Über ‚Heymann Steinthal und die Grundlegung der Völkerpsychologie in Deutschland im 19. Jahrhundert‘ von Céline Trautmann-Waller

Besprochenvon Céline Trautmann-Waller

  • TRAUTMANN-WALLER, Céline: Aux origines d’une science allemande de la culture. Linguistique et psychologie des peuples chez Heymann Steinthal. CNRS éditions, Paris 2006. ISBN 978-2271064356.

Dieses Buch über den Linguisten, Anthropologen und Philosophen Heymann Steinthal (1823-1899) und über die Völkerpsychologie, die er mit seinem Freund Moritz Lazarus (1824-1903) begründete, versteht sich als Beitrag zu einer Kulturgeschichte Deutschlands zwischen 1840 und 1900 und zu einer Geschichte der wissenschaftlichen und intellektuellen Soziabilitäten im damaligen Berlin. Es untersucht die Entstehungsgeschichte der Kulturwissenschaften als einen der wesentlichen Aspekte der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert.

Die biographische Laufbahn Steinthals, von dem jüdischen Theologiestudenten bis zum Humboldtianer und zum Sprachwissenschaftler, zum Begründer einer Völkerpsychologie und zum Verteidiger der Ethik, fasst innerhalb einer einzigen Lebensspanne die allgemeine Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert zusammen, von dem Willen, in der Linguistik eine objektive und positive Methode festzulegen, bis zu den Versuchen, letztere auf den Bereich des kulturellen und sozialen Lebens allgemein auszudehnen. Die Analyse von Steinthals ersten Arbeiten ermöglicht es, seinen Übergang vom Humboldtianismus zu einer psychologischen Linguistik zu verdeutlichen. Letztere fordert eine theoretische Autonomie der Linguistik, die auf der Trennung von Grammatik und Logik beruht. In Paris, wo er sich zwischen 1852 und 1856 aufhielt, führte Steinthal die Infragestellung der Hegemonie des indogermanischen Paradigmas durch sein intensives Studium der chinesischen Sprache weiter. Seine Beteiligung an einer regen deutsch-französischen wissenschaftlichen Soziabilität ließ ihn zur selben Zeit der entstehenden französischen Sozialwissenschaften gewahr werden, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Ideologen, dem Werk Auguste Comtes und in den Aktivitäten verschiedener ethnologischer und anthropologischer Gesellschaften herausbildeten.

Die berühmte Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, die 1859 nach der Rückkehr Steinthals aus Paris von ihm und Lazarus gegründet wurde, stellt einen Versuch dar, sämtliche spezialisierte philologische Forschungen zu synthetisieren und verschiedene deutsche Geschichtsphilosophien zu verwissenschaftlichen, d.h. zu „empirisieren“ und zu „psychologisieren“. Indem die Zeitschrift Philologen, Linguisten, Ethnologen, Volkskundler und Anthropologen, erste Statistiker und zukünftige Soziologen, Psychologen und Erdkundler, Rechts-, Wirtschafts- und Kunsthistoriker, Romanisten, Slawisten oder Orientalisten versammelte, wollte sie auf die sich steigernde wissenschaftliche Spezialisierung reagieren und den Weg einer mehr erklärenden als deskriptiven Wissenschaft der kollektiven Vorstellungen weisen, die die tief liegenden Gesetze des Kulturlebens ergründen würde. Das ganze Projekt ist nicht zu trennen von der Krise des Idealismus, obwohl es noch viele Remanenzen desselben mit sich trägt. Die Völkerpsychologie von Steinthal und Lazarus, die Elemente der hegelschen Geschichtsphilosophie mit Intuitionen der humboldtschen Anthropologie und Prinzipien der von Johann Friedrich Herbart entwickelten Psychologie verband und an der auch eine gewisse Anzahl der ersten Neukantianer beteiligt waren, verkörpert also weniger eine philosophische Einheit, als die Beteiligung verschiedener philosophischer Tendenzen an einem gemeinsamen Projekt, das auf eine empirische Wissenschaft der Kulturen zielte.

Die genaue Untersuchung der zwanzig Bände, die zwischen 1859 und 1890 erschienen, schließt eine Lücke in der Forschung und erlaubt es, die Dynamik eines Diskursmilieus zu analysieren, das die extensive Philologie von August Boeckh mit der Kunstgeschichte der Schüler Franz Kuglers, der Anthropologie Rudolf Virchows und dessen progressivem Liberalismus, der von Wilhelm Griesinger unternommenen Reform der Psychiatrie, dem Realismus eines Paul Heyses oder eines Berthold Auerbach, der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums oder der Berliner Tradition der Statistik vernetzt. Historisch betrachtet erweist sich die Völkerpsychologie als ein „Durchgangsort“, der zu anderen neuen Disziplinen führte, ein „Durchgangsort“, wo sich auf sehr erhellende Art und Weise die Lebensläufe des Soziologen Georg Simmel und des Neukantianers Hermann Cohen, des Islamologen Ignaz Goldziher und des Begründers der Berliner Ethnologie Adolf Bastian begegnen. Gerade als Übergangserscheinung ist die Völkerpsychologie interessant, doch gerade als solche tendiert sie eben auch dazu, in den intellektuellen Biographien der einen oder anderen oder in den Darstellungen der wichtigsten intellektuellen Strömungen des 19. Jahrhunderts zu verschwinden.

Indem sie ein Diskursmilieu widerspiegelt, weist die Zeitschrift auch auf eine tiefe Umwandlung der öffentlichen Sphäre, die durch die Entwicklung der deutschen Gesellschaft und des politischen Lebens bedingt war. Wird die Zeitschrift während der ersten Jahre durch den relativen Optimismus der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts getragen, so liefert die Allgemeine Ethik (1885) Steinthals das Echo der Krisen, die kurz darauf das liberale Modell affizierten: der Gründerkrach von 1873, die innere Krise / Innenpolitik von 1878/79 und der Antisemitismusstreit. Mit der Ethik Steinthals stehen die letzten Jahre der Völkerpsychologie in Verbindung mit einer weiteren ethischen Bewegung, die versucht hat die reformistischen Sichten der Linksliberalen (Laizismus, Demokratie, Anti-Militarismus, Solidarität, Frauenemanzipation) durchzusetzen und die sich tendenziell den deutschen Sozialisten annäherte. Wenn die Geschichte dieser Bewegung heute wenig bekannt ist, so wohl deshalb weil zur selben Zeit der aufsteigende Antisemitismus ein zentraler Faktor der Volksideologie und der deutschen Politik wurde, indem er, über die Frage der jüdischen Integration hinaus, den liberalen Prinzipien und dem Bildungsideal widersprach. Obwohl die Völkerpsychologie von Steinthal und Lazarus heute oft dem Nationalismus der damaligen Zeit zu entsprechen scheint, litt sie in Wirklichkeit durch die Verteidigung eines universalistischen Humanitätsideals auch unter einem relativ asynchronen Charakter.

Als wichtiger deutscher Moment der Begründung der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften und eines modernen Kulturbegriffes in Europa erweist sich diese „Culturwissenschaft“ auch in mancher Hinsicht als Ergebnis einer Reihe von Transfers und Differenzierungsprozessen, durch die Deutschland mit einer guten Dosis Kritizismus, Psychologie und Anthropologie französische Modelle integrierte und umwandelte. Steinthal setzt Herbart, Herder, Vico, Humboldt und Ritter gegen die Naturalisierungen, deren sich die französischen Sozialwissenschaften seiner Meinung nach manchmal schuldig machen ein, gegen die rousseauistischen Theorien des Sprachursprungs, des „Contrat social“ und des „bon sauvage“, die seiner Meinung nach nicht berücksichtigen, wie sehr die Kultur unabdingbar zum Wesen selbst des Menschen gehört. Diese Studie zeigt, dass Steinthals Kulturwissenschaft, weit davon entfernt hierin ein Hindernis für den Universalismus zu sehen, im Gegenteil versucht letzteren auf pluralistischen Fundamenten aufzubauen.

© Céline Trautmann-Waller für passerelle.de, November 2006

Armut im 19. Jahrhundert. Über ’Mémoires sur le paupérisme’ Von Alexis de Tocqueville

Besprochenvon Michael Tillmann

  • TOCQUEVILLE, Alexis de: Mémoire sur le paupérisme. Éditions Allia, Paris 1999 [dt. Das Elend der Armut. über den Pauperismus, Berlin, Avinus Verlag, 2007, übers. von Michael Tillmann, ISBN 978-3-930064-75-5].
Ein in Deutschland weithin unbekannter Klassiker der Armutsforschung ist Alexis de Tocquevilles Pauperismus-Studie. In den beiden Gedenkschriften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht Tocqueville als einer der Begründer des vergleichenden soziologischen Denkens wie gewohnt von einer erklärungsbedürftigen Beobachtung aus: Wie kommt es, dass es in den rückständigsten Ländern und Gebieten so wenig Arme gibt, während die Armut in den reichsten Gegenden so unübersehbar präsent ist? Damit begründet er, wie nicht zuletzt Serge Paugam (2005) betont, die moderne Armutsforschung, der ein vergleichender Ansatz zugrunde liegt und die Armut folglich nur relational zu definieren vermag. Darüber hinaus entwickelt Tocqueville hier einen Rahmen zur Analyse des Armutsphänomens, der mit scharfem Gespür für soziologische und psychologische Zusammenhänge alle gesellschaftlich relevanten Implikationen präzise beschreibt, die sich aus der Armut und den verschiedenen Möglichkeiten ihrer Bekämpfung ableiten lassen. Dabei deckt Tocqueville schonungslos die Fehlanreize auf, die von einer „staatlichen Armenhilfe“ ausgehen, verweist aber auch auf die stigmatisierende Wirkung einer staatlichen Leistungsbewilligung, wenn es etwa heißt: „Den Menschen werden die gewöhnlichen Rechte aufgrund einer persönlichen Leistung eingeräumt, die sie gegenüber ihren Mitmenschen auszeichnet. Besagtes Recht auf Unterstützung dagegen wird aufgrund einer anerkannten Minderwertigkeit gewährt […] und schreibt diese gesetzlich fest.“ Diese und andere Stellen beweisen, dass Tocquevilles analytische Schärfe auch zwei Jahrhunderte später nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil: Der Umbau des Sozialstaates, der in allen entwickelten Ländern auf der politischen Agenda steht, bedarf gerade einer langfristigen Perspektive, die bei Tocqueville bedenkenswerte Überlegungen findet.

©passerelle.de, Sommer 2005

 

Wesen und Werden der Soziologie in einem kompakten Überblick. Über ‚La construction de la sociologie‘ von Jean-Michel Berthelot

Besprochenvon Michael Tillmann

  • BERTHELOT, Jean-Michel: La construction de la sociologie. PUF, Paris 2005. ISBN 978-2130551201.

Jean-Michel Berthelot hat mit seiner erstmals 1991 und nun Ende 2005 in überarbeiteter Fassung erschienenen Konstruktion der Soziologie eine kompakte Einführung in die Geschichte des Faches vorgelegt. Dieser Einführungsband zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass hier vor allem das Einigende einer in vielerlei unterschiedliche Forschungsrichtungen zerfallenden Soziologie in den Mittelpunkt gestellt wird. Dabei geht es dem Anfang des Jahres verstorbenen Wissenschaftssoziologen weniger um einen ideengeschichtlichen Abriss. Vielmehr versucht der Autor, das Forschungsprogramm der wichtigsten Autoren in seinen wesentlichen Charakteristika zu skizzieren und dessen Genese mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Bezug zu setzen.

In Kapitel I lässt Berthelot die Vorläufer soziologischen Denkens im 19. Jahrhundert (etwa Le Play, Tocqueville, Marx, Spencer, Comte) Revue passieren, kommt hier allerdings zu dem Schluss, dass trotz einer beeindruckenden Ansammlung an Daten, neu entstandener Erhebungsmethoden oder auch erkenntnisreicher Sozialstudien die epistemologischen Grundlagen einer wirklichen Disziplin noch allzu schwach entwickelt sind. Erst mit Émile Durkheim und Max Weber entsteht ein reflexives soziologisches Denken im eigentlichen Sinne, das im Unterschied zu den Entwicklungen im angelsächsischen Raum theoretischen und epistemologischen Fragestellungen nachgeht. Bei allen – zum Teil nicht unerheblichen – Unterschieden zwischen den Forschungsprogrammen der beiden Autoren zeichnen sich diese durch ihre reflexive Auseinandersetzung mit ihrem Untersuchungsobjekt aus (Kapitel II). Nach dieser Grundsteinlegung folgt eine Phase der Reife, die dem Autor zufolge von der Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis zu den 50er Jahren reicht. In dieser Zeit entwickelt sich vor allem die empirische Soziologie, und das Zentrum soziologischen Arbeitens verlagert sich von Europa in die Vereinigten Staaten (Kapitel III). In Kapitel IV schließlich werden die „großen Programme der modernen Soziologie“, d.h. Kausalismus, Funktionalismus, Strukturalismus einerseits, phänomenologische Soziologie, symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie andererseits anhand einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einem „objektivistischen“ und einem „subjektivistischen“ Foschungspol (vgl. begriffliche Erklärung im Glossar) eingeteilt und in ihren zentralen Besonderheiten vorgestellt. Das letzte Kapitel schließlich weitet den Horizont auf zeitgenössische Entwicklungen von Bourdieu über Habermas und Luhmann bis hin zu der pragmatischen Soziologie um Boltanski und Thévenot. Interessante Leser finden hier sowohl eine Quelle an präzisen Informationen als auch einen gedrängten Überblick über Wesen und Werden eines Faches.

Eine ausführlichere Rezension in französischer Sprache finden Sie auf www.liens-socio.org

© passerelle.de, April 2006

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Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz. ‚Injustices. L’expérience des inégalites‘ von François Dubet (zs. mit V. Caillet, R. Cortéséro, D. Mélo, F. Rault)

Besprochenvon Michael Tillmann

Ein Mann und eine Frau. Ein Anfang, der ein Ende…

In einer groß angelegten empirischen Studie unter der Leitung des Touraine-Schülers François Dubet[1] wurden in den Jahren 2003 bis 2005 unterschiedliche Berufskategorien (Landwirte, Krankenhauspersonal, leitende Angestellte, Dozenten, Taxifahrer usw.) nach ihrem subjektiven Empfinden von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz befragt. Die Ergebnisse dieser Interviews und Fragebögen bilden den Großteil der Studie, deren einleitendes Kapitel einen theoretischen Rahmen zur analytischen Auswertung der Ergebnisse liefert. Dabei greifen François Dubet und seine Mitarbeiter auf die konzeptuellen Vorarbeiten der „Wertigkeitsordnungen“ zurück, die Luc Boltanski und Laurent Thévenot in De la justification ausgearbeitet haben.[2] So geht beispielsweise auch François Dubet von einer Pluralität an Gerechtigkeitsvorstellungen aus, die sich im sozialen Raum (hier: am Arbeitsplatz) überschneiden, miteinander in Konflikt treten können oder zumindest eine wechselseitige Kritisierbarkeit bedingen, andererseits aber auch zu punktuellen und/ oder lokalen Kompromissformen Anlass geben können. Ähnlichkeiten zu Boltanski/Thévenot lassen sich darüber hinaus in dem Bemühen erkennen, die Akteure in ihren subjektiven Äußerungen ernst zu nehmen und zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der „gewöhnlichen“ gesellschaftlichen Akteure und der Philosophen lediglich einen graduellen Unterschied zu sehen, der letztlich vor allem in einem mehr oder weniger hohen Abstraktionsgrad besteht. Im Unterschied zu den beiden Vertretern der pragmatischen Soziologie, die von sechs Rechtfertigungsordnungen ausgehen, konstruiert Dubet die Gerechtigkeitsproblematik jedoch um die drei Begriffe Gleichheit (égalité), Leistung (mérite) und Autonomie (autonomie). Die Arbeit wird hier zum Prüfstein konkurrierender Gerechtigkeitsprinzipien, insofern sie im Idealfall eine Zugehörigkeit zu einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft garantiert, besondere Fähigkeiten und Kompetenzen besonders entlohnt und darüber hinaus eine Selbstverwirklichung ermöglicht. Die eigentliche Stärke dieser umfangreichen Studie besteht jedoch vor allem in den auswertenden Passagen, den Stimmwechseln zwischen dem Resümee des Soziologen und den Äußerungen der befragten Arbeitnehmer. Hier kondensiert sich das Gerechtigkeits- und vor allem auch Ungerechtigkeitsempfinden zu einem bisweilen beklemmenden Gefühl des menschlichen Leidens. Zuletzt war es Pierre Bourdieu und seiner Misère du monde (1993) sowie Younes Amrani/Stéphane Beaud mit Pays de malheur (2004) gelungen, den Unterdrückten und Geschundenen durch den Abdruck langer Interviewpassagen eine Stimme zu verleihen und beim Leser ein ähnliches Gefühl der hilflosen Beklemmung zu wecken angesichts eines universellen Leidens an und mit der Unerbittlichkeit der sozialen Welt (vgl. hierzu auch Robert Castels schönen Aufsatz zu Leben und Werk Pierre Bourdieus).

© passerelle.de, April 2006

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  1. An dem Gemeinschaftsprojekt wirkten neben François Dubet ferner mit: Valérie Caillet, Régis Cortéséro, David Mélo, Françoise Rault. Im Weiteren wird als Autor einfachheitshalber nur François Dubet genannt.
  2. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Arbeit von Luc Boltanski und Laurent Thévenot zuallererst die Konflikte und Konfliktschlichtung der Menschen im Alltagshandeln und die damit einhergehenden Rechtfertigungsbemühungen betrifft. Erst im Anschluss daran treten die diesen Rechtfertigungsbemühungen zugrunde liegenden „philosophischen“ Ordnungen, die eben auch präzise Gerechtigkeitsvorstellungen beinhalten, in den Blickpunkt des Interesses. Die Tatsache, dass konzeptuelle Entwicklungen der pragmatischen Soziologie jedoch von anderen Sozialwissenschaftlern aufgegriffen werden, die weder biographisch noch institutionell Schnittmengen aufweisen, zeigt, wie wichtig dieser Forschungszweig in Frankreich inzwischen geworden ist.

Die notwendige Fiktion der Leistungsgesellschaft. Über ‚L’école des chances‘ von François Dubet

Besprochenvon Michael Tillmann

Das Thema Schule gehört in Frankreich ganz ohne Zweifel zu den politisch hochbrisanten Problemfeldern.

Das zeigt allein schon die Liste all jener hochkarätigen Minister von Lionel Jospin, Jack Lang, Claude Allègre oder auch in neuerer Zeit Luc Ferry, deren Reformbemühungen immer wieder an den korporatistischen Reflexen der Lehrergewerkschaften gescheitert sind. Dabei haben die ideologischen Fronten, die sich in der tagespolitischen Debatte immer wieder aufs Neue bilden, vor allem auch damit zu tun, dass die Frage des Schulsystems an das Selbstverständnis der französischen Republik selbst rührt. Während der III. Republik (1871-1940) wurden auf Betreiben Jules Ferrys bildungspolitische Weichenstellungen getroffen, die heute zu den Gründungsmythen Frankreichs gehören. Von Anfang an war die Frage der Schule und ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft ein Thema, das eng mit der sich ausbildenden Soziologie verbunden war. Émile Durkheim, der Ahnherr der französischen Soziologie, bekleidete einen Lehrstuhl für Sozialwissenschaften und Erziehung und sah in der Schule eine der zentralen Sozialisierungsinstanzen. Aber auch bei Pierre Bourdieu oder Raymond Boudon ist die Schule und die soziologische Bildungsanalyse mit allgemeinen methodologischen Problemen der Soziologie verbunden, so dass die Behauptung nicht unsinnig ist, „dass die Geschichte der Bildungssoziologie bis in unsere Zeit hinein im Grunde mit der Geschichte der Soziologie schlechthin zusammenfällt“ (Derouet 2003: 199).

 

François Dubet hat nun mit L’école des chances in der Reihe der République des Idées einen Essay vorgelegt, in dem er Wege aus der aktuellen Krise aufzeigt. In der Tat lässt sich feststellen, dass das meritokratische Prinzip und das damit einhergehende Postulat der Chancengleichheit nur bedingt der Realität entspricht. Zahlreiche Studien haben nicht erst seit Bourdieu darauf hingewiesen, dass die Schule Ungleichheiten reproduziert. Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien schneiden in ihren schulischen Leistungen statistisch schlechter ab, erreichen einen niedrigeren Bildungsabschluss und haben damit auch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Kinder aus wohl situierten, bürgerlichen und vor allem bildungsnahen Milieus. Das heißt: Soziale Ungleichheiten sorgen im Laufe des schulischen Selektionsprozesses für eine sozial vorgeprägte ungleiche Bildungsverteilung. Das ändert zwar nichts daran, dass Leistungsprinzip und Chancengleichheit eine, wie es bei Dubet heißt, „notwendige Fiktion“ darstellen, die eine Voraussetzung ist für eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft. Allerdings sollten sie durch konkurrierende oder ergänzende Gerechtigkeitsprinzipien ausgeglichen werden. Wenn man nämlich von den ungleichen Startbedingungen einmal absieht, ist selbst innerhalb des Schulsystems die Chancengleichheit nur bedingt gegeben. Auf der Angebotsseite lässt sich beispielsweise beobachten, dass die Mittelvergabe zwischen Universitäten und den Elitehochschulen sowie den an die Gymnasien angeschlossenen Vorbereitungsklassen ein großes Gefälle zugunsten der prestigeträchtigen Ausbildungswege aufweist. Aber auch in der Sekundarstufe sind die Karten sehr ungleich verteilt. Selbst die stärkere finanzielle Förderung von Schulen in sozialen Brennpunktvierteln (ZEP) hat daran nichts Grundlegendes geändert. Die Einstufung einer Schule als ZEP hat jedoch stigmatisierende Folgen, die zu einer noch homogeneren Klassenzusammensetzung führen können, während bekanntlich kompetenzheterogene Lernumwelten vor allem auf schwache Schüler einen positiven Leistungseffekt haben.[1] Deswegen ließen sich angebotsbedingte Ungleichheiten durch eine Veränderung oder flexiblere Handhabung der Zuweisung zur nächstgelegenen Schule, die allein geographische Kriterien heranzieht, vielleicht sogar kostengünstiger ausräumen oder doch zumindest abschwächen. Darüber hinaus plädiert François Dubet für einen gemeinsamen Wissenssockel, der allen Schülern vermittelt werden sollte. Dazu müsste jedoch das Schulprogramm der Sekundarstufe nicht mehr auf das Abiturwissen hin ausgerichtet sein, sondern als eigenständige zu beherrschende Wissensnorm gelten, so dass diejenigen, die ihren Bildungsweg vor dem Abitur abbrechen, trotz allem einen anerkannten Leistungsnachweis besitzen. Abschließend weist Dubet noch auf soziale Ungleichheiten hin, die sich aus den schulischen Leistungsunterschieden ergeben. Diese bestimmen nicht nur zu großen Teilen die individuellen Arbeitsmarktperspektiven, sondern auch das Selbstwertgefühl der Schüler. Das meritokratische Prinzip der Chancengleichheit hat nämlich zur Folge, dass jeder einzelne Schüler sich als Person für seine Leistung verantwortlich fühlt. Insofern besteht naturgemäß die Gefahr, dass die Leistungsbewertung als Persönlichkeitsbewertung empfunden wird und dass dauerhafte schulische Misserfolge zu Selbstwertverlusten führen.

Auch deswegen gilt es, die Leistungsgerechtigkeit im Sinne einer meritokratischen Chancengleichheit nicht zum Allheilmittel zu erklären. Vielmehr sollte sie von einer distributiven (gezielte Umverteilung des schulischen Angebots), sozialen (Berücksichtigung und Respekt der Schwächsten) und individuellen (Bildungsniveau nicht als alleiniger Bestimmungsfaktor gesellschaftlicher Hierarchien) Gerechtigkeit umrahmt und ausgeglichen werden.

© passerelle.de, Januar 2005

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  1. Vgl. hierzu u.a. auch die Rezension zu Éric Maurin (2004).

Müde Manager. Über ‚La fatigue des élites‘ von François Dupuy

Besprochenvon Michael Tillmann

Seit einigen Jahren schon ist das Schlagwort der précarité in Frankreich in aller Munde. In zahlreichen Publikationen wurde der Befund einer wachsenden beruflichen Unsicherheit, die sich allein schon an den Arbeitslosenzahlen ablesen lässt, immer wieder aufs Neue bekräftigt.

Diese Unsicherheit betrifft natürlich – ähnlich wie in Deutschland – vor allem gering Qualifizierte, die der internationalen Lohnkonkurrenz in besonderem Maße ausgesetzt sind. Höher Qualifizierte dagegen scheinen gegen die Gefahren einer Deklassierung unter verschärften internationalen Konkurrenzbedingungen deutlich besser gewappnet zu sein.

Dieses im Kern sicherlich zutreffende Urteil muss gleichwohl in gewissen Punkten nuanciert werden, sobald man den Begriff der Prekarität eben nicht ausschließlich auf die (fehlende) Sicherheit des Arbeitsverhältnisses bezieht, sondern auch auf die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation. Éric Maurin (2002) hatte bereits darauf hingewiesen, dass die berufliche Unsicherheit nicht nur gering qualifizierte Arbeitnehmer trifft und im Grunde – natürlich mit mehr oder weniger schwer wiegenden Folgen – quer zu den verschiedenen Berufsgruppen verläuft. Der französische Organisationssoziologe François Dupuy nun ist eben dieser Frage vertiefend nachgegangen. Sein Interesse gilt vor allem den cadres supérieurs, d.h. der französischen Wirtschaftselite, die sich von den eigentlichen Führungs- und Entscheidungsgremien innerhalb der Unternehmen im Stich gelassen fühlt. Insofern lässt sich Robert Castels (2003) Einsicht, wonach manche Gruppen, deren Arbeitsbedingungen sich kollektiv verschlechtern, mit einer Situation des sozialen Abstiegs konfrontiert sind und einen Nährboden bilden, auf dem ein Gefühl der Unsicherheit wächst, auch auf die Berufsgruppe der leitenden Angestellten übertragen.
Während die Managerklasse in Frankreich lange einen Sonderstatus genoss, weil sie eben eine Mittlerfunktion im hierarchisch organisierten Unternehmensgefüge einnahm, sich gleichzeitig aber in die Entscheidungsfindungsstrukturen mit eingebunden fühlte, hat sich die Situation in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Das ausschlaggebende Moment für diesen langsamen Entfremdungsprozess zwischen betrieblichen Führungsinstanzen und mittlerer bis gehobener Managementebene verortet François Dupuy in der Revolution der Organisationsformen als Folge einer Umkehrung wirtschaftlicher Knappheitsverhältnisse. Zugespitzt lautet die These: „Bis zum Ende des Wirtschaftswunders herrschte in Bezug auf die täglichen Arbeitsprozesse das stillschweigende Übereinkommen, dass die Unternehmen in erster Linie für ihre Angestellten da seien. Kunden bzw. Aktionäre waren im Grunde zweitrangig. Diese Selbstbezogenheit hatte mit einem spezifischen wirtschaftlichen Umfeld zu tun, das letztlich den Produktions- bzw. Vertriebseinheiten anstatt den Konsumenten die Macht in die Hände legte“ (Dupuy 2005: 11). Diese für die Managerebene in den Unternehmen komfortable Situation hat sich nun in ihr Gegenteil verkehrt. Im Zuge der Globalisierung und der Liberalisierung der (internationalen) Handelsbeziehungen sind nicht mehr so sehr die Produkte knapp als die Kunden, denen man sie verkaufen könnte. Dadurch aber gaben die Kunden (und darüber hinaus auch die Aktionäre) zunehmend den Ton an. Die Unternehmen mussten sich diesem Kundendiktat beugen und die sequenziell organisierten Unternehmensstrukturen (Planung, industrielle Organisation, Produktion und innerhalb der Produktion, beispielsweise in der Automobilindustrie, zwischen Maschinen- und Karosseriebau, zwischen Karosserieherstellung und -montage usw.) aufbrechen. Aus organisationstheoretischer Sichtweise hatten diese sequenziellen Unternehmensstrukturen jedoch auch eine Schutzfunktion, weil dadurch eine gewisse Arbeitsautonomie jedes einzelnen dieser Bereiche gegenüber allen anderen gewahrt wurde. Das war vor allem für die betroffene Leitungsebene eine recht bequeme Situation, zumal sie dadurch innerhalb ihrer Organisation gewissermaßen eine Monopolstellung innehatte und die Arbeitsprozesse auf die unternehmensinternen Bedürfnisse abstimmen konnte. Unterdessen haben jedoch die Kunden die Macht an sich gerissen. Sie sind nicht länger bereit, die Kosten für schwerfällige Organisationen zu tragen. Angesichts dieser Situation wurden Reformen notwendig, die diese monopolartigen Strukturen aufbrechen und für eine stärkere horizontale Kooperation und Verflechtung sorgen (Beispiel: Anschlussflüge ohne längere Wartezeiten). Kooperation bedeutet aber eben immer auch Konflikt, so dass die seit einiger Zeit in Gang befindliche Revolution der unternehmensinternen Organisationsformen letztlich dazu führt, dass auch die leitenden Angestellten einem wachsenden Druck ausgesetzt sind. Da die strategischen, unternehmensrelevanten Entscheidungen in höheren Sphären getroffen wurden, zu denen sie im Regelfall keinen Zugang haben, die Arbeitsbelastung bei rückläufiger Gehaltsentwicklung jedoch gleich bleibend hoch ist, lassen sich Rückzugsstrategien erkennen, die zeigen, dass das Arbeitsengagement und die Identifikation mit dem Unternehmen nachzulassen drohen. Die cadres, die sich bisher trotz ihres Angestelltenstatus stets stärker der Unternehmensdirektion verbunden fühlten als den anderen Arbeitnehmern des Betriebs, scheinen sich – wie sich einigen Umfragen speziell zu der Frage der 35-Stunden-Woche in Frankreich entnehmen lässt – tendenziell den „gewöhnlichen“ Angestellten anzunähern: Auch die Führungskräfte zählen nun ihre Arbeitsstunden, und wie alle anderen Arbeitnehmer wünschen auch sie keine Lockerung der 35-Stunden-Woche, die unter der sozialistischen Koalition verabschiedet worden war und vor kurzem von der bürgerlichen Regierung neuerlich in Frage gestellt wurde. Der Kapitalismus allerdings – das haben Boltanski/ Chiapello (1999) eindrucksvoll gezeigt – braucht einen Geist. Er braucht das Engagement seiner Führungskräfte und damit überzeugende und glaubwürdige Werte, die diese langfristig binden und motivieren.[1]

 

Wie es in der Reihe der République des Idées üblich ist, begnügt sich der Verfasser jedoch nicht mit einem negativen Befund. In einem abschließenden Kapitel werden drei sich kreuzende Wege aus der Krise aufgezeigt. Zum einen sollte an die Stelle des Spezialistentums eine horizontale Integration verschiedener Unternehmensbereiche in der Person des Managers treten, die auch auf das mittlere Leitungsniveau auszudehnen wäre. Darüber hinaus sollte auch das Laufbahnmanagement umgestaltet werden, so dass nicht mehr allein ein Aufstieg in der Unternehmenshierarchie mit einer Gehaltserhöhung verbunden ist, sondern eventuell auch horizontal verlaufende Karrieren möglich werden. Dabei geht es jedoch im Kern darum, dass der Karriereverlauf den Führungskräften nicht einfach aufgezwungen, sondern vielmehr ausgehandelt wird. Drittens schließlich muss dieses horizontale Karrieremanagement die Möglichkeit bieten, neue Kenntnisse zu erwerben, so dass die leitenden Angestellten ihre employability weiter ausbauen können.

© passerelle.de, Juni 2005

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  1. Es sei darauf hingewiesen, dass François Dupuy, ohne die Autoren namentlich zu erwähnen, von Boltanskis und Chiapellos Versuch nicht viel hält, die Veränderungen des kapitalistischen Geistes und letztlich auch der kapitalistischen Organisationsformen (Stichwort: Vernetzung, Projekt usw.) als Reaktion auf die Herausforderungen der 68er Bewegung zu interpretieren (Dupuy 2005: 58). In seinen Augen sind die Veränderungen der unternehmerischen Organisationsformen ausschließlich der Globalisierung und der Öffnung der Märkte zuzuschreiben.

Kultursoziologische Mischprofile. Zur Theorie kultureller Legitimität. Über ‚La culture des individus‘ von Bernard Lahire

Besprochenvon Michael Tillmann

  • LAHIRE, Bernard: La culture des individus. Dissonances culturelles et distinction de soi. La Découverte, Paris 2004. ISBN 978-2707142221.

In einem voluminösen, an theoretischen Ausführungen und empirischen Datensätzen qualitativer und quantitativer Natur reichen Werk setzt sich der Lyoner Soziologe Bernard Lahire mit dem kultursoziologischen Mainstream in Frankreich auseinander, d.h. mit der Theorie kultureller Legitimität, die kulturelle Produkte hierarchisiert, kulturelle Praktiken mit gesellschaftlichen Klassen- und letztlich Macht- und Herrschaftslagen in Bezug setzt. Der Titel seines fast 800seitigen Buches La culture des individus ist dabei bereits Programm, weil hier das Kulturelle, das doch zumeist als kollektives Phänomen verstanden wird, zu einer Eigenschaft der Individuen wird. Die Individuen sind hier allerdings keine Träger eines inkorporierten Klassen-Habitus. Wenn hier von den kulturellen Präferenzen und Verhaltensmustern der Individuen die Rede ist, dann nicht insofern sie sozialstrukturell definierte Dispositionen abspulen, sondern weil – wie der Untertitel es verrät – Dissonanzen ihre kulturellen Praktiken prägen. Dabei werden die Erkenntnisse Bourdieus und anderer nicht einfach über Bord geworfen.[1]

Vielmehr geht es um eine – allerdings – signifikante Akzentverschiebung: „Eine Theorie inter- und intrainidividueller Variationen kultureller Verhaltensmuster […] analysiert – anstatt sich auf die Analyse der Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen zu beschränken – vielmehr das Wechselspiel und die kulturellen Distinktionseffekte, durch die sich die Individuen untereinander unterscheiden und die die Individuen selbst durchziehen“ (739). Die individuellen kultursoziologischen Profile, die Lahire im Mittelteil seiner groß angelegten Studie entwirft, veranschaulichen in der Tat, wie heterogen und dissonant kulturelle Praktiken und Präferenzen sein können. Folgt man der statistischen Auswertung der Datensätze, so zeigt sich, dass die dissonanten Kulturprofile, bei denen die Individuen sowohl Güter aus der Hochkultur als auch alltagskulturelle Produkte konsumieren, auf knapp 60 % der Befragten zutrifft. Geschlossene, in sich kohärente Profile, bei denen entweder nur illegitime oder eben nur legitime Kulturgüter (etwa: ausschließlich Opernbesuche, Autorenkino, Lektüre der Klassiker der Weltliteratur, Kultursendungen im Fernsehen usw.) konsumiert werden, sind diesen Zahlen zufolge die Ausnahme.

Gestützt werden diese quantitativen Befunde durch qualitative Interviews, die die Dissonanz anhand von Einzelfällen belegen. Koppelt man diese Ergebnisse mit sozialstrukturellen Datensätzen (sozioprofessionnelle Kategorie der Befragten), so zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, in seinem Kulturverhalten Merkmale dissonanter Profile aufzuweisen, in allen Berufsgruppen am höchsten ist. Kohärente Profile im Sinne einer hohen, aber auch im Sinne einer niedrigen Legitimität sind demgegenüber in allen Berufsgruppen deutlich geringer vertreten. Diese Dissonanz kultureller Profile führt der Autor letztlich auf die – seit der Begründung der Soziologie vielfach konstatierte – Differenziertheit der modernen Gesellschaften zurück. Die Menschen sind gleichzeitig bzw. nacheinander in mehreren, zum Teil konkurrierenden Sozialisierungsmilieus zu Hause (Familie, Peer groups, Schule, Arbeitsumfeld usw.), so dass im Bereich kultureller Werte unterschiedliche Referenzen vermittelt werden und die Akteure in situative Handlungsmuster eingebunden sind (z.B. Kinobesuch mit Freundesgruppe oder Ähnliches), die die Konsumption kulturell kohärenter Güter verhindert. Diese „Plurisozialisierung“ – wie es bei Lahire heißt – ist letztlich der Grund für unterschiedliche, bisweilen sogar gegensätzliche Dispositionen und kulturelle Praktiken.[2]

 

Vgl. auch die Übersetzung des Schlusskapitels, in dem die Hauptthesen Lahires kurz zusammengefasst werden.

 

 

© passerelle.de, Februar 2005

 

 

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  1. Wobei Lahire Bourdieu den Vorwurf nicht erspart, in den „Feinen Unterschieden“ die Datensätze aus Gründen der empirischen Untermauerung seiner Theorie, „überinterpretiert“ zu haben. Lahire zufolge sind die dissonanten Profile, die er als Dominante für unsere heutige Gesellschaft ausmacht, auch in den Datensätzen Bourdieus zu erahnen, so dass die Vermutung, die unterschiedlichen Ergebnisse seien eine Folge gesellschaftlicher Veränderungen (etwa: Konkurrenz der Schule als Vermittler kultureller Legitimität durch das Fernsehen), wohl unbegründet sein dürfte: „Wenn man die Unterschiede zwischen den Gruppen betrachtet, die sich aus den Umfragen der 60er und 70er Jahre ergeben, dann stützt jedenfalls nichts die Behauptung, dass der kulturelle Gegensatz zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder die kulturellen Grenzen eine individuelle Abstufung kultureller Praktiken und Präferenzen unmöglich machen. Wenn damals also ein Soziologe nach intraindividuellen Variationen geforscht hätte, so hätte er sicherlich einen hohen Anteil von Befragten aus allen sozialen Klassen zutage gefördert, die in Bezug auf den Grad der Legitimität ihrer kulturellen Praktiken und Präferenzen dissonante kulturelle Profile aufweisen. Die legitimistische Sichtweise Pierre Bourdieus in den „Feinen Unterschiede[n]“, objektiviert auch heute noch wesentliche Strukturaspekte unserer sozialen Welt. Paradoxerweise scheint sie allerdings viel mehr auf die französische Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts zugeschnitten zu sein, d.h. auf eine Gesellschaft mit einer lediglich rudimentären industriellen Massenkultur vor dem Medienzeitalter, in der klare symbolische Unterscheidungen zwischen ‚Kultur‘ und ‚Volkskultur‘, zwischen ‚hohen‘ und ’niedrigen Künsten‘ vorherrschten“ (172).
  2. Ein kritisches Dossier zu dem Buch mit Artikeln u.a. von Louis Pinto findet sich in der Revue EspacesTemps.

Korruptionsforschung. Über ‚Corruptions‘ Pierre Lascoumes.

Besprochenvon Michael Tillmann

  • LASCOUMES, Pierre: Corruptions. Presses de Sciences Po, Paris 1999. ISBN 2-7246-0773-2.

Das Phänomen der Korruption, der Käuflichkeit von Politik und Verwaltung, der unlauteren Vorteilsnahme bzw. -gewährung, der illegalen Parteienfinanzierung kehrt mit steter Regelmäßigkeit ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zurück. Es scheint sich hierbei um ein rekurrentes Phänomen zu handeln, das sich weder zeitlich noch geographisch noch kulturell festmachen ließe. Es scheint nicht einmal an einen bestimmten Regimetypus gebunden zu sein. Die Demokratie jedenfalls ist davon genauso betroffen wie andere Regierungsformen. Korruptem bzw. korrumpierendem Verhalten liegt ein Interessenkonflikt zugrunde zwischen einer an dem Allgemeinwohl ausgerichteten Handlungslogik von Politik und Verwaltung auf der einen und auf der anderen Seite einer Wirtschaftslogik, die auf Gewinnmaximierung beruht und dazu auch vor Mitteln der Wettbewerbsverzerrung nicht zurückschreckt. Vor diesem Hintergrund analysiert Pierre Lascoumes mehrere Korruptionsfälle in Frankreich und anderswo. Anhand eines Vergleiches zwischen zwei Bestechungsaffären in Belgien (Dassault) und Frankreich (Luchaire) veranschaulicht er, wie sehr die Bewertung eines Korruptionsfalls durch Öffentlichkeit und Justiz von der politisch-gesellschaftlichen Konstellation des jeweiligen Moments abhängig ist. Während der Fall Dassault als Skandal empfunden wurde und für die Beteiligten schwere Strafen nach sich zog, endete das Verfahren im Fall Luchaire mit einem Freispruch und einer Verharmlosung der Affäre, obgleich die Ausgangslage in beiden Fällen durchaus vergleichbar war. Das zeigt, wie stark trotz eines gesellschaftlichen Veränderungsprozesses, in dessen Verlauf gesellschaftliche Interessen die (besonders in Frankreich ausgeprägte) Staatsräson als Rechtfertigungsstrategie allmählich in ihre Schranken weisen, Korruption definitionsabhängig und damit definitionsbedürftig ist. Sie bewegt sich stets in der Grauzone des Tolerierten bzw. Noch-gerade-Tolerierbaren: vom Wählerauftrag über den Klientelismus bis zur Korruption ist es nur ein kurzer Weg und die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Formen politischer Responsivität verschwimmen. Pierre Lascoumes Analyse ist so klar geschrieben wie inhaltlich überzeugend. Dass dieses Thema auch für ein deutsches Publikum interessant sein könnte, liegt auf der Hand. Darüber hinaus handelt es sich aber um eine konzise, vergleichend arbeitende Einführung in einen von den Gesellschaftswissenschaften bisweilen vernachlässigten Problembereich, der nichtsdestotrotz an das Wesen der Demokratie rührt. Auch wenn die beiden zentralen Fallbeispiele aus dem frankophonen Bereich stammen (Belgien und Frankreich), sind die Resultate hinreichend verallgemeinernd und verallgemeinert, um auch für Korruptionsfälle in anderen Ländern als Analyseraster zu dienen. Darüber hinaus werden diese Fallanalysen von einer theoretischen Einführung und einem internationalen Vergleich (Amerika-Frankreich) umrahmt, deren Beispiele aus allen wichtigen westlichen Demokratien stammen.

 

© passerelle.de, Sommer 2000

 

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Frankreich im Wandel. Über ‚L’égalité des possibles. La nouvelle société française‘ von Eric Maurin

Besprochenvon Michael Tillmann

  • MAURIN, Eric: L’égalité des possibles. La nouvelle société française. République des Idées, Paris 2002. ISBN 978-2020545082.

In den letzten Jahren ist in Frankreich die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der Öffentlichen Auseinandersetzung gerückt, wobei die Begriffe der précarité und der précarisation, d.h. der zunehmend unsicher werdenden Beschäftigungsverhältnisse, und die Gleichheitsproblematik neben einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit die Debatte bestimmen. Von diesem Topos der politischen Auseinandersetzung ausgehend, unterzieht der Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler Eric Maurin die französische Gesellschaft einer genaueren Betrachtung, um die Natur und tatsächliche Tragweite der Wandlungsprozesse zu ergründen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die zunehmende Instabilität der Berufswelt nicht allein spezifische Berufsgruppen belastet. Selbst wenn höher Qualifizierte natürlich weniger gefährdet sind als gering Qualifizierte und ältere Erwerbstätige seltener arbeitslos werden als Jungarbeitnehmer, hat die berufliche Unsicherheit für alle Beschäftigungskategorien in vergleichbarem Maße zugenommen. Diese Entwicklung führt der Autor in letzter Konsequenz weniger auf institutionelle Rahmenbedingungen (Stichwort: Liberalisierung des Arbeitsmarktes) zurück als auf technologische Innovationen, d.h. auf die Möglichkeit, Arbeits- und Erfahrungswissen, das zuvor allein ältere Arbeitnehmer im Laufe ihrer Berufskarriere haben ansammeln können, durch neuartige Produktionsmethoden zu ersetzen (Kapitel I: La fragilisation des relations d’emplois).

Parallel dazu beobachtet Eric Maurin, dass die Kategorien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur statistischen und damit auch ideologischen Erfassung der Berufswelt entwickelt wurden, an Prägnanz verlieren. Auch wenn entgegen weithin zu vernehmender Unkenrufe das Konzept der Arbeiterklasse nichts von seiner heuristischen Kraft verloren hat, hat sich doch die Identität dieser Kategorie verändert. Das hat damit zu tun, dass die Kategorie der Arbeiter, die sich immer schon aus heterogenen Elementen zusammensetzte, gerade bei den angelernten Hilfsarbeiten (ouvriers spécialisés) im Zuge des Zusammenbruchs traditioneller Industriebastionen hat Verluste verzeichnen müssen. Parallel dazu konnten die dienstleistungsnahen Arbeiterkategorien und die Angestelltenkategorie zulegen. Letztere weist allerdings dieselben Wandlungsprozesse auf wie die Kategorie der Arbeiter, weil auch hier die klassische Figur des Angestellten im Verwaltungsbereich eines Großbetriebes zugunsten der Angestellten im direkten Kundenkontakt (Haushaltshilfe, Betreuungs- und Pflegepersonal usw.) an Gewicht verloren hat.

Der gemeinsame Nenner all dieser Verschiebungsprozesse besteht dem Autor zufolge darin, dass der Arbeitsalltag dieser im Wachsen befindlichen Kategorien stärker die Persönlichkeit der jeweiligen Arbeitnehmer anspricht und mobilisiert. Damit empfinden diese jedoch weniger das Gemeinsame einer ähnlichen Berufslage, so dass auch die Ausbildung einer gemeinsamen Klassen- bzw. kategorialen Identität schwerer fällt. Ganz im Gegenteil: Gerade das „Scheitern“ in der Arbeitswelt wird als eigene Unzulänglichkeit und persönlicher Kompetenzmangel empfunden. Das unter solchen Bedingungen ein Klassenbewusstsein bzw. das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität nur schwer zu wachsen vermag, ist nicht weiter verwunderlich (Kapitel II: La nouvelle condition salariale).

Als dritten Aspekt der Entwicklung der französischen Gesellschaft und Wirtschaft neben allgemeiner Prekarisierung und unschärfer werdenden Kategorien verweist Eric Maurin auf weiter bestehende soziale Ungleichheiten. Diese Ungleichheiten macht er zum Beispiel daran fest, dass die Armutswahrscheinlichkeit für sozial schwache Familien immer noch deutlich höher ist als für andere, dass die gesellschaftlichen Beharrungskräfte gegen soziale Mobilität nach wie vor eine große Wirkungskraft haben und das Haushaltseinkommen den schulischen Erfolg der Kinder stark vorprägt (Kapitel III: Inégalités de fait et inégalités des possibles).

Daran anschließend – und das ist das eigentliche Ziel dieses kurzen Überblicks über markante Aspekte der französischen Gesellschaftsentwicklung – zeigt der Autor im Schlusswort (Redéfinir les priorités des politiques sociales: pour une égalité des possibles) Wege auf, wie auf diese neue Ausgangsbasis politisch reagiert werden könnte. Dabei stechen vor allem zwei Vorschläge ins Auge: Die Vorschläge, die gerade am linken Spektrum Frankreichs oftmals einer stärkeren Reglementierung der Arbeitsverhältnisse das Wort reden, lehnt Maurin angesichts der Tatsache ab, dass der Prekarisierungsprozess offensichtlich unabhängig von institutionellen Rahmungen erfolgt. Demgegenüber favorisiert er einen Umbau des betrieblichen Fortbildungssystems, das nicht nur jenen Mitarbeitern offen stehen dürfe, die ohnehin bereits die besten Beschäftigungsfähigkeiten besitzen.

Darüber hinaus wäre es seiner Ansicht nach verfehlt, wollte man das Schulsystem, das ja stets als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Mobilität betrachtet wurde, ein weiteres Mal von innen heraus reformieren. Vielmehr gehe es darum, die bestehenden sozialen Ungleichheit über eine Umverteilungspolitik insofern auszugleichen, als dadurch die schulischen Erfolgsaussichten von Kindern aus schwachen Einkommensschichten verbessert würden.

 

© passerelle.de, Frühjahr 2003

 

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Großbürgertum unter soziologischer Lupe. Über ‘Voyage en grande bourgeoisie. Journal d’enquête’ Von Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot

Besprochenvon Michael Tillmann

  • PINÇON, Michel/ PINÇON-CHARLOT, Monique: Voyage en grande bourgeoisie.

    PUF, Paris 2002 (Erstausgabe 1997). ISBN 978-2130554202.

Großbürgertum und Aristokratie sind keine gewöhnlichen Untersuchungsobjekte einer Soziologie, die sich von Anbeginn an dem gesellschaftlichen Fortschritt verschrieben hat. So geraten die ehemals dominanten Klassen nur selten ins Blickfeld einer soziologischen Betrachtungsweise, da der Geist der Geschichte in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft ohnehin anderswo zu wehen pflegt und die großbürgerlichen, veraltet anmutenden Lebensformen der besseren Gesellschaft bestenfalls freundlich belächelt werden. Kaum mehr weiß eine Soziologie, die weniger geschichtsphilosophisch daherkommt und sich stärker einem sozialen Engineering verpflichtet fühlt, mit den oberen Zehntausend anzufangen. Als Machteliten im politischen Sinne werden sie schon längst nicht mehr wahrgenommen, und verglichen mit drängenden Problemen der Gegenwart (Gewalt in den Vororten großer Ballungszentren, soziale Ausgrenzung, Langzeitarbeitslosigkeit, Integration der Arbeitsmigranten usw.) ist ihre gesellschaftspolitische Brisanz eher gering. Insofern sehen die diversen staatlichen oder privaten Förderinstitutionen auch keine dringende Notwendigkeit, eine Soziologie des Großbürgertums finanziell zu unterstützen. Der direkte politische Gewinn scheint in keinem Verhältnis zu den finanziellen Aufwendungen zu stehen.

Angesichts dieser Situation bilden die beiden französischen Soziologen Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot eine löbliche Ausnahme. In zahlreichen Werken haben sie seit Ende der 80er Jahre diverse Aspekte des Großbürgertums unter die Lupe genommen. Ausgangspunkt für das Interesse an diesem zahlenmäßig kleinen, an diversen (sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen) Kapitalformen jedoch reich gesegneten Milieu war die Beschäftigung der beiden Autoren mit städtischen Segregations- und Aggregationsphänomenen (Pinçon/Pinçon-Charlot 1989). Gerade in einer Stadt wie Paris kommt man um die Erkenntnis nicht herum, dass sich eine soziale Schichtung eben auch urbanistisch niederschlägt. Im Pariser Osten lebt es sich eben anders als in den betuchten Vierteln des 16. Arrondissements und dem angrenzenden Luxusvorort Neuilly. Insofern ist es zur Erfassung städtischer Entwicklungsdynamik eben auch erforderlich, jene zahlenmäßige Minderheit in den Blick zu nehmen, die einer anderen Welt verhaftet scheint.[1] Im Anschluss an dieses ursprünglich stadtsoziologische Interesse untersuchten die beiden Autoren die Strategien der Bildung und der Bewahrung diverser (aber eben nicht nur wirtschaftlicher) Kapitalformen in den oberen Klassen (vor allem Pinçon/Pinçon-Charlot 1998), interessierten sich jedoch auch für so scheinbar anekdotische Themen wie die Treibjagd (Pinçon/Pinçon-Charlot 1996). Hierbei mag – wie es den beiden Autoren häufig vorgeworfen wurde – eine gewisse kleinbürgerliche Faszination fürs Großbürgerliche eine Rolle spielen. Gleichzeitig verlieren sie jedoch nie den Blick für Gesamtzusammenhänge.

Dafür ist vor allem auch das Forschungstagebuch zur Reise durch die Großbourgeoisie Frankreichs (Pinçon/Pinçon-Charlot 2002), wie die wörtliche Übersetzung des französischen Titels lautet, ein schöner Beleg. Auch wenn die Autoren keinen solchen Anspruch erheben, handelt es sich durchaus um so etwas wie ein methodologisches Lehrbuch soziologischer Feldarbeit. Von der Konstruktion des Forschungsobjekts und dokumentarischer Vorarbeiten bis hin zur schriftlichen Abfassung, Veröffentlichung und medialen Verwertung der Forschungsergebnisse werden hier alle Etappen des soziologischen Arbeitens (mit ihren je spezifischen Schwierigkeiten) abgeschritten. Besonderes Augenmerk verdienen hierbei die Probleme, die mit der Kontaktaufnahme und der Durchführung von Interviews verbunden sind. Ohne Empfehlung von Mitgliedern aus diesem Sozialmilieu erweist sich die Kontaktaufnahme nämlich als nahezu aussichtslos. Und auch die Situation des Interviews in diesen gehobenen Kreisen ist selbst für erfahrene Sozialwissenschaftler mit zahlreichen Fallstricken verbunden. Das liegt vor allem daran, dass sich der Soziologe hier – anders als in den meisten Interviewsituationen – jemandem gegenüber findet, der auf einer höheren Stufe der sozialen Leiter beheimatet ist und dessen ganze Erziehung und Lebensumstände ihn auf derartige Bewährungssituationen vorbereiten. Habitus und Hexis der Befragten, in der sich das Bewusstsein der eigenen sozialen Stellung körperlich äußert, sind für den Sozialforscher insofern problematisch, als sie sich dadurch ihrer eigenen Position als sozial Beherrschte bewusst werden.[2] Im Laufe der sozialen Interaktionsformen sind die Positionen und Lebenswege der Akteure stets präsent. Daher ist es während eines Interviews stets möglich, dass eine Dominanzsituation des Befragten gegenüber dem Fragesteller (oder umgekehrt) eintritt. Detailliert beschreiben die beiden Autoren, wie sich durch dezente Kleidung, eine gezielte Vorbereitung des Interviews (da hier auch der Fragesteller Rede und Antwort stehen muss), die klare Vermittlung des Forschungsanliegens, bei dem es keinesfalls um die ironische, herablassende Kritik scheinbar veralteter Lebensformen geht, diese Schwierigkeiten umgehen oder doch zumindest abschwächen lassen. Wie sensibel dieses Milieu auf Takt- bzw. Normverletzungen (z.B. das Tragen von verschlissenen Jeans) reagiert, veranschaulichen die beiden Autoren immer wieder an zahlreichen Beispielen. In diesem Fall besteht stets die Gefahr, dass sich der Befragte auf eine rein konventionelle Position zurückzieht, um den verdächtig erscheinenden Fragesteller mit ausgesuchter Höflichkeit und der „angeborenen“ Selbstsicherheit, die die Mitglieder in diesen gesellschaftlichen Gruppen kennzeichnet, auf seinen Platz zu verweisen. So zitieren sie das Beispiel von Journalisten, die es nicht für nötig befunden hatten, sich dem normalen Erscheinungsbild in diesem Milieu anzupassen, und die prompt einen konventionellen Diskurs serviert bekamen, der kaum etwas mit den wahren Interessen und Motivationen der Befragten zu tun hatten. Neben diesem methodologischen Aspekt erfährt der Leser in kondensierter Form wesentliche Ergebnisse der einzelnen Forschungsprojekte. Dazu gehört nicht zuletzt, dass sich an diesem oberen Ende des gesellschaftlichen Spektrums eben nicht nur wirtschaftliches, sondern auch soziales, symbolisches und – einem weit verbreiteten Vorurteil zum Trotz – kulturelles Kapital akkumuliert. Insofern lässt sich von diesem Befund aus eine Brücke zu der aktuellen Debatte um die fortbestehenden Ungleichheiten in der Gesellschaft schlagen: „Ein besseres Verständnis der Ungleichheiten und der Lebensgewohnheiten der herrschenden Klassen ist an sich schon ein politischer Akt, da die Privilegien sich zunehmend den Blicken entziehen, sobald die Vermögensverhältnisse in einer älteren Vergangenheit wurzeln. Die Höhe der Vermögensverhältnisse, die vielförmige Zusammensetzung des Kapitals, das Verhältnis zu Kultur und Schule sind Aspekte, mit denen ein breiteres Publikum vertraut gemacht werden sollte. Während die Armut keine Geheimnisse mehr hat, erforscht und inventarisiert ist, entziehen sich die großen Familien der wissenschaftlichen Kenntnis. Insofern ist es mehr als legitim, sich für sie zu interessieren.“

© http://www.passerelle.de, Sommer 2003

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Im Übrigen haben Pinçon/Pinçon-Charlot (2001) ein sehr instruktives Paris-Buch vorgelegt, in der sich historische, urbanistische und soziologische Betrachtungen zu einem schönen Ganzen fügen, das jedem interessierten Paris-Touristen weitaus tiefere Einblicke in das Leben und Werden der französischen Hauptstadt gestattet als herkömmliche Reiseführer.
  2. Die beiden Autoren sehen darin einen weiteren Grund, warum die Sozialforscher diesem Milieu als Untersuchungsgegenstand skeptisch gegenüber stehen: „Die Sozialwissenschaftler laufen stets Gefahr, einem klassenspezifischen Ethnozentrismus gegenüber den zu untersuchenden Bevölkerungsgruppen zu verfallen. Im Falle der wohlhabenden Familien kann das dazu führen, dass sie als radikale Sozialkritik empfinden, was in Wahrheit lediglich der verfälschte Widerschein eines vagen Erkennens ihrer sozialen Stellung als Beherrschte ist“ (Pinçon/Pinçon-Charlot 2002: 105).