessors und Lehrer des Fürstensohns Christoph Martin Wieland mit.Zwei schriftlich festgehaltene Gespräche mit dem Weimarer Dichter[24] sowie ein Brief von Wielands Enkelin,[25] Wilhelmine Schorcht, dokumentieren die Besuche im März 1811 bei Wieland. Schopenhauer war von seinem Vorhaben, nach Berlin zu ziehen und Philosophie zu studieren, überzeugt. Im Gespräch mit Wieland gelang es ihm, die Vorbehalte des alten Professors gegenüber dem Philosophiestudium auszuräumen („Sie haben recht getan [dass Sie richtig gewählt haben], junger Mann, ich verstehe jetzt Ihre Natur; bleiben Sie bei der Philosophie“.[26] Jahre später, so beschrieb Carl August Bähr, stand eine Büste Wielands auf einem Postament im Arbeitszimmer von Schopenhauers Frankfurter Wohnung.[27] Über Schopenhauers Besuch schrieb die Enkelin Wielands ihrem Freund, dem Juristen Karl Reinhold:

”Neulich war der junge Schopenhauer auf einige Zeit in W[eimar]. Er kam von ganz filosophischen Ideen voll, er hat sich einer Filosofie mit Leib und Seele ergeben (ich weiß sie nicht namentlich zu sagen), die sehr streng ist; jede Neigung, Begierde, Leidenschaft müssen unterdrückt und bekämpft werden, dazu wünsche ich ihm nur die erforderliche Kraft, den Krieg zu bestehen, denn es gehört wohl eine Riesenseele dazu, die Forderungen alle ganz zu erfüllen, wie er den guten Willen hat.”[28]

Biographen wie Hübscher und Grisebach sind der Meinung, dass die Göttinger Jahre „für den Grund und die Richtung“ des Denkens des jungen Schopenhauers entscheidend waren:[29] Der 68-jährige Schopenhauer selbst erwähnte einmal seinem Freund Carl Georg Bähr gegenüber die Bedeutung der Studienjahre in Göttingen[30]. Andere Biographen, wie Schneider[31] und Safranski,[32] oder Forscher des „jungen Schopenhauer“ wie Kamata[33] weiten diese Periode auf die ersten Berliner Jahre aus und gehen davon aus, dass die Semester in Göttingen mit der darauf folgenden Zeit in Berlin Teile des gleichen Entwicklungsprozesses sind. Auch wenn eine erste Annäherung an die Naturwissenschaften sowie der Beginn des Studiums Platos und Kants in Göttingen geschahen, war es erst in Berlin, wo Schopenhauer Kant gründlich studierte, sich eigene philosophische Prinzipien aneignete und, konfrontiert mit den Ansichten des gängigen Deutschen Idealismus’ diesen zu verachten erlernte.

Nach Ende des Sommersemesters 1811 verließ Schopenhauer Göttingen mit der Absicht — trotz aller Liebe zum Harz und allen Abscheus gegen Berlin —, in die preußische Großstadt zu ziehen, um Fichte, Wolf und Schleiermacher[34] zu hören und den weit gerühmten Geist der Universitätsphilosophie näher kennen zu lernen[35].

Die Reise nach Berlin

Schopenhauer traf Anfang Oktober 1811 in Berlin ein. Nach dem vierten Semester in Göttingen und dem eher übereilten Abschluss des Medizinstudiums war Schopenhauer den Sommer lang aus eigenem Wunsch in den Harz gereist, bevor es im Frühherbst desselben Jahres endgültig nach Berlin hieß. Dies geschah entgegen dem Wunsch der Mutter, die den Sohn lieber in Weimar gesehen hätte. Die Liebe Schopenhauers zur Göttinger Landschaft, schreibt Grisebach,[36] war stärker. Und so blieb Goethes eher reservierter Empfehlungsbrief (und einige Bücher, die der große Dichter auch nach Berlin schicken wollte) in Weimar.

Aus der Reise im Harz stammt ein einziges Dokument, das Auskunft über Schopenhauers Begeisterung für das geplante Philosophiestudium und seinen Geisteszustand gibt. Es handelt sich um einen Text, der am 8. September einige Wochen vor der Ankunft in Berlin wahrscheinlich in Ellrich im Harz verfasst wurde. Es handelt sich dabei, was allerdings noch umstritten ist[37], vermutlich um einen Brief an seine Schwester Adele:

Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein
steiler Pfad über die spitze Steine und stechende Dornen: er ist einsam und wird immer öder je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen kennen, sondern muß alles hinter sich lassen, und sich getrost im kalten Schnee seinen Weg selbst bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht unten das grüne Thal: dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab; aber muß sich halten und sollte er mit dem eigenen Blut die Sohlen an den Felsen kleben. Dafür sieht er bald die Welt unter sich, ihre Sandwüsten und Moräste verschwinden, ihre Unebenheiten gleichen sich aus, ihre Misstöne dringen nicht hinauf, ihre Rundung offenbart sich. Er selbst steht immer in reiner, kühler Alpenluft und sieht schon die Sonne wenn unten noch schwarze Nacht liegt.

Einen Trost gibt es, eine sichere Hoffnung, und diese erfahren wir
vom moralischen Gefühl. Wenn es so deutlich zu uns redet, wenn wir im Innern einen so starken Bewegungsgrund auch zur größten, unserm scheinbaren Wohl ganz widersprechenden Aufopferung fühlen: so sehen wir lebhaft ein, daß ein anderes Wohl unser ist, demgemäß wir so allen irdischen Gründen entgegenhandeln sollen; daß die schwere Pflicht auf ein hohes Glück deutet, dem sie entspricht: daß die Stimme, die wir im Dunkeln hören, aus einem hellen Orte kommt. —Aber kein Versprechen gibt dem Gebote Gottes Kraft, sondern sein Gebot ist statt des Versprechens…
Diese Welt ist das Reich des Zufalls und des Irrthums: darum sollen wir nur nach dem streben, was kein Zufall raubt, und nur das behaupten und nach dem handeln, worin kein Irrthum möglich ist.”[38]

Berlin hatte Schopenhauer bereits während eines kurzen Besuches im Jahr 1800 und nochmals am Ende seiner Europa Reise im Jahr 1804 kennen gelernt — und verabscheut:[39] Die Luft war voll mit vom Wind aufgewühlten Sand. Die Bewohner bedrückten ihn.[40] Die Abneigung gegen Berlin blieb ein Leben lang[41]. Mit Sarkasmus schrieb er mehr als vierzig Jahre später an seinen Freund Julius Frauenstädt: „Viel Selbstmord in Berlin? Glaub’s; ist physisch und moralisch ein vermaledeites Nest, und ich bin der Cholera sehr dankbar, daß sie mich vor 23 Jahren daraus vertrieben hat (…)“[42].

Universität

Berlin war trotz der Abneigung Schopenhauers ein Ort, wo der Philosoph wichtige Schritte in seinem Bildungs- und Begriffentwicklungsprozess machte. Zunächst entdeckte er seine Antipathie gegen die Universitätsphilosophie – was später mit der Bekanntschaft mit Hegel umso noch stärker werden sollte.

Er erlangte Kenntnisse von Fichtes und Schellings Bewusstseinsphilosophie sowie von Kants Vernunftkritik.Diese wirkten bei aller Ablehnung des damals aufblühenden Deutschen Idealismus’ bei der Entwicklung des eigenen Gedankengebäudes nach. Eine Grundvoraussetzung dafür war die intensive Beschäftigung mit Kant. Als Student in Berlin entwarf Schopenhauer die Vorarbeiten seiner Dissertationsschrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Wichtige Überlegungen, die später in Die Welt als Wille und Vorstellung grundlegend sind, entstammen zumindest im Grundriss ebenfalls dieser Zeit.

Diese Vielfalt an Beschäftigungen während etwa anderthalb Jahre war nur mit einer strengen Disziplin zu bewältigen. Wie in Göttingen hielt sich Schopenhauer auch in Berlin fern vom Leben der societé der aufwachsenden Metropole. Es liegen keine Briefe aus dieser Zeit vor;[43] man weiß lediglich, dass er sein Studium im Herbst 1812 einmal unterbrach, um die Ferien bei seiner Mutter und Schwester in Dresden und Leipzig zu verbringen.[44] Alle gesellschaftlichen Kontakte, von denen man in späteren Briefen und Gesprächen erfährt, fanden innerhalb der universitären Umgebung statt.

Tatsächlich war das einzige Anliegen des 23jährigen Studenten, zwei Jahre lang in Berlin zu bleiben und sich dort zu „rüsten, [um] bei der hochansehnlichen philosophischen Fakultät der Berliner Universität den Doktorgrad im verordneten Wege zu erlangen.“[45] Schopenhauer ließ sich folglich von dem ihm bereits aus dem Weimarer Kreis seiner Mutter Johanna bekannten Zoologieprofessor Lichtenstein über die „Bedingungen und Erfordernisse“[46] zur Erfüllung seines Vorhabens informieren und machte sich an die Bewältigung seines anspruchsvollen Studienplans.

Der Studienplan

In den drei Berliner Semestern absolvierte Schopenhauer ein gewaltiges Pensum. Grisebach behauptet, Schopenhauer sei die „24 Bücher allgemeiner Geschichte“ im ersten Semester durchgegangen.[47] Schopenhauers Studienhefte zeugen von den vielfältigen intellektuellen Beschäftigungen des jungen Studenten, vor allem der unermüdlichen Auseinandersetzung mit Kants Schriften, die bis zur Abfahrt Schopenhauers von Berlin im Jahre 1813 fortgeführt wurde und im Heft „Zu Kant“[48] dokumentiert ist. Aus den Vorlesungsheften[49] weiß man, dass Schopenhauer in diesem ersten Wintersemester 1811/12 neun Kurse besuchte: Drei Vorlesungen Fichtes („Über das Studium der Philosophie“, „Über die Tatsachen des Bewußtseins“ und „Über die Wissenschaftslehre“); „Experimentalchemie“, „Magnetismus“ und „Elektrizität“ bei Martin Heinrich Klaproth; „Ornithologie, Amphibiologie, Ichtyologie“ bei Paul Eman; die Vorlesung „Über weißblutige Tiere und Haustiere“ bei Lichtenstein; und „Nordische Poesie“ bei Rühs. Besonders gefiel Schopenhauer Lichtensteins Kollegium,[50] wo ihm, so Hübscher, die beliebte Stunde zur „lebendigen Anschauung“ in den zoologischen Gärtnern und Menagerien vorbehalten war.[51]

Im zweiten Semester, von Fichte bereits geistig distanziert[52], hörte Arthur Schopenhauer im Fach Philosophie lediglich Schleiermachers Vorlesung über die „Geschichte der Philosophie zur Zeit des Christentums“. Das Sommersemester 1812 wird durch ein gesamtwissenschaftliches Interesse Schopenhauers charakterisiert. Er blieb den Naturwissenschaften treu und besuchte zwei Kollegien Lichtensteins, „Zoologie“ und „Entomologie“, sowie Weiß’ Kurs über „Geognosie“. Schopenhauer richtete sein Interesse aber auch auf die Vorlesungen des Altertumsforschers Friedrich August Wolf, mit dem Schopenhauer zunächst aufgrund der Berühmtheit seiner Mutter Johanna in den Hofkreisen in Weimar in einem guten Verhältnis stand[53]. Damit befasste sich Schopenhauer wieder mit humanistischen Fächern. Neben Wolfs Vorlesungen, „Über die Wolken des Aristophanes“ und „Über die Satiren des Horaz“, gab es die Vorlesung des damals nur 25jährigen Altertumsforschers Phillip August Boeckh, „Über das Leben und die Schriften Platons“, ein Kollegium, das Schopenhauer, so Schneider[54], aus Zeitgründen nicht besucht hatte, von dem er aber aus den Skripten seines Freundes Carl Iken erfuhr.

Der Studienplan für das letzte Semester des Studenten Arthur Schopenhauer in Berlin, das Wintersemester 1812/13, folgte seinem Interesse für eine gesamtwissenschaftliche Ausbildung. Beim Humanisten Wolf lernte Schopenhauer über „Griechische Altertümer“ in einer für den jungen Studenten reizvollen Vorlesung, um deren Hefte er dann von Wolf gebeten wurde. Diese bekam Schopenhauer dann mit Verbesserungsvorschlägen und einer aufmunternden Widmung zurück[55]. „Physik“ hörte Schopenhauer bei Fischer, „Astronomie“ bei Bode, „Allgemeine Physiologie“ bei Horkel, „Zoologie“ bei Lichtenstein und „Anatomie des menschlichen Gehirns“ bei Rosenthal.

Der Unterricht von Rosenthal fand oftmals in der Berliner Charité statt, wo, so Gwinner, „zwei in der sogenannten melancholischen Station detinirte Unglückliche [Schopenhauers] Interesse erregten“[56]. Die Patienten seien geistesgestört, aber im Bewusstsein ihrer Krankheit gewesen. Schopenhauer habe ihnen Mitleid gezeigt; dafür seien ihm „interessante Gefühle und Gedanken“ mitgeteilt worden. Einem der Kranken habe der 24jährige Student sogar eine Bibel geschenkt. Als Dank habe Schopenhauer am Ende des Wintersemesters von ihnen zwei Geschenke bekommen: eine biblische Textauswahl von dem einen und ein Gedicht von dem anderen, welches lautete:

„Dem Edlen, welcher hold erscheint,
Auch dem, der in der Zelle weint,
Der leidende Menschenfreund.“[57]

Die Studien- und Vorlesungshefte

Bei jeder Vorlesung bekam Arthur Schopenhauer ein Heft, auf dem die für jede Sitzung vorgesehenen Vorträge standen. Fiel dem jungen Schopenhauer beim Verfolgen der Vorlesung etwas ein, so merkte er es an den Texträndern des jeweiligen Vorlesungsheftes an. Besonders auffällig sind die turbulenten Hefte aus Fichtes Vorlesungen[58]. Die drei Dokumente zeugen von Schopenhauers ersten verehrenden und respektvollen Anmerkungen zum gefeierten Autor der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre; jedoch aber zeigen sie auch an zahlreichen Stellen, wie, so Hübscher, diese „Verehrung a priori“ sich rasch in „Geringschätzung und Spott verwandelte“[59].

„Fichtes Vortrag ist wohl deutlich und er spricht langsam, doch verweilt er mir zu lange auf leicht zu verstehenden Dingen und wiederholt sie mit anderen Worten, so daß die Aufmerksamkeit ermüdet, das schon Begriffene wieder anzuhören, und man eher dadurch zerstreut wird“,

so heißt es nach dem ersten Vortrag über „das Studium der Philosophie“[60]. Ähnliche, abgemilderte Kritiken zeigen die ersten Protokolle aus den anderen zwei Vorlesungen Fichtes. Nach dem ersten Vortrag über die „Wissenschaftslehre“ zitiert z.B. Schopenhauer die englischen Versen: „Though this be madness/yet there’s method in it“[61]. Dem Titelblatt dieses Heftes fügte er den Verweis auf eine Fußnote neben der Rubrik „Wissenschaftslehre“ hinzu: So befindet sich unten auf dem Blatt ein Sternchen und neben diesem die Anmerkung: „vielleicht ist die richtige Leseart Wissenschaftsleere“[62]. Auf der Rückseite desselben Titelblatts stehen zwei Zitate: ein längerer Absatz von Kant über die Lüge und die Verse Goethes: „Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, /Es müsse sich dabey doch auch was denken lassen— “.

Schopenhauers sorgfältiges Studium der Philosophie und die intensive Auseinandersetzung mit Fichte zeitigten aber nicht lediglich Spott und Sarkasmus. Im Einklang mit Hübscher[63] und Safranski[64] zeigt der japanische Schopenhauer-Forscher Yasuo Kamata[65] anhand der sog. Frühen Manuskripte[66] Schopenhauers sowie seinerVorlesungs- und Studienhefte, dass der Besuch der Fichteschen Vorlesungen (und auch natürlich das Studium von Fichtes Schriften, welches unter dem Titel „Zu Fichte“ in den Studienheften protokolliert ist[67] eine entscheidende Rolle in der Begriffsentwicklung des jungen Philosophen spielte. Ein Dialog sei in den Glossen und Notizen entstanden. Man könne z.B. den Prozess verfolgen, wie Schopenhauer sich vom Begriff des Absoluten zur konkreten Vorstellung, „zu genauer Beobachtung und Begriffsentwicklung“ abwendete. Aus dem Fichteschen und Schellingschen ‚empirisches Bewußtsein’ sei Schopenhauers unabhängiges, ‚besseres Bewusstsein’ entstanden[68]; Modifikationen vom ‚intellektuellen’ bzw. ‚intelektualen’ Anschauungskonzept Fichtes und Schellings seien vollzogen worden[69]. Die für Schopenhauers Weltvorstellung grundlegende Idee einer ‚Duplizität des Bewußtseins’ sei aufgetreten[70]; und der Auftakt des Schopenhauerschen Willensbegriffes und der Schopenhauerschen „Lösung“ vom Problem des Kantischen Dings an sich ebenso geschehen[71]. Diesen letzten Schritt erörtert Hübscher wie folgend:

„Inzwischen ist die Synthese von Platons Idee und Kants Ding an sich erfolgt. (…) Vom Willen wird nichts gesagt. Scheinbar unvermittelt wird kurz darauf die Alleinherrschaft des einen weltschaffenden Willens verkündet: ‚Die Welt als Ding an sich ist ein großer Wille (…)’. Von der Idee wird hier nichts gesagt. Immer mehr führt die Überzeugung dazu (…), den Willen aller verstandesmäßigen Elemente zu entkleiden, ihn als blind und ziellos aufzufassen. Aber sollen Willens- und Ideenlehre nun im unbestimmten Nebeneinander bleiben? Plötzlich kommt, wie ein Blitz der Evidenz, der Zusammenschluß beider Gedankenreihen. ‚Der Wille’, heißt es, ‚ist die Idee’—ein Satz, der in einer späteren Fußnote sogleich widerrufen wird: ‚Das ist unrichtig: die adäquate Objektivität des Willens ist die Idee.“[72]

Indem dieser Prozess während der drei Berliner Semester zustande kommt, wächst die Empörung gegen Fichte in den Randglossen der Vorlesungshefte weiter. In der Vorlesung über die „Wissenschaftslehre“ heißt es: „Das Ich ist, weil es sich setzt, und setzt sich, weil es ist“; dies bereitete Schopenhauer Gelegenheit zur Ironie: Am Rand, neben dem Satz, malte er einen Stuhl.[73] Auf dem Heft der fünften Sitzung von „Über die Tatsachen des Bewußtseins“ scheint Schopenhauer von der Vorlesung ermüdet. Er kritzelt auf dem Rand:

„Ich muß gestehen, daß Alles hier gesagte mir sehr dunkel ist, ich es auch unrecht verstanden haben mag; auch daß F[ichte] in dieser Vorlesung Vieles gesagt hat, was ich durchaus nicht verstanden habe. Ob Fichte Schuld zu geben ist, oder meinen Mangel an Aufmerksamkeit, an gehöriger Stimmung dazu, oder an Verstande, oder endlich meinem Befangen-seyn in der kantischen Elementarlehre, weiß ich nicht.“[74]

Sechs Wochen danach, als „über die Reflektion“ gesprochen wird, schreibt er wütend über Fichtes Vortrag:

„In dieser Stunde hat er außer dem hier Aufgeschriebenem Sachen gesagt die mir den Wunsch auspressten, ihm eine Pistole auf die Brust sezzen zu dürfen und dann zu sagen: sterben muss du jetzt ohne Gnade; aber um deiner armen Seele Willen, sage ob du dir bey dem Gallimathias etwas deutliches gedacht hast oder uns blos zu Narren gehabt hast?“[75]

Und noch in der letzten Sitzung wird der vortragende Professor — diesmal wegen eines aufgedeckten Trugschlusses — bezüglich des Inhalts kritisiert:

„Nach F[ichte] ist die Ersch[einung] (das Ich und die Welt) uns nur faktisch bekannt, d.h. als Tatsache gegeben, und zwar ganz wie sie ist in dem Sicherscheinen d.h. in der Trennung des Ich von seinen Vorstellungen. Dies Getrennt-seyn nun (Subjekt und Objekt) wird erklärt aus dem was er (vel quasi) herleitet aus jenem faktisch gegebenen, also aus sich selbst. Folglich wird nichts erklärt, sondern gesagt: es muß so seyn, weil es ebenso ist. —‚Der Rest ist —Wind.’ Hamlet“[76]

Nicht nur Fichte war Gegenstand heftiger Kritik. Auch der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde von Schopenhauer in den Studien- und Vorlesungsheften in einem, so Hübscher[77], „kühnen, selbstbewussten Ton“ angegriffen[78]. „Keiner der religiös ist“, steht es in einer Glosse im Heft zur Vorlesung „Über die Geschichte der Philosophie zur Zeit des Christentums“, „gelangt zur Philosophie; er braucht sie nicht. Keiner der wirklich philosophirt ist religiös: er geht ohne Gängelband, gefährlich aber frey“. Schopenhauer antwortete somit auf eine genau gegensätzliche Behauptung Schleiermachers. Aber die Beziehung Schopenhauers zum Philosophen und Theologen Schleiermachen war verschieden von der Verehrung, die Schopenhauer für diesen als Philologe und Übersetzer Platos fühlte[79]. Gwinner berichtet, dass Schopenhauer von Schleiermacher „köstliche Anekdoten“ zu erzählen gewusst habe, dass er seinen Witz gelobt und vor allem den Satz: „[A]uf Universitäten lerne man nur, was man nachher zu lernen habe“ sehr gemocht habe[80].

Der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling wurde, wie Schleiermacher, von Schopenhauer mit größerem Respekt als Fichte behandelt. „Schelling (…), entschieden der Begabteste unter den Dreien [den drei Hauptgestalten des deutschen Idealismus’, Fichte, Schelling und Hegel]“ schrieb Schopenhauer Jahre später in Parerga und Paralipomena[81]. Schopenhauers Studium von Schellings Schriften entwickelt sich in drei Studienheften, „Schelling I“, „II“ und „III“[82], und ist genauso reich an Randglossen und Kommentaren wie die übrigen Studienbücher Schopenhauers. Wie schon erwähnt bildet die Bearbeitung des Schellingschen Willensbegriffes wahrscheinlich die wichtigste Stelle der Auseinandersetzung Schopenhauers mit Schelling[83].

Aber wichtiger als Schelling, Schleiermacher oder Fichte war Schopenhauers Beschäftigung mit Kant während der drei Berliner Semester. Die Notizen im Heft „Zu Kant“, welche zwischen 1812 und 1813 entstanden, enthalten die Ergebnisse einer kritischen Studie der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der Urteilskraft und der Prolegomena. Arthur Hübscher meint, dass die dort formuluierte Kant-Kritik noch von der Kritik in Die Welt als Wille und Vorstellung stark abweiche. „Neben dem ‚Phänomenalismus’“, schreibt Hübscher, „(…) und neben den Hauptsätzen der transzendentalen Ästhetik und der Lehre vom intelligiblen Charakter übernimmt Schopenhauer damals noch, mit Einschränkungen, die Lehre von den Kategorien. Sonst aber lehnt er Kants Philosophie noch immer und manchmal mit großer Schroffheit ab.“[84] Andere Forscher denken jedenfalls, dass vor allem Schopenhauers Auseinandersetzung mit Kants „problematischem“ Ding an sich in diesen Semestern besonders zu berücksichtigen sei[85]. Es ließe sich sogar behaupten, dass Fichte — zumindest mit seinem anti-empirischen Ansatz und als Partizipant der früh nachkantischen Polemik um Kants Ding an sich —auf Schopenhauers Idee von zwei von einander abgetrennten Bewusstseinswelten gewirkt und zusammen mit Plato einen besonderen Einfluss auf die einige Jahre später von Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung völlig entfaltete Lösung zu diesem kantischen Dualismus gehabt habe.

Die drei Semester zwischen Herbst 1811 und Frühling 1813 sind geprägt von der Anpassung des jungen Schopenhauers auf die akademische Umgebung und die Erfordernisse der akademischen Beschäftigung mit der Philosophie. Man kann aber den Wert nicht gering achten, den die anderen Fächer und die sie lehrenden Dozenten für die geistige Entwicklung des Philosophen hatten. In dem 1820 an die Berliner Universität ausgehändigten lateinischen Lebenslauf erinnert sich Schopenhauer: „Dem großen Verdienst dieser ausgezeichneten Männer um mich werde ich stets dankbaren Sinnes eingedenk bleiben.“ Und dann fügte er über Fichte, den bisher unerwähnt geblieben war, hinzu: „Auch Fichten, der seine Philosophie vortrug, folgte ich, um sie nachher um so gerechter beurteilen zu können, aufmerksam“[86].

Nicht nur im einsamen Studium oder im stillen Sitzen im Hörsaal focht Schopenhauer während dieser anderthalb Jahre einen inneren Kampf um seine Philosophie aus. Bekannt ist, dass er einmal während der Sprechstunde Fichtes eine heftige Diskussion mit dem Professor auslöste, „deren sich die dabei zugegen Gewesenen vielleicht erinnern werden“[87]. 42 Jahre später erzählte Schopenhauer seinem Freund Carl Heber folgendes über das Geschehen: „In dem philosophischen Conservatorium, das Fichte hielt, habe er (Schopenhauer), vierundzwanzig Jahre alt, ihn auf den Hund gesetzt, worauf Jener (wenn ich richtig verstanden habe) sich durch Verlegung der Stunde zu helfen gesucht, dann aber Schopenhauer wieder eingeladen habe, was aber abgelehnt worden sei“[88].

Der Berliner Freundeskreis

Von den freundschaftlichen Beziehungen Schopenhauers während der ersten Berliner Zeit weiß man wenig. Es lässt sich vermuten, dass Schopenhauers ehrgeizige Attitüde als Student dafür sorgte, dass sein Freundeskreis in Berlin sehr klein blieb und dass seine Beziehungen, gute und schlechte, sich im engen Rahmen seines akademischen Umfelds beschränkte. Der Streit mit Fichte war lediglich eine von mehreren Gelegenheiten, in denen Schopenhauer sich öffentlich zu erkennen gab. Gute Beziehungen unterhielt der eifrige Student, soweit man dies von den Quellenzeugnissen ableiten kann, mit den Dozenten Wolf, Lichtenstein und Blumenbach[89].

Schopenhauers Kommilitone in Göttingen, das „Wunderkind“ Karl Witte, den der Philosoph im Winter 1818/19 traf, schrieb in einem Brief an Wilhelm von Gwinner, dass „[u]ngünstige Urtheile“ über Schopenhauer aus Weimar und Berlin, wo Wittes Eltern gewohnt hätten, verbreitet worden seien[90]. Derselbe Witte berichtet aber, dass er in seinen vielen Treffen mit dem Philosophen „nichts Schlechtes an ihm“ bemerkt habe[91].

Schopenhauers Umgang mit seinen Freunden unterschied sich grundsätzlich von seinem sonstigen sozialen Verhalten. Mit Carl Iken, den Schopenhauer im ersten Berliner Semester im zoologischen Kollegium bei Lichtenstein kennen lernte und mit dem er im Herbst zusammen nach Dresden fuhr, behielt der Philosoph eine ausgezeichnete Beziehung bis ins hohe Greisenalter[92]. Seinem Freund Julius Frauenstädt erzählte Schopenhauer Jahre später, dass er Iken immer für das, „was Jean-Paul ein passives Genie nennt“, gehalten habe. Iken habe große Empfänglichkeit für alles Ästhetische gehabt, selbst aber nichts hervorbringen können[93]. Iken schrieb, wie bereits oben angeführt, für Schopenhauer während des zweiten Semesters in Boeckhs Vorlesung „Über das Leben und die Schriften Platons“ mit. Die beiden Freunde hätten gemeinsame Interessen gehabt: Einmal — berichtet Frauenstädt — habe Iken Schopenhauer Christian Reuters Satire Schelmuffsky’s Abenteuer zu Wasser und Land geliehen und der junge Philosoph sei „ganz vernarrt in dieses Buch gewesen“[94].

Zu solchen literarischen „Intimitäten“ gelang Schopenhauer mit keinem anderen seiner Berliner Kommilitonen. Aber in sehr guten Verhältnissen stand der junge Philosoph noch mit zwei Mitstudierenden, Josef Gans und einem gewissen Helmholtz, dieser letzte vermutlich der Vater des prominenten Physikers. Außer diesen drei Beziehungen und der oben erwähnten Beziehung zu den zwei Geisteskranken in der Charité weiß man nichts weiteres über Schopenhauers Freundeskreis — sofern man von einem solchen überhaupt sprechen kann — während der Studienzeit in Berlin.

Ob Frauen unter Schopenhauer Bekanntschaften in Berlin waren, ist von keiner Quelle herzuleiten. Man weiß, dass Schopenhauer fast zehn Jahre später eine Geliebte (Caroline Medon) in Berlin hatte und, wie er Julius Frauenstädt einmal erzählt habe, er sei im Punkte der Geschlechtsliebe kein Heiliger und „arg nach Weibern gewesen“; er habe „in Italien nicht blos das Schöne, sonder auch die Schönen genossen“[95].

Schopenhauers Frauenfeindlichkeit ist allgemein bekannt. Von Beziehungen zu Frauen während dieser Berliner Semester berichten weder die vorliegenden Dokumente noch Schopenhauers Biographen – sogar Safranski, der neueste unter den Biographen, wagt die Vermutung, dass Schopenhauers sexuelle Abstinenz bzw. dass seine „sehr späte Pubertät“ Effekte auf die eigene Begriffsentwicklung gehabt habe, besonders auf das Erscheinen eines „besseren Bewusstseins“, welches unabhängig von den Sinnen und vom Verstand immer noch in uns lagere, unsere Welt aber beherrsche[96]. Safranski schreibt:

„Schopenhauer hat Pech gehabt. Ihm widerfuhr bis zu dem Zeitpunkt, als er seine Blitze gegen die Sexualität schleuderte, kein Liebeserlebnis, bei dem er die Sexualität als etwas hätte erleben können, das in die ganze Person integriert ist, das die ganze Person schwungvoll mit auf Reisen nimmt. Dort, wo er Sexualität fand, liebte er nicht, und wo er liebte, blieb die Sexualität ausgegrenzt.

(…) Wir haben in der Regel gegen unsere Sexualität keine Chance, lehrt er. Als die grellste Manifestation des ‚Willens’ ist sie das ‚Ding an sich’ in Aktion, blamiert das arme Ich und treibt es vor sich her. Die Sexualität als Blamage der Selbstherrlichkeit hat Arthur Schopenhauer sehr konkret erlebt in seinen unbefriedigenden Verhältnissen zu Frauen.
Er hat Pech gehabt.“[97]

Unmittelbar betroffen von Schopenhauers Misogynie — zumindest teilweise — waren seine Mutter Johanna und besonders seine Schwester Adele gewesen. Der Briefwechsel mit Adele, im Unterschied von der seit frühester Jugend untergekühlten und distanzierten Korrespondenz mit der Mutter, bezeugt eine lebenslang emotional wechselhafte Beziehung zwischen den Geschwistern. Die drei bekannten Brüche in der Familie Schopenhauer geschahen erst nach Arthurs Studienzeit in Berlin: zum ersten Mal im Jahr 1814, dann 1819 und schließlich 1832. Trotzdem hat man herausfinden können, dass die anderthalb Jahre, die Schopenhauer ausschließlich dem Studium in Berlin widmete, sich verschlechternd auf die familiären Beziehungen auswirkten[98]. Nach der Abreise von Berlin traf Schopenhauer in Weimar ein, kam aber nicht zum Familienhaus sondern wohnte in einem Gasthof[99]. Ein Brief von der ersten Hälfte des Jahres 1814 liegt vor, den Johanna Schopenhauer ihrem Sohn schrieb, in dem ihm mitgeteilt wurde: „Seit unserer letzten Unterredung habe ich mir fest vorgenommen lieber Arthur, nie wieder von Geschäften mündlich mit Dir zu sprechen, weder von angenehmen noch unangenehmen, weil meine Gesundheit dabei leidet“[100]. Im selben Jahr brach die familiäre Beziehung zusammen.

Die Abreise

Ab Neujahr 1813 ist Berlin von der wachsenden Erregung über die sich nähernde militärische Auseinandersetzung mit Napoleon erfasst[101]. Russische Kosakentruppen kommen zwischen dem 16. und dem 17. Februar, „mit Jubelgeschrei vom Pöbel empfangen und an einigen Stellen auch kräftig unterstützt“[102], in der Stadt an. Tausende Berliner begeben sich auf die Flucht und emigrieren aus der militarisierten Stadt, hauptsächlich nach Frankfurt an der Oder und Breslau. „Die Stadt glich einem Hexenkessel“, wird berichtet[103]: Kosaken und Patrioten befinden sich in einem tödlichen Kampf gegen die in Berlin eindringenden Franzosen. Was zuerst in Straßenkämpfen die Angst der Berliner Einwohnern erweckt, wird am 20. Februar, als die Stadt nach einer Explosion verbarrikadiert und die Sicherheitsmaßnahmen an fast jeder Ecke verschärft werden, zum „erregendste[n] Tag, den Berlin seit Beginn des Krieges erlebt“ habe[104]. Über die „fieberhafte Unruhe“, die die Stadt seit diesem Tag erfasst, wird in einem zeitgenössischen Bericht erzählt[105]. Der König von Preußen entschließt sich am 23. Februar zum Bruch des Bündnisses mit Napoleon. Am 26. März wird die Landwehr in Berlin einberufen: Alle männlichen Einwohner vom 17. bis zum 40. Lebensjahr müssen sich kampfbereit vor den Zelten des Militärs in der Stadt melden (was übrigens großes Echo findet). Über die Lage in der Stadt zitiert Rüdiger Safranski den Bericht Bettina von Armins:

„Während Landsturm und Landwehr in Berlin errichtet wurden, war ein seltsames Leben da. Da waren alle Tage auf offener Straße Männer und Kinder (von 15 Jahren) von allen Ständen versammelt, die dem König und Vaterland schwuren, in den Tod zu gehen (…). Auch war es seltsam anzusehen, wie bekannte Leute und Freunde mit allen Arten von Waffen zu jeder Stunde über die Straßen liefen, so manche, von denen man vorher sich’s kaum denken konnte, dass sie Soldaten wären. Stelle Dir zum Beispiel in Gedanken Savigny vor, der mit dem Glockenschlag 3 wie besessen mit einem langen Spieß über die Straße rennt (…), der Philosoph Fichte mit einem eisernen Schild und langen Dolch, der Philologe Wolf mit seiner langen Nase hatte einen Tiroler Gürtel mit Pistolen, Messern aller Art und Streitäxten an gefüllt (…).“[106]

Der Krieg gegen Napoleon beginnt am 28. März. Schlacht um Schlacht nähert sich Napoleon Berlin. Bei Lützen wird am 2. Mai die Lage am kritischsten. Schopenhauer ist von den Unruhen auch betroffen. Er beschließt, Berlin zu verlassen. 1820 erinnert er sich an die Tage:

In Berlin wäre ich zwei Jahre lang geblieben, wenn mich
nicht während des letzten Halbjahres, 1813, die Kriegsunruhen
vertrieben hätten (…). Da jedoch infolge des ungewissen
Ausgangs des Treffens bei Lützen die Stadt Berlin bedroht
schien (…) [und] ich (…) es für das beste hielt, dem Feind
entgegenzugehen, so richtete ich meinen Weg nach Dresden,
wo ich nach mancherlei Zwischenfällen und Gefährden
endlich am zwölften Tage ankam.[107]

In einem Brief an Professor Eichstädt, den Dekan der philosophischen Fakultät Jena, erzählt Schopenhauer über seine Entscheidung:

„Als zu Anfangs dieses Sommers der Kriegslärm von Berlin (…) die Musen verscheuchte (…) zog ich auch, da ich einzig zu ihren Fahnen geschworen hatte, in ihrem Gefolge von dannen (nicht sowohl deshalb), weil ich, durch besondere Verkettung der Umstände überall fremd, nirgends Bürgerpflichten zu erfüllen hatte, als vielmehr, weil ich aufs tiefste von der Überzeugung durchdrungen war, daß ich nicht dazu geboren sei, der Menschheit mit der Faust zu dienen, sondern mit dem Kopfe, und daß mein Vaterland größer als Deutschland sei.“[108].

Das Projekt, den Doktorgrad an der Berliner Universität zu erlangen, war gescheitert[109], und Schopenhauer, der sich einige Monate zuvor in dieser Sache an den Rektor der Universität Jena gewandt hatte, reiste im Sommer 1813 nach Dresden und von dort nach Weimar. Während fünf Jahre gibt sich dann der Philosoph — nach seiner Flucht aus Berlin — „der Arbeit seines Lebens“ hin[110]. „Die Stunde des Schauens und Schaffens“, wie Hübscher diese Zeit nach 1813 bezeichnet,[111] hinterlässt Schopenhauers Dissertationsschrift und sein Werk, Die Welt als Wille und Vorstellung. Dafür hat sich Schopenhauer in Rudolstadt niedergelassen, nicht weit entfernt von Weimar, aber weit genug, um die „häuslichen Missverständnisse“, die ihm missfielen, zu vermeiden und „sich zu den unauspresslichen Reizen der dortigen Gegend“ begeben zu können.[112] Im Gasthaus „Zum Ritter“ bleibt Schopenhauer bis zum 5. November. Dann, die Dissertation schon abgegeben, zieht er nach Weimar. Am Fenster der Herberge lässt er die folgende Inschrift zurück:

„Arth. Schopenhauer majorem anni 1813 partem in hoc conclave degit.
Laudaturque domus, longos quae prospicit agros.“[113]

Quellen

Von Arthur Schopenhauer:

Sekundär-Literatur

Abkürzungsverzeichnis

  • B =Gesammelte Briefe (1978)
  • G = Gespräche (1971)
  • HN = Der handschriftliche Nachlass, 1. Bd. (1966) & 2. Bd. (1967)
  • WWV = Die Welt als Wille und Vorstellung (1938)
  • P = Parerga und Paralipomena (1938)
Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Safranski (2004), S. 183-227 und 372-432.
  2. Gerhardt/Reinhard/Rindert (1999): Teil II, Kap. 8, a („Der Randgänger als Querulant: Arthur Schopenhauer“) S. 112-114.
  3. „Nachdem ich aber mich selbst und zugleich die Philosophie, wenn auch nur oberflächlich, so doch einigermaßen kennen gelernt hatte, änderte ich meinen Vorsatz, gab die Medizin auf und widmete mich ausschließlich der Philosophie.“, aus: B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 110).
  4. Grisebach (1897), S. 55.
  5. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 111).
  6. Hübscher (1952), S. 37 ff.
  7. HN 2. Bd., S. 13.
  8. Hübscher (1952), 37 ff.
  9. G, Nr. 231: Julius Frauenstädt.
  10. Den Physiologen Johann Friedrich Blumenbach wusste Schopenhauer in einem späteren Gespräch mit Julius Frauenstädt zu loben, in dem er jenen zusammen mit Schulze, als er sich an die Studien Jahre erinnerte, wie folgend beurteilte: „Wenn da ein Docent lebhaft ist, so kann er mächtig wirken“ (G, Nr. 231: Julius Frauenstädt); auch seinem Freund Carl Georg Bähr fiel besonders auf, dass Schopenhauer, als er über die an der Universität erworbenen Kenntnisse sprach, immer sagte: „(…) was sagt hier Blumenbach (…)“ oder „ah, das steht bei Blumenbach da und da (…)“ (G, Nr. 357: Carl Georg Bähr).
  11. „…ich hätte oft weit mehr zu Hause aus guten Büchern, als in den Hörsälen aus den Vorlesungen gelernt…“: G, Nr. 231: Julius Frauenstädt.
  12. Hübscher (1952), 39 f.
  13. Hübscher (1973), S. 170.
  14. Hübscher (1973), S. 112.
  15. Hübscher (1973), S. 129-30.
  16. Die ersten Randglossen Schopenhauers zu Kants Kritik der reinen Vernunft stammen aus dieser Zeit (siehe: Ibid).
  17. G, Nr. 231: Julius Frauenstädt
  18. Ossan war bereits ein Kamerad Schopenhauers aus der Jugendzeiten in Weimar und blieb lebenslang sein Freund, dessen Sohn mit der Zustimmung Schopenhauers den Namen Arthur erhielt.
  19. Sowohl Julius Frauenstädt (G, Nr. 231) als auch Wilhelm Gwinner (G, Nr. 441) bestätigen, dass in späteren Gesprächen mit Schopenhauer dieser immer sich an die Freunde Astor und Bunsen erinnerte, als es selten über die Göttinger Jahre gesprochen wurde.
  20. G, Nr. 409: Christian Carl Josias von Bunsen; auch in einem Gespräch mit Johann August Becker erinnert sich Schopenhauer an die Freunde: „(…) aus den drei befreundeten Studenten, die damals (1809) die Collegia von Heeren besuchten, sind doch drei Capitalkerle geworden: Astor (der Amerikaner) mit seinem Krösus Reichtum; Bunsen mit seiner Vornehmigkeit; ich mit meiner Sapientia“, aus: G, Nr. 115: Becker. Siehe auch G, Nr. 231: Julius Frauenstädt: „Der Eine, fügte er hinzu, ist nun Diplomat, der Andere ein Millionär und der Dritte ein Philosoph; so verschieden sind die Lebenswege.“
  21. Grisebach (1897), S. 55 f.
  22. G, Nr. 377a: Carl Georg Bähr.
  23. Ibid.
  24. G, Nr. 21: Christoph Martin Wieland.
  25. G, Nr. 22: Wilhelmine Schorcht (aus einem Brief vom 10. Mai 1811 an Karl Reinhold).
  26. G, Nr. 21: Christoph Martin Wieland.
  27. G, Nr. 377b: Carl Georg Bähr.
  28. G, Nr. 22: Wilhelmine Schorcht (aus einem Brief vom 10. Mai 1811 an Karl Reinhold).
  29. Hübscher (1952), S. 44; Grisebach (1897) 40-55.
  30. G, Nr. 357: Carl Georg Bähr.
  31. Schneider (1985), S. 120-130.
  32. Safranski (2004), S. 155-183.
  33. Kamata (1988), S. 119-128.
  34. B Nr. 256.
  35. „Im Herbst des Jahres 1811 zog ich nach Berlin …, war nach Kräften bemüht, in der Schule der berühmten Lehrer, an welchen diese Universität so reich ist, Geist und Gemüt höher auszubilden“, aus: Briefe, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 111).
  36. Grisebach (1897), S. 57; siehe auch Safranski (2004), S. 183 f.
  37. Lüdtkehaus (1991), S. 210.
  38. Lüdtkehaus (1991), S. 209-210.
  39. B, Nr. 279.
  40. Safranski (2004), S. 184 f.
  41. Ibid.
  42. B, Nr. 325: 09.04.1854, Schopenhauer an Julius Frauenstädt
  43. Schopenhauers Schwester, Adele, hat den größten Teil der an sie und die Mutter gerichteten Briefe vernichtet. Es ist (nur) wahrscheinlich, dass Briefe aus Berlin während dieser Zeit an die Familie gerichtet wurden (siehe: Lütkehaus [1998], S. 10).
  44. Es liegt ein Gespräch, aus Schopenhauers Aufenthalt während dieser Herbstferien in Dresden stammend: In einem Brief an Friederike und Wilhelm von Volkmann schrieb die Adeldame Helene von Kügelen Anfang Oktober 1812, sie habe sich mit einem Braunschweiger unterhalten, der anwesend gewesen sei, als der junge Arthur Schopenhauer „tags zuvor gelehrt beweisen wollte, es gäbe keinen Gott.“ (G, Nr. 24: Ein Braunschweiger).
  45. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  46. Ibid.
  47. Grisebach (1897), S. 59.
  48. HN, 2. Bd., S. 251-301.
  49. HN, 2. Bd.
  50. In einem Brief an Schopenhauer von 1816 erinnert sich sein Freund Carl Iken an die einmal im Gespräch vom Philosophen selbst mitgeteilte Begeisterung für Lichtensteins zoologisches Seminar (G, Nr. 23: Winter 1811/1812, Carl Inken).
  51. Hübscher (1952), S. 43 f.
  52. Ab dann habe Schopenhauer Fichte immer für einen „Charlatan“ gehalten (G, Nr. 347: Carl Hebler); in der Vorrede zur zweiten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung unterschrieb er ihn und Schelling offenkundig zu den Philosophen der „Windbeutelei“ (WWV, S. 18).
  53. G, Nr. 123: Julius Frauenstädt. 1816 saßen Wolf und Schopenhauer drei Abende zu Tisch mit Goethe in Weimar (G, Nr. 27: Goethe). Auch an Wolf war der Empfelungsbrief adressiert, den Goethe 1811 für Schopenhauer schrieb (siehe oben Seite 7).
  54. Schneider (1985), S. 136.
  55. HN, 2. Bd., S. 224.
  56. Gwinner (1910), S. 79, auch: G, Nr. 25: Zwei Kranke der Berliner Charité.
  57. Ibid.
  58. HN, 2. Bd., S. 29-216.
  59. Hübscher (1973), S. 128.
  60. HN, 2. Bd., S. 45.
  61. HN, 2. Bd., S. 46.
  62. Ibid.
  63. Hübscher (1973), S. 127-154.
  64. Safranski (2004), S. 201-212.
  65. Kamata (1988), S. 119-128.
  66. HN, 1. Bd.
  67. HN, 2. Bd., S. 340-361.
  68. HN, 2. Bd., S. 30 f.
  69. HN , 1. Bd., S. 26, (Berlin, 1812 B).
  70. HN, 1. Bd., S. 23 (Berlin, 1812 A).
  71. HN, 1. Bd., S. 188.
  72. Hübscher (1973), S. 137 f.
  73. Hübscher (1952), S. 46. Im HN wird die Zeichnung nicht aufgenommen; von ihr wird aber bei Gwinner (1910) als einen späteren Einfall Schopenhauers gesprochen (S. 69).
  74. HN, 2. Bd., S. 38.
  75. HN, 2. Bd., S. 41.
  76. HN, 2. Bd., S. 120.
  77. Hübscher (1952), S. 48 f.
  78. HN, 2. Bd., S. 224-229.
  79. Safranski (2004), S. 183.
  80. Gwinner (1910), aus: G, Nr. 443: Wilhelm Gwinner.
  81. P, 1. Bd., S. 26. Auch Carl Hebler äußerte Schopenhauer Jahre später über Schelling: „Der Gescheidenste von den dreien sei immer noch Schelling gewesen“ (G, Nr. 347: Carl Hebler).
  82. HN, 2. Bd., S. 304-338.
  83. HN, 2.Bd., S. 309; siehe oben auch S. 12.
  84. Hübscher (1973), S. 130 f.
  85. Grisebach (1897), 68 f.; Safranski (2004), 196 ff.
  86. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  87. Ibid.
  88. G, Nr. 347: Carl Heber.
  89. Lichtenstein, wie oben angeführt, kannte Schopenhauer bereits aus dem Kreis seiner Mutter Johanna in Weimar. Diesem und Blumenbach schrieb Schopenhauer im Jahr 1819 respektvolle Briefe, in denen er sie über sein Habilitationsvorhaben informierte und sie, besonders Lichtenstein, um Rat und Hilfe bat (B, Nr. 53, 54 und 55).
  90. Gwinner (1910), S. 134 f.
  91. Ibid.
  92. G, Nr. 23: Carl Iken.
  93. G, Nr. 184: Julius Frauenstädt.
  94. Ibid.
  95. G, Nr. 238: Julius Frauenstädt.
  96. Safranski (2004), S. 207 ff.
  97. Ibid.
  98. Lütkehaus (1998), S. 22 ff.
  99. Lütkehaus (1998), 213.
  100. Lütkehaus (1998), Brief Nr. 64: Nach Gwinner ist der Brief vom April 1814.
  101. Mieck (1987), S. 462.
  102. Zitiert nach Mieck (1987), S. 464 (Quelle: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1, Leipzig 1907-1912. S. 428).
  103. Zitiert nach Mieck (1987), S. 463 (Quelle: Stulz, Percy: Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Die preußische Kabinettspolitik und die Rolle der Volksmassen in den Jahren 1811 bis 1813, Berlin [Ost] 1960. S. 241).
  104. Mieck (1987), S. 464.
  105. Zitiert nach Mieck (1987), S. 464 (Quelle: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen [neu hrsg. v. Ernst Friedel], Berlin 1907. S. 339).
  106. Zitiert nach Safranski (2004), S. 223 (Quelle: Armin, Bettina von: Werke und Briefe. Deutscher Klassiker Verlag: Frankfurt am Main, 1986-95).
  107. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  108. B, Nr. 43.
  109. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  110. HN, 2. Bd., S. 345.
  111. Hübscher (1952), S. 50 f.
  112. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 113).
  113. Grisebach (1897), S. 74 (das Zitat ist von Horaz) ; Safranski (2004) bietet die deutsche Übersetzung: „Man lobt ein Haus, das auf weite Felder schaut“ (S. 248).

Israelischer Diplomat Avi Primor: „Kein Land im Nahen Osten wünscht sich einen Krieg.“ Avi Primor im Gespräch mit Camilo Jiménez, 03.08.06

Interview mit dem ehemaligen israelischen Botschafter in Berlin und Top-Diplomaten Avi Primor über den Nahost-Konflikt, das Recht Israels zur Selbstverteidigung und den verhüllten Größenwahn des Iran.

Am 12. Juli wurden zwei israelische Soldaten von der Hisbollah im nördlichen Israel entführt. Vier Tage später überfiel eine Miliz dieser Extremistenorganisation eine israelische Armee-Patrouille. Folge: Israel bombardiert den Libanon und den Gaza-Streifen, sein Recht zur Selbstverteidigung ausdrückend. Ist die Auseinandersetzung mit der Hisbollah einen Krieg wert?

Das hängt davon ab, was Sie unter Krieg verstehen. Ich weiß nicht, ob das ein Krieg ist. Ich glaube, ein Krieg bedeutet eigentlich eine Konfrontation zwischen zwei oder mehr Armeen bzw. Ländern, und das ist heute nicht der Fall. Wir verteidigen uns gegen eine Miliz, eine Terrororganisation, die uns aus dem Territorium des souveränen Libanon bombardiert, ohne dass der Libanon interveniert oder intervenieren kann, oder dass wir überhaupt eine Konfrontation mit einem arabischen Land haben. Wir haben überhaupt keine Ansprüche auf libanesisches Territorium, wir wollen gar nichts; die einzige Sache, die wir verlangen ist, dass man uns in Ruhe lässt. Und wenn wir aus dem Südlibanon, einem Territorium, das wir freiwillig und einseitig vor sechs Jahren geräumt haben, bombardiert werden, da bleibt doch nichts anderes übrig, als dass wir uns dadurch verteidigen, dass wir versuchen, die Miliz zu entwaffnen. Auf jeden Fall: keine Raketen mehr über unsere Grenze.

Wie rechtfertigen Sie dann die Konsequenzen, die solche Aktionen gerade in der libanesischen Bevölkerung hinterlassen?

Das Problem ist natürlich, dass diese Miliz, die Hisbollah, die von Iran bewaffnet wird und ihre Anweisungen aus Teheran bekommt, ein Bannerträger des iranischen Islamismus ist. Sie verschanzt sich innerhalb der Zivilbevölkerung der Schiiten im Libanon. Wenn wir uns dann verteidigen wollen, also wenn wir die Raketen der Hisbollah treffen wollen, so haben wir keine andere Alternative, als dass wir dort angreifen, wo sie sich tatsächlich befinden. Und wenn sie sich innerhalb der Zivilbevölkerung befinden, dann haben wir ein Dilemma. Manchmal fordern wir die Bevölkerung auf, ihr Dorf oder ihre Stadt zu verlassen, weil wir dorthin zurückschießen müssen. Schön oder angenehm ist das nicht. Wir haben aber keine Wahl: Wir müssen uns dort verteidigen, wo der Feind sich befindet; wir können nicht anderswohin schießen.

Berichten zufolge stieg die Anzahl an libanesischen Zivilopfern auf fast eintausend Menschen. Eine der gefürchteten Folgen der Bombardements im Libanon und im Gazastreifen ist das Risiko, dass die schnell steigende Zahl an Opfern so groß wird, dass eine neue Generation von Arabern entsteht, die Israel leidenschaftlich hasst. Machen Sie sich keine Sorgen darüber?

Ich glaube, dass die schiitische Bevölkerung im Südlibanon Israel ohnehin schon hasst, weil sie unter einer fundamentalistischen schiitischen islamistischen Gehirnwäsche lebt und dies mindestens seit sechs Jahren, d.h. seit dem wir das Territorium geräumt haben – aber bestimmt auch schon vorher. Also, in diesem Sinne wird sich nichts verändern. Es geht darum, dass diese Zivilbevölkerung die terroristische Miliz beherbergt; sie unterstützt sie, liebt sie, jubelt ihr zu – also ganz neutral sind diese Leute nicht. Und ich möchte noch hinzufügen: Sie sprechen von 600 Zivilopfern. Woher wissen Sie eigentlich, dass es dabei um Zivilisten geht? Das weiß ja kein Mensch. Diese Miliz, die Hisbollahmiliz, die trägt keine Uniform, es sind oft dieselben Leute, die in diesen Dörfern leben: Nachts tragen sie die Raketen, mit denen sie uns beschießen, und tagsüber arbeiten sie als Bauern, sodass man sie gar nicht erkennen kann. Natürlich, wenn ein Milizkämpfer der Hisbollah umkommt, dann sagt die Hisbollah sofort: Guck mal, da ist ein Zivilist umgekommen; aber das kann kein Mensch beweisen. Jeder Libanese, der bis heute gefallen ist, wird als Zivilist beschrieben. Sollte das bedeuten, dass wir heute in unserem Kampf noch keinen einzigen Hisbollahkämpfer getroffen hätten?

Der Chef der IAEA Mohamed El-Baradei hat gesagt, er könne sich nicht erinnern, die Situation in der Region schon einmal so bedrohlich empfunden zu haben. Betrachten Sie auch die Lage im Nahost als eine so alarmierend verschärfte?

Nein. Ich verneine die Frage, denn es gibt kein Land im Nahen Osten, das sich heute einen Krieg wünscht. Israel will keinen Krieg und die Nachbarn des Staates Israel auch nicht: Ägypten nicht, Jordanien nicht, auch nicht der Libanon und selbst Syrien wünscht sich keinen Krieg; und solange die Länder in Nahost keinen Krieg wollen, wird es keinen Krieg geben. Deshalb ist die Lage heute noch nicht so extrem gefährlich. Aber es gibt ein Land, das von uns weit entfernt ist und sich den Krieg wünscht: Das ist der Iran. Der Iran ist ein Brandstifter, der seine eigene Ambitionen im Nahost hat und auch die Hisbollahmiliz aufgefordert hat, den Krieg zu entfesseln. Aber der Iran liegt weit von uns entfernt, und wenn unsere Nachbarn keinen Krieg haben wollen, dann wird es keinen Krieg geben. Der Iran kann allein in unserer Region keinen Krieg führen, zumindest nicht, solange er über keine Atomwaffen verfügt. Trotzdem meine ich, dass die jetzige Situation gefährlich ist, weil man nie weiß, wie eine Krise eskalieren kann; man kann es sich ‚logisch’ vorstellen, wie ich es eben getan habe, aber nicht immer ist alles so logisch. Ich glaube, dass wir auf jeden Fall nicht nur eine Beruhigung des Südlibanon anstreben sollen und dies anhand von internationalen Truppen, sondern wir müssten auch mit Syrien verhandeln, obwohl unsere Regierung heute nicht dazu bereit ist, unter anderem, weil die Amerikaner es verhindern.

Es gibt auch eine weit verbreitete Vorstellung davon, wie nach einem Ende des Konflikts ein Friedensprozess durchgeführt werden konnte. Einige Leute behaupten aber, dass die immer wiederkehrenden Schwierigkeiten des Friedensprozesses nicht in der Theorie liegen, sondern in der praktischen Umsetzung in der Realität. Haben Sie unter den zahlreichen Vorschlägen zur Stabilisierung im Nahost einen gefunden, den Sie für realisierbar halten?

Ich sage Ihnen klipp und klar meine Meinung in dieser Sache: Das erste Problem des Nahen Ostens heute ist das palästinensische Problem. Mit den Palästinensern müssen wir verhandeln, wir müssen die palästinensischen Gebiete und die jüdischen Siedlungen auf diesem Boden räumen. Im Gaza-Streifen haben wir das einseitig gemacht. Die damalige Regierung Sharons behauptete, es gebe keinen Gesprächspartner. Ich stimme und stimmte dem damals nicht zu; aber ich war schon ziemlich zufrieden damit, dass sie zumindest als ‚Schlussfolgerung’ den Gaza-Streifen und vor allem die Siedlungen geräumt haben. Nun haben wir heute eine eher realistische und pragmatische Regierung, die von der rechten, nationalistischen Ideologie nicht geprägt ist. Aber diese Regierung steht heute vor einer neuen Situation im palästinensischen Lager. Da findet nämlich ein Machtkampf statt. Es gibt heute keine echte Regierung der Palästinenser. Die Hamas hat die Wahlen gewonnen, konnte aber nicht richtig die Macht ergreifen: Erstens, weil sie zersplittert ist zwischen der Führung vor Ort und der, die sich in Damaskus befindet. Zweitens reiben sie sich an der Macht des Staatspräsidenten Abu Mazen (Mahmoud Abbas), der verfassungsgemäß nicht nur viele Befugnisse besitzt, sondern dem auch Streitkräfte zur Verfügung stehen. Und solange dieser Machtkampf nicht zu Ende kommt, sei es, dass einer die Oberhand erzielt, oder dadurch, dass man einen Kompromiss schließt und eine Koalition bildet, haben wir Schwierigkeiten mit den Palästinensern zu verhandeln. Meine Meinung ist dennoch, dass wir mit jedem Palästinenser verhandeln müssen, sowohl mit Abu Mazenals auch mit der Hamas. Solange diese Verhandlungen nicht fruchtbar sein können, müssen wir auf jeden Fall die besetzten Gebieten und die Siedlungen räumen. Das ist auch die Meinung des neuen Ministerpräsidenten Olmert, wie auch die des Hauptpartners des Ministerpräsidenten, des Koalitionspartners Amir Peretz, der Chef der Arbeiterpartei und heute unser Verteidigungsminister ist. Aber gleichzeitig müssen wir mit den Syrern verhandeln. Mit denen kann man verhandeln, sie sind dazu bereit und wir kennen den Preis: Das ist ein Preis, den frühere Ministerpräsidenten wie Ehud Barakoder Benjamin Netanjahu zu zahlen bereit waren. Es besteht nur die Schwierigkeit, dass die Amerikaner es nicht zulassen wollen – es gibt sogar viele Amerikaner, die uns noch heute hinter den Kulissen dazu drängen, Syrien anzugreifen. Ich glaube, man müsste mit Syrien verhandeln. Ich glaube, man müsste mit den Palästinensern verhandeln oder zumindest die besetzten Gebiete einseitig räumen. Und das wird zu einem echten Friedensprozess führen. Aber all dies erst, nachdem wir Ruhe im Südlibanon bekommen. Es kann nicht alles parallel getan werden.

Sie haben eben auf die Amerikaner hingewiesen. Wie schätzen Sie die bisher zurückhaltende Beteiligung der USA im Nahost-Konflikt im Gegensatz zur klaren Einstellung der UNO ein, die von Israel den sofortigen Waffenstillstand und Entschädigung gefordert hat?

Da gebe ich den Amerikanern Recht – und ich gebe den Amerikanern nicht immer Recht: In Sachen Syrien und Irak widerspreche ich der Bush-Regierung. Aber im Südlibanon finde ich, dass sie Recht hat, denn sollten wir heute einen Waffenstillstand akzeptieren, würde das bedeuten, dass die Hisbollah da bleibt, wo sie vorher war, mit ihren Stellungen gegenüber Israel, mit ihren Raketen, mit den entführten israelischen Soldaten und mit dem Kontakt zu Iran, sodass sie sich weiter ausrüsten und weitere Anweisungen und Geld von dem Iran bekommen kann. Da hat man bisher überhaupt nichts getan. Insofern gebe ich den Amerikanern Recht und meine, erst müssen wir den Südlibanon von den Hisbollah-Milizen und ihren Waffen räumen, dann soll eine internationale Truppe kommen, damit sie die Übernahme des Südlibanon durch die libanesische Regierung ermöglicht, und nur dann kann man einen Waffenstillstand akzeptieren. Aber nicht in der heutigen Situation.

Sie würden also der israelischen Außerministerin Tzipi Livni zustimmen, die Ende Juli sagte, die Internationale Gemeinschaft dürfe momentan keine Waffenruhe fordern, weil ein Vakuum hinterlassen würde, das ein großer Sieg für die Hisbollah sei?

Ich würde das Wort Sieg nicht benutzen, denn das wäre kein Sieg für die Hisbollah. Die Hisbollah kann über uns keinen Sieg erlangen. Die Hisbollah würde nur in einer Position bleiben, in der sie uns bedrohen kann, aber vor allem würde der Iran an seiner Stelle bleiben. Und das können wir nicht zulassen. Insofern stimme ich der Außerministerin zu, weil dieses Vakuum zwischen Libanon und Israel weiter bestehen würde.

Selten war die Internationale Gemeinschaft dermaßen ratlos wie diese letzten Wochen. Würden Sie trotz aller Disparitäten im Westen immer noch von einer Internationalen Gemeinschaft im Bezug auf den Nahost-Konflikt sprechen?

Ich glaube nicht, dass die Internationale Gemeinschaft ratlos ist. Natürlich war sie überrascht, genau wie wir überrascht waren, weil keiner es erwartet hat, dass man uns aus dem Südlibanon wieder angreift, schließlich haben wir den Südlibanon vollkommen, total, freiwillig und einseitig geräumt, uns auf die internationale Grenze, wie die UNO es verlangt und dann anerkannt hat, zurückgezogen; warum soll man uns nun angreifen? Das hat keiner erwartet. Für die Internationale Gemeinschaft geht es um eine Lösung, die man vorbereiten muss, und das ist nicht so einfach. Die Internationale Gemeinschaft ist heute dazu bereit, eine internationale Friedenstruppe, eine ‚robuste’ Truppe, eine Kampftruppe, in den Südlibanon zu entsenden. Dort soll sie den Waffenstillstand und das Ende der Miliz nicht nur beobachten, sondern gerade zu erzwingen. Eine solche Friedenstruppe zusammenzusetzen braucht Zeit. Zunächst muss man ein Mandat der UNO bekommen, dann (nur) wahrscheinlich eine Schirmherrschaft der NATO. Schließlich muss man Länder finden, die sich dazu bereit erklären, Truppen zu entsenden, Truppen, die bereit sind zu kämpfen, ihr Leben zu riskieren. Das können natürlich nur Länder sein, die auch ein eigenes Interesse im Libanon haben. Doch zuvor müssen diese Länder die Genehmigung ihrer Parlamente bekommen und erst dann muss man die Truppe zusammensammeln und hinschicken. Das alles braucht Zeit. Selbst wenn man dieses Prozedere so weit als möglich beschleunigt – und das tun die Länder –, wird es noch ein paar Wochen dauern. Da ist also keine Ratlosigkeit der Internationalen Gemeinschaft, sondern eine Prozedur, die man durchgehen muss.

Wie Sie es angemerkt haben, hat die US-amerikanische Wochenzeitschrift TIME behauptet, der Iran sei die zentrale Figur des ganzen Konflikts. Glauben Sie, sollte eine Lösung für den Konflikt erst mal gefunden sein, dass der Iran wie auch immer einen Konflikt mit Israel anstrebt?

Ich hoffe sehr, dass dies nicht der Fall ist. Ich bin fest davon überzeugt, es gibt keine Widersprüche innerhalb der Interessen der Staaten zwischen Israel und dem Iran. Gerade heute habe ich einen Artikel für die Süddeutsche Zeitung geschrieben, in dem ich erkläre, was für eine unglaublich tief greifende Zusammenarbeit es zwischen dem Iran und Israel vor der Zeit Khomeinis gegeben hat – weil es ein ihnen gemeinsames geopolitisches Interesse für Israel und den Iran ist, zusammenzuarbeiten. Die Fundamentalisten ziehen das religiöse, fanatische Interesse dem Interesse des Staates vor und deshalb haben sie die Zusammenarbeit mit Israel zugrunde gerichtet und sich zum Bannerträger im Kampf gegen die Existenz Israels erklärt. Ich glaube, dass es nicht im Interesse des Staates Iran ist und infolgedessen wird es auch nicht so bleiben. Irgendwann gewinnt das Interesse des Landes die Oberhand. Auch der islamische Iran hat nationale, ja, imperiale Interessen, genau wie der Schah, und seine Interessen gelten nicht Israel.

In Iran ist Israel heute ein ‚schwarzer Peter’, den man verwendet, um die Bevölkerung aufzuhetzen. Also der Hass gegen Israel, die Drohungen gegen Israel sind eigentlich Folge der Volksverhetzung, und zwar der Volksverhetzung vor allem im Iran, aber auch in der arabischen Welt, um sich darin als Held darzustellen.

Aber der Iran hat seine Schwierigkeiten in der arabischen Welt. Zunächst einmal, weil die Iraner keine Araber sind und historisch im Konflikt mit den Arabern stehen. Ferner, weil sie Schiiten sind und die große Mehrheit der arabischen Welt sind Sunniten, und die Feindschaft zwischen den beiden ist historisch und tief greifend. Gleichzeitig hat der Iran einen eigenen Ehrgeiz. Dieser besteht darin, die unmittelbaren Nachbarn, also die arabischen Staaten, Irak, Saudi Arabien und die Emiraten im Golf zu beherrschen. Nicht unbedingt erobern, aber so oder so irgendwie beherrschen. Sollte ihnen das gelingen, würden sie, also der Iran mit den arabischen Vasallenstaaten, über 75% der weltweiten Erdölreserven verfügen. Wenn Sie nun bedenken, dass Russland die Atomprojekte des Iran sowohl mit Geld als auch mit 6.000 russischen Experten unterstützt, dann können Sie sich eine Allianz zwischen zwei atomaren Staaten vorstellen. Das ist die eigentliche Gefahr, die vom Iran ausgeht – und sie ist nicht unmittelbar gegen Israel gerichtet – auch wenn man sich im Iran schon freuen würde, sollte Israel ausgelöscht werden –, sondern sie richtet sich gegen die unmittelbaren Nachbarn. Gemeinsam mit Russland zur Weltmacht aufsteigen, und dann die Welt erpressen zu können.

Sie sprachen von einer tief greifende Zusammenarbeit zwischen dem Iran und Israel. Könnte diese nicht wieder neu entstehen?

Ich glaube schon, weil beide Länder ein echtes Interesse daran haben. Eben deswegen war es schon so vor der Khomeinistischen Revolution. Solange der Fanatismus, der Fundamentalismus, der Messianismus – wenn Sie wollen – im Iran herrschen, spielen die Interessen des Staates eine kleinere Rolle. Aber ich bin der Überzeugung, dass sich das im Laufe der Zeit ändert. Der Iran selber wandelt sich allmählich: Die Bevölkerung will sich modernisieren, fühlt sich mehr den USA verbunden als den religiösen Führern. Noch kann es kein Parlament, keine Demokratie geben, da die religiösen Kräfte die Regierungsgeschäfte in der Hand haben. Es gibt diese so genannten ‚Pasdaran’, das sind die Kämpfer der Revolution, das sind die Fanatiker, die dem so genannten ‚geistlichen Entführer’ entkommen, dem hamanai, unterstellt sind, und sie erpressen die Bevölkerung. Aber man weiss, wie es bei Diktaturen ist: Wenn sie über die Mehrheit der Bevölkerung jahrelang nicht verfügen können, zerbrechen sie irgendwann. Dann kehrt der Iran zurück zu seinen normalen staatlichen Interessen, die mit den Interessen des Staates Israel eigentlich viele Gemeinsamkeiten haben.

Deutschland könnte sich als möglicher Vermittler profilieren, falls die Hisbollah und Israel indirekte Verhandlungen zum Austausch von Gefangenen aufnehmen. Dennoch, selbst der libanesische Präsident Emile Lahoud bezweifelt, dass die Deutschen diesmal so behilflich sein können, wie sie es 2004 waren, als 400 palästinensische Gefangene durch die deutsche Intervention freigelassen wurden. Trotzdem hat der BND bereits Aufgaben im Nahost übernommen. Halten Sie Deutschland im Augenblick für einen angemessenen Vermittler?

Der beste Vermittler, weil Deutschland von einem hohen Ansehen auf beiden Seiten profitiert. Die Frage ist nur – und insofern hat der libanesische Ministerpräsident Recht –, mit wem verhandelt man? Wir wollen mit der Hisbollah nicht verhandeln, aber wir bestehen darauf, dass die Hisbollah, die aus Libanesen besteht, dem souveränen libanesischen Staat die Macht zum Verhandeln sowie die Geiseln übergibt. Dann werden wir verhandeln wollen, und da können die Deutschen die besten Vermittler sein.

Rückblick ohne Ostalgie. Musiker André Herzberg im Interview mit Leif Allendorf, 03.11.05

André Herzberg, Jahrgang 1955, war als Sänger der DDR-Band „Pankow“ für eine Jugendgeneration von Ostdeutschen das, was im Westen Herbert Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen waren. Nach der Wende war es still um das einstige Idol. 2005 sprach er erstmals über das Thema jüdische Identität in der DDR.

Was bedeutete jüdische Herkunft in der DDR? Gab es da eine bestimmte Erwartungshaltung der anderen?

Das wurde überhaupt nicht thematisiert. Es gab einen Status, den man von offizieller Seite Leuten zuerkannt hat, die in direkter Konfrontation zum Nazi-Regime gestanden hatten: entweder „Opfer des Faschismus“ oder „Kämpfer gegen den Faschismus“. Meine Mutter gehörte aufgrund ihrer frühen KPD-Mitgliedschaft zu der zweiten Gruppe, die höher angesehen wurde. Es gab in diesem Zusammenhang kleine Privilegien, eine Wohnung, Geld. So bekam ich bis zum Ende des Studiums einen monatlichen Zuschuss. Dass meine Eltern Juden waren, wurde dabei nicht angesprochen

Es gab also eine Gemeinsamkeit von Gegnern des Faschismus, es wurde kein Schisma gemacht zwischen jüdisch und kommunistisch?

Meine Tante, die Auschwitz überlebt hatte, hatte den etwas niedrigeren Status als Opfer des Faschismus, was ich absurd finde, da meine Mutter mit der Emigration ein vergleichsweise harmloses Schicksal hatte.

Wurde das Thema jüdische Herkunft im Freundes- und Bekanntenkreis zur Sprache gebracht?

Der Bekanntenkreis meiner Eltern bestand zum größten Teil aus jüdischen Immigranten. Es war ein familiärer Kreis, zu dem beispielsweise die Schriftstellerin Barbara Honigmann gehörte. Die Kinder verkehrten mit den anderen Immigrantenkindern. Ich gehörte schon nicht mehr richtig dazu, wohl aber meine älteren Geschwister.

Ihre Mutter hat sich stark mit dem Staat DDR identifiziert. Wie ist sie mit dem Thema jüdische Herkunft umgegangen?

Meine Mutter hat in traumatischer Weise über diese Dinge gesprochen. Sie erzählte, wie sie aus ihrer Wohnung geflüchtet ist und ihre Mutter zurückgelassen hat, wie sie nach Deutschland zurückgekehrt ist und die Mutter war tot. Aber all das nur in Andeutungen. Was Judentum ausmacht und jüdisches Leben, damit wollten meine Eltern nichts zu tun haben. Sie waren nicht religiös und sind als gute Kommunisten aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten.

Wie stehen Sie selbst dazu? Hat jüdische Identität für Sie eine Relevanz?

Das ist ein ganz langer Prozess, von den Andeutungen über die Wahrnehmung der Andersartigkeit bis zum Abbröckeln des vorgegebenen Antifaschismus in der DDR. Während meiner Lehre in der NVA erlebte ich, dass die meisten kein Problem mit der Nazi-Zeit hatten und in dem Kriegsende keinen Bruch, sondern einen nahtlosen Untergang sahen. So wurde beispielsweise auf unserer Stube von den Soldaten heimlich Hitlers Geburtstag gefeiert.

Ein zynischer Scherz?

Das war eher nach dem Motto: Was verboten ist, macht uns gerade scharf. Das kam bei der Sauferei dann zum Vorschein. Für mich war das völlig verblüffend, weil es in völligem Widerspruch zu meiner Erziehung und dem Weltbild stand, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich war entsetzt, habe das aber für mich behalten.

Ist die Militärzeit nicht generell eine Notsituation, die man zu überstehen versucht und erst später darüber nachdenkt?

Dieses Später hat bei mir sehr lange gedauert. In den Siebzigerjahren war der Staat Israel noch der zionistische Feind gewesen. In der letzten Phase der DDR wurde das Thema Israel etwas freundlicher behandelt. Ich hatte in erster Linie eine ablehnende Haltung gegen die Schule, gegen meine Eltern, gegen das Leben in der DDR. Irgendwann trug die jüdische Identität dazu bei, dass ich mich völlig als Außenstehender fühlte. Eine tiefere Beschäftigung damit kam aber erst nach der Wende.

Wie sah die aus?

Das ist ein noch nicht abgeschlossener Prozess. Ich habe Schwierigkeiten mit der jüdischen Identität. Das halte ich in Deutschland überhaupt für schwierig, wenn man sich nicht völlig religiös orientiert. Die jetzt bestehende jüdische Gemeinde wird im Osten von russischen Einwanderern dominiert, die weitgehend unter sich bleiben. Und die westdeutsche Gemeinde ist mir ebenfalls fremd, weil diese Menschen ebenfalls einen ganz anderen Lebenshintergrund haben als ich. Erst bei meinen Reisen nach Israel zu Verwandten dort in den Neunzigerjahren hat bei mir ein Nachdenken über die eigene Familie eingesetzt, und damit verbunden ein gewisser Normalitätsprozess. Vorher war das bei mir alles unter der Decke gewesen.

Wessen Initiative waren die Besuche in Israel? Die Ihrer Eltern?

Nein, meine eigene. Meine Eltern sind diesen Schritt nicht mitgegangen, sondern bei 1989 stehen geblieben. Mein Vater blockt das bis heute völlig ab. Er war kommunistischer Hardliner und hat diese Seite seiner Biografie ausgeblendet.

Welche Verwandten haben Sie in Israel besucht?

Verwandte meines Vaters, die mein Vater nie gesehen hat, die aber von uns wussten und mich sehr herzlich aufgenommen haben. Dass sie im Kibbuz leben, hat mir den Kontakt erleichtert. Die Kibbuzbewegung hat ja starke Ähnlichkeit mit der linken Bewegung des Sozialismus. Als ich dort ankam, kam mir das alles sehr vertraut vor. Es war wie im Osten, LPG, sozialistischer Großbetrieb, die blauen Arbeitsoveralls, die die Leute trugen, Wandbilder, die mich an Planerfüllung erinnerten. Nur mit dem wichtigen Unterschied, dass dort das Tor offen war, und nicht, wie in der DDR, verschlossen. Jeder kann kommen, und wer nicht bleiben will, kann gehen. Ich habe mich dort so wohl gefühlt, dass ich mit diesem Begriff jüdische Identität erstmals unbefangen umgehen konnte.

Sie sind ganz ohne Großeltern aufgewachsen?

Absolut. Meinen Großeltern väterlicherseits ist es gelungen, nach Amerika zu kommen. Von dort aus sind sie dem Bruder meines Vaters nach Südafrika gefolgt, wo sie mittlerweile verstorben sind. Ich habe sie nie gesehen, nur ein paar dürftige Zeilen bekommen, in einem Brief, den mein Großvater mir geschrieben hat. Daneben gab es in dieser Generation nur noch die Großmutter mütterlicherseits, die in Auschwitz umkam. Es ist also der totale Bruch in der Familie.

Ein Bruch, den die übrige Bevölkerung nicht hatte.

Da gibt es natürlich auch Einschnitte, Väter, die nicht aus dem Krieg zurückkehrten. Ich bin nicht der einzige, den das betrifft. In Familien beispielsweise, wo Angehörige in die Nazi-Diktatur involviert waren, dürfte das Schweigen ebenfalls verbreitet sein. Ich glaube allerdings, dass im Fall meiner Eltern, wo das Jüdischsein überhaupt nicht artikuliert wurde, das Sprechen darüber extrem schwierig ist.

Sie sind das jüngste von drei Kindern. Wie gehen Ihr Bruder und Ihre Schwester mit diesem Thema um?

Über den Kopf. In meiner Familie ist es typisch, mit so etwas sehr rational umzugehen. Mein Bruder hat sich geradezu wissenschaftlich mit dem Thema Judentum, Nazizeit und Überleben beschäftigt und hat Bücher zu dem Thema veröffentlicht. Das Gefühl bleibt auf diese Art meiner Ansicht nach außen vor.

Kennen Sie Menschen, die damit anders umgegangen sind?

Barbara Honigmann kommt aus ähnlichen Verhältnissen wie ich. Ihre jüdische Hochzeit in Ost-Berlin 1984, die ich miterlebt habe, hat große Aufmerksamkeit erregt. Sie ist dann nach Straßburg übergesiedelt, und ich hatte den Eindruck, dass hier jemand völlig unvermittelt von einer Identität in die andere springt. Es hat mich irritiert, dass sie sich in ihren darauf folgenden Büchern nur noch jüdisch definiert. Ich lebe mit einer gebrochenen Identität, ich fühle mich genauso als Deutscher wie als Jude.

Wir haben über Einschnitte gesprochen. Die Wende war sicher auch ein Einschnitt für den Musiker André Herzberg. Sie haben den Westen aber bereits vor 1989 kennen gelernt.

Ich durfte ab Mitte der Achtzigerjahre reisen. Ideologisch hat man sich abgeschottet. Aber es gab gleichzeitig Wirtschaftsinteressen, und die Band „Pankow“ war ein kleiner Wirtschaftsfaktor. Die wirtschaftlichen Interessen siegten, und sie ließen uns touren. Für mich war das ein Ventil. Auch wenn der Wahnsinn, die Verhältnisse, in denen ich in der DDR lebte, von außen betrachtet noch viel wahnsinniger erschien, ich konnte mich wie ein Engel auf beiden Seiten bewegen. Ich habe das genossen, aber auch gemerkt, wie wahnsinnig fremd und verloren ich mich im Westen fühlte und wie froh ich war, anschließend wieder in die heimische Höhle zu kriechen, wo ich mich auskannte.

Nun existiert die Höhle nicht mehr und der Westen ist zu Ihnen nach Prenzlauer Berggekommen. Fühlen Sie sich fremd und verloren?

Eine gewisse Fremdheit ist geblieben. Das hängt auch mit meiner beruflichen Situation zusammen. Das Publikum nimmt mich nach wie vor als Sänger der Gruppe „Pankow“ wahr. In diese Rolle werde ich – wie bei der jüngsten Ostalgie-Welle – immer wieder hineingedrängt.

Um aus Rolle herauszutreten haben Sie Ihr letztes Album als André Herzberg und nicht unter dem Etikett „Pankow“ herausgebracht. Außerdem sind Sie als Autor tätig. Mit Erfolg?

Ich verstehe mein Handwerk und ich weiß, was ich tue. Die Resonanz auf die Musik und das Buch ist gut, aber der kommerzielle Erfolg ist bislang ausgeblieben.

Sicherlich war es in einer Nischengesellschaft leichter, etwas bekannt zu machen, als im gegenwärtigen Überangebot.

Es mag auch daran liegen, dass das Thema DDR gerade nicht en vogue ist – es sei denn, im Rahmen von Ostalgie-Shows.