Die Ungleichheitsdebatte in Frankreich. Sammelrezension

BesprochenSammelrezension von Michael Tillmann

Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft nimmt das Wortgefecht um die Ungleichheit im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen heftig zu. Michael Tillmann fasst die Hauptansätze der Forschung in einer Sammelrezension zusammen.

 

Die Gerechtigkeitsdebatte in Frankreich ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen neu entbrannt. In welche Richtung sich die französische Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln wird, beschäftigt nicht nur die Politiker aller Couleur, sondern auch die Wissenschaft. Der Armutsforscher Serge Paugam hat gerade ein fast 1000-seitiges Werk zur Zukunft gesellschaftlicher Solidarität herausgegeben. Darin erhellen 50 Forscher den sozialwissenschaftlichen Beitrag zur Analyse solidarischer Vergesellschaftungsprozesse, die – einer weit verbreiteten Meinung nach – allzu oft unter dem verengenden Blick wirtschaftswissenschaftlich begründeter, rein ökonomischer Rentabilität betrachtet wird. Dass es dabei nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch um eine öffentliche Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsträger geht, legt nicht zuletzt die damit einhergehende Unterschriftenkampagne nahe, mit der das Thema soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Segregation in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden soll. Vielleicht wird also der pessimistische Schlusssatz aus Louis Chauvels Mittelschichtenstudie doch Lügen gestraft: „Seit langem schon sind Wahljahre leider Gottes selten der richtige Augenblick, um allzu ernsthafte Fragen zu stellen.“

In dieselbe Richtung wie Paugams Solidaritätsappell geht eine andere Publikation, ebenfalls in der Reihe Le lien social, bei den Presses universitaires de France erschienen, die unter dem Titel L’épreuve des inégalités mehrere Beiträge von Sozialwissenschaftlern aus dem Umfeld des Observatoire sociologique du changement vereint. Darin wird den Ungleichheitsprozessen sowohl in einem nationalen als auch international vergleichenden Rahmen nachgegangen. Dass die aktuellen Ungleichheitsstatistiken, soweit sie vorwiegend die Einkommensverteilung im Blick haben, die ganze Dimension der Ungleichheitsproblematik nur bruchstückhaft wiedergeben und etwa generationenspezifische oder sozialräumliche Ungleichheiten und die – aufgrund des Sprengelprinzips – auch schulisch bedingten unterschiedlichen Bildungs- und damit letztlich auch Lebenschancen statistisch nur unzureichend erfassen, ist kein Novum. Schwieriger fällt allerdings schon die Antwort auf die Frage, wie man die intuitiven Ungleichheitswahrnehmung statistisch untermauern kann (vgl. dazu etwa den Internetauftritt des Centre national de l’information statistique und speziell das PDF-Dokument mit dem Titel Niveau de vie et inégalités sociales).

Dass Handlungsbedarf besteht, scheint aber unter Soziologen weitgehend unbestritten. Selten jedoch wird dies so selbstbewusst formuliert wie von dem Wirtschaftsprofessor Jean Gadrey in seinem letzten Buch En finir aves les inégalités sociales. Jean Gadrey, der 2005 für eine Ablehnung des europäischen Verfassungsprojekts geworben hatte, stützt sich dabei vor allem auf den gebündelten Inegalitätsindikator des BIP40, d.h. des Baromètre des inégalités et de la pauvreté aus dem links-alternativen Gewerkschaftsmilieu, der seit den 80er Jahren eine zunehmende soziale Schieflage konstatiert. Aus dem kämpferischen Engagement des Wirtschaftsprofessors spricht aber auch die Überzeugung, dass Ungleichheiten, sofern man sie bekämpfen möchte, keine Fatalität darstellen.

Nicht minder konkrete Lösungsvorschläge – allerdings mit einer eher sozialdemokratischen Stoßrichtung – legt das deutsch-österreichische Gespann Peter Auer und Bernard Gazier in L’introuvable sécurité de l’emploi vor. Bernard Gazier hatte schon in einer jüngeren Schrift für das Konzept der flexicurity und eine systematische Erprobung der so genannten Übergangsarbeitsmärkte geworben. Auch in seinem neuen Buch plädiert er zusammen mit dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Peter Auer für einen modernisierten Sozialstaat, der – wie vor allem Dänemark – zeigt, immer noch einen wertvollen Beitrag zu gesellschaftlichem Frieden und Wohlstand zu leisten vermag.

Damit knüpft dieses Buch an eine Diskussion an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft an, die seit einiger Zeit intensiv geführt wird. Alain Lefebvre und Dominique Méda hatten in Faut-il brûler le modèle social français? Anfang letzten Jahres die Übertragbarkeit des reformierten nordeuropäischen Sozialstaatsmodells auf französische Verhältnisse untersucht.

Eine angenehm konzise Darstellung der wesentlichen Charakteristika der dänischen flexicurity findet sich in einem fünfzigseitigen Büchlein von Robert Boyer, La flexicurité danoise. Quels enseignements pour la France?, das im Rahmen der publizistischen Tätigkeit des CEPREMAP, Centre pour la recherche économique et ses applications, unter der Leitung des auch hierzulande bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Daniel Cohen veröffentlicht wurde.

 

© passerelle.de, Januar 2007

 

 

Breitseite auf den französischen Sozialstaat. Über ‘Faut-il brûler le modèle social français?’ von Alain Lefebvre und Dominique Méda

Besprochen von Michael Tillmann

Die Interpretationen der Proteste, die der inzwischen zurückgezogene Ersteinstellungsvertrag CPE in Frankreich ausgelöst hat, divergieren. Während die Mehrzahl der politischen Beobachter darin ein weiteres Beispiel für die Reformunfähigkeit der französischen Gesellschaft zu erkennen vermeint, sind vor allem auf Seiten der Gewerkschaften Stimmen zu vernehmen, die darin vielmehr den möglichen Grundstein einer neuen, europaweiten sozialen Bewegung sehen und Paris mithin als Speerspitze im Kampf gegen einen völlig enthemmten Liberalismus. Dass Frankreich sich selbst gerne zum (universellen) Maßstab gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen nimmt, erschwert insofern die Debatte um die notwendigen Reformen des Sozialstaates, als es den Blick auf andere Länder verstellt, denen die scheinbare Quadratur des Kreises – eine hohe Beschäftigungsquote und ein ausgebautes (aber modernisiertes) Sozialversicherungssystem – gelungen ist. Letztlich werden also Wege, die die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates und seinen Fortbestand sichern könnten, aus ideologischer Beschränktheit und nationaler Verklärung heraus nicht beschritten. Das Anliegen der beiden Autoren Alain Lefebvre und Dominique Méda[1] besteht nun gerade darin, Anregungen aus dem Ausland aufzugreifen, um den französischen Sozialstaat zu erhalten. Gerade aus diesem Grund fordern sie nachhaltige Reformen, die sich ihrer Meinung nach an den nordeuropäischen Sozialmodellen orientieren sollten. Im Unterschied zu Frankreich und anderen Ländern[2] ist es Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland nämlich gelungen, trotz einer hohen Sozialleistungsquote die internationale Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft und ein hohes Beschäftigungsniveau der Arbeitnehmer zu garantieren. Dass gegen eine Übertragbarkeit der dänischen flexicurity, d.h. der Kombination von Elementen der Flexibilität (für Unternehmen und Arbeitnehmer) bei gleichzeitiger sozialer Absicherung und qualifizierender Fortbildungs- bzw. Umschulungsmöglichkeiten, keine unüberwindlichen kulturellen Hindernisse sprechen, veranschaulichen die beiden Autoren mit Nachdruck. Sehr wohl gilt es aber, auf die institutionellen Hindernisse einzuwirken, zu denen trotz aller Dezentralisierungsbemühungen seit den 80er Jahren natürlich zuallererst eine starke zentralstaatliche Machtkonzentration sowie schwache Gewerkschaften (zumindest hinsichtlich des gewerkschaftlichen Organisationsgrades) zählen, während das Subsidiaritätsprinzip gerade die Kommunen stärker in die Betreuung der Erwerbslosen einbinden sollte und starke, aber auf einen Vergleich ausgerichtete Gewerkschaften ein wichtiger Bestandteil des sozialen Friedens sind. So beweist auch dieser Essay wieder einmal, dass die wissenschaftliche Diskussion in Frankreich der tatsächlichen gesellschaftlichen Realität, die sich häufig in lähmenden Besitzstandswahrungsreflexen der unterschiedlichen Berufsgruppen erschöpft, um Längen voraus ist.[3]

© passerelle.de, April 2006

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Dominique Méda hatte in den 1990er Jahren in einer philosophisch angelegten Schrift das Ende der Arbeitsgesellschaft prophezeit (Méda 1995). Seitdem wirbt sie in wissenschaftlich fundierten Schriften für eine gerechtere Wirtschaftsordnung und zeigt Wege auf, die zwar nicht mehr aus der Arbeitsgesellschaft hinausführen, ihr jedoch ein menschlicheres Antlitz verleihen könnten (vgl. vor allem Méda 2002).
  2. Nach der Typologie Esping-Andersens gehört etwa auch Deutschland zu diesem konservativ-korporatistischen Sozialstaat, der sich von dem liberalen Typus (England) und dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat (Nordeuropa) durch die Art der Finanzierung, die Höhe der Umverteilung, die anthropologischen Grundvorstellungen und die politischen Zielsetzungen zum Teil deutlich unterscheidet.
  3. Vgl. etwa auch das hier rezensierte Buch von B. Gazier (2003) zu den Übergangsarbeitsmärkten, das ganz ähnliche Reformmöglichkeiten aufzeigt.