Digitalisiertes Sexwissen

Besprochen von Simon Pühler

  • PFITZENMAIER, Pascal/ HILLE, Gunter, REUTERS, Hella (Hg.): Bibliothek der Sexualwissenschaft: 36 Klassiker der Sexualwissenschaft als Faksimile auf DVD. Hille, Hamburg 2008. ISBN 978-3-86511-524-9.

Der Kulturwissenschaftler Pascal Pfitzenmaier hat zusammen mit Gunter Hille und Hella Reuters Klassiker der Sexualwissenschaft auf einer DVD herausgegeben. 36 teils vergriffene Werke sind nun im Projekt Gutenberg-DE in digitaler Neuauflage als faksimilierter e-Reprint erschienen. Dass hier tatsächlich gleich eine ganze „Bibliothek“ vorliegt, zeigt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dieses ersten Teils der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“: Über 14.000 gescannte Buchseiten – darunter zahlreiche Illustrationen, Schwarz-Weiß-Fotografien und farbige Tafelanhänge – verbergen sich hinter den hier versammelten Titeln, die vor allem die Anfänge der Sexualwissenschaft im späten 19. Jahrhundert bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Bestseller wie Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886, hier in der Ausgabe von 1912) oder Schlüsselwerke der Berliner Sexpioniere Iwan Bloch, Albert Eulenburg und Magnus Hirschfeld können nun – dank einfacher Handhabung und Navigation – am Computer wiederentdeckt werden.

Es ist spannend zu beobachten, wie in den Werken Krafft-Ebings, Blochs, Eulenburgs und Hirschfelds einerseits Aufklärungs- bzw. Emanzipationsstrategien verfolgt werden, die einen wesentlichen Grund für die Entstehung und Entwicklung der Sexualwissenschaft darstellten, und andererseits, wie die Mediziner – oder besser gesagt Medizin-Schriftsteller – jenes noch weitgehend unbekannte Feld des modernen Eros erkundeten und einer breiten Öffentlichkeit vorstellten. Dass die wissenschaftliche Betrachtung des Sexes von Anfang an auf ein klar umrissenes Objekt verzichten musste, macht den ungeheuren Reiz, aber auch das unlösbar Problematische dieser Disziplin aus.

Neben der Sexualmedizin kommen hier jene Fächer zur Geltung, die heute dem Kanon der Kulturwissenschaften zugeschlagen werden (Ethnologie, Religions- und Literaturwissenschaften etc.). In ihrer verblüffenden wie auch schillernden Mixtur formatieren bzw. antizipieren sie bereits die (post-)moderne Generforschung. In Das Sexualleben unserer Zeit (1906) fordert Iwan Bloch, dass die Sexualforschung interdisziplinär arbeiten solle, „nicht bloß vom Standpunkte des Arztes, sondern auch von dem des Kulturhistorikers“ aus, um dem Einfluss der Sexualität auf alle Lebensbereiche gerecht zu werden.

Trotz derartiger Weitsicht empfiehlt sich generell eine kritische Lektüre der Abhandlungen, welche die Rollenbilder und die Geistesströmungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg miteinbeziehen. Einige Texte oder Textpassagen sind nur mit Vorsicht zu genießen. So verwechseln die Autoren – bis auf eine Ausnahme (Ellen Key) sind alle männlich – gerne Natur mit Kultur: beispielsweise Richard von Krafft-Ebing in der Psychopathia sexualis (1886/1912). Oder sie erklären persönliche, mitunter antisemitische oder misogyne Standpunkte zu unumstößlichen Sex-Wahrheiten: zum Beispiel Otto Weininger in Geschlecht und Charakter (1903), Paul Julius Möbius in Der physiologische Schwachsinn des Weibes (1906) und Ferdinand Freiherr von Reitzenstein in Das Weib bei den Naturvölkern (1923/1931)). Oder aber sie entwerfen im günstigsten Falle einfach ein alternatives Geschlecht, das anders wahrnimmt und begehrt, so Magnus Hirschfeld im zweiten Band der Sexualpathologie, Sexuelle Zwischenstufen: Das männliche Weib und der weibliche Mann (1918).

Obwohl die Autoren jene Zwischentöne und Unschärferelationen, in denen sich Sex stets unbewusst artikuliert, zwar schon hinreichend erkannten (darin begründet sich ihre interdisziplinäre Arbeitsweise), gingen sie in ihren Schlussfolgerungen nicht selten biologistischen oder moralischen Vorstellungen auf den Leim. Selbst der „Einstein des Sexes“, Magnus Hirschfeld, der mit seinem Postulat der sexuellen Zwischenstufen den Grundstein für die aktuelle „Queer-Theory“ legte und sich zudem für die Rechte von Homosexuellen stark machte, betrachtete das Schwulsein letztendlich als Degeneration mit Krankheitswert. Auch wenn die Forschung in den letzten Jahrzehnten viele Irrtümer, Halbwahrheiten und Lügen aus dem Weg räumen konnte, bleibt die Wissenschaft vom Sex ein schwammiges und äußerst streitbares Feld. Daher kein Wunder, wenn auf drängende Fragen zum Thema, wie sie sich zuletzt in den Debatten um das Inzestverbot oder um den Sex unter Minderjährigen stellten, keine einfachen oder zufriedenstellenden Antworten gefunden werden können und Politik und Rechtsprechung meistens ziemlich ratlos dastehen.

Umso mehr lohnt es, den Blick auf das historische Material zu werfen. Auch hier zeichnet sich der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Norm oder Gesetz (Tugend, Moral, Sitte, Tabus, Verbote) und den abseitigen Begierden des Einzelnen oder bestimmter Gruppen deutlich ab. Krafft-Ebings Psychopathologie ist dafür vielleicht das prominenteste Beispiel. Denn jene sexuellen Handlungen, die nicht der Fortpflanzung dienen, klassifizierte der Neurologe als pervers und nahm damit – ohne es zu bemerken – die Heterosexualität in ihrer bürgerlichen Ausprägung als absolutes Maß. Gerade deswegen war ja jede Abweichung – sei es nun die Homosexualität, die Onanie oder die sadomasochistische Lust – für den Autor und seine Leserschaft so ungemein interessant. Darin lag der große internationale Erfolg dieser Publikation, eine wissenschaftlich fundierte Freakshow, die perfekt an die Schaulust und Sensationsgier im 19. Jahrhundert angepasst war. Trotzdem hatte sie ihren Vorteil: Viele sogenannte „Perverse“ waren froh zu erfahren, dass sie mit ihren Leidenschaften nicht allein waren. Erste Netzwerke, in denen spezielle sexuelle Vorlieben ausgelebt werden konnten, bildeten sich heraus.

Drei weitere Werke der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ widmen sich dem Sadomasochismus beziehungsweise der historischen Person des Marquis de Sade. Dieser berüchtigte Adlige hatte im Frankreich des 18. Jahrhunderts quasi eine Psychopathologie avant la lettre erfunden, in der er alle Perversionen seiner Zeit vollständig, das heißt mit enzyklopädischen Anspruch, aufgestellt hatte. Mit dem bedeutsamen Unterschied jedoch, dass seine Wissenschaft keinem übergeordneten, gesellschaftlichen Auftrag folgte, sondern nur dem eigenen Lustgewinn. Sades Erkenntnisse offenbaren sich in den untrüglichen Zeichen von Lust und Schmerz, die immer nur experimentell – das heißt im sexuellen Akt selbst – erfahrbar werden. Dabei geht es um das Augenblickliche und Zufällige des Sexes, aber auch um dessen Gewalt und Monstrosität. Vor diesem Hintergrund fiel es Albert Eulenburg leicht, den Schwindel der Psychopathia sexualis aufzudecken. Zu Recht kritisiert er, dass sich Krafft-Ebings Sadomasochismus-Definition an einem „normalen“ heterosexuellen Geschlechterverhältnis orientiere, um überhaupt von krankhaften Abweichungen reden zu können. Auch Iwan Bloch, der sein umfangreiches Wissen über Sade in zwei Büchern unter dem Pseudonym Dr. Eugen Dühren publizierte (und dabei schon eine bemerkenswerte Diskursanalyse betrieb), bricht mit vielen Klischeevorstellungen seiner und unserer Zeit. Dass Frauen – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Moderne fast immer von gesellschaftlicher Macht und Politik ausgeschlossen seien und nur als Anhängsel oder Symptom des Mannes figurieren, wird hier in einem aufschlussreichen Kapitel über „Die Frau im 18. Jahrhundert“ widerlegt.

Ein anderer Schwerpunkt der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ liegt auf dem Themenfeld „Sexualität und Fremde“. Die hier gelisteten Werke nähern sich der Sexualität weniger über die individuelle Abweichung als über den ethnografischen Blick auf andere Kulturen an. So beleuchtet Iwan Blochs sechsbändige Sexualpsychologische Bibliothek (1910) das Liebesleben in Frankreich, Japan und Spanien; etwa zeitgleich erschienen die Ausführungen des Sexualethnologen Ferdinand Freiherr von Reitzenstein zu Liebe und Ehe im alten Orient oder im europäischen Altertum. Obwohl dieser mit seinen Lieblingsthemen „Liebe und Ehe“ den Blick über den Tellerrand wagte und sich in andere Zeiten und Räume begab, blieben seine Erkenntnisse doch eher begrenzt. Denn anstatt das Fremde tatsächlich in seiner Andersheit zu erkunden, diente es ihm vielmehr dazu, die eigenen sexistischen Vorurteile zu bestätigen. Reitzensteins Werke sind „kulturgeschichtliche Dokumente der Neugierde an der Sexualität, zugleich aber auch der Versuch einer Aneignung oder Unterwerfung des Fremden in der Gestalt der Frau“, schreiben die HerausgeberInnen in ihrer Einleitung.

Überhaupt scheint „die“ Frau und das Eheleben in der frühen Sexualwissenschaft eine wichtige Rolle gespielt zu haben, wie es auch in der Ratgeberliteratur eines Paolo Mantegazza oder Theodoor Hendrik van de Velde deutlich wird, die mit jeweils drei Werken auf der DVD vertreten sind. Beim Stöbern bzw. Mausklicken in diesen Werken beschleicht einen der Verdacht, dass es gerade die Institution der bürgerlichen Ehe selbst sei, die unter den versammelten Ethno-Objekten die meiste Fremdheit und Exotik besitzt. Auf jeden Fall stellt sie einen historischen Ausnahme- und Sonderfall dar. Mit ihr wurde eine mächtige Norm gesetzt, die in ihren sozialen Forderungen und Konsequenzen fragwürdig und unbefriedigend bleibt – besonders für Frauen, aber auch für Männer.

Insgesamt ist der vorliegende erste Teil der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ im Projekt Gutenberg-DE ein Glücksfall für die Forschung und interessierte Leserschaft. Dies liegt nicht nur daran, dass der mühsame Gang in die herkömmliche Bibliothek entfällt, sondern vielmehr daran, dass ein äußerst komplexes Wissensgebiet übersichtlich dargestellt und leicht zugänglich gemacht wurde. Im Wust der Sexual-, Gender- und Queer-Literatur – siehe zuletzt: Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, Campus 2008 oder Nina Degele, Gender QueerStudies: Eine Einführung, UTB 2008 – wird es immer wichtiger, den Blick auf die Ursprünge und die Originalquellen nicht zu verlieren, das heißt, im Zweifelsfall schnell nachschlagen und vergleichen zu können. Zwar hätte die eine oder andere Textzusammenfassung noch ein bisschen länger und differenzierter ausfallen können – gerade bei den besonders problematischen Texten wäre eine genauere historische Einordnung bzw. ein Kommentar sehr hilfreich. Schade ist auch, dass eine Text-Suchfunktion nicht vorhanden ist. Doch bei der Menge des Materials (und auch bei dem wirklich sehr günstigen Preis) sind diese kleineren Mängel verzeihlich. Wir dürfen auf die Fortsetzung gespannt sein.

 

Über ‚Von der Ökonomie der Leidenschaften zur Leidenschaft der Ökonomie. Adam Smith und die Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert‘ von Eleonore Kalisch

Besprochen von Simon Pühler

Die Theaterhistorikerin Eleonore Kalisch hat sich in ihrem neuesten Buch mit der Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert und diesbezüglich vor allem mit dem schottischen Moralphilosophen (und Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre) Adam Smith (1723-1790) befasst. In der Geschichte der Moderne stelle Smith einen „maßgeblichen Modellfall“ dar, da er die Bedeutung der Zuschauerposition erkennt, herausstellt und gleichsam „in die Struktur sozialer Wechselwirkung“ miteinbezieht. Dies ist insofern neu, als das Soziale seitdem als „Spiel zu dritt“ beschrieben werden kann, d.h. Kommunikation braucht jeweils einen Dritten, welcher das Verhältnis zwischen sozialen Akteuren nicht nur beobachtet und gegebenenfalls (vertraglich) reguliert, sondern den Akteuren auch die Möglichkeit bietet, sich selbst zu erkennen und damit auf eigene Fehler bzw. blinde Flecken aufmerksam zu werden.

Das Unbewusste eines gespaltenen Selbst kündigt sich hier an, jedoch ist das rettende – dritte – Moment bei Smith nicht mehr durch Deus-ex-machina garantiert, sondern muss von den Akteuren selbst geleistet werden: Mitgefühl und Sympathie sind dann gefragt, ein imaginatives Hineinversetzen in die andere Person, ein „imaginary change of situation“. Die Positionen des Akteurs und des Zuschauers sind in diesem Spiel – wie auch im gesellschaftlichen Verkehr – jedoch keineswegs starr festgelegt, sondern unter den Teilnehmern wechselbar und sogar gleichzeitig besetzbar. Laut der Autorin folgt daraus, „dass es sich hier um einen einbezogenen Zuschauer handelt, einen Zuschauer im Handgemenge, der sich nicht auf die reine Kontemplation zurückziehen kann, dennoch muss er einen Schritt zurücktreten können, um ein Mindestmaß an Distanz zu gewinnen“. Allein diese Feststellung ist für das Theater und für die Philosophie im 18. Jahrhundert schon deswegen interessant, da sich einerseits zu dieser Zeit eine Trennung des Zuschauer- und Bühnenraums (im englischen Theater) vollzog, andererseits da sich jene Erkenntnistheorien, die das Absolute (der reinen Kontemplation) im Andern einer säkularisierten Lebenswelt zu verorten suchten, sei es nun Descartes´ reiner Geist oder später Hegels absolutes Wissen, bereits hier als schwierig – wenn nicht sogar als unmöglich – erweisen. Das Handgemenge wird unauflösbar sein, die Trennung zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung gelingt nie so ganz.

Kritik musste sich Smith hinsichtlich seiner Theorie des mitfühlenden Beobachters, die heutzutage (wenn auch in abgewandelter Form) in viele Disziplinen Eingang gefunden hat – wie z.B. in die Sozial- oder Kommunikationswissenschaften, vor allem von Henry Home gefallen lassen. Dieser wirft dem Moralphilosophen vor, dass es eben keinen unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen anderer gäbe (vor allem dann, wenn es sich um starke Emotionen wie Leid und Schmerz handele). Nach Home sei eine Partizipant-Spectator-Struktur nur dann gewährt, wenn eine soziale Situation in ihrer Zeichenhaftigkeit erkennbar und lesbar werde. Er liefert sozusagen eine Ergänzung zu Smith´ Theorie, indem er diese um die ausdruckssemiotischen Zeichen – wie sie sich in Mimik, Haltungen und Gesten mitteilen – erweitert. Trotz der universellen Lesbarkeit dieser willkürlichen und unwillkürlichen Zeichen, ein Code, der mit Foucaults klassischer Episteme der Repräsentation korreliert, muss eingeräumt werden, ob es nicht gerade dieser Code sei, welcher das Reale – das Augenblickliche, Kontingente und Individuelle – der Gefühle und Körperregungen von vornherein verfehlt. Jenes Spiel (interplay), das von den äußeren Erscheinungen auf eine Innerlichkeit schließen lasse, erweist sich als ein kompliziertes Beziehungsgeflecht (innerhalb und außerhalb des Theaters), das zudem die negative Eigenschaft besitzt, zu verschleiern und zu täuschen. Vor diesem Hintergrund wird nicht nur Smith´ Primat der Sympathie ambivalent und unsicher, sondern es deuten sich auch die „Probleme des fiktionalen Schreibens, der Moralphilosophie, der Ästhetik und Epistemologie“ an, die laut Kalisch ein „kulturelles Paradigma der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts“ bilden. Dieses Paradigma stellt die Autorin äußerst kenntnisreich und differenziert in den einzelnen Kapiteln ihres Buches vor.

Und schließlich wird auch die Figur des Dritten in dieser Konstellation problematisch, denn was in einem imaginären Situationswechsel als Sympathie für den anderen und dann bestenfalls als Integration von unterschiedlichen Sichtweisen erscheint, muss sich noch lange nicht konstruktiv auf den sozialen Verkehr auswirken, sondern kann ebenso gut dem Illusorischen der Einbildungskraft verhaftet bleiben. Erst Gesetze, Verträge und Absprachen (wie auch Zeugen, Notare und Richter) schaffen ein verbindliches Regulativ (fair play), das symbolisch wirksam wird und dauerhaft trägt. Es ist fraglich, ob dieses Regelwerk der entstehenden commercial society noch von jenem leidenschaftlichen Einfühlungsvermögen bzw. von jener Sympathie zeugt, wie sie die spektatorische Situation im Theater ermöglicht und benötigt. Hier kommt vielmehr der sogenannte Impartial Spectator zum Zuge; „und zwar ist es insbesondere jener Spectator, von dem wir am wenigstens Sympathie und Nachsicht erwarten dürfen, der uns die nachhaltigste Lektion über Selbststeuerung erteilt“, schreibt Smith in einem seiner Hauptwerke, der Theory of Moral Sentiments. Doch um an einer spektatorischen Situation überhaupt teilnehmen zu können, sind noch ganz andere Dinge notwendig – u.a. sozialer Status, Bildung oder Vermögen. Der Niedriggeborene wird – obwohl Smith dies zu widerlegen versucht – wohl kaum in den Genuss dieser speziellen Situation kommen.

Die Kultur der sympathy und sensibility erforscht Kalisch allerdings nicht nur in Bezug auf theatergeschichtliche oder dramaturgische Fragestellungen, auch wenn das Theater und – damit verbunden – das spektatorische Ereignis den Bezugsrahmen ihrer umfangreichen Analyse bedeuten. Was dieses über 400-seitige Werk besonders auszeichnet, sind die medien- und kulturwissenschaftlichen Kapitel und Anmerkungen. So rekonstruiert sie eine der medientechnischen Voraussetzungen der Episteme des 18. Jahrhunderts, nämlich das Mikroskop bzw. den mikroskopischen Blick, mit dem sie Körper- und Theaterräume erkundet und neu vermisst. Auch die aus heutiger Sicht bizarr anmutenden Forschungen des Mediziners Albrecht von Haller um 1750 lässt sie in neuem Licht erscheinen. Denn seine grausamen Reiz- und Läsionsexperimente am Tierkörper, der hier stellvertretend für den menschlichen stand und an dem das Organ der Seele erkundet werden sollte, spiegelten auf experimentelle Weise das Sinnbild einer ganzen Epoche wider: Reizbare und gereizte Nerven, wie sie Hallers Kollege George Cheyne in seinem Buch The English Malady bereits 1733 seiner ganzen Nation attestiert hatte. – Und die dann sogar in Form von nervous disorder in die Literatur eingingen (sei es z.B. in Richardsons Clarissa und in Lessings Miss Sara Sampson, die Kalisch ausführlich behandelt).

Nach einer umfassenden Darlegung des Sympathie-Begriffs und einer soziologischen Untersuchung der Londoner Clubszene jener Zeit, wendet sich die Theaterwissenschaftlerin wieder hochspannenden, medientheoretischen Überlegungen zu: Es geht um Maschinenbegriffe und um die Herleitung der „unsichtbaren Hand“, dem wohl prominentesten Begriff aus Adam Smith´ Schriften. Erstaunlich ist, dass Smith zwischen symbolischen und imaginären Systemen bzw. Maschinen unterscheidet und erkannt hat, dass die symbolische Maschine der geistigen vorausgeht. In diesem Sinne lässt sich – ähnlich wie es bereits in Julien Offray de La Mettries Mensch-Maschinen-Konzept von 1748 anklingt – der Geist als technisches Modell begreifen. Diese Sichtweise wird erst wieder in der Kybernetik oder der strukturalen Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts aktuell und ist ihrer Zeit also weit voraus. Die „unsichtbare Hand“ macht sich u.a. darin bemerkbar, dass sie bestimmte Erkenntnislücken oder Differenzen – wie sie sich gerade in der Betrachtung der Technik zeigen – beseitige. Dieses imaginär gesteuerte Vervollkommnungs- bzw. Rückkopplungsprinzip wirkt sich dann wiederum auf die Fortentwicklung der Maschine aus, sprich Maschinen werden (gleich einer teleologischen Bestimmung) immer besser an ihren bestimmtem Zweck angepasst und in diesem Sinne auch einfacher. Im modernen, kybernetischen Sinne wäre die „unsichtbare Hand“, die Smith jedoch in einem ökonomischen Zusammenhang beschreibt, nichts anderes als ein Steuerungselement, das den vom Soll-Wert abweichenden Ist-Wert misst und entsprechend korrigiert. Psychoanalytisch betrachtet ist dies auch im Bewusstsein der Fall, das stets zwischen Ideal-Ich und Ich-Ideal vergleicht, unbewusst rechnet und somit gewisse imaginäre Effekte hervorruft. Jede spekatorische Situation wird von dieser selbstregulierenden Funktion im Unbewussten geprägt.

Es wäre spannend zu wissen, inwiefern Smith´ Denkfigur der unsichtbaren Hand schon eine Vorwegnahme des dynamischen Unbewussten sei, das erst ein Jahrhundert später von Sigmund Freud (auf dem Niveau von Dampfmaschinen) und nachfolgend von Jacques Lacan (auf dem Niveau von Digitalcomputern) beschrieben wird. Dies bleibt leider offen – und würde den Rahmen der Untersuchung vielleicht auch sprengen. Dennoch stellt die Autorin am Schluss ihres Buches Bezüge zur Gegenwart her, indem sie auf sozialpsychologische und systemtheoretische Aspekte der „unsichtbaren Hand und d(er) vielen sichtbaren Hände“ eingeht. Es ist verblüffend, wie Smith´ Denkfiguren und moralische Prinzipien heutzutage z.B. in der Bewertung des globalisierten Wirtschaftsgeschehens wieder relevant werden, wenn er z.B. schreibt: „Jeder Kapitaleigner sei bei gleichen oder auch bei nur fast gleichen Profiten (…) von selbst geneigt, sein Kapital in der Weise anzulegen, die dem einheimischen Fleiße die meiste Unterstützung zu gewähren und der größten Anzahl von Menschen in seinem Lande Einkommen und Beschäftigung zu verschaffen verspricht.“ Ein Hinweis, den sich jene global players, die die selbstregulierenden Kräfte des lokalen Marktes schon weitgehend eingeschränkt oder sogar außer Kraft gesetzt haben, einmal beherzigen sollten!

Eleonore Kalisch hat mit ihrer vorliegenden Arbeit einen herausragenden Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts geliefert, der weit über das Theater und die Culture of Sensibility in England hinausgeht und an aktuelle Fragestellungen, wie sie die Kommunikationstheorie oder (Wirtschafts-)Ethik umfassen, anschließen. Kalischs im Berliner Avinus-Verlag erschienenes Buch ist nicht nur mit zahlreichen Abbildungen ansprechend gestaltet, sondern für eine wissenschaftliche Publikation auch sehr verständlich geschrieben. Ein Manko – oder vielleicht doch ein Pluspunkt? – ist die Länge des Buches und die Fülle an (Detail-)Informationen, die den nicht so fachkundigen Leser manchmal etwas überfordern können und den roten Faden an einigen Stellen vermissen lassen. Die eine oder andere Zusammenfassung zwischen den Kapiteln dieses – wie Kalisch selbst im Klappentext ankündigt – „panoramatischen Epochenbildes“ wäre vielleicht von Vorteil gewesen. Doch mit Adam Smith könnte man dem relativierend entgegen halten: „Nur in einer groß angelegten Konstruktion wird vermieden, im Dickicht der Details die Übersicht zu verlieren.“