Das Problem der Religion. Über ’Les religions meurtrières’ von Élie Barnavi und ’Peut-on ne pas croire ? Sur la vérité, la croyance et la foi’ Von Jacques Bouveresse

Besprochenvon Michael Tillmann

Dass die Religion international wie innerhalb einzelner Länder wieder als politisch konfliktträchtig wahrgenommen wird, stellt im Ernst kaum jemand in Frage. Dass dies natürlich vor allem auch für die andersgläubigen Minderheiten in den europäischen Ländern gilt, dafür gab es sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in den letzten Monaten hinreichend Beispiele. In Frankreich erregte vor allem der Fall des Philosophielehrers und Publizisten Robert Redeker Aufsehen, der im Anschluss an einen kritischen Artikel über eine der islamischen Religion inhärente Gewaltideologie in der Tageszeitung Le Figaro Morddrohungen erhielt und seinen Lehrberuf nicht mehr ausüben kann. Die christliche Zeitschrift La Vie veröffentlicht in ihrer neuesten Ausgabe vom 1. März eine große Untersuchung zur (relativen) Bedeutung der verschiedenen, in Frankreich beheimateten Religionen und zeichnet die aktuelle Karte der Konfessionen. In einem Land, in dem eine strikte Trennung von Kirche und Staat, der Leitgedanke der Laizität zu den Gründungsmythen einer republikanischen Staatsordnung gehört, ist die Religion und die Frage nach ihrem Platz in der öffentlichen Debatte naturgemäß ein hochsensibles Thema. Zwei vor kurzem erschienene Buchpublikationen befassen sich eingehend, allerdings unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten mit diesem Konfliktphänomen.

In seiner Streitschrift Les religions meurtrières plädiert der Historiker, ehemalige israelische Botschafter in Paris und aktuelle Leiter des wissenschaftlichen Beirats des Brüsseler Europa-Museums, Élie Barnavi, für eine erneuerte und klare Ortsbestimmung der westlichen Zivilisation: „In der Tat scheint es, dass jede Gemeinschaft für ihren eigenen Fortbestand ein überindividuelles Wertesystem benötigt, das ihrer kollektiven Existenz erst Sinn verleiht. Wahrscheinlich liegt genau hierin der wunde Punkt des Westens. Die atomisierte, auf das Individuum und seine unveräußerlichen Rechte ausgerichtete liberale Gesellschaft hat den Sinn für das Heilige (ich sage bewusst nicht: das Religiöse) verloren. Die Menschenrechte sind immer noch das kostbarste Erbe der Aufklärung, aber sie allein können keine Gemeinschaft begründen. Schon der französische Historiker François Furet hatte überzeugend nachgewiesen, dass die Schwierigkeiten der Revolutionspolitiker bei der Schaffung stabiler Institutionen auf den Ruinen des alten Staates gerade auch mit diesem Unvermögen zu tun hatten, einen glaubwürdigen Ersatz für die kollektive Basis des Staates des Ancien Régime zu erfinden. Daraus erklärt sich das Bedürfnis nach einer Zivilreligion, deren einzelne Bestandteile wir kennen: Die Menschenrechte gehören natürlich dazu, darüber hinaus aber auch die Nationalgeschichte, die souveräne Nation, die Verfassung und die Republik. Nach einem mühsam-zögerlichen, mehr als ein Jahrhundert währenden Beginn hat dies insgesamt eher gut funktioniert. Heute jedoch stößt dieses Modell offensichtlich an seine Grenzen. Ob es uns gelingt, eine neue Zivilreligion erstehen zu lassen, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich weiß nur, dass es dringend geboten ist, die unerlässlichen Regeln für die Domestizierung des Numinosen „€“ wie es im Fachjargon manchmal heißt „€“ neu zu behaupten, um es innerhalb zivilisierter Grenzen zu halten. Solche Regeln existieren bereits: Man nennt sie Laizität. Diese Laizität, ohne die eine Demokratie gar nicht möglich ist, müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, ohne Einschränkungen und Konzessionen verteidigen.“

Wissenschaftsphilosophisch, bisweilen auch polemisch und mit der gewohnten sprachlichen Präzision, Stilsicherheit und gedanklichen Klarheit befasst sich der französische Philosoph und Lehrstuhlinhaber am prestigeträchtigen Collège de France, Jacques Bouveresse, in seinem Buch Peut-on ne pas croire ? : Sur la vérité, la croyance & la foi mit der Problematik des Religiösen. In vier älteren, teilweise deutlich überarbeiteten Artikeln kommentiert der in Deutschland vor allem als Musil-Experte bekannte Bouveresse die Wiederkehr des Religiösen und das Machtgleichgewicht zwischen religiösem Glauben und Wissenschaft, das längst nicht mehr so klar zugunsten letzterer ausfällt wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Der vielleicht wichtigste Artikel trägt den Titel „Muss die Religion verteidigt werden?“. Darin analysiert Bouveresse u.a. das Verhältnis zwischen Glaube und Wissen, die Natur der religiösen Erfahrung, die Möglichkeit einer „Glaubensethik“, die Beziehungen zwischen Religion, Wissenschaft, Wahrheit und Demokratie. Es ist nicht weiter überraschend, dass Bouveresse, ein entschiedener Gegner einer oberflächlichen, zu übereilten Relativierungen neigenden Postmoderne, hier alles andere als ein Loblied auf Glauben und Religion anstimmt. Um ein antireligiöses Pamphlet handelt es sich allerdings auch nicht. Vielmehr kommentiert der französische Erkenntnisphilosoph die Thesen und Überlegungen zu der Religionsproblematik, wie sie so ehrwürdige Ahnherren wie Ernest Renan, Sigmund Freud, William James, Bertrand Russell, Jürgen Habermas, William K. Clifford und (natürlich) Ludwig Wittgenstein, einen seiner geistigen Ziehväter, entwickelt haben. Dabei bemüht sich Jacques Bouveresse um den Nachweis, dass der Glaube zwar durchaus begründet sein mag, dass man allerdings oftmals aus den falschen Gründen glaubt, dass manche Formen des Glaubens keinerlei Respekt verdienen, dass falsche religiöse Überzeugungen trotz ihrer nachweisbaren Falschheit eine mächtige Wirkung entfalten können und – vor allem – dass es keinerlei Grund gibt, sich für seinen Unglauben, für eine kritische und rational begründbare Wissenschaft des Denkens und Argumentierens zu schämen.

© passerelle.de, März 2007

 

 

 

 

Paradiesisches. Über ‚Que reste-t-il du paradis?‘ von Jean Delumeau

Besprochenvon Michael Tillmann

In der Frage Jean Delumeaus, was vom Paradies noch übrig bleibe, lässt sich eine gewisse Resignation erkennen, die der Leser dieser mit großer Akribie dokumentierten Geschichte der schriftlichen und ikonographischen Paradiesdarstellungen am Ende seiner Lektüre mit Nachdruck beipflichten möchte. Im fortgeschrittenen Stadium der Säkularisierung unserer westlichen Gesellschaften ist nicht allein der Glaube an jenseitige Heilsvorstellungen verloren gegangen. Selbst dort, wo diese noch mit einiger Glaubwürdigkeit gepflegt werden, ist – aus einem sehr einfachen Grunde – der Bildervorrat zur Darstellung des Unsagbaren abhanden gekommen: das Jenseits entzieht sich der Präzision bildlicher Darstellbarkeit. Eine Folge dieser Entwicklung besteht nun gerade darin, dass uns der Symbolgehalt der Paradies-Darstellungen zumeist verschlossen bleibt und wir die himmlischen Gefilde in all ihrer Pracht alles in allem mit einiger Verständnislosigkeit betrachten. Es ist nicht eben das geringste Verdienst Jean Delumeaus, uns wieder mit den Wurzeln der gemeineuropäischen Tradition des Christentums und seiner Bildersprache vertraut zu machen und uns somit die Möglichkeit zu eröffnen, Denkmäler des christlichen Abendlandes mit Gewinn erschließen zu können. Ihren Ausgang nimmt die Untersuchung Jean Delumeaus bei dem Genter Altar (1432) von Jan van Eyck, der dem Autor über die verschiedenen Kapitel hinweg als Referenz dient, erkennt er doch darin ein formvollendetes Werk, das sich mit unnachahmlicher Meisterschaft aus dem Vorrat der paradiesischen Bilderwelt bedient, um das friedliche Himmelsgefilde nach dem Jüngsten Gericht in all seinem Glanz erstrahlen zu lassen. Dabei entgeht dem Verfasser auch keineswegs, dass die Einbettung in einen religiösen Zusammenhang diesem Kunstwerk einen ganz anderen Status im Alltag der gläubigen Christen zuwies als der Blick des nachgeborenen Betrachters zu verstehen im Stande ist. In einem steten Hin und Her zwischen grundlegenden schriftlichen Quellen – von der Genesis über die Apokalypse bis hin zu Dantes „Paradiso“ – und einer ikonographischen Beschreibung bildlicher Darstellungen entdeckt der Leser nach und nach den Fundus an für diese Thematik grundsätzlichen Bildelemente und deren Symbolgehalt. So führt uns der Autor beispielsweise in die Geschichte der Farbsymbolik ein, die alles andere als statisch verläuft. Die Farbe Blau hat so zum Beispiel erst im Laufe der Jahrhunderte an Geltung gewonnen, bis sie schließlich in das Reich der edlen Farben aufgenommen wurde. Seitdem erscheint die Jungfrau Maria in samtenes Blau gehüllt. Nach zwei Kapiteln („Éblouissement“, „Bonheurs“), die im wesentlichen der Rekonstruktion dieser typischen Bildelemente der Paradies-Darstellungen gewidmet sind, wird auf den folgenden Seiten der Eindruck des Statisch-Unveränderlichen, der sich aus den vorangegangen Beschreibungen hätte ergeben können, korrigiert, und diese Geschichte des Paradieses erlangt so ihre eigentlich historische Dimension. In den „Transformations“ beschreibt der Autor die Veränderungen, die diese Bilderwelt prägen und die ihren Anstoß teils aus der weltgeschichtlichen Entwicklung, teils aus den Fortschritten und Entdeckungen in Wissenschaft und Kunst beziehen. Perspektivisches Malen und die Trompe-l’oeil-Technik geben den Künstlern nämlich ungeahnte Mittel an die Hand, die Gläubigen in andächtiges Erstaunen zu versetzen. Diese Entwicklung erfährt eine radikale Richtungsänderung, als im Laufe der Jahrhunderte das irdische Königtum an Macht gegenüber der kirchlichen Autorität gewinnt und die ikonographischen Elemente gleichsam in beiden Sphären zur Verklärung irdischer und himmlischer Macht in Konkurrenz zueinander treten. Darüber hinaus brechen heidnisch-mythologische Bilderwelten in die christlichen Paradiesvorstellungen ein, die schließlich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr Schritt zu halten vermögen: „Das Jenseits wird nicht länger im Himmel verortet. Es ist kein eigentlicher Ort mehr. Es verliert seine Farben und Formen. Bedeutet das aber auch, dass es selbst verschwindet? Jesus hat nicht das Paradies beschrieben, sondern von der Wirklichkeit einer ewig andauernden Zukunft des Friedens und des Glücks gesprochen“. Somit scheint spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts der Kampf zwischen zwei, dem Christentum eingeschriebenen, widersprüchlichen Tendenzen entschieden: Die Bilderpracht ist der Vorstellung gewichen, dass Unverstellbares auch undarstellbar zu bleiben habe.

© passerelle.de, Sommer 2001

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