Gedächtnismedium Film: Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945

Besprochen von Victor Nono

Ausgehend von den Arbeiten von Harald Welzer wendet sich Christoph Vatter einem in den letzten Jahren gewachsenen Interesse an der Mediatisierung von Erinnerung, insbesondere an den Holocaust und den Nationalsozialismus zu. Anders als Welzer interessiert er sich jedoch weniger für die Rückwirkung der filmischen Darstellung auf die Zeitzeugen als vielmehr auf den Beitrag von filmischen Darstellungen für die Diskursgeschichte des Dritten Reiches bzw. Frankreichs unter deutscher Besatzung. „Medien können nach dieser Auffassung ein Erinnerungsangebot darstellen“, schreibt Vatter,  „das – wenn es entsprechend breit rezipiert wird – zum Kommunikationsanlass werden und in einer bestehende Erinnerungskultur integriert werden kann. Das Zusammenspiel mehrerer Medien, d.h. die transmediale Darstellung eines Ereignisses oder Themas, könnte – in Analogie zu kognitiven Lerntheorien – zu einer tieferen Verarbeitung und damit auch zu produktiven Aneignungsprozessen der Rezipienten beitragen […] Die Erinnerungskultur einer Gesellschaft umfasst demnach nicht nur das erinnerte historische Geschehen, sondern auch die Summe all seiner medialer Verarbeitungen, die Gegenstand gesellschaftlicher Kommunikation waren und sind.“ (S. 37)

Diese an aktuelle Forschungsdiskussionen anknüpfende Reflexion ist für Vatter Anlass, sich der Bedeutung filmischer Darstellungen für die Erinnerungskulturen in Frankreich und Deutschland zuzuwenden. Dabei gelingt ihm zunächst eine kleine Miniatur: die knappe und übersichtliche Zusammenfassung der wesentlichen Etappen deutscher und französischer Diskurse im Vergleich, die tatsächlich einen wertvollen Überblick gerade der in Deutschland wenig bekannten französischen Entwicklungen bietet.

Das Hauptaugenmerk von Vatters Arbeit liegt indes auf der Beobachtung der filmischen Entwicklung, die mit eindrucksvollen Analysen glänzt. Dabei wählt Vatter jeweils exemplarisch für eine historische Phase Filme aus, die in besonderem Maße die Debatte prägten: Angefangen bei René Clement, Wolfgang Staudte, Helmut Käutner, Julien Duvivier, Kurt Hoffmann und Claude Berri bis hin zu Louis Malle, Rainer Werner Fassbinder, Gérard Jugnot und Roland Suso Richter reicht eine breite Palette hochkarätiger Filmemacher, die die Entwicklung bis 2002 verfolgt.  Auch wenn sich die Systematik der Auswahl der Filme nicht immer erschließt, überzeugen die Einzelanalysen durch die pointierten Analysen, die filmanalytische und diskursanalytische Ergebnisse miteinander in Verbindung setzen.  Vatters Buch bietet damit erstmals einen vergleichenden Überblick über die „Filmgeschichte des Diskurses“ über Holocaust und Nationalsozialismus in Deutschland und Frankreich.

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Weber, Thomas: Ravensbrück – Zwei WebSites oder Die Frage nach der medialen Perspektivierung des Holocausts, 05.03.09

AVINUS Magazin Sonderedition Nr. 4, Berlin 2008.

Kompletter Artikel als PDF-Version: Ravensbrück. Zwei WebSites oder die Frage nach der medialen Perspektivierung des Holocausts.

Abstract

Der Aufsatz befasst sich mit der Problematik von Gedenkkultur im Web 2.0 am Beispiel von zwei unabhängig voneinander entstandenen WebSites zum Frauenkonzentrationslager Ravensbrück: derjenigen der Gedenkstätte Ravensbrück und derjenigen der Bundeszentrale für Politische Bildung zu Ravensbrück. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf einer Analyse der medialen Transformation von Gedenkkultur durch das Internet und einer Reflexion über mögliche Qualitätskriterien (wie z.B. „Transmersion“) von WebSites.

Über Leon de Winters ‚Place de la Bastille‘

Besprochenvon Leif Allendorf

Paul de Wit ist Geschichtslehrer und wohnt mit seiner Frau Mieke und den Töchtern Hanna und Mirjam in Amsterdam. Neben dem Beruf arbeitet er seit Jahren an einem Buch über die gescheiterte Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes während der französischen Revolution. Als Historiker stellt er darin die These auf, dass die Geschichte nicht von Zwangsläufigkeiten, sondern von Zufällen bestimmt wird. Im Laufe der Romanhandlung wird jedoch immer deutlicher, dass ihn diese Überzeugung vor allem als Privatperson beschäftigt. Denn in Form des Holocaust hat die Weltgeschichte in sein Leben besonders brutal eingegriffen.

Paul de Wit erzählt seine Geschichte dem Leser nicht chronologisch: „Gehen wir also in der Zeit zurück.“ Dabei pflegt er, der professionelle Historiker, alles im Leben in Perioden einzuteilen, die Geschichte in Ausschnitten darzustellen und dann zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Paul de Wit ist als Kind jüdischer Eltern, die nach Auschwitz deportiert wurden, im Waisenhaus aufgewachsen. Seine Nachforschungen haben ergeben, daß er einen Zwillingsbruder hatte, von dem aber jede Spur fehlt. Seine manische Suche nach diesem endet, wie zu erwarten, ergebnislos. Weder findet er seinen Bruder, noch erfährt er definitiv von dessen Tod. Während der Suche nach seinem Bruder und den Recherchen zu seinem Buch beginnt er in Frankreich eine Affäre mit Pauline. Die seelen- und namensverwandte Jüdin befasst sich ebenso intensiv mit der Vergangenheit wie er. Diese Begegnung führt letztendlich zum Bruch mit seinem gesamten bisherigen Leben.

Wie schon in einigen früheren Romanen, zum Beispiel in Leo Kaplan, verleiht de Winter seinem Protagonisten autobiographische Züge. Die Männer sind Mitte der Fünfzigerjahre geboren, arbeiten als Schriftsteller und Geisteswissenschaftler, haben einen jüdischen Hintergrund und beschäftigen daher intensiv mit den Themen Holocaust, Judentum und Religion im Allgemeinen. Wie in anderen Romanen gibt es die scheinbar perfekte bürgerliche Existenz und die zunächst glückliche, dann aber unerträgliche Ehe mit einer starken (katholischen) Frau, die der Protagonist für eine Affäre mit einer faszinierenden Jüdin aufgibt.

De Winters wiederkehrendes Thema ist die Verstrickung von „großer“ und „kleiner“ Geschichte, von Holocaust und Einzelschicksal. Dass sich hinter weltpolitischen Ereignissen private Biographien verbergen, ist zwar noch keine revolutionäre Erkenntnis. Interessanter ist aber de Winters weiterführende These: Jeder Mensch braucht Geschichte, nämlich seine Geschichte – egal, ob sie nun aus Zufällen besteht oder aus Kausalverkettungen. Eine intakte Persönlichkeit kommt ohne Vergangenheit und Herkunft, ohne Erinnerungen und Bezugspunkte nicht aus.

Leon de Winter macht es dem Leser wunderbar leicht, in die Gedanken- und Gefühlswelt seines Protagonisten einzutauchen. Das Innenleben aller anderen Figuren bleibt dagegen vergleichsweise blass. Manchmal gerät Pauls Nabelschau zum mehr oder weniger selbstmitleidigen Egotrip. So wird seine Affäre mit Pauline zur stereotypen Männerphantasie: Die schöne, blutjunge Französin führt ihn aus der Midlife-Crisis zurück zu Leidenschaft, Selbstfindung und wahrer Liebe, während Ehefrau Mieke als nahezu unbegrenzt verständnisvolle Ex-Gefährtin zurückbleibt.

Place de la Bastille wirkt wie die Mitschrift einer Do-it-yourself Traumatherapie. Ganz sicher ist es ein faszinierendes Buch für jeden, der sich auf de Winters Gedankenspiele zum Thema Geschichte, Familie und Identität einläßt. Ein thematisch breit angelegter Roman mit einem ausbalancierten Figurenarsenal ist es allerdings nicht.

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