von Hans W. Giessen
- BUCKLAND, Michael: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik. Aus dem Englischen von Gernot Rieder. Avinus, Berlin 2010. ISBN: 978-3869380155.
(Erstmals erschienen in: Information – Wissenschaft & Praxis 62 Jahrgang Nr. 2/3, März/April 2011, 134 – 135.)
Dass sich die Technik, die gesellschaftliche Entwicklung, das Weltwissen immer schneller ändern, ist ein Gemeinplatz. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Informationswissenschaft vor allem auf die Gegenwart blickt. Dabei ist auch ihre Geschichte überraschend und teilweise ausgesprochen spannend. Ein Beispiel ist die Lebensgeschichte des Emanuel Goldberg (geboren am 31 August 1881 in Moskau, gestorben am 13 September 1970 in Tel Aviv), die in weiten Teilen eine deutsche Lebensgeschichte ist – bis Goldberg in den dreißiger Jahren nach Israel fliehen musste.
Nun war Goldberg kein Informationswissenschaftler im engeren Sinn – sprich: er hat weder Bibliothekswissenschaften noch ein anderes Fach studiert, das als Vorläufer der heutigen Informationswissenschaft gelten kann. Vielmehr war er ausgebildeter Chemiker, zudem Erfinder, Hochschullehrer, Unternehmer, Fotograf und Filmregisseur. Dass seine Biografie dennoch hier gewürdigt wird, hängt damit zusammen, dass auf ihn auch eine Erfindung zurückgeht, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, die aber in der Tat bahnbrechend war: die ,Statistische Maschine’. Sie hat die unterschiedlichsten Wissensbereiche, Techniken und Medien zusammengeführt. Die wichtigsten Medien waren der Mikrofilm, mit dessen Hilfe Dokumente gespeichert wurden, zudem Lochkarten, um Suchanfragen formulieren zu können. Technisch nutzte Goldberg einen ,Kinematographen’; die Dateneingabe erfolgte über ,Telephonie’. Letztlich handelte es sich um ein optisch-elektronisches System, das in einem Bildschirm-Arbeitstisch integriert war, den Goldberg wohl 1931 bereits konstruiert hatte; im zweiten Weltkrieg ist er offenbar durch Bombardierung vernichtet worden. An diesem Arbeitsplatz war es damals schon möglich, Dokumente aufgrund spezifischer Kriterien zu suchen, auszuwählen und abzubilden.
Das klingt nach der fiktiven Memex in Vannevar Bushs berühmten und vielzitierten Essay “As we may think“ aus dem Jahr 1945? In der Tat; und offenbar wusste Bush auch von Goldberg – der mithin der eigentliche ,Erfinder’ dessen ist, wofür Bush in vielen Fußnoten gedankt wird: des Konzepts der Suchmaschine, bis zu einem gewissen Grad auch des Hypertexts. In Wahrheit hatte Bush keinen entsprechenden Apparat in petto, sondern griff nur Ideen dessen auf, was Goldberg 15 Jahre früher realisiert hatte. Aber 1945 war Goldberg in Israel, hatte seine einflussreiche Stellung in Deutschland verloren – wo sich an ihn, den Juden, auch niemand mehr erinnern wollte. Aber auch in Amerika hat ihn nicht zuletzt Bush offenbar bewusst verschwiegen, um den eigenen Stern umso stärker leuchten zu lassen. Erst jetzt hat die neue Biografie von Michael Buckland deutlich gemacht, wer Goldberg tatsächlich war: unter anderem eben auch ein früher Informationsexperte, einer der Begründer der Informationswissenschaft.
Michael Buckland ist emeritierter Professor der School of Information an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Einerseits will er die Geschichte der Informationswissenschaft an durchaus entscheidender Stelle korrigieren. Buckland ist dazu der richtige Mann, mit überlegenem fachlichen Überblick. So wäre allein die Art und Weise, wie er diesen komplexen informationswissenschaftsgeschichtlichen Stoff fachlich wie sprachlich fasst (und etwa technische Erfindungen und Vorgänge anschaulich beschreibt), ein Musterbeispiel souveräner Informationsaufbereitung. Einzige Kritik: Angesichts der Fülle an Namen, technischen Daten und Geräten wäre ein Register wünschenswert gewesen. Immerhin gibt es einen ausführlichen Appendix, in dem Goldbergs Laborerzeugnissen aufgelistet und wohl erstmals eine Gesamtveröffentlichungsliste Goldbergs publiziert wird.
Andererseits ist Buckland von seinem Helden ganz offensichtlich fasziniert, und er taucht tief in diese spannende Verknüpfung von Lebens- und Zeitgeschichte ein. Goldberg stammt aus einer jüdischen Familie, die in Moskau lebte; sein Vater hat es, eine große Ausnahme für einen Juden im zaristischen Russland, zum Offizier, Hofrat und in den Adelsstand gebracht. Bemerkenswert ist, dass der Sohn, obwohl hochintelligent, dennoch nicht an der ,Kaiserlichen Technischen Lehranstalt’ studieren konnte, da die Studienplätze für Juden limitiert waren. Freilich, der junge Mann, der auch Deutsch sprach (angeblich hat ihm seine deutschstämmige Mutter ihre Sprache so beigebracht, dass er akzentfrei redete und als Muttersprachler durchgehen konnte), nutzte dieses Problem virtuos, indem er seine Ausbildung selbst in die Hand nahm. Neben Studien an der Universität Moskau besuchte er Veranstaltungen an den Universitäten in Königsberg, Leipzig und Göttingen, zwischendurch war er auch in London. Er suchte sich die besten Lehrer, in Göttingen etwa Walter Nernst, der 1920 den Nobelpreis für Chemie erhalten sollte, und in Leipzig Wilhelm Ostwald, Chemie-Nobelpreisträger von 1909. Das klingt, wie man sich ein Studium vorgestellt haben mag, als der ,Bologna-Prozess’ konzipiert wurde… Bei Wilhelm Ostwald konnte Goldberg 1906 auch promovieren. Die Arbeit trug den Titel „Beiträge zur Kinetik photochemischer Reaktionen“.
Vor diesem Hintergrund ist es fast kein Wunder mehr, dass er bereits ein Jahr später, nach kurzer Assistenzzeit an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, zum Professor an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig ernannt wurde, wo er sich zunächst mit den technischen Voraussetzungen der Reproduktionsfotografie befasste. Aber nicht nur – er war immer offen, forschte weiter, dabei stets anwendungsorientiert. Schon damals befand er sich, als einer der wenigen seiner Zeit, an der ,Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine’, denn immer ging es ihm auch darum, was der Mensch aufgrund seiner physischen und psychischen Konstellation nutzen wollte und konnte. Und obwohl er sich stets als Chemiker und Techniker verstand, war er beispielsweise schon im Studium im Kontakt mit Wilhelm Wundt, der damals gerade die Psychologie als empirische Wissenschaft begründete. Seine Lehrveranstaltungen umfassten auch künstlerische Fragestellungen und Themen.
Goldberg war so innovationsfreudig, erfinderisch und anwendungsorientiert, dass er Angebote aus der Industrie erhielt, insbesondere aus England und den USA, dort von Kodak. Aber er wollte in Deutschland, in seiner ,Heimatstadt Leipzig’ bleiben. Dort wurde 1914 sein Sohn Herbert geboren. Aber auch hier kam bald ein sehr interessantes Angebot, das er dann auch annahm. So wechselte Goldberg 1917 auf den Direktorenposten der „Internationalen Camera Actiengesellschaft“. Er war maßgeblich beteiligt, als die ICA 1926 durch Fusionen in die Zeiss Ikon umgewandelt und zum weltweit führenden Unternehmen im Bereich von Fotoapparaten und Filmkameras ausgebaut wurde. Eine beeindruckende, glückliche Karriere; glücklich wohl auch im Privatleben – 1922 wurde als zweites Kind die Tochter Renate geboren.
Auch bei Zeiss Ikon blieb er überraschend innovativ, kreativ, ja spielerisch. Auf der einen Seite war er an Patenten aus den unterschiedlichsten Bereichen beteiligt, von der Luftfotografie bis zur Mikrofotografie. Vielleicht hätte aus Goldberg gar ein deutscher Edison werden können. Natürlich ist es müßig, zu spekulieren, was er noch hätte entwickeln können, wenn er nicht 1933 ausgebremst worden wäre. Zudem war Goldberg nicht nur Techniker und Erfinder, sondern auch, wie Edison, ein kaufmännisch, und, dahingehend den Vergleich sogar übertrumpfend, ein künstlerisch hochbegabter Mann. Er kümmerte sich um Marketingstrategien und drehte, um zu zeigen, wie gut die Kinamo-Filmkamera funktionierte, selbst kleine Minimovies: „Die Drehbücher hatte er selbst verfasst und auch für die Produktion verzichtete er auf Hilfe von außen. In den Filmen traten er selbst, seine Frau, seine Kinder und einige Freunde der Familie als Schauspieler auf“ (121). Aber die Filme waren offenbar alles andere als amateurhaft, wie Buckland betont: „So lässt sich in ihnen eine sehr fachkundige Komposition, ein gekonnter Schnitt und ein ziemlich raffinierter Einsatz von Gegenlicht und Schatten erkennen“ (125). Der noch junge Joris Ivens, später einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer des zwanzigsten Jahrhunderts, besuchte Goldberg, um von ihm zu lernen. In seinem berühmten frühen Film „Die Brücke“ aus dem Jahr 1928, der als einer der ersten Dokumentarfilme auch die Rolle des Filmemachers thematisierte, indem Ivens sich bei der Arbeit zeigt, ist er mit einer Goldbergschen Kinamo-Kamera zu sehen.
Der Bruch kam bereits 1933, als Emanuel Goldberg von SA-Schergen entführt und misshandelt wurde. Immerhin war er in der Position, sich retten zu können. Bis 1937 arbeitete er für eine Zeiss-Niederlassung in Frankreich, bevor er nach Palästina emigrierte. Auch wenn er weiter kreativ und unternehmerisch blieb – er gründete ein Laboratorium, aus dem später die Electro-Optical Industries hervorging, der Nukleus der optischen Industrie Israels –, war es schwer, an die frühen Erfolge anzuknüpfen. So verlief sein weiteres Leben glimpflich im Vergleich zu dem anderer Juden, und insofern war er nach wie vor ein Glückskind. Aber dennoch: Er wurde aus seinem Lebensumfeld gerissen, seine Karriere war zerstört. Was hätte er noch alles entwickeln können, wäre sie weiter so verlaufen, wie sich dies abgezeichnet hatte!
Dass Bucklands Goldberg-Biografie nun auch in deutscher Sprache erscheint, ist eine kleine Wiedergutmachung und Goldbergs Bedeutung absolut angemessen. Dass sie zudem ausgesprochen lesbar und spannend geschrieben ist, macht aus der Lektüre ein intellektuelles Vergnügen.