Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?

Besprochen von Hans W. Giessen

  • Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 425 S., EUR 74,90.

Dass ich das Thema des Buches wichtig finde, wird bereits daran sichtbar, dass ich für besprochen@avinus bereits Texte zu Robert D. Putnam und zum Buch von Youssef Courbage und Emmanuel Todd geschrieben habe, die ähnliche Fragestellungen betreffen. Der Band von Courbage und Todd mit dem französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist eine direkte Reaktion auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996. Auch Christoph Antweiler beschäftigt sich mit diesen Fragen, und bis zu einem gewissen Grad ist auch sein Buch ein Rejoinder Huntingtons.

Dabei geht es nicht darum, zu leugnen, dass es unterschiedliche Kulturen gibt, die sich mitunter mit Unverständnis gegenüberstehen, manchmal antagonistisch, und es sogar kulturell motivierte Terrorakte und Kriege gibt. Es geht darum, dass man Kulturen nicht auf ihre Gegensätze reduzieren kann. Denn es gibt auch zahlreiche anthropologische Konstanten beziehungsweise „Universalien“. Sie sind in der Realität immer wieder Brücken zwischen den Kulturen. Zudem wandeln sich Kulturen: Vom Wikinger zum heutigen Skandinavier war es ein weiter Weg, der offenbar innerhalb einer „Kultur“ zurückgelegt wurde. Es ist also falsch, Kulturen als unwandelbar und einander unverständlich darzustellen. Mehr noch: Es kann sogar gefährlich sein, denn das hieße ja, es wäre bestenfalls ein Nebeneinander möglich, schlimmstenfalls wären Krieg und Terror die einzigen Möglichkeiten des Kontakts, keineswegs aber wäre ein friedliches Miteinander auf der Erde denkbar.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade Ethnologen nur auf die Differenzen der verschiedenen Kulturen abstellen. Dafür gibt es viele prominente Beispiele, von Franz Boas bis Clifford Geertz. Gewiss, sie verstehen sich als empirische Wissenschaftler, und hier fällt eher das Unterschiedliche auf – das man sogar messen kann, wie es Geert Hofstede gemacht hat. Seine Ergebnisse sind das statistische Resultat von rund 100.000 Fragebögen. Diese Ergebnisse ermöglichen in der Tat ein besseres Verständnis kulturabhängigen Verhaltens.

Allerdings spielt menschliches Verhalten sich auf mehreren Ebenen ab, wie nicht zuletzt Hofstede selbst bestätigt. Jedes Individuum ist einzigartig und verhält sich in spezifischen Situationen so wie kein anderer Mensch sich verhalten würde. Dann gibt es in der Tat die Ebene der Kultur. Vergleichbar wichtige (und messbare) Ebenen sind aber auch soziale Stellung oder der weltanschauliche Kontext. Ich kann mich oft besser mit einem türkischen Universitätsangehörigen unterhalten (mit dem ich, trotz unterschiedlicher Kultur und Sprache, doch einiges an Erfahrung gemeinsam habe) als Mitgliedern des eigenen Kulturkreises, die aus einem ganz anderen Milieu stammen.

Schließlich gibt es eine weitere Ebene – ebenfalls von Hofstede bestätigt –  die von vielen Ethnologen aber offenbar ignoriert wird: diejenige anthropologischer Konstanten, das, „was allen Menschen gemein ist“, die „Universalien“, wie Christoph Antweiler sie nennt. „Was ist den Menschen gemeinsam?“ lautet der Titel seines Buches.

Christoph Antweiler wurde 1956 im Rheinland geboren, studierte in Köln Ethnologie, Paläontologe und Geologe und promovierte in Ethnologie. Seine Feldforschung hat er auf der indonesischen Insel Sulawesi durchgeführt; die dabei entstandene Studie arbeitete er zu seiner Kölner Habilitation aus. Zunächst hatte er den Ethnologie-Lehrstuhl an der Universität Trier inne, heute ist er an der Universität Bonn tätig. Inzwischen hat er sich zu einer der prominentesten Stimmen in Deutschland entwickelt, die nach Gemeinsamkeiten menschlichen Verhaltens trotz Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen sucht.

Antweiler wehrt sich dagegen, dass „kulturelle Differenz gegenwärtig die globale Leitwährung des Denkens über Kultur“ ist und dass von einem „wieder erstarkten Denken von Kulturen als Kugeln, Monaden oder Containern“ geredet wird. Auch wenn diese Aussage ein wenig zu verallgemeinernd ist – in der Tendenz hat er bedauerlicherweise recht. Dennoch kippt Antweiler nicht ins andere Extrem. In der Einleitung macht der Autor deutlich, um was es ihm geht:

Autoren werden von Journalisten oft gebeten, ihr Buch in einem Satz zusammenzufassen. Angesichts dieses umfangreichen Buches gönne ich mir für diese Kurzformel drei Sätze: Es existiert eine enorme Vielzahl zwischen und innerhalb der Kulturen der Menschen, aber es gibt dennoch viele Phänomene, die in allen Gesellschaften regelmäßig vorkommen. Diese Universalien sind teilweise in der Biologie des Menschen begründet, teils haben sie aber auch andere, soziale, kulturelle und systemische Ursachen. Wir brauchen Kenntnisse über Universalien für eine empirisch fundierte Humanwissenschaft und dieses Wissen ist auch praktisch relevant für realistische Lösungen menschlichen Zusammenlebens.

Antweiler will also die „Universalienforschung rehabilitieren“, indem er Universalität und Vielfalt zusammenbringt, „statt sie gegeneinander auszuspielen“, wobei sein Schwerpunkt bei den von den meisten Fachkollegen vernachlässigten Universalien liegt.

Der Einführung folgt ein historischer Überblick über das „Denken über Universalien“. Dabei überschreitet Antweiler wiederholt die Grenzen des Faches Ethnologie – sein Buch ist im besten Sinn interdisziplinär. Es behandelt entgegen der heutigen eindimensional ethnologischen Sicht „uralte Fragen zu Menschen und Kulturen“. Antweilers Spektrum reicht von der philosophischen Anthropologie (die nach dem „Wesen des Menschen“ fragt) bis hin zu Hofstedes ökonomischen Blick, dazwischen finden sich soziologische oder psychologische Ansätze. Auf dieser Grundlage gelingt es Christoph Antweiler, eine profunde Basis menschlicher Universalien zusammenstellen. Neben der sozialwissenschaftlichen und kulturellen Vorgehensweise richtet sich seine Aufmerksamkeit außerdem auf die „evolutionäre Erklärung“ (evolutionary explanation) als „dritte grundlegende Möglichkeit, Universalien zu erklären“. Ein Glossar, eine umfassende Bibliographie, ein Register mit Stichworten und Autorennamen sowie ein Anhang mit neun Universalienlisten runden das Werk ab.

 

Über „Geschichtsbilder und Zeitzeugen“ von Judith Keilbach

Besprochen von Victor Nono

  • KEILBACH, Judith: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialimus im bundesdeutschen Fernsehen. Lit Verlag, Münster 2008. ISBN: 978-3825811419.

Kaum eine Woche vergeht, in der sich – insbesondere in Deutschland – das Fernsehen nicht mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen würde. Es scheint, als habe dieser Flow des historischen Fernsehens heute einen Grad an Unübersichtlichkeit erreicht, der fast vergessen lässt, dass auch die mediale Aufarbeitung mit der NS-Zeit selbst eine historische Entwicklung durchlaufen hat.

Diese ist jedoch – so die von der Fernsehwissenschaftlerin Judith Keilbach verfolgte und hier gleich vorweggenommene These – keineswegs allein nur den Ergebnissen historischer Forschung oder politisch interessierter Entschuldungslogik geschuldet, sondern der Eigendynamik des Fernsehens selbst.

In ihrem Buch konzentriert sie sich auf den bisher im Vergleich zu fiktionalen Darstellungen ungleich weniger beachteten dokumentarischen Ansatz des Fernsehens, auf die Geschichtsdarstellung, die immer auch Geschichtsvermittlung war. Nicht um „Schindlers Liste“ geht es also, nicht um ein „Lachen über Hitler“ in seinen verschiedenen Varianten, sondern um die nüchternen Bestandsaufnahmen von filmischen Dokumentaristen, die vorhandenes Bildmaterial auswerten, Originalschauplätze aufsuchen und immer wieder Zeitzeugen befragen, so wie es kinematographische Vorbilder von „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais oder „Shoah“ von Claude Lanzmann einem breiteren Publikum nahebrachten.

Das Buch von Judith Keilbach ist nun die erste umfassende, ausführliche Auseinandersetzung mit dokumentarisch geprägten Fernsehproduktionen, die sich mit Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen. Dabei stellt die Autorin die Figur des Zeitzeugen in den Mittelpunkt, der im Medium Fernsehen eine zentrale Rolle spielt und gleichwohl eine Reihe von medialen Transformationen durchlaufen hat.

Anders als Jacques Derrida im Allgemeinen das Wechselspiel von Zeugnis, Indiz und Beweis in Folge der unaufhörlichen Formen der Remediatisierung beschrieb, wird die Figur des Zeugen bei ihr historisch konkret am Material greifbar. Eines der stärksten Kapitel der Arbeit ist die präzise Analyse der Transformation von Zeitzeugenschaft. So stellt sie eine „Transformation von juristischen Zeugen mit Beglaubigungsfunktion in Zeitzeugen oder ‚Erinnerungsmenschen’“ fest, „deren Status dem von ‚Fakten‘ bzw. ‚Quellenmaterial‘ gleichkommt. Als solche sind sie auch jenseits der juridischen Praktiken von Interesse – beispielsweise für die Geschichtswissenschaft oder das Fernsehen. Hier werden die Erinnerungen produktiv gemacht, um Geschichte zu rekonstruieren oder diese als historische Erfahrung von einzelnen Zeitzeugen zu konkretisieren.“ (S. 147)

Keilbach analysiert dabei die verschiedenen Verfahren, mit denen Zeugenaussagen implizit kommentiert werden, etwa durch die Wahl des Bildausschnitts, der Länge von Einstellungen, deren Quantität, durch Verweise auf andere Zeugen, Voice-Over-Techniken, Schrifteinblendungen usw. Dabei enthüllt sich ein fernsehtypisches Medieninstrumentarium, das sich keineswegs allein in der historischen Bewertung von Quellen erschließt.

Diese medienanalytische Vorgehensweise kann gerade mit Blick auf der NS-Zeit nicht allein nur Historikern überlassen werden, da es bei der medialen Vermittlung nicht allein nur um historische Wahrheit, sondern auch um die Glaubwürdigkeit von Vermittlung geht, die sich mehr denn je an medialen Kriterien ausrichtet.

Denn vom Fernsehen genutzte Zeitzeugen zur Beglaubigung audiovisueller Darstellungen unterliegen selbst Transformationsprozessen; so stellt Keilbach fest: die „Schilderungen [der Zeitzeugen] von vergangenen Ereignissen und ihre körperliche Präsenz fungieren in den Fernsehsendungen inzwischen längst als formale Verfahren zur Authentifzierung der Geschichtsdarstellung und Affizierung der Zuschauer.“ (S. 147)  Tatsächlich „verschiebt sich [ihre Funktion] von der Beglaubigung der Fakten zur Affizierung der Zuschauer und der Bildungsanspruch der Sendungen (historische Aufklärung) wird durch das Ziel der emotionalen Beteiligung überlagert.“ (S 142) Und Keilbach kommt dabei zu dem Ergebnis: „Aktuelle Geschichtsdokumentationen legen sich daher oft nicht auf eine eindeutige Haltung ihren Zeitzeugen gegenüber fest. Vielmehr übernehmen sie je nach argumentativer Notwendigkeit die Statements mal affirmativ oder distanzieren sich von ihnen.“ (S. 212)

Keilbach rekurriert mit dieser Feststellung auf neuere medientheoretische Ansätze wie etwa von Francesco Casetti und Roger Odin, die mit ihrer Unterscheidung in ein Paläo- und Neo-Fernsehen gerade die mediale Eigendynamik zu charakterisieren versuchen und d.h. auch den Funktionswandel des Mediums Fernsehen. Diesen zu analysieren scheint unerlässlich, um den Umgang des Fernsehens mit Zeitzeugen überhaupt beurteilen zu können, wie die Autorin herausstellt.

Leider ist es als Leser nicht immer ganz leicht, in dem von ihr analysierten Material den Überblick zu behalten. Ein ausführlicher, kommentierter filmographischer Anhang, der die behandelten und z.T. gerade auch eher unbekannten Fernsehproduktionen übersichtlich vorstellt, hätte dieses Buch daher sinnvoll ergänzen (und der Verlag das hohe Argumentationsniveau der Autorin unterstützen) können.

Nichtsdestotrotz leistet das vorliegende Buch einen wertvollen Beitrag zur erinnerungskulturellen Debatte der letzten Jahre: Judith Keilbachs Arbeit bietet erstmals ein wichtiges analytisches Instrumentarium zur Analyse historischer Ereignisse im Fernsehen, bei denen Zeitzeugen zu Wort kommen und sich die Frage der Glaubwürdigkeit stellt.

Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik.

Besprochen von Hans W. Giessen

  • BUCKLAND, Michael: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik. Aus dem Englischen von Gernot Rieder. Avinus, Berlin 2010. ISBN: 978-3869380155.

(Erstmals erschienen in: Information – Wissenschaft & Praxis 62 Jahrgang Nr. 2/3, März/April 2011, 134 – 135.)

Dass sich die Technik, die gesellschaftliche Entwicklung, das Weltwissen immer schneller ändern, ist ein Gemeinplatz. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Informationswissenschaft vor allem auf die Gegenwart blickt. Dabei ist auch ihre Geschichte überraschend und teilweise ausgesprochen spannend. Ein Beispiel ist die Lebensgeschichte des Emanuel Goldberg (geboren am 31 August 1881 in Moskau, gestorben am 13 September 1970 in Tel Aviv), die in weiten Teilen eine deutsche Lebensgeschichte ist – bis Goldberg in den dreißiger Jahren nach Israel fliehen musste.

Nun war Goldberg kein Informationswissenschaftler im engeren Sinn – sprich: er hat weder Bibliothekswissenschaften noch ein anderes Fach studiert, das als Vorläufer der heutigen Informationswissenschaft gelten kann. Vielmehr war er ausgebildeter Chemiker, zudem Erfinder, Hochschullehrer, Unternehmer, Fotograf und Filmregisseur. Dass seine Biografie dennoch hier gewürdigt wird, hängt damit zusammen, dass auf ihn auch eine Erfindung zurückgeht, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, die aber in der Tat bahnbrechend war: die ,Statistische Maschine’. Sie hat die unterschiedlichsten Wissensbereiche, Techniken und Medien zusammengeführt. Die wichtigsten Medien waren der Mikrofilm, mit dessen Hilfe Dokumente gespeichert wurden, zudem Lochkarten, um Suchanfragen formulieren zu können. Technisch nutzte Goldberg einen ,Kinematographen’; die Dateneingabe erfolgte über ,Telephonie’. Letztlich handelte es sich um ein optisch-elektronisches System, das in einem Bildschirm-Arbeitstisch integriert war, den Goldberg wohl 1931 bereits konstruiert hatte; im zweiten Weltkrieg ist er offenbar durch Bombardierung vernichtet worden. An diesem Arbeitsplatz war es damals schon möglich, Dokumente aufgrund spezifischer Kriterien zu suchen, auszuwählen und abzubilden.

Das klingt nach der fiktiven Memex in Vannevar Bushs berühmten und vielzitierten Essay “As we may think“ aus dem Jahr 1945? In der Tat; und offenbar wusste Bush auch von Goldberg – der mithin der eigentliche ,Erfinder’ dessen ist, wofür Bush in vielen Fußnoten gedankt wird: des Konzepts der Suchmaschine, bis zu einem gewissen Grad auch des Hypertexts. In Wahrheit hatte Bush keinen entsprechenden Apparat in petto, sondern griff nur Ideen dessen auf, was Goldberg 15 Jahre früher realisiert hatte. Aber 1945 war Goldberg in Israel, hatte seine einflussreiche Stellung in Deutschland verloren – wo sich an ihn, den Juden, auch niemand mehr erinnern wollte. Aber auch in Amerika hat ihn nicht zuletzt Bush offenbar bewusst verschwiegen, um den eigenen Stern umso stärker leuchten zu lassen. Erst jetzt hat die neue Biografie von Michael Buckland deutlich gemacht, wer Goldberg tatsächlich war: unter anderem eben auch ein früher Informationsexperte, einer der Begründer der Informationswissenschaft.

Michael Buckland ist emeritierter Professor der School of Information an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Einerseits will er die Geschichte der Informationswissenschaft an durchaus entscheidender Stelle korrigieren. Buckland ist dazu der richtige Mann, mit überlegenem fachlichen Überblick. So wäre allein die Art und Weise, wie er diesen komplexen informationswissenschaftsgeschichtlichen Stoff fachlich wie sprachlich fasst (und etwa technische Erfindungen und Vorgänge anschaulich beschreibt), ein Musterbeispiel souveräner Informationsaufbereitung. Einzige Kritik: Angesichts der Fülle an Namen, technischen Daten und Geräten wäre ein Register wünschenswert gewesen. Immerhin gibt es einen ausführlichen Appendix, in dem Goldbergs Laborerzeugnissen aufgelistet und wohl erstmals eine Gesamtveröffentlichungsliste Goldbergs publiziert wird.

Andererseits ist Buckland von seinem Helden ganz offensichtlich fasziniert, und er taucht tief in diese spannende Verknüpfung von Lebens- und Zeitgeschichte ein. Goldberg stammt aus einer jüdischen Familie, die in Moskau lebte; sein Vater hat es, eine große Ausnahme für einen Juden im zaristischen Russland, zum Offizier, Hofrat und in den Adelsstand gebracht. Bemerkenswert ist, dass der Sohn, obwohl hochintelligent, dennoch nicht an der ,Kaiserlichen Technischen Lehranstalt’ studieren konnte, da die Studienplätze für Juden limitiert waren. Freilich, der junge Mann, der auch Deutsch sprach (angeblich hat ihm seine deutschstämmige Mutter ihre Sprache so beigebracht, dass er akzentfrei redete und als Muttersprachler durchgehen konnte), nutzte dieses Problem virtuos, indem er seine Ausbildung selbst in die Hand nahm. Neben Studien an der Universität Moskau besuchte er Veranstaltungen an den Universitäten in Königsberg, Leipzig und Göttingen, zwischendurch war er auch in London. Er suchte sich die besten Lehrer, in Göttingen etwa Walter Nernst, der 1920 den Nobelpreis für Chemie erhalten sollte, und in Leipzig Wilhelm Ostwald, Chemie-Nobelpreisträger von 1909. Das klingt, wie man sich ein Studium vorgestellt haben mag, als der ,Bologna-Prozess’ konzipiert wurde… Bei Wilhelm Ostwald konnte Goldberg 1906 auch promovieren. Die Arbeit trug den Titel „Beiträge zur Kinetik photochemischer Reaktionen“.

Vor diesem Hintergrund ist es fast kein Wunder mehr, dass er bereits ein Jahr später, nach kurzer Assistenzzeit an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, zum Professor an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig ernannt wurde, wo er sich zunächst mit den technischen Voraussetzungen der Reproduktionsfotografie befasste. Aber nicht nur – er war immer offen, forschte weiter, dabei stets anwendungsorientiert. Schon damals befand er sich, als einer der wenigen seiner Zeit, an der ,Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine’, denn immer ging es ihm auch darum, was der Mensch aufgrund seiner physischen und psychischen Konstellation nutzen wollte und konnte. Und obwohl er sich stets als Chemiker und Techniker verstand, war er beispielsweise schon im Studium im Kontakt mit Wilhelm Wundt, der damals gerade die Psychologie als empirische Wissenschaft begründete. Seine Lehrveranstaltungen umfassten auch künstlerische Fragestellungen und Themen.

Goldberg war so innovationsfreudig, erfinderisch und anwendungsorientiert, dass er Angebote aus der Industrie erhielt, insbesondere aus England und den USA, dort von Kodak. Aber er wollte in Deutschland, in seiner ,Heimatstadt Leipzig’ bleiben. Dort wurde 1914 sein Sohn Herbert geboren. Aber auch hier kam bald ein sehr interessantes Angebot, das er dann auch annahm. So wechselte Goldberg 1917 auf den Direktorenposten der „Internationalen Camera Actiengesellschaft“. Er war maßgeblich beteiligt, als die ICA 1926 durch Fusionen in die Zeiss Ikon umgewandelt und zum weltweit führenden Unternehmen im Bereich von Fotoapparaten und Filmkameras ausgebaut wurde. Eine beeindruckende, glückliche Karriere; glücklich wohl auch im Privatleben – 1922 wurde als zweites Kind die Tochter Renate geboren.

Auch bei Zeiss Ikon blieb er überraschend innovativ, kreativ, ja spielerisch. Auf der einen Seite war er an Patenten aus den unterschiedlichsten Bereichen beteiligt, von der Luftfotografie bis zur Mikrofotografie. Vielleicht hätte aus Goldberg gar ein deutscher Edison werden können. Natürlich ist es müßig, zu spekulieren, was er noch hätte entwickeln können, wenn er nicht 1933 ausgebremst worden wäre. Zudem war Goldberg nicht nur Techniker und Erfinder, sondern auch, wie Edison, ein kaufmännisch, und, dahingehend den Vergleich sogar übertrumpfend, ein künstlerisch hochbegabter Mann. Er kümmerte sich um Marketingstrategien und drehte, um zu zeigen, wie gut die Kinamo-Filmkamera funktionierte, selbst kleine Minimovies: „Die Drehbücher hatte er selbst verfasst und auch für die Produktion verzichtete er auf Hilfe von außen. In den Filmen traten er selbst, seine Frau, seine Kinder und einige Freunde der Familie als Schauspieler auf“ (121). Aber die Filme waren offenbar alles andere als amateurhaft, wie Buckland betont: „So lässt sich in ihnen eine sehr fachkundige Komposition, ein gekonnter Schnitt und ein ziemlich raffinierter Einsatz von Gegenlicht und Schatten erkennen“ (125). Der noch junge Joris Ivens, später einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer des zwanzigsten Jahrhunderts, besuchte Goldberg, um von ihm zu lernen. In seinem berühmten frühen Film „Die Brücke“ aus dem Jahr 1928, der als einer der ersten Dokumentarfilme auch die Rolle des Filmemachers thematisierte, indem Ivens sich bei der Arbeit zeigt, ist er mit einer Goldbergschen Kinamo-Kamera zu sehen.

Der Bruch kam bereits 1933, als Emanuel Goldberg von SA-Schergen entführt und misshandelt wurde. Immerhin war er in der Position, sich retten zu können. Bis 1937 arbeitete er für eine Zeiss-Niederlassung in Frankreich, bevor er nach Palästina emigrierte. Auch wenn er weiter kreativ und unternehmerisch blieb – er gründete ein Laboratorium, aus dem später die Electro-Optical Industries hervorging, der Nukleus der optischen Industrie Israels –, war es schwer, an die frühen Erfolge anzuknüpfen. So verlief sein weiteres Leben glimpflich im Vergleich zu dem anderer Juden, und insofern war er nach wie vor ein Glückskind. Aber dennoch: Er wurde aus seinem Lebensumfeld gerissen, seine Karriere war zerstört. Was hätte er noch alles entwickeln können, wäre sie weiter so verlaufen, wie sich dies abgezeichnet hatte!

Dass Bucklands Goldberg-Biografie nun auch in deutscher Sprache erscheint, ist eine kleine Wiedergutmachung und Goldbergs Bedeutung absolut angemessen. Dass sie zudem ausgesprochen lesbar und spannend geschrieben ist, macht aus der Lektüre ein intellektuelles Vergnügen.

 

Gedächtnismedium Film: Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945

Besprochen von Victor Nono

Ausgehend von den Arbeiten von Harald Welzer wendet sich Christoph Vatter einem in den letzten Jahren gewachsenen Interesse an der Mediatisierung von Erinnerung, insbesondere an den Holocaust und den Nationalsozialismus zu. Anders als Welzer interessiert er sich jedoch weniger für die Rückwirkung der filmischen Darstellung auf die Zeitzeugen als vielmehr auf den Beitrag von filmischen Darstellungen für die Diskursgeschichte des Dritten Reiches bzw. Frankreichs unter deutscher Besatzung. „Medien können nach dieser Auffassung ein Erinnerungsangebot darstellen“, schreibt Vatter,  „das – wenn es entsprechend breit rezipiert wird – zum Kommunikationsanlass werden und in einer bestehende Erinnerungskultur integriert werden kann. Das Zusammenspiel mehrerer Medien, d.h. die transmediale Darstellung eines Ereignisses oder Themas, könnte – in Analogie zu kognitiven Lerntheorien – zu einer tieferen Verarbeitung und damit auch zu produktiven Aneignungsprozessen der Rezipienten beitragen […] Die Erinnerungskultur einer Gesellschaft umfasst demnach nicht nur das erinnerte historische Geschehen, sondern auch die Summe all seiner medialer Verarbeitungen, die Gegenstand gesellschaftlicher Kommunikation waren und sind.“ (S. 37)

Diese an aktuelle Forschungsdiskussionen anknüpfende Reflexion ist für Vatter Anlass, sich der Bedeutung filmischer Darstellungen für die Erinnerungskulturen in Frankreich und Deutschland zuzuwenden. Dabei gelingt ihm zunächst eine kleine Miniatur: die knappe und übersichtliche Zusammenfassung der wesentlichen Etappen deutscher und französischer Diskurse im Vergleich, die tatsächlich einen wertvollen Überblick gerade der in Deutschland wenig bekannten französischen Entwicklungen bietet.

Das Hauptaugenmerk von Vatters Arbeit liegt indes auf der Beobachtung der filmischen Entwicklung, die mit eindrucksvollen Analysen glänzt. Dabei wählt Vatter jeweils exemplarisch für eine historische Phase Filme aus, die in besonderem Maße die Debatte prägten: Angefangen bei René Clement, Wolfgang Staudte, Helmut Käutner, Julien Duvivier, Kurt Hoffmann und Claude Berri bis hin zu Louis Malle, Rainer Werner Fassbinder, Gérard Jugnot und Roland Suso Richter reicht eine breite Palette hochkarätiger Filmemacher, die die Entwicklung bis 2002 verfolgt.  Auch wenn sich die Systematik der Auswahl der Filme nicht immer erschließt, überzeugen die Einzelanalysen durch die pointierten Analysen, die filmanalytische und diskursanalytische Ergebnisse miteinander in Verbindung setzen.  Vatters Buch bietet damit erstmals einen vergleichenden Überblick über die „Filmgeschichte des Diskurses“ über Holocaust und Nationalsozialismus in Deutschland und Frankreich.

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Geschichte – Erinnerungen – Ästhetik

Besprochen von Victor Nono

Dass Erinnerungskultur schon immer schon durch Medien geprägt war und ist, hat sich in der Forschung der letzten Jahren mehr als durchgesetzt. In dieser Linie, die Medien der Erinnerungskultur zu beschreiben, liegt auch eine der neuesten Publikationen, der von Kirsten Dickhaut und Stephanie Wodianka herausgegebene Band Geschichte – Erinnerung – Ästhetik, der sich der Beziehung zwischen diesen drei Begriffen widmet, wobei vor allem auf die Figur der Medialität referiert wird, die sich auf die von den Autorinnen gebrauchten Chiffre des „Ästhetischen“ verkürzt. So wird die Idee der Geschichte selbst als etwas Kontextabhängiges erfahren, als etwas, dass nach dem jeweiligen Stand der Ästhetik in einem „spezifischen kulturhistorischen Kontext wie ‚Geschichte‘ erinnert wird“ (Dichhaut/Wodianka 2010, S. XVII). Medienerfahrungen zeigen sich ferner in der Form der Ästhetik oder der Ästhetisierung von Geschichte. „In einer generelleren Hinsicht begründet die Historizität von Formen und Konzepten des Ästhetischen aber auch ein stets kulturhistorisch zu verortendes Verhältnis zwischen ästhetischer Präformierung von Geschichtswahrnehmung und Ästhetisierung von Geschichte“, heißt es bei den Autorinnen. Und schließlich könne Ästhetik die Deutung von Geschichte verändern oder selbst in Geschichte eingreife oder – als Medienereignis – „selbst zum erinnerungswürdigen Ereignis werden“ (Dickhaut/Wodianka, S. XVIII). Die in dem Band visierte Medialität konzentriert sich auf das Spannungsfeld zwischen Geschichtsschreibung (Nora, Bloch, etc.) und Literatur mit einem klarem Schwerpunkt auf romanische Autoren. Dabei versucht das Projekt Brücken zu schlagen zwischen Geschichtswissenschaft, Erinnerungsforschung und Literaturwissenschaft – so der disziplinäre Leitfaden. Leider fehlt es – nimmt man Ansgar Nünnings Beitrag zu theoretischen Modellen literarischer Geschichtsschreibung einmal aus – weitgehend an konzeptionellen Reflexionen, die den Anspruch hätten, modellbildend das Verhältnis von Geschichte, Erinnerung und Ästhetik zu skizzieren und dabei auch deren Medialität zu berücksichtigen, gerade auch weil der Band mehrere Jahrhunderte – vom Mittelalter bis in die Gegenwart – umfasst. Gelungen ist dem Werk hingegen eine eindrucksvolle Sammlung qualitativ hochwertiger Einzelbeiträge, die sich mit vielfältigen (vor allem für Romanisten interessanten) Phänomenen der Geschichtsschreibung und der Literaturgeschichte beschäftigen, die unter dem Aspekt der Gedächtnis- und Erinnerungsproblematik gegen den Strich gelesen wurden.

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Gedächtnis und Erinnerung: Ein interdisziplinäres Handbuch

Besprochen von Victor Nono

In den letzten Jahren hat sich das Interesse am Diskurs über Gedächtnis und Erinnerung deutlich verstärkt, zum einen, weil Zeitzeugen für zentrale Ereignisse des 20. Jahrhunderts wie den Holocaust, den Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg aus Altersgründen kaum mehr zur Verfügung stehen oder weil die historischen Ereignisse wie die Auflösung der Ost-West-Gegensätze selbst neue Formen der Erinnerungskultur provozieren, und zum anderen weil neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Diskurse der unterschiedlichsten Disziplinen differenziertere Analysen als je zuvor ermöglichen.

Bei der großen Anzahl der Veröffentlichungen der letzten Zeit ist es schwierig, den Überblick über einige der grundlegenden Eckpunkte zu behalten, auf die die Diskurse sich immer wieder beziehen.

Das von Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer herausgegebene interdisziplinäre Handbuch zu Gedächtnis und Erinnerung fasst wesentliche Aspekte der Debatte der letzten Jahre über Gedächtnis und Erinnerungskultur zusammen, spiegelt damit durchaus den aktuellen Forschungsstand und leistet vor allem Orientierung in diesem z.T. etwas unübersichtlichen Feld.

Die von den Herausgebern koordinierte Arbeit zahlreicher weiterer Autoren strukturiert das Feld nach vier Aspekten: 1. Es werden zunächst die neurobiologischen und psychologischen Grundlagen von Gedächtnis erörtert um 2. vor allem in Sozial- und Kulturwissenschaften etablierte Vorstellungen von autobiographischem, kollektivem, kulturellem, kommunikativem und sozialem Gedächtnis zu erläutern. Den 3. Punkt bilden die Medien des Erinnerns, die, nach unterschiedlichen Medien von Schrift, Architektur, Literatur, Film und Fernsehen usw. gegliedert, Formen des Erinnerns nachspüren, um dann 4. die unterschiedlichen Schwerpunkte der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung verschiedener Disziplinen von der Geschichtswissenschaft bis hin zur Geschlechterforschung herauszustellen.

Auch wenn die einzelnen Artikel dabei unverbunden bleiben und nicht aufeinander reagieren, ja oft konträre oder abweichende Vorstellungen im Verständnis von Gedächtnis und Erinnerung zeigen, ist doch eine eindrucksvolle Übersicht entstanden, die dem Anspruch eines Nachschlagewerks durchaus gerecht wird. Es erkundet dabei weniger neue Positionen (etwa zur in den letzten Jahren aufgekommenen Diskussion über die Medialität des Erinnerns) und dokumentiert vielmehr vorhandene Debatten. Als solches ist dieses Handbuch ein hilfreiches Instrument für alle, die in dem unübersichtlichen Diskurs über Erinnerungskultur den Überblick behalten wollen.

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Über ‚Von der Ökonomie der Leidenschaften zur Leidenschaft der Ökonomie. Adam Smith und die Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert‘ von Eleonore Kalisch

Besprochen von Simon Pühler

Die Theaterhistorikerin Eleonore Kalisch hat sich in ihrem neuesten Buch mit der Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert und diesbezüglich vor allem mit dem schottischen Moralphilosophen (und Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre) Adam Smith (1723-1790) befasst. In der Geschichte der Moderne stelle Smith einen „maßgeblichen Modellfall“ dar, da er die Bedeutung der Zuschauerposition erkennt, herausstellt und gleichsam „in die Struktur sozialer Wechselwirkung“ miteinbezieht. Dies ist insofern neu, als das Soziale seitdem als „Spiel zu dritt“ beschrieben werden kann, d.h. Kommunikation braucht jeweils einen Dritten, welcher das Verhältnis zwischen sozialen Akteuren nicht nur beobachtet und gegebenenfalls (vertraglich) reguliert, sondern den Akteuren auch die Möglichkeit bietet, sich selbst zu erkennen und damit auf eigene Fehler bzw. blinde Flecken aufmerksam zu werden.

Das Unbewusste eines gespaltenen Selbst kündigt sich hier an, jedoch ist das rettende – dritte – Moment bei Smith nicht mehr durch Deus-ex-machina garantiert, sondern muss von den Akteuren selbst geleistet werden: Mitgefühl und Sympathie sind dann gefragt, ein imaginatives Hineinversetzen in die andere Person, ein „imaginary change of situation“. Die Positionen des Akteurs und des Zuschauers sind in diesem Spiel – wie auch im gesellschaftlichen Verkehr – jedoch keineswegs starr festgelegt, sondern unter den Teilnehmern wechselbar und sogar gleichzeitig besetzbar. Laut der Autorin folgt daraus, „dass es sich hier um einen einbezogenen Zuschauer handelt, einen Zuschauer im Handgemenge, der sich nicht auf die reine Kontemplation zurückziehen kann, dennoch muss er einen Schritt zurücktreten können, um ein Mindestmaß an Distanz zu gewinnen“. Allein diese Feststellung ist für das Theater und für die Philosophie im 18. Jahrhundert schon deswegen interessant, da sich einerseits zu dieser Zeit eine Trennung des Zuschauer- und Bühnenraums (im englischen Theater) vollzog, andererseits da sich jene Erkenntnistheorien, die das Absolute (der reinen Kontemplation) im Andern einer säkularisierten Lebenswelt zu verorten suchten, sei es nun Descartes´ reiner Geist oder später Hegels absolutes Wissen, bereits hier als schwierig – wenn nicht sogar als unmöglich – erweisen. Das Handgemenge wird unauflösbar sein, die Trennung zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung gelingt nie so ganz.

Kritik musste sich Smith hinsichtlich seiner Theorie des mitfühlenden Beobachters, die heutzutage (wenn auch in abgewandelter Form) in viele Disziplinen Eingang gefunden hat – wie z.B. in die Sozial- oder Kommunikationswissenschaften, vor allem von Henry Home gefallen lassen. Dieser wirft dem Moralphilosophen vor, dass es eben keinen unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen anderer gäbe (vor allem dann, wenn es sich um starke Emotionen wie Leid und Schmerz handele). Nach Home sei eine Partizipant-Spectator-Struktur nur dann gewährt, wenn eine soziale Situation in ihrer Zeichenhaftigkeit erkennbar und lesbar werde. Er liefert sozusagen eine Ergänzung zu Smith´ Theorie, indem er diese um die ausdruckssemiotischen Zeichen – wie sie sich in Mimik, Haltungen und Gesten mitteilen – erweitert. Trotz der universellen Lesbarkeit dieser willkürlichen und unwillkürlichen Zeichen, ein Code, der mit Foucaults klassischer Episteme der Repräsentation korreliert, muss eingeräumt werden, ob es nicht gerade dieser Code sei, welcher das Reale – das Augenblickliche, Kontingente und Individuelle – der Gefühle und Körperregungen von vornherein verfehlt. Jenes Spiel (interplay), das von den äußeren Erscheinungen auf eine Innerlichkeit schließen lasse, erweist sich als ein kompliziertes Beziehungsgeflecht (innerhalb und außerhalb des Theaters), das zudem die negative Eigenschaft besitzt, zu verschleiern und zu täuschen. Vor diesem Hintergrund wird nicht nur Smith´ Primat der Sympathie ambivalent und unsicher, sondern es deuten sich auch die „Probleme des fiktionalen Schreibens, der Moralphilosophie, der Ästhetik und Epistemologie“ an, die laut Kalisch ein „kulturelles Paradigma der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts“ bilden. Dieses Paradigma stellt die Autorin äußerst kenntnisreich und differenziert in den einzelnen Kapiteln ihres Buches vor.

Und schließlich wird auch die Figur des Dritten in dieser Konstellation problematisch, denn was in einem imaginären Situationswechsel als Sympathie für den anderen und dann bestenfalls als Integration von unterschiedlichen Sichtweisen erscheint, muss sich noch lange nicht konstruktiv auf den sozialen Verkehr auswirken, sondern kann ebenso gut dem Illusorischen der Einbildungskraft verhaftet bleiben. Erst Gesetze, Verträge und Absprachen (wie auch Zeugen, Notare und Richter) schaffen ein verbindliches Regulativ (fair play), das symbolisch wirksam wird und dauerhaft trägt. Es ist fraglich, ob dieses Regelwerk der entstehenden commercial society noch von jenem leidenschaftlichen Einfühlungsvermögen bzw. von jener Sympathie zeugt, wie sie die spektatorische Situation im Theater ermöglicht und benötigt. Hier kommt vielmehr der sogenannte Impartial Spectator zum Zuge; „und zwar ist es insbesondere jener Spectator, von dem wir am wenigstens Sympathie und Nachsicht erwarten dürfen, der uns die nachhaltigste Lektion über Selbststeuerung erteilt“, schreibt Smith in einem seiner Hauptwerke, der Theory of Moral Sentiments. Doch um an einer spektatorischen Situation überhaupt teilnehmen zu können, sind noch ganz andere Dinge notwendig – u.a. sozialer Status, Bildung oder Vermögen. Der Niedriggeborene wird – obwohl Smith dies zu widerlegen versucht – wohl kaum in den Genuss dieser speziellen Situation kommen.

Die Kultur der sympathy und sensibility erforscht Kalisch allerdings nicht nur in Bezug auf theatergeschichtliche oder dramaturgische Fragestellungen, auch wenn das Theater und – damit verbunden – das spektatorische Ereignis den Bezugsrahmen ihrer umfangreichen Analyse bedeuten. Was dieses über 400-seitige Werk besonders auszeichnet, sind die medien- und kulturwissenschaftlichen Kapitel und Anmerkungen. So rekonstruiert sie eine der medientechnischen Voraussetzungen der Episteme des 18. Jahrhunderts, nämlich das Mikroskop bzw. den mikroskopischen Blick, mit dem sie Körper- und Theaterräume erkundet und neu vermisst. Auch die aus heutiger Sicht bizarr anmutenden Forschungen des Mediziners Albrecht von Haller um 1750 lässt sie in neuem Licht erscheinen. Denn seine grausamen Reiz- und Läsionsexperimente am Tierkörper, der hier stellvertretend für den menschlichen stand und an dem das Organ der Seele erkundet werden sollte, spiegelten auf experimentelle Weise das Sinnbild einer ganzen Epoche wider: Reizbare und gereizte Nerven, wie sie Hallers Kollege George Cheyne in seinem Buch The English Malady bereits 1733 seiner ganzen Nation attestiert hatte. – Und die dann sogar in Form von nervous disorder in die Literatur eingingen (sei es z.B. in Richardsons Clarissa und in Lessings Miss Sara Sampson, die Kalisch ausführlich behandelt).

Nach einer umfassenden Darlegung des Sympathie-Begriffs und einer soziologischen Untersuchung der Londoner Clubszene jener Zeit, wendet sich die Theaterwissenschaftlerin wieder hochspannenden, medientheoretischen Überlegungen zu: Es geht um Maschinenbegriffe und um die Herleitung der „unsichtbaren Hand“, dem wohl prominentesten Begriff aus Adam Smith´ Schriften. Erstaunlich ist, dass Smith zwischen symbolischen und imaginären Systemen bzw. Maschinen unterscheidet und erkannt hat, dass die symbolische Maschine der geistigen vorausgeht. In diesem Sinne lässt sich – ähnlich wie es bereits in Julien Offray de La Mettries Mensch-Maschinen-Konzept von 1748 anklingt – der Geist als technisches Modell begreifen. Diese Sichtweise wird erst wieder in der Kybernetik oder der strukturalen Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts aktuell und ist ihrer Zeit also weit voraus. Die „unsichtbare Hand“ macht sich u.a. darin bemerkbar, dass sie bestimmte Erkenntnislücken oder Differenzen – wie sie sich gerade in der Betrachtung der Technik zeigen – beseitige. Dieses imaginär gesteuerte Vervollkommnungs- bzw. Rückkopplungsprinzip wirkt sich dann wiederum auf die Fortentwicklung der Maschine aus, sprich Maschinen werden (gleich einer teleologischen Bestimmung) immer besser an ihren bestimmtem Zweck angepasst und in diesem Sinne auch einfacher. Im modernen, kybernetischen Sinne wäre die „unsichtbare Hand“, die Smith jedoch in einem ökonomischen Zusammenhang beschreibt, nichts anderes als ein Steuerungselement, das den vom Soll-Wert abweichenden Ist-Wert misst und entsprechend korrigiert. Psychoanalytisch betrachtet ist dies auch im Bewusstsein der Fall, das stets zwischen Ideal-Ich und Ich-Ideal vergleicht, unbewusst rechnet und somit gewisse imaginäre Effekte hervorruft. Jede spekatorische Situation wird von dieser selbstregulierenden Funktion im Unbewussten geprägt.

Es wäre spannend zu wissen, inwiefern Smith´ Denkfigur der unsichtbaren Hand schon eine Vorwegnahme des dynamischen Unbewussten sei, das erst ein Jahrhundert später von Sigmund Freud (auf dem Niveau von Dampfmaschinen) und nachfolgend von Jacques Lacan (auf dem Niveau von Digitalcomputern) beschrieben wird. Dies bleibt leider offen – und würde den Rahmen der Untersuchung vielleicht auch sprengen. Dennoch stellt die Autorin am Schluss ihres Buches Bezüge zur Gegenwart her, indem sie auf sozialpsychologische und systemtheoretische Aspekte der „unsichtbaren Hand und d(er) vielen sichtbaren Hände“ eingeht. Es ist verblüffend, wie Smith´ Denkfiguren und moralische Prinzipien heutzutage z.B. in der Bewertung des globalisierten Wirtschaftsgeschehens wieder relevant werden, wenn er z.B. schreibt: „Jeder Kapitaleigner sei bei gleichen oder auch bei nur fast gleichen Profiten (…) von selbst geneigt, sein Kapital in der Weise anzulegen, die dem einheimischen Fleiße die meiste Unterstützung zu gewähren und der größten Anzahl von Menschen in seinem Lande Einkommen und Beschäftigung zu verschaffen verspricht.“ Ein Hinweis, den sich jene global players, die die selbstregulierenden Kräfte des lokalen Marktes schon weitgehend eingeschränkt oder sogar außer Kraft gesetzt haben, einmal beherzigen sollten!

Eleonore Kalisch hat mit ihrer vorliegenden Arbeit einen herausragenden Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts geliefert, der weit über das Theater und die Culture of Sensibility in England hinausgeht und an aktuelle Fragestellungen, wie sie die Kommunikationstheorie oder (Wirtschafts-)Ethik umfassen, anschließen. Kalischs im Berliner Avinus-Verlag erschienenes Buch ist nicht nur mit zahlreichen Abbildungen ansprechend gestaltet, sondern für eine wissenschaftliche Publikation auch sehr verständlich geschrieben. Ein Manko – oder vielleicht doch ein Pluspunkt? – ist die Länge des Buches und die Fülle an (Detail-)Informationen, die den nicht so fachkundigen Leser manchmal etwas überfordern können und den roten Faden an einigen Stellen vermissen lassen. Die eine oder andere Zusammenfassung zwischen den Kapiteln dieses – wie Kalisch selbst im Klappentext ankündigt – „panoramatischen Epochenbildes“ wäre vielleicht von Vorteil gewesen. Doch mit Adam Smith könnte man dem relativierend entgegen halten: „Nur in einer groß angelegten Konstruktion wird vermieden, im Dickicht der Details die Übersicht zu verlieren.“

 

Das Problem der Religion. Über ’Les religions meurtrières’ von Élie Barnavi und ’Peut-on ne pas croire ? Sur la vérité, la croyance et la foi’ Von Jacques Bouveresse

Besprochenvon Michael Tillmann

Dass die Religion international wie innerhalb einzelner Länder wieder als politisch konfliktträchtig wahrgenommen wird, stellt im Ernst kaum jemand in Frage. Dass dies natürlich vor allem auch für die andersgläubigen Minderheiten in den europäischen Ländern gilt, dafür gab es sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in den letzten Monaten hinreichend Beispiele. In Frankreich erregte vor allem der Fall des Philosophielehrers und Publizisten Robert Redeker Aufsehen, der im Anschluss an einen kritischen Artikel über eine der islamischen Religion inhärente Gewaltideologie in der Tageszeitung Le Figaro Morddrohungen erhielt und seinen Lehrberuf nicht mehr ausüben kann. Die christliche Zeitschrift La Vie veröffentlicht in ihrer neuesten Ausgabe vom 1. März eine große Untersuchung zur (relativen) Bedeutung der verschiedenen, in Frankreich beheimateten Religionen und zeichnet die aktuelle Karte der Konfessionen. In einem Land, in dem eine strikte Trennung von Kirche und Staat, der Leitgedanke der Laizität zu den Gründungsmythen einer republikanischen Staatsordnung gehört, ist die Religion und die Frage nach ihrem Platz in der öffentlichen Debatte naturgemäß ein hochsensibles Thema. Zwei vor kurzem erschienene Buchpublikationen befassen sich eingehend, allerdings unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten mit diesem Konfliktphänomen.

In seiner Streitschrift Les religions meurtrières plädiert der Historiker, ehemalige israelische Botschafter in Paris und aktuelle Leiter des wissenschaftlichen Beirats des Brüsseler Europa-Museums, Élie Barnavi, für eine erneuerte und klare Ortsbestimmung der westlichen Zivilisation: „In der Tat scheint es, dass jede Gemeinschaft für ihren eigenen Fortbestand ein überindividuelles Wertesystem benötigt, das ihrer kollektiven Existenz erst Sinn verleiht. Wahrscheinlich liegt genau hierin der wunde Punkt des Westens. Die atomisierte, auf das Individuum und seine unveräußerlichen Rechte ausgerichtete liberale Gesellschaft hat den Sinn für das Heilige (ich sage bewusst nicht: das Religiöse) verloren. Die Menschenrechte sind immer noch das kostbarste Erbe der Aufklärung, aber sie allein können keine Gemeinschaft begründen. Schon der französische Historiker François Furet hatte überzeugend nachgewiesen, dass die Schwierigkeiten der Revolutionspolitiker bei der Schaffung stabiler Institutionen auf den Ruinen des alten Staates gerade auch mit diesem Unvermögen zu tun hatten, einen glaubwürdigen Ersatz für die kollektive Basis des Staates des Ancien Régime zu erfinden. Daraus erklärt sich das Bedürfnis nach einer Zivilreligion, deren einzelne Bestandteile wir kennen: Die Menschenrechte gehören natürlich dazu, darüber hinaus aber auch die Nationalgeschichte, die souveräne Nation, die Verfassung und die Republik. Nach einem mühsam-zögerlichen, mehr als ein Jahrhundert währenden Beginn hat dies insgesamt eher gut funktioniert. Heute jedoch stößt dieses Modell offensichtlich an seine Grenzen. Ob es uns gelingt, eine neue Zivilreligion erstehen zu lassen, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich weiß nur, dass es dringend geboten ist, die unerlässlichen Regeln für die Domestizierung des Numinosen „€“ wie es im Fachjargon manchmal heißt „€“ neu zu behaupten, um es innerhalb zivilisierter Grenzen zu halten. Solche Regeln existieren bereits: Man nennt sie Laizität. Diese Laizität, ohne die eine Demokratie gar nicht möglich ist, müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, ohne Einschränkungen und Konzessionen verteidigen.“

Wissenschaftsphilosophisch, bisweilen auch polemisch und mit der gewohnten sprachlichen Präzision, Stilsicherheit und gedanklichen Klarheit befasst sich der französische Philosoph und Lehrstuhlinhaber am prestigeträchtigen Collège de France, Jacques Bouveresse, in seinem Buch Peut-on ne pas croire ? : Sur la vérité, la croyance & la foi mit der Problematik des Religiösen. In vier älteren, teilweise deutlich überarbeiteten Artikeln kommentiert der in Deutschland vor allem als Musil-Experte bekannte Bouveresse die Wiederkehr des Religiösen und das Machtgleichgewicht zwischen religiösem Glauben und Wissenschaft, das längst nicht mehr so klar zugunsten letzterer ausfällt wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Der vielleicht wichtigste Artikel trägt den Titel „Muss die Religion verteidigt werden?“. Darin analysiert Bouveresse u.a. das Verhältnis zwischen Glaube und Wissen, die Natur der religiösen Erfahrung, die Möglichkeit einer „Glaubensethik“, die Beziehungen zwischen Religion, Wissenschaft, Wahrheit und Demokratie. Es ist nicht weiter überraschend, dass Bouveresse, ein entschiedener Gegner einer oberflächlichen, zu übereilten Relativierungen neigenden Postmoderne, hier alles andere als ein Loblied auf Glauben und Religion anstimmt. Um ein antireligiöses Pamphlet handelt es sich allerdings auch nicht. Vielmehr kommentiert der französische Erkenntnisphilosoph die Thesen und Überlegungen zu der Religionsproblematik, wie sie so ehrwürdige Ahnherren wie Ernest Renan, Sigmund Freud, William James, Bertrand Russell, Jürgen Habermas, William K. Clifford und (natürlich) Ludwig Wittgenstein, einen seiner geistigen Ziehväter, entwickelt haben. Dabei bemüht sich Jacques Bouveresse um den Nachweis, dass der Glaube zwar durchaus begründet sein mag, dass man allerdings oftmals aus den falschen Gründen glaubt, dass manche Formen des Glaubens keinerlei Respekt verdienen, dass falsche religiöse Überzeugungen trotz ihrer nachweisbaren Falschheit eine mächtige Wirkung entfalten können und – vor allem – dass es keinerlei Grund gibt, sich für seinen Unglauben, für eine kritische und rational begründbare Wissenschaft des Denkens und Argumentierens zu schämen.

© passerelle.de, März 2007

 

 

 

 

Die Ungleichheitsdebatte in Frankreich. Sammelrezension

BesprochenSammelrezension von Michael Tillmann

Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft nimmt das Wortgefecht um die Ungleichheit im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen heftig zu. Michael Tillmann fasst die Hauptansätze der Forschung in einer Sammelrezension zusammen.

 

Die Gerechtigkeitsdebatte in Frankreich ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen neu entbrannt. In welche Richtung sich die französische Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln wird, beschäftigt nicht nur die Politiker aller Couleur, sondern auch die Wissenschaft. Der Armutsforscher Serge Paugam hat gerade ein fast 1000-seitiges Werk zur Zukunft gesellschaftlicher Solidarität herausgegeben. Darin erhellen 50 Forscher den sozialwissenschaftlichen Beitrag zur Analyse solidarischer Vergesellschaftungsprozesse, die – einer weit verbreiteten Meinung nach – allzu oft unter dem verengenden Blick wirtschaftswissenschaftlich begründeter, rein ökonomischer Rentabilität betrachtet wird. Dass es dabei nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch um eine öffentliche Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsträger geht, legt nicht zuletzt die damit einhergehende Unterschriftenkampagne nahe, mit der das Thema soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Segregation in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden soll. Vielleicht wird also der pessimistische Schlusssatz aus Louis Chauvels Mittelschichtenstudie doch Lügen gestraft: „Seit langem schon sind Wahljahre leider Gottes selten der richtige Augenblick, um allzu ernsthafte Fragen zu stellen.“

In dieselbe Richtung wie Paugams Solidaritätsappell geht eine andere Publikation, ebenfalls in der Reihe Le lien social, bei den Presses universitaires de France erschienen, die unter dem Titel L’épreuve des inégalités mehrere Beiträge von Sozialwissenschaftlern aus dem Umfeld des Observatoire sociologique du changement vereint. Darin wird den Ungleichheitsprozessen sowohl in einem nationalen als auch international vergleichenden Rahmen nachgegangen. Dass die aktuellen Ungleichheitsstatistiken, soweit sie vorwiegend die Einkommensverteilung im Blick haben, die ganze Dimension der Ungleichheitsproblematik nur bruchstückhaft wiedergeben und etwa generationenspezifische oder sozialräumliche Ungleichheiten und die – aufgrund des Sprengelprinzips – auch schulisch bedingten unterschiedlichen Bildungs- und damit letztlich auch Lebenschancen statistisch nur unzureichend erfassen, ist kein Novum. Schwieriger fällt allerdings schon die Antwort auf die Frage, wie man die intuitiven Ungleichheitswahrnehmung statistisch untermauern kann (vgl. dazu etwa den Internetauftritt des Centre national de l’information statistique und speziell das PDF-Dokument mit dem Titel Niveau de vie et inégalités sociales).

Dass Handlungsbedarf besteht, scheint aber unter Soziologen weitgehend unbestritten. Selten jedoch wird dies so selbstbewusst formuliert wie von dem Wirtschaftsprofessor Jean Gadrey in seinem letzten Buch En finir aves les inégalités sociales. Jean Gadrey, der 2005 für eine Ablehnung des europäischen Verfassungsprojekts geworben hatte, stützt sich dabei vor allem auf den gebündelten Inegalitätsindikator des BIP40, d.h. des Baromètre des inégalités et de la pauvreté aus dem links-alternativen Gewerkschaftsmilieu, der seit den 80er Jahren eine zunehmende soziale Schieflage konstatiert. Aus dem kämpferischen Engagement des Wirtschaftsprofessors spricht aber auch die Überzeugung, dass Ungleichheiten, sofern man sie bekämpfen möchte, keine Fatalität darstellen.

Nicht minder konkrete Lösungsvorschläge – allerdings mit einer eher sozialdemokratischen Stoßrichtung – legt das deutsch-österreichische Gespann Peter Auer und Bernard Gazier in L’introuvable sécurité de l’emploi vor. Bernard Gazier hatte schon in einer jüngeren Schrift für das Konzept der flexicurity und eine systematische Erprobung der so genannten Übergangsarbeitsmärkte geworben. Auch in seinem neuen Buch plädiert er zusammen mit dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Peter Auer für einen modernisierten Sozialstaat, der – wie vor allem Dänemark – zeigt, immer noch einen wertvollen Beitrag zu gesellschaftlichem Frieden und Wohlstand zu leisten vermag.

Damit knüpft dieses Buch an eine Diskussion an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft an, die seit einiger Zeit intensiv geführt wird. Alain Lefebvre und Dominique Méda hatten in Faut-il brûler le modèle social français? Anfang letzten Jahres die Übertragbarkeit des reformierten nordeuropäischen Sozialstaatsmodells auf französische Verhältnisse untersucht.

Eine angenehm konzise Darstellung der wesentlichen Charakteristika der dänischen flexicurity findet sich in einem fünfzigseitigen Büchlein von Robert Boyer, La flexicurité danoise. Quels enseignements pour la France?, das im Rahmen der publizistischen Tätigkeit des CEPREMAP, Centre pour la recherche économique et ses applications, unter der Leitung des auch hierzulande bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Daniel Cohen veröffentlicht wurde.

 

© passerelle.de, Januar 2007

 

 

Über B. Lindners Benjamin-Handbuch

Besprochenvon Thomas Weber

  • LINDNER, Burkhardt (Hrsg.): Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzlar, Stuttgart, Weimar 2006. ISBN 978-3-476-01985-1.

Wie soll man ein Werk rezensieren, das die Arbeiten von über 40 international renommierten Benjamin-Experten aus dem In- und Ausland zusammenträgt und damit einen Meilenstein, in gewisser Hinsicht auch einen Schlussstein der Benjamin-Forschung der letzten Jahrzehnte setzt? Wäre das Handbuch ein Sammelband, würde sich der versierte Rezensent einzelne Aspekte herausgreifen und ihrem Für und Wider nachspüren. Er würde die Gelegenheit nutzen, griffige Benjamin-Zitate anzubringen, Benjamin-Restkenntnisse, die praktisch jeden nach 1969 lesefähigen, kultur- und sozialwissenschaftlich gebildeten Akademiker auszeichnen, oder gar versuchen, diesen oder jenen Expertenbeitrag in seinem Gewicht zu beurteilen, ihn vielleicht zurechtzurücken, in dem er ihn von der einen in die andere Rubrik verschiebt oder gar einen übersehenen Winkel zum Vorschein bringt. Doch angesichts der geballten kollektiven Intelligenz, die sich auf über 700 Seiten äußert, wäre ein solches Unterfangen nicht nur aussichtslos, sondern würde gerade auch die Leistung des Handbuchs verkennen, das als Ensemble konzipiert wurde.

Das Handbuch wendet sich gerade gegen den weit verbreiteten Eindruck, Benjamins Schriften bieten ein „Arsenal aparter Formulierungen (…), aus dem jedermann sich unbekümmert bedienen könne“ (S. VIII). Tatsächlich wirkten Benjamins Arbeiten wie ein offener Steinbruch, aus dem sich jeder bedienen konnte oder wie eines jener wilden Untertagebergwerke, die das Ruhrgebiet durchziehen (jenes andere Antlitz der „Berliner“ Moderne, ihr industrielles Herz, das Benjamin nicht beschrieben hat), aus denen sich die Kumpels auf eigene Faust ihren Brennstoff für zu Hause organisierten; nicht nur ist ihre Lagebestimmung bis heute schwierig und oft erst durch Bodensenkungen erschließbar, die Häuser, ja Siedlungen zum Einsturz bringen, sondern einmal in sie geraten, besteht immer die Gefahr, sich in den unterirdischen Stollen zu verirren.

Herausgeber und Autoren wissen um die Probleme ihres Unternehmens. Sie verdanken viel Rolf Tiedemann und den von ihm herausgegeben Gesammelten Schriften, die bis heute die wichtigste Textgrundlage der wissenschaftlichen Diskussion der verstreuten Arbeiten von Benjamin bilden.

Das Benjamin Handbuch ist auf Bestandsaufnahme der bisherigen Benjamin-Rezeption ausgerichtet. Es weiß insofern mehr als Benjamin selbst wusste, nicht nur weil es das Wissen über seine Rezeption mit aufnimmt, sondern auch die Kontextualisierung von Benjamins eigenen Texten. Das Buch erklärt, es drängt jedoch keine bestimmte Sichtweise von Benjamin auf, sondern dokumentiert eher die unterschiedlichen Facetten seines Werks.

„Wie immer man sich in dieser Diskussion um die Bedeutung Benjamins zu Lebzeiten positionieren mag, unbestreitbar bleibt, daß wir es heute mit einem anderen Autor Benjamin zu tun haben, als dies bis vor einigen Jahrzehnten möglich und denkbar war“ (S. 17), heißt es einleitend bei Thomas Küpper und Timo Skrandies.

So sehr dies auch auf eine – durchaus reflektierte – Konstruktion des Autors Benjamin hinausläuft, so sehr wird gerade hier die besondere Dimension des Projekts deutlich: Im ersten, etwa 100seitigen Teil wird nicht nur ein kurzer Abriss der Biographie Benjamins und seiner wichtigsten Werkphasen gegeben, sondern auch ein prägnanter und doch weitgreifender Überblick über die Benjamin-Rezeption der letzten Jahrzehnte, der selbst für Benjaminkundige die Orientierung erleichtert (als leserfreundliche Hilfsmittel seien hier auch das Werk-, das Namens- und das Sachregister erwähnt, die das Handbuch zum gebrauchsfähigen Nachschlagewerk werden lassen).

Der zweite, mit rund 600 Seiten umfangreichste Teil des Buches stellt Analysen verschiedener Benjamin-Arbeiten vor, die zusammengenommen die wichtigsten Facetten von Benjamins Werk umfassend abdecken. Dem Herausgeber Burkhardt Lindner ist eine Sammlung von größtenteils hervorragenden Studien gelungen, die die Entstehungsgeschichte der verschiedenen Arbeiten rekonstruieren, sie einordnen und kundig kommentieren. Dabei versucht das Handbuch nicht, die unterschiedlichen Schichten und Elemente von Benjamins Werk zu hierarchisieren, sondern es eher in seiner Gesamtheit sichtbar zu machen. Ordnend vorgeschlagen werden fünf Sektionen, deren Begriffe nicht nur zentrale Themen von Benjamins Werk widerspiegeln, sondern zugleich auch Fluchtlinien darstellen, an denen entlang sich sein Denken, seine Arbeiten bewegten: 1) Die intellektuelle Freundschaft, 2) Messianismus, Ästhetik, Politik, 3) Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik, 4) Dichtungsanalyse und Autorbild und 5) Sprachphilosophie, literarisches und autobiographisches Schreiben.

Auch wenn keine systematische Aufarbeitung von Benjamins Werk intendiert wurde, so ist dies doch gerade aus der Perspektive seiner Wirkung gelungen. Trotz der Unterschiede in der Anlage und Stoßrichtung der Analysen im Einzelnen, zeigt sich bei allen die Aufarbeitung nicht nur des Entstehungskontextes, sondern der durch sie ausgelösten oder über sie geführten Diskurse.

Dass das Handbuch damit zur zentralen Referenz für jede zukünftige Benjamin-Forschung wird, birgt beim gewählten Thema doch zugleich ein Problem: Die Faszination von Benjamins Werk ging immer auch von dem Eindruck aus, dass sich jeder aus diesem wilden Bergwerk an Bruchstücken bedienen oder seine Ideen in den unterirdischen Stollen vorantreiben konnte. Neue Arbeiten in diesem Feld sind nunmehr denkbar allenfalls noch zu Spezialfragen oder aus ungewöhnlichen Perspektiven. Das Handbuch arbeitet nun jeden Vortrieb auf, katalogisiert die Debatten der Vergangenheit und schließt sich damit gegen Zukunft ab. Gerade die unscharfen Ränder von spekulativen Lektüren werden abgeschnitten, schmerzhaft vielleicht dort, wo dies – wie bei neuen Medien – zu kreativer Re-Lektüre animieren könnte (wie einst etwa bei Enzensberger, der nur noch als historische Referenz zitiert wird). So ist bezeichnend, dass gerade Autoren neuerer Benjamin-Lesarten wie Groys oder Bolz selbst nicht zu Wort kommen, dass das Spekulative sich zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Exegese und Rezeptionsgeschichte wandelt. Das wilde Bergwerk wird zum Untertagemuseum.

Für den naiven, neugierigen Flaneur ist das Buch sicher nicht gedacht (hier bieten Benjamins Schriften den interessanteren, unmittelbareren Zugang), wohl aber für alle, die es genauer wissen wollen: Es bietet eine verlässliche Kartographie von Benjamins Werk.