Über B. Lindners Benjamin-Handbuch

Besprochenvon Thomas Weber

  • LINDNER, Burkhardt (Hrsg.): Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzlar, Stuttgart, Weimar 2006. ISBN 978-3-476-01985-1.

Wie soll man ein Werk rezensieren, das die Arbeiten von über 40 international renommierten Benjamin-Experten aus dem In- und Ausland zusammenträgt und damit einen Meilenstein, in gewisser Hinsicht auch einen Schlussstein der Benjamin-Forschung der letzten Jahrzehnte setzt? Wäre das Handbuch ein Sammelband, würde sich der versierte Rezensent einzelne Aspekte herausgreifen und ihrem Für und Wider nachspüren. Er würde die Gelegenheit nutzen, griffige Benjamin-Zitate anzubringen, Benjamin-Restkenntnisse, die praktisch jeden nach 1969 lesefähigen, kultur- und sozialwissenschaftlich gebildeten Akademiker auszeichnen, oder gar versuchen, diesen oder jenen Expertenbeitrag in seinem Gewicht zu beurteilen, ihn vielleicht zurechtzurücken, in dem er ihn von der einen in die andere Rubrik verschiebt oder gar einen übersehenen Winkel zum Vorschein bringt. Doch angesichts der geballten kollektiven Intelligenz, die sich auf über 700 Seiten äußert, wäre ein solches Unterfangen nicht nur aussichtslos, sondern würde gerade auch die Leistung des Handbuchs verkennen, das als Ensemble konzipiert wurde.

Das Handbuch wendet sich gerade gegen den weit verbreiteten Eindruck, Benjamins Schriften bieten ein „Arsenal aparter Formulierungen (…), aus dem jedermann sich unbekümmert bedienen könne“ (S. VIII). Tatsächlich wirkten Benjamins Arbeiten wie ein offener Steinbruch, aus dem sich jeder bedienen konnte oder wie eines jener wilden Untertagebergwerke, die das Ruhrgebiet durchziehen (jenes andere Antlitz der „Berliner“ Moderne, ihr industrielles Herz, das Benjamin nicht beschrieben hat), aus denen sich die Kumpels auf eigene Faust ihren Brennstoff für zu Hause organisierten; nicht nur ist ihre Lagebestimmung bis heute schwierig und oft erst durch Bodensenkungen erschließbar, die Häuser, ja Siedlungen zum Einsturz bringen, sondern einmal in sie geraten, besteht immer die Gefahr, sich in den unterirdischen Stollen zu verirren.

Herausgeber und Autoren wissen um die Probleme ihres Unternehmens. Sie verdanken viel Rolf Tiedemann und den von ihm herausgegeben Gesammelten Schriften, die bis heute die wichtigste Textgrundlage der wissenschaftlichen Diskussion der verstreuten Arbeiten von Benjamin bilden.

Das Benjamin Handbuch ist auf Bestandsaufnahme der bisherigen Benjamin-Rezeption ausgerichtet. Es weiß insofern mehr als Benjamin selbst wusste, nicht nur weil es das Wissen über seine Rezeption mit aufnimmt, sondern auch die Kontextualisierung von Benjamins eigenen Texten. Das Buch erklärt, es drängt jedoch keine bestimmte Sichtweise von Benjamin auf, sondern dokumentiert eher die unterschiedlichen Facetten seines Werks.

„Wie immer man sich in dieser Diskussion um die Bedeutung Benjamins zu Lebzeiten positionieren mag, unbestreitbar bleibt, daß wir es heute mit einem anderen Autor Benjamin zu tun haben, als dies bis vor einigen Jahrzehnten möglich und denkbar war“ (S. 17), heißt es einleitend bei Thomas Küpper und Timo Skrandies.

So sehr dies auch auf eine – durchaus reflektierte – Konstruktion des Autors Benjamin hinausläuft, so sehr wird gerade hier die besondere Dimension des Projekts deutlich: Im ersten, etwa 100seitigen Teil wird nicht nur ein kurzer Abriss der Biographie Benjamins und seiner wichtigsten Werkphasen gegeben, sondern auch ein prägnanter und doch weitgreifender Überblick über die Benjamin-Rezeption der letzten Jahrzehnte, der selbst für Benjaminkundige die Orientierung erleichtert (als leserfreundliche Hilfsmittel seien hier auch das Werk-, das Namens- und das Sachregister erwähnt, die das Handbuch zum gebrauchsfähigen Nachschlagewerk werden lassen).

Der zweite, mit rund 600 Seiten umfangreichste Teil des Buches stellt Analysen verschiedener Benjamin-Arbeiten vor, die zusammengenommen die wichtigsten Facetten von Benjamins Werk umfassend abdecken. Dem Herausgeber Burkhardt Lindner ist eine Sammlung von größtenteils hervorragenden Studien gelungen, die die Entstehungsgeschichte der verschiedenen Arbeiten rekonstruieren, sie einordnen und kundig kommentieren. Dabei versucht das Handbuch nicht, die unterschiedlichen Schichten und Elemente von Benjamins Werk zu hierarchisieren, sondern es eher in seiner Gesamtheit sichtbar zu machen. Ordnend vorgeschlagen werden fünf Sektionen, deren Begriffe nicht nur zentrale Themen von Benjamins Werk widerspiegeln, sondern zugleich auch Fluchtlinien darstellen, an denen entlang sich sein Denken, seine Arbeiten bewegten: 1) Die intellektuelle Freundschaft, 2) Messianismus, Ästhetik, Politik, 3) Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik, 4) Dichtungsanalyse und Autorbild und 5) Sprachphilosophie, literarisches und autobiographisches Schreiben.

Auch wenn keine systematische Aufarbeitung von Benjamins Werk intendiert wurde, so ist dies doch gerade aus der Perspektive seiner Wirkung gelungen. Trotz der Unterschiede in der Anlage und Stoßrichtung der Analysen im Einzelnen, zeigt sich bei allen die Aufarbeitung nicht nur des Entstehungskontextes, sondern der durch sie ausgelösten oder über sie geführten Diskurse.

Dass das Handbuch damit zur zentralen Referenz für jede zukünftige Benjamin-Forschung wird, birgt beim gewählten Thema doch zugleich ein Problem: Die Faszination von Benjamins Werk ging immer auch von dem Eindruck aus, dass sich jeder aus diesem wilden Bergwerk an Bruchstücken bedienen oder seine Ideen in den unterirdischen Stollen vorantreiben konnte. Neue Arbeiten in diesem Feld sind nunmehr denkbar allenfalls noch zu Spezialfragen oder aus ungewöhnlichen Perspektiven. Das Handbuch arbeitet nun jeden Vortrieb auf, katalogisiert die Debatten der Vergangenheit und schließt sich damit gegen Zukunft ab. Gerade die unscharfen Ränder von spekulativen Lektüren werden abgeschnitten, schmerzhaft vielleicht dort, wo dies – wie bei neuen Medien – zu kreativer Re-Lektüre animieren könnte (wie einst etwa bei Enzensberger, der nur noch als historische Referenz zitiert wird). So ist bezeichnend, dass gerade Autoren neuerer Benjamin-Lesarten wie Groys oder Bolz selbst nicht zu Wort kommen, dass das Spekulative sich zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Exegese und Rezeptionsgeschichte wandelt. Das wilde Bergwerk wird zum Untertagemuseum.

Für den naiven, neugierigen Flaneur ist das Buch sicher nicht gedacht (hier bieten Benjamins Schriften den interessanteren, unmittelbareren Zugang), wohl aber für alle, die es genauer wissen wollen: Es bietet eine verlässliche Kartographie von Benjamins Werk.