Über Leon de Winters ‚Place de la Bastille‘

Besprochenvon Leif Allendorf

Paul de Wit ist Geschichtslehrer und wohnt mit seiner Frau Mieke und den Töchtern Hanna und Mirjam in Amsterdam. Neben dem Beruf arbeitet er seit Jahren an einem Buch über die gescheiterte Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes während der französischen Revolution. Als Historiker stellt er darin die These auf, dass die Geschichte nicht von Zwangsläufigkeiten, sondern von Zufällen bestimmt wird. Im Laufe der Romanhandlung wird jedoch immer deutlicher, dass ihn diese Überzeugung vor allem als Privatperson beschäftigt. Denn in Form des Holocaust hat die Weltgeschichte in sein Leben besonders brutal eingegriffen.

Paul de Wit erzählt seine Geschichte dem Leser nicht chronologisch: „Gehen wir also in der Zeit zurück.“ Dabei pflegt er, der professionelle Historiker, alles im Leben in Perioden einzuteilen, die Geschichte in Ausschnitten darzustellen und dann zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Paul de Wit ist als Kind jüdischer Eltern, die nach Auschwitz deportiert wurden, im Waisenhaus aufgewachsen. Seine Nachforschungen haben ergeben, daß er einen Zwillingsbruder hatte, von dem aber jede Spur fehlt. Seine manische Suche nach diesem endet, wie zu erwarten, ergebnislos. Weder findet er seinen Bruder, noch erfährt er definitiv von dessen Tod. Während der Suche nach seinem Bruder und den Recherchen zu seinem Buch beginnt er in Frankreich eine Affäre mit Pauline. Die seelen- und namensverwandte Jüdin befasst sich ebenso intensiv mit der Vergangenheit wie er. Diese Begegnung führt letztendlich zum Bruch mit seinem gesamten bisherigen Leben.

Wie schon in einigen früheren Romanen, zum Beispiel in Leo Kaplan, verleiht de Winter seinem Protagonisten autobiographische Züge. Die Männer sind Mitte der Fünfzigerjahre geboren, arbeiten als Schriftsteller und Geisteswissenschaftler, haben einen jüdischen Hintergrund und beschäftigen daher intensiv mit den Themen Holocaust, Judentum und Religion im Allgemeinen. Wie in anderen Romanen gibt es die scheinbar perfekte bürgerliche Existenz und die zunächst glückliche, dann aber unerträgliche Ehe mit einer starken (katholischen) Frau, die der Protagonist für eine Affäre mit einer faszinierenden Jüdin aufgibt.

De Winters wiederkehrendes Thema ist die Verstrickung von „großer“ und „kleiner“ Geschichte, von Holocaust und Einzelschicksal. Dass sich hinter weltpolitischen Ereignissen private Biographien verbergen, ist zwar noch keine revolutionäre Erkenntnis. Interessanter ist aber de Winters weiterführende These: Jeder Mensch braucht Geschichte, nämlich seine Geschichte – egal, ob sie nun aus Zufällen besteht oder aus Kausalverkettungen. Eine intakte Persönlichkeit kommt ohne Vergangenheit und Herkunft, ohne Erinnerungen und Bezugspunkte nicht aus.

Leon de Winter macht es dem Leser wunderbar leicht, in die Gedanken- und Gefühlswelt seines Protagonisten einzutauchen. Das Innenleben aller anderen Figuren bleibt dagegen vergleichsweise blass. Manchmal gerät Pauls Nabelschau zum mehr oder weniger selbstmitleidigen Egotrip. So wird seine Affäre mit Pauline zur stereotypen Männerphantasie: Die schöne, blutjunge Französin führt ihn aus der Midlife-Crisis zurück zu Leidenschaft, Selbstfindung und wahrer Liebe, während Ehefrau Mieke als nahezu unbegrenzt verständnisvolle Ex-Gefährtin zurückbleibt.

Place de la Bastille wirkt wie die Mitschrift einer Do-it-yourself Traumatherapie. Ganz sicher ist es ein faszinierendes Buch für jeden, der sich auf de Winters Gedankenspiele zum Thema Geschichte, Familie und Identität einläßt. Ein thematisch breit angelegter Roman mit einem ausbalancierten Figurenarsenal ist es allerdings nicht.

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Do-It-Yourself-Therapie: Leon de Winters Roman Place de la Bastille lässt ein ausgewogenes Figurenarsenal vermissen

Besprochenvon Heike Anna Hierlwimmer

  • WINTER, Léon de: Place de la Bastille. Diogenes Verlag, Zürich 2005. ISBN 3-257-06496-9.

Paul de Wit ist Geschichtslehrer und wohnt mit seiner Frau Mieke und den Töchtern Hanna und Mirjam in Amsterdam. Neben dem Beruf arbeitet er seit Jahren an einem Buch über die gescheiterte Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes während der französischen Revolution. Als Historiker stellt er darin die These auf, dass die Geschichte nicht von Zwangsläufigkeiten, sondern von Zufällen bestimmt wird. Im Laufe der Romanhandlung wird jedoch immer deutlicher, dass ihn diese Überzeugung vor allem als Privatperson beschäftigt. Denn in Form des Holocaust hat die Weltgeschichte in sein Leben besonders brutal eingegriffen.

Paul de Wit erzählt seine Geschichte dem Leser nicht chronologisch: „Gehen wir also in der Zeit zurück.“ Dabei pflegt er, der professionelle Historiker, alles im Leben in Perioden einzuteilen, die Geschichte in Ausschnitten darzustellen und dann zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Paul de Wit ist als Kind jüdischer Eltern, die nach Auschwitz deportiert wurden, im Waisenhaus aufgewachsen. Seine Nachforschungen haben ergeben, daß er einen Zwillingsbruder hatte, von dem aber jede Spur fehlt. Seine manische Suche nach diesem endet, wie zu erwarten, ergebnislos. Weder findet er seinen Bruder, noch erfährt er definitiv von dessen Tod. Während der Suche nach seinem Bruder und den Recherchen zu seinem Buch beginnt er in Frankreich eine Affäre mit Pauline. Die seelen- und namensverwandte Jüdin befasst sich ebenso intensiv mit der Vergangenheit wie er. Diese Begegnung führt letztendlich zum Bruch mit seinem gesamten bisherigen Leben.

Wie schon in einigen früheren Romanen, zum Beispiel in Leo Kaplan, verleiht de Winter seinem Protagonisten autobiographische Züge. Die Männer sind Mitte der Fünfzigerjahre geboren, arbeiten als Schriftsteller und Geisteswissenschaftler, haben einen jüdischen Hintergrund und beschäftigen daher intensiv mit den Themen Holocaust, Judentum und Religion im Allgemeinen. Wie in anderen Romanen gibt es die scheinbar perfekte bürgerliche Existenz und die zunächst glückliche, dann aber unerträgliche Ehe mit einer starken (katholischen) Frau, die der Protagonist für eine Affäre mit einer faszinierenden Jüdin aufgibt.

De Winters wiederkehrendes Thema ist die Verstrickung von „großer“ und „kleiner“ Geschichte, von Holocaust und Einzelschicksal. Dass sich hinter weltpolitischen Ereignissen private Biographien verbergen, ist zwar noch keine revolutionäre Erkenntnis. Interessanter ist aber de Winters weiterführende These: Jeder Mensch braucht Geschichte, nämlich seine Geschichte – egal, ob sie nun aus Zufällen besteht oder aus Kausalverkettungen. Eine intakte Persönlichkeit kommt ohne Vergangenheit und Herkunft, ohne Erinnerungen und Bezugspunkte nicht aus.

Leon de Winter macht es dem Leser wunderbar leicht, in die Gedanken- und Gefühlswelt seines Protagonisten einzutauchen. Das Innenleben aller anderen Figuren bleibt dagegen vergleichsweise blass. Manchmal gerät Pauls Nabelschau zum mehr oder weniger selbstmitleidigen Egotrip. So wird seine Affäre mit Pauline zur stereotypen Männerphantasie: Die schöne, blutjunge Französin führt ihn aus der Midlife-Crisis zurück zu Leidenschaft, Selbstfindung und wahrer Liebe, während Ehefrau Mieke als nahezu unbegrenzt verständnisvolle Ex-Gefährtin zurückbleibt.

Place de la Bastille wirkt wie die Mitschrift einer Do-it-yourself Traumatherapie. Ganz sicher ist es ein faszinierendes Buch für jeden, der sich auf de Winters Gedankenspiele zum Thema Geschichte, Familie und Identität einläßt. Ein thematisch breit angelegter Roman mit einem ausbalancierten Figurenarsenal ist es allerdings nicht.

 

Hierlwimmer, Heike Anna: Großes Erbe und kleine Überraschungen. Thematische Tendenzen des britischen Kinos nach 1980, 11.01.08

Wenn es um britisches Kino nach 1980 geht, ist zunächst einmal dessen viel beschworene Renaissance zu nennen, die sich zu Beginn der 1980er Jahre vor allem an internationalen Festival- und Kritiker-Erfolgen (wie zum Beispiel den Oscar-Auszeichnungen für Chariots of Fire 1982) festmacht, sowie an steigenden Besucherzahlen, die sich Ende des Jahrzehnts wieder der 100 Millionen-Grenze nähern.[1] Dass diese Besucherzahlen bzw. die Spielpläne britischer Kinos per se zunächst noch nichts über die Produktion oder Rezeption britischer Filme aussagen, wurde im Beitrag von Thomas Weber bereits ausführlich erläutert.

Die Voraussetzungen, unter denen Kinofilme produziert werden, die staatlichen Rahmenbedingungen, Finanzquellen, Studiostrukturen usw., bestimmen das Aussehen, den Inhalt und die Zahl der Filme, die – in Großbritannien oder anderswo – tatsächlich gemacht werden, selbstverständlich in ganz entscheidender Weise. Die überwältigende Dominanz Hollywoods, die Subventionskürzungen unter der Torie-Regierung, aber auch die positiven Impulse von Channel 4 wurden in diesem Zusammenhang bereits von Herrn Weber erwähnt. Nach der Frage, welche Filme wann, warum, von wem, und mit welchen Geldern produziert werden, sollte aber immer auch die Frage gestellt werden, welche Filme wann von wem besonders gerne gesehen werden, und woran das wohl liegen könnte.

Das Publikum besitzt noch immer die größte Macht in der Filmindustrie – ohne Publikumserfolge haben Studios oder Independent-Producer keine Aussicht auf eine Amortisierung ihrer Kosten, keine Rücklagen für neue, evtl. riskantere Projekte, keine Gelder für aufwendige Marketing-Kampagnen usw. Im schlimmsten Fall kann eine einzige gefloppte Big-Budget-Produktion einem Studio bereits die Existenzgrundlage rauben. Leider – oder zum Glück – ist der Geschmack des Publikums im Filmgeschäft von jeher eine nahezu unkalkulierbare Größe, die den Filmproduzenten sowohl gigantische Pleiten als auch unverhoffte Mega-Erfolge bescheren kann. Bei meinen Ausführungen zum British Cinema liegt das Hauptinteresse daher auf denjenigen Filmen, die von einem Kinopublikum irgendwo auf der Welt als „typisch britisch“ oder „typisch englisch“ wahrgenommen und rezipiert werden. Die Frage, die sich hier konkret stellt, ist also nicht, ob es überhaupt ein britisches Kino gibt, sondern die, anhand welcher Kriterien verschiedenes Kinopublikum zu dem Schluß kommen können, einen „britischen Film“ gesehen zu haben. Entscheidend ist dabei nicht, ob diese Kriterien von „Britishness“ einer wie auch immer nachprüfbaren politischen, historischen oder filmindustriellen „Realität“ oder Faktenlage entsprechen, sondern die Tatsache, dass die Masse der Zuschauer einen Film subjektiv als britisch wahrnimmt und auch ohne jede kritische Relativierung von seiner (quasi „naturgegebenen“) „Britishness“ sprechen würde.

Die beliebtesten Genres beim britischen Kinopublikum sind in den 1980er und 1990er Jahren Komödien, Sozialdramen und Literaturverfilmungen – wobei letztere eine enorm große und extrem heterogene Gruppe bezeichnen, denn hierzu gehören streng genommen historische Heritage Filme ebenso wie ein radikal moderner Film à la Trainspotting, der auf einer Romanvorlage von Irvine Welsh basiert). Keines dieser Genres ist zu Beginn der 1980er wirklich neu. Komödien waren in Großbritannien (und anderswo) immer schon sehr populär und oftmals besonders national gefärbt,[2] die Literatur des klassischen Kanons wurde ebenfalls immer schon gerne verfilmt, und Filme mit sozialkritischen Themen sind spätestens seit den „kitchen sink dramas“ der 1950er und 1960er Jahre und dem Einfluß der „angry young men“ aus der Literaturszene[3] ebenfalls keine revolutionäre Neuheit mehr. Etwas salopp formuliert, könnte man die inhaltliche Entwicklung des jüngeren British Cinema insofern als eine Mischung aus dem „Glanz der Vergangenheit“ und ein paar Überraschungserfolgen bezeichnen.

Das Genre mit dem größten bleibenden Einfluß im britischen Kino und zugleich das Aushängeschild schlechthin zum Thema „Glanz der Vergangenheit“ ist dabei sicherlich das Heritage Cinema.[4] Es handelt sich hierbei um eine Reihe von „quality historical films“[5] oder aufwendigen Literaturverfilmungen, die häufig auf Romanvorlagen, besonders von E. M. Forster, basieren.[6] Einige Kritiker haben diese Filme (Chariots of Fire, A Passage to India, A Room with a View, Howard’s End, The Remains of the Day u.a.) als symptomatische Auswüchse des Thatcherism betrachtet – sie seien geprägt von der Flucht in eine idealisierte Vergangenheit und einer Ignoranz aktueller Probleme, verbunden mit einer konservativen Beschwörung eines glanzvollen gemeinsamen Erbes. Auffällig ist in jedem Fall, dass die Heritage Filme parallel zum Boom der britischen Heritage Kultur entstehen, in deren Rahmen Landsitze, Parks und Kunstsammlungen als nationale Kulturgüter bewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.[7]

Genauso viele Kritiker haben allerdings durchaus kritische Untertöne in Heritage Filmen entdeckt oder darauf hingewiesen, dass diverse, auch subversive Lesarten ein und desselben Films oder Themas möglich sind.[8] Insbesondere der Umgang der Filme mit Sexualität und vor allem mit Andeutungen von Homosexualität wurde im Bereich der Queer Studies oft positiv bewertet. Interessant ist hierbei auch die These, dass die vernichtende Kritik am „seichten“, bei Frauen besonders beliebten Heritage Cinema fast ausschließlich von heterosexuellen Männern geäußert wurde, und zwar deshalb, weil die Filme – ähnlich wie der ‚woman’s film’ und das Melodrama der 1930er und 1940er Jahre – eine spezifisch weibliche Sichtweise instrumentalisierten und „feminine reading competence“ erforderten.[9]

Doch was macht diese Filme „typisch britisch“ (in dem Fall sogar typisch englisch) oder unterscheidet sie zumindest von herkömmlichen Hollywood-Produktionen? Die am häufigsten genannten Merkmale sind die folgenden:[10] Heritage Filme beziehen ihre Stoffe aus historischen oder literarischen Vorlagen, die dezidiert als wertvolles nationales Kulturerbe inszeniert werden und eine Nähe zur Kunst und zum „guten Geschmack“ suchen. Sie arbeiten oft mit einem wiederkehrenden Ensemble renommierter britischer Schauspieler (zunächst waren dies Helena Bonham Carter, James Wilby, Anthony Hopkins, Hugh Grant; später kamen u.a. Emma Thompson, Kate Winslet, Judi Dench, Maggie Smith, Colin Firth hinzu), bei denen eine Affinität zum Theater, zum hochwertigen Schauspiel, und nicht zuletzt eine gehobene englische Diktion hervorgehoben wird. Dennoch stehen selten einzelne Schauspieler als Stars im Mittelpunkt – die Betonung liegt auf der Qualität und dem perfekten Zusammenspiel des gesamten Ensembles. Inhaltlich sind komplexe soziale Beziehungen mindestens ebenso wichtig wie Einzelschicksale; Dialoge und Charakterstudien sind wichtiger als Tempo, Action und spektakuläre Effekte; mis-en-scène und Visualität sind wichtiger als eine straffe, spannungsbetonte Narration (Sarah Street spricht sehr anschaulich von einer „display of history as spectacle via a pictorialist camera style“, 103); und meist wird versucht, die Literaturvorlage möglichst „original“ und authentisch umzusetzen (Ausnahmen bestätigen die Regel, z.B. Eingriffe am Plot). Die enorme historische Detailtreue – im Gegensatz etwa zu vielen Historienfilmen – in puncto Kostüme, Requisite, Set Design etc. wird dem Heritage Cinema oft sogar zum Vorwurf gemacht.

Alle Heritage Filme sind geprägt von einem Gefühl der Nostalgie, also der Sehnsucht nach einer irgendwie „schöneren“, besseren Vergangenheit.[11] Diese Nostalgie, die oft als Hauptanklagepunkt gegen die Filme erhoben wird, muß allerdings deutlich differenziert betrachtet werden: Erstens ist sie nicht Teil der persönlichen Erfahrung des Publikums (oder auch der am Film Beteiligten), sondern eine Vergangenheit, die von späteren Generationen konstruiert wird – oftmals im Gegensatz zum Blickwinkel des Autors, der die Originalvorlagen ja als zeitgenössische Szenen schilderte. Zweitens ist die Lust an prachtvollen Bildern, vergangener Schönheit und Eleganz auch gemischt mit kritischen Blicken auf soziale Ungerechtigkeiten (z.B. Frauenemanzipation, Homosexualität etc.), wodurch im Nebeneffekt zugleich die selbst erlebte Gegenwart aufgewertet wird. Drittens ist der Blick nicht auf eine „Gesamtschau“ vergangener Epochen gerichtet, sondern nur auf bestimmte Ausschnitte, und zwar immer auf das Leben der Eliten, der ‚upper middle’ bis ‚upper class’ bzw. Aristokratie. Die Masse der Zuschauer, die diese Filme lieben, ist also nicht nur historisch, sondern auch in ihrer persönlichen sozialen Situierung buchstäblich Welten vom Filmsetting entfernt – wodurch eine interessante Verquickung von „solidarischer“ Identifizierung mit den englischen Vorfahren einerseits und Bewunderung oder Verachtung sozial Höhergestellter andererseits entsteht.

Ein ganz ähnliches Phänomen erklärt womöglich auch den enormen Erfolg dieser Filme (dies gilt auch für neuere britische Produktionen, auf die ich noch kommen werde) in den USA, die dort oft sogar weit besser abschneiden als beim heimischen Publikum.[12] Dieses Phänomen ist die Faszination der US-Amerikaner für alles Europäische, besonders Britische, das den Nimbus von elitärer Vergangenheit, gewachsener, jahrhundertealter Kultur und Tradition besitzt und das in den USA entweder gar nicht vorhanden ist, oder zumindest nicht in dieser Ausprägung. Die Filme genießen beim US-Publikum damit einen beinahe „exotischen“ Reiz und appellieren zudem an die tief verwurzelte Haßliebe der Amerikaner zu ihrer europäischen Schwesternation.[13]

Nach dem ersten Heritage Boom starteten dann in den 1990er Jahren Emma Thompson und Kenneth Branagh eine weitere „Nostalgiewelle“, die vor allem Shakespeare-Dramen adaptierte (Henry V 1989, Much Ado About Nothing 1993, Othello 1995, Hamlet 1996). Auch diese „very british“ anmutenden Filme waren in den USA sehr erfolgreich. Die Verfilmung des englischen Literaturkanons von Shakespeare über Austen, Bronte, Dickens und Thackeray bis zu einer Reihe neuerer Oscar-Wilde-Adaptionen bleibt ganz offensichtlich ein Dauerbrenner – sowohl in Form von „rein“ amerikanischen Big-Budget-Produktionen der Hollywood Majors, als auch mit stärkerer britischer Beteiligung, und sei es nur durch das Schauspieler-Ensemble. Insbesondere Sense and Sensibility (1995) knüpft wieder kommerziell erfolgreich und in puncto Ästhetik, Ensemble und einer Mischung aus historischer Authentizität und mitfühlend-kritischer Ironie künstlerisch sehr gelungen an die Heritage Filme an;[14] selbiges gilt auch für die jüngste Austen-Verfilmung Pride and Prejudice (2005).

Neben diesen filmischen Anknüpfungspunkten an den Glanz der britischen Vergangenheit gab und gibt es aber, wie bereits angedeutet, immer wieder Überraschungserfolge des jüngeren britischen Kinos. Zwei ganz unterschiedliche, aber beide auf ihre Weise sehr britische Filme, sind Four Weddings and a Funeral (1994) und Billy Elliot (2000).

Der Channel 4/Working Title/Polygram-Produktion Four Weddings gelang das schier unmögliche, nämlich Publikum, Kritiker und Festivaljurys weltweit zu begeistern und einen ungeheuren finanziellen Erfolg zu erzielen (die Einspielsumme liegt über 244 Mio $) – und das mit einem vergleichsweise minimalen Budget von ca. 6 Mio $ und einem Ensemble ohne wirkliche „Kassenmagnete“, sprich Superstars. Der lose, episodenhafte Plot des Films handelt von einer Gruppe Freunde aus der britischen ‚upper-middle class’, die im Laufe eines Sommers bei vier Hochzeiten und einer Beerdigung zusammen kommen; der im Titel genannte Todesfall hatte sich bei einer der Hochzeiten ereignet. Im Wechsel zwischen beißender Ironie, schreiender Komik und tief bewegender Tragik verfolgt der Film die Irrungen und Wirrungen sämtlicher Filmfiguren bei ihrer Suche nach der großen Liebe, oder wenigstens nach einer soliden Partnerschaft oder einer standesgemäßen Beziehung. Der Protagonist Charles (alias Hugh Grant) und die Amerikanerin Carrie finden erst zueinander, nachdem sie bereits geschieden ist und er in letzter Sekunde vor der Trauung mit einer anderen geflohen war; nach ihren traumatischen Eheerfahrungen versprechen sie feierlich, einander nicht zu heiraten, und zwar für den Rest ihres Lebens.

Obschon der Film in der Gegenwart spielt, steht Four Weddings deutlich in der Tradition der Heritage Filme.[15] Hauptdarsteller Hugh Grant wurde durch den Heritage Film Maurice bekannt, es gibt ein exzellentes britisches Ensemble, britische Settings und die bekannte Faszination für die englische ‚upper class’, diesmal allerdings weitgehend frei von kritischen Untertönen bzw. Blicken auf andere Teile des sozialen Spektrums. Interessanterweise wurde der Film gerade auch in den USA zum Kassenschlager, obschon inhaltlich mit den uralten Konflikten zwischen „peinlichen“ Amerikanern und vermeintlich kulturell überlegenen Engländern gespielt wird, die dem Klischee der blasierten Snobs stellenweise vollauf gerecht werden. Neben solchen „alten“ Themen gibt es aber auch einen sehr modernen Umgang mit dem Thema Homosexualität, der in früheren Filmen so nicht denkbar gewesen wäre. Denn allem Mainstream-tauglichen, in Hochglanzoptik gefilmten Hochzeitsfieber zum Trotz, besteht das glücklichste Paar des Films lange Zeit aus den beiden (logischerweise unverheirateten) Männern Matthew und Gareth, deren tiefe und aufrichtige Liebe spätestens bei Gareths Beerdigung allen Anwesenden und Zuschauern deutlich wird.

Persönliche und partnerschaftliche Erfüllung wird hier also definitiv nicht zwangsläufig mit Heterosexualität, kirchlicher Trauung und der Institution Ehe gleichgesetzt. Allerdings werden im Abspann alle Figuren auf Schnappschüssen oder Hochzeitsfotos glücklich vereint mit ihren alten oder neuen Partnern gezeigt (nur die vom Schicksal gebeutelte Fiona ist lediglich in einer Montage mit Prince Charles (!) zu sehen). Der Tenor des Films – wahre Liebe kennt keine Grenzen, und es lohnt sich immer, auf die eine, große Liebe zu warten – ist also aus Hollywood-Liebeskomödien hinlänglich bekannt.

Wirklich „britisch“ wird Four Weddings aber (neben den genannten Heritage-Attributen) durch Anklänge an landeseigene Komödientraditionen im Film wie im Theater. Gemeint ist hier zum einen ein „typisch britischer“ Humor (nicht nur wegen des Gastspiels von Rowan Atkinson als chaotischem Pfarrer), und zwar eine Mischung aus Slapstick, „Schusseligkeit“, geschliffenen Dialogen voller Schlagfertigkeit, Wortwitz und trockener Ironie. Zusammen mit dem ‚upper class-setting’ und dem zentralen Thema des ‚match-making’ und des Geschlechterkampfes, zitiert der Film somit ganz deutlich Elemente der englischen Comedy of Manners, einer Theaterliteratur also, die von Noel Coward über Oscar Wilde bis zum Restoration Theatre am Ende des 17. Jahrhunderts zurückreicht.

An der Produktion von Billy Elliot waren u.a. die BBC, der Arts Council of England und, wie schon bei Four Weddings, Working Title beteiligt. Wieder handelt es sich um einen gigantischen Kassenerfolg (ca. 5 Mio $ Budget brachten in den USA knapp 22 Mio $, in Großbritannien knapp 17 Mio. Pfund Einspielsumme), und wieder wurde der Film mit Kritikerlob und Preisen förmlich überschüttet. Im Gegensatz zu Four Weddings spielt er jedoch am völlig anderen Ende des sozialen Spektrums, nämlich vor dem Hintergund eines Bergarbeiterstreiks in Nordengland im Jahr 1984. Billy Elliot zeigt soziale, kulturelle und politische Themen im Großbritannien der 1980er Jahre buchstäblich in ihrer ganzen Bandbreite, von der nordenglischen Bergarbeiter-Tristesse bis zur Elite-Tanzschule, vom schmutzigen Hinterhof bis zum angestrahlten Portal des Haymarket Theatre. Denn der Protagonist bricht aus seiner deprimierenden ‚working-class’ Herkunft aus und bekommt – anstatt wie sein Vater zu boxen – eine klassische Tanzausbildung an der Royal Ballet School.

Der Plot besitzt mehrere Nebenstränge, die im Gegensatz zu Billys Schicksal alle mehr oder weniger tragische Qualitäten besitzen. Billys Oma hängt, von Altersdemenz und anderen Gebrechen geplagt, ihren Jugendträumen nach, Tänzerin zu werden; sein Vater kämpft, nach dem frühen Tod seiner Frau verbittert, permanent gegen die finanzielle Katastrophe und die persönliche Demütigung an, als Bergarbeiter, Vater und Mann zu versagen bzw. schlicht überflüssig zu sein; und Billys Bruder versucht sich erfolglos mal als „angry young man“, mal als Macho oder heimliches Familienoberhaupt. Für die kettenrauchende Ballettlehrerin Mrs. Wilkinson ist Billy die erste (und vermutlich auch die vorerst letzte) positive Unterbrechung ihrer beruflichen und familiären Stagnation und Desillusionierung. Die Kinder in Billys Schule und Ballettklasse, die weniger Talent, Mut, Ehrgeiz und Förderung haben, werden, so suggeriert der Film, vermutlich die wenig erfreulichen Schicksale ihrer Eltern wiederholen. Nur für seinen besten Freund Michael, dessen Liebe zu Billy unerfüllt bleibt, gibt es ein echtes Happy-End, als er nach offensichtlich geglücktem Coming-out, mit schwulem Partner und Travestie-tauglichem Outfit in London Billys Schwanensee-Premiere erlebt.

Billy befreit sich aus dem väterlichen Arbeitermilieu, aus traditionellen Männerrollen, und aus der emotionalen Unterversorgung, die nach dem Tod seiner (ebenfalls musisch begabten) Mutter entstanden war. Wenn er tanze, so erzählt Billy dem Aufnahmekomitee an der Royal Ballet School, dann verschwinde er einfach: „I kind of disappear“. In dieser „Auflösung“ seiner bisherigen Persönlichkeit steckt jedoch eine Art „Neuentdeckung“, die Billy als beglückend und sehr intensiv erlebt, „like electricity“. Seine Entwicklung vom prädestinierten Underdog zu einem selbstbewußten, optimistischen jungen Künstler zeigt sich im Film häufig mit Bildern von Mauern oder verschlossenen Türen, gegen die Billy zunächst buchstäblich prallt, und die nach und nach von sich öffnenden Wegen, Ausblicken und Billys ersten Reiseerfahrungen abgelöst werden.

Besonders eindrucksvoll ist die (evtl. typisch britische?) Mischung aus bitterstem Sozialdrama und geradezu klassischer Tragik auf der einen Seite und einem komischen Spektrum auf der anderen Seite, das von Slapstick und Klamauk bis zu anrührenden und tragikomischen Momenten reicht.

Andere britische Filme, die ich als Komödien mit Mischcharakter bezeichnen würde, die aber zum Teil (aus welchen Gründen auch immer) nicht denselben Erfolg hatten, sind beispielsweise Little Voice (1998), The Full Monty (1997) und Love Actually (2003). So unterschiedlich diese drei Filme im einzelnen auch sind, zeichnen sie sich doch durch eine Reihe gemeinsamer Elemente aus, die in der Tradition des britischen Kinos und der britischen Kultur eine wichtige Rolle spielen: Erstens spielen hier britische Schauspieler mit dezidiert britischer Diktion (sei es nun Oxford English oder nordenglischer Arbeiterslang), viele davon sind aus Heritage Filmen bekannt. Zweitens haben die Filme oftmals eine episodenhafte narrative Struktur; in jedem Fall aber eine tendentiell langsamere, „entschleunigte“ Erzählweise, die ohne allzu viele Spezialeffekte, Action und Stunts auskommt. Drittens gibt es britische Settings (ob Kleinstadt, Landschaft oder Metropole) und britische (Populär-)Kultur von Pubs, Karaoke und britischen Popmusik-Klassikern im Soundtrack bis hin zu Zentren politischer Macht und royalistischer Prachtentfaltung, die mal ironisch gebrochen, mal explizit schwärmerisch zur Schau gestellt werden. Viertens ist in wirklich sämtlichen Filmen ein extrem geschärftes Bewußtsein für das immer noch intakte britische Klassensystem spürbar – und mitunter auch ein Aufbegehren dagegen. Fünftens leben alle Filme von einer möglicherweise typisch britischen Komik, die von lakonischer Ironie bis zu schwarzem Humor reicht. Sechstens und letztens gibt es wieder das bereits erwähnte Nebeneinander von tragischen und komischen, sozialkritisch-realistischen und romantisch bis märchenhaften Elementen. Alles zusammen ergibt eine besondere Genremixtur, die sicherlich nicht einfach zu klassifizieren ist, als eben solche für mich aber „typisch britisch“ zu sein scheint.

Literatur:

  • Helbig, Jörg. Geschichte des britischen Films. Stuttgart: Metzler, 1999.
  • Higson, Andrew. “British Cinema.” The Oxford Guide to Film Studies. Ed. John Hill and Pamela Church Gibson. Oxford UP, 1998: 501-509.Hill, John. British Cinema in the 1980s: Issues and Themes. Oxford: Clarendon Press, 1999.Street, Sarah. British National Cinema. London and N.Y.: Routledge, 1997.

Statistische Angaben zu Einspielergebnissen u.ä. sind den entsprechenden Sites zum jeweiligen Filmtitel in der Filmdatenbank www.imdb.com entnommen.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. vgl. Helbig, S. 270 ff.
  2. vgl. Street, S.  46-59.
  3. vgl. Street, S. 79 f.
  4. vgl. Helbig, S. 276 ff.
  5. Street, S. 103
  6. vgl. Hill, S. 78
  7. vgl. Hill 73 ff.
  8. vgl. Street, S. 104 f.
  9. vgl. Hill 97 f.
  10. vgl. hierzu z.B. Hill, S. 78-82; Street, S. 103 f.
  11. vgl. Hill 84 ff.
  12. vgl. Hill, S. 79
  13. Eine wunderbare Sentenz zum Thema USA und Großbritannien spricht von „two nations, divided by a common language“.
  14. vgl. Street 111 f.
  15. vgl. Street, S. 110