War Kurt Cobain der Novalis des 20. Jahrhunderts? Martin A. Völker spricht mit Ronald Klein über Kurt Cobain und die Romantik, 25.01.08

Dr. Martin A. Völker lehrt Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin. In den letzten Jahren hat er innerhalb seiner Lehre und Forschung versucht, eine „Integrale Ästhetik“ zu entwickeln. Ausgehend von theoretischen Überlegungen des Psychologen und Philosophen Ken Wilber hat er in zahlreichen Einzelbeiträgen an einer Sozial- und Kulturgeschichte ästhetischen Denkens und ästhetischer Erfahrung gearbeitet. Schwerpunktmäßig setzt er sich mit Körperdiskursen, Schönheitskonzepten und Lebensweisen zwischen 1700 und 1900 auseinander. Ronald Klein sprach mit ihm über die vermeintliche Transformation der Romantik im anti-modernistischen Denken und in der Popmusik.

In der Schule erfährt man, dass die Romantik mehr als die Blaue Blume darstellt. Kannst Du kurz für alle, die damals ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwendeten, erläutern, was die drei Phasen der Romantik kennzeichnete?

Zur Thematisierung der Romantik im Schulunterricht kann ich allen Betroffenen nur raten, gezielt wegzuhören und sich um die wirklich relevanten Fragen zu kümmern: Wie finde ich einen Freund, eine Freundin, wie werde ich endlich die Pickel und die Nazis an der Schule los? Die Schüler sollten weghören, damit sie nicht unempfindlich werden gegenüber den Dramen und Tragödien des Lebens, die sich zwischen zwei Buchdeckeln ausbreiten. So, wie die Blaue Blume, die Novalis, also Friedrich von Hardenberg, in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen beschreibt, zumeist behandelt wird, hat sie wenig mit dem Leben, mit dem täglich gelebten Leben eines Gymnasiasten, gemein. Man lässt die Schüler kurz an dieser Blume riechen, aber das wäre schon viel, nämlich ein sinnliches Erlebnis, das man in Schulen selten genug hat. Die Blaue Blume bleibt innerhalb des Unterrichts ein geruchloses Gebilde. Sie bleibt einem fremd, sie gehört der Gedankenwelt eines anderen an, den wir kaum kennen. Damit die Blaue Blume erlebbar wird, müsste man über feuchte Träume, die erwachende Sexualität eines jungen Mannes sprechen, über den Bergbau, über den mütterlichen Uterus als Urhöhle des Menschen und die kulturelle Produktivität des Schmerzes. Das überfordert jeden Lehrer. Die Fremdheit aber, die Abstraktheit, unter der auch ich als Schüler zu leiden hatte, erzeugen Lehrer, indem sie u. a. die ganze Literaturgeschichte in starre Phasen einteilen: alles läuft geordnet wie in einem Leichenzug ab, ohne Analyse der soziokulturellen Umstände und konkreten Biographien: Aufklärung, Sturm-und-Drang, Klassik und Romantik, als ob die Aufklärer schweigen würden, während die Romantiker zu schreiben beginnen. Die Rollen sind klar verteilt: Die Aufklärer, das sind die bösen Rationalisten, die monströsen Verfechter des ökonomischen Fortschritts; am anderen Ende erwarten uns die Romantiker, die rückwärtsgewandten Propheten, die Heilsbringer und Märtyrer der Poesie, wobei natürlich auch die Romantiker einen Haufen unverständliches und süßliches Zeug geschrieben haben. Aber selbst das eigene Leben lässt sich nicht in Kindheit und Erwachsensein aufteilen. Die interessanten Fragen bestehen doch darin, inwiefern die Kindheit immer wieder das Erwachsenwerden überschattet und in das Erwachsenssein eingreift. Welche kindlichen Sehnsüchte und Allmachtsphantasien schleppe ich mit mir herum; strukturiert das verdrängte Kind in mir meine momentanen Verhaltensweisen; welche kindliche Vorstellung wächst sich zu einer Neurose, zu einer psychischen Deformation aus? Auf die Literaturgeschichte übertragen erweist es sich als unzureichend, eine Phase ohne Ecken und Kanten mit ihren seltsam wenigen Protagonisten, die oft zufällig an die Oberfläche gespült worden sind, kennenzulernen. Man muss stattdessen fragen, was eine Phase motiviert, welches Gedankengut in sie hineinragt, womit sie kämpft, was sie verdrängt, was sie unbewältigt lässt und weiterreicht. Hieran knüpft sich eine genaue Analyse der Lebensläufe der Protagonisten, eine konkrete Behandlung der jeweiligen sozialen und psychischen Verfassung und familiären Situation.

In Deinen Augen kommt das Ästhetische im Schulunterricht zu kurz, wird überlagert von Epochenfragen und Interpretationen, so als wäre die Literatur zwecks späterer Analyse verfasst worden.

Bereits dem Abiturienten fällt auf, dass die Literaturgeschichte nur den Bruchteil jener Literaten behandelt, die jede Epoche aufzuweisen hat. Da muss er stutzig werden, unbequeme Fragen stellen, er muss die Vergessenen aus dem Abfalleimer der Geschichte herausholen, ebenso wie jeder einmal im Leben an den Punkt kommt, an dem es darum geht, die Familiengeheimnisse zu lüften und die Leichen im Keller aufzuspüren, um sich und die Welt verstehen, sich mit ihr aussöhnen zu können. Eine solche kritische Literaturgeschichte der Übergänge, der Erinnerung an das Verdrängte, ist selten irgendwo, schon gar nicht in der Schule, anzutreffen.

Kommen wir noch einmal zu den verschiedenen Phasen der Romantik.

Mit philiströser Gelehrtengeste könnte ich die Romantik in drei Phasen einteilen: in die Phase der Frühromantik (1790–1801), in der die Programmzeitschrift Athenaeum von Friedrich und August Wilhem Schlegel herausgegeben wird und in der man u. a. in Jena, inspiriert von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre und Johann Wolfgang Goethes Roman Wilhelm Meister, versucht, Gesellschaftskritik poetisch zu formulieren und die Ideale der Französischen Revolution auf ästhetisches Gebiet hinüberzuretten; die Hochromantik (1801–15) u. a. in Heidelberg, mit ihrer Volkslieddichtung und den Märchensammlungen; die Spätromantik (1820–1850), in der die Inhalte der vorhergehenden beiden Phasen trivialisiert werden und die – katholisch geprägt – im Feld der Politik restaurative und reaktionäre Züge annimmt. Auf diese grobe Einteilung könnte ich verweisen, wenngleich sich die Wirklichkeit vielschichtiger und komplizierter darstellt. Von dem, was im Zeitalter der Romantik passiert, wissen wir recht wenig. Wir kennen nur eine äußerst geringe Anzahl von Namen, es gibt einige große Werkausgaben, die Autoren der zweiten, dritten oder vierten Reihe kennen wir nicht. Wer kennt heute Friedrich Hugo von Dalberg (1760–1812), der dem Denken der Sturm-und-Drang-Generation entstammt und als Musikschriftsteller und Kulturtheoretiker die Frühromantik vorbereitet? Wer kennt heute den aus Estland stammenden Heinrich Dahl (1770–1807), der Romantik als Lebensform, als Bewusstseinsstörung und tiefempfundenen Riss zwischen Subjekt und Welt begreift? Wer kennt heute Louise Brachmann (1777–1822), die mit ihren Gedichten und Novellen auf die Nachtseiten der Biedermeierzeit hinweist und Angst und Depression ästhetisiert. Stellen wir uns ein Gesicht vor, so behandeln wir als Forscher permanent die große, hervorstehende Nase, die äußeren Umrisse erkennen wir verschwommen, die eigentliche Physiognomie bleibt uns verborgen.

Ursprünglich schien die Romantik dem Philisterhaften entgegengesetzt. Romantisch entstammt etymologisch dem Altfranzösischen und bezeichnet die Volkssprache, das Romanhafte, im Gegensatz zu den in Latein abgefassten Versen des höfischen Romans. Romantisch wurde damals ausschließlich pejorativ gebraucht. Steckt in der Emanzipation (der Sprache) latent trotzdem auch das Völkische, das Reaktionäre, das vor allem im 20. Jahrhundert damit assoziiert wurde? Man denke beispielsweise an Fichte.

Es gibt Romantiker, die man reaktionär nennen könnte, weil sie wie Friedrich de la Motte-Fouqué mit ihrer Vorliebe für mittelalterliche Gestalten und Themen feudale Zeiten verherrlichen. Man muss dabei bedenken, dass viele Romantiker zunächst als vehemente Streiter gegen eine zerstörerische Vernunft auftreten, sie vermeiden Klarheit und Realitätsbezug, weil ihnen ein Leben in einer prosaischen Welt, in der es weniger um Freiheit als um ökonomische Notwendigkeit geht, würdelos erscheint. Über die von der aufklärerischen Vernunft entblößte, sezierte und ausgebeutete Natur breiten sie den Schleier des Rätselhaften, Unverständlichen und Wunderbaren. Die Gefahr besteht nun darin, sich im Wunderbaren zu verlieren, sich selbst rätselhaft und fremd zu werden, mit abergläubischen Vorstellungen den Obskurantismus zu stärken. An dem Punkt, an dem man erkennen muß, daß es aussichtslos ist, die Welt zu poetisieren, und man aus dem Rausch der Poesie erwacht, wenden sich einige Romantiker wie Clemens Brentano, Joseph Görres, Adam Müller oder Friedrich Schlegel dem Katholizismus zu, um der Beliebigkeit und den Ausschweifungen der Imagination zu entrinnen, um das überindividuelle Leben in ein starres, geradezu höfisches Korsett einzupassen, weil die uferlose Phantasie, die oft groteske Gestalten hervorbringt und an die eigene Sexualität erinnert, einem einen gehörigen Schrecken eingejagt hat.

Es gibt ein lateinisches Sprichwort: „Ordo ab Chao“, was so viel wie „aus Chaos erwächst Ordnung“ bedeutet. Die Ordnung, von der wir sprechen, trägt aber ambivalente Züge?

Wer wie die Romantiker um 1800 lustvoll den Status quo der Gesellschaft und der Kunst demontiert, sehnt sich irgendwann nach einem festen Grund. Wer den Opiumtraum der Poesie überlebt wird ein eitler Geck, dessen Geist tot ist, dessen Körper aber weiterhin auf der Erde umherwandelt. In dieser Weise beschreibt Heinrich Heine den späteren Verfall der Romantik. August Wilhelm Schlegel verwandelt sich in einen fetten, mit Orden dekorierten Philister.

In Heines Polemik, das ist die Pointe, steckt jene Respektlosigkeit, die für die Frühromantik charakteristisch ist. Heine wirft den Romantikern vor, dass sie mit ihrer späteren Anpassung, Zahmheit und Staatsnähe ihre Wurzeln verraten hätten, und damit avanciert er zum Vollstrecker ihres Erbes. Eine Gesellschaft, die ihre Fähigkeit und den Mut zur Veränderung verliert, ist eine solche, in der Romantiker, die radikal nach Versäumnissen, Verdrängungsmechanismen und Handlungsspielräumen fragen, gedeihen. Man muss sie gewähren lassen, um eine bessere Welt zu errichten, man muss auf ihre Verspießerung hoffen, damit sie das mühsam Erreichte nicht wieder einreißen.

Es wäre jedoch bedauerlich, die Romantik, die ein sehr heterogenes Gebilde und ein in ihrer Vielschichtigkeit fast noch unerforschtes Gelände darstellt, auf die gehörige Portion Antisemitismus, die in ihr steckt, zu verkürzen. Sinnvoller wäre es stattdessen, (fast unbekannte) Schriftsteller wie Saul Ascher (1767–1822), die im frühen 19. Jahrhundert gegen romantischen Judenhass und reaktionäre Tendenzen anschreiben, mit historisch-kritischen Editionen aufzuwerten. Richtig ist, dass die Epoche der Romantik, im Zeichen der Napoleonischen Kriege, eine Zeit des aufkeimenden Nationalismus darstellt. Deutschtümelei und Franzosenhass sind Bestandteile der Romantik, aber nicht die Romantik selbst. Es ist immer sinnvoller historisch-konkret zu arbeiten, über das romantische Denken bei einzelnen Personen, Gruppierungen oder in unterschiedlichen Städten, auch jenseits der bekannten Zentren, zu forschen.

Der Literaturwissenschaftler Alexander von Bormann postulierte 1984: „Die Romantik ist wieder da“ und führte dies auf die Erschütterung des Glaubens an gesellschaftlichen Fortschritt zurück: Ölkrise, „Nullwachstum“, Rohstoffverknappung. Ist die Romantik tatsächlich wieder da?

Ich bin da sehr kritisch und glaube nicht, dass die Romantik wieder da ist. Sie war eine ungeheuer komplexe Bewegung, die, ausgehend von Kunst, mit Spott, Ironie, Polemik und theoretischer Ernsthaftigkeit versuchte, auf allen Gebieten des Lebens die Würde des Menschen gegen die Unfreiheit der Ökonomie und die zerstörerischen Potenzen der Vernunft zu verteidigen. Sie hat die Zeit ihrer Wirksamkeit und Notwendigkeit gehabt, auch wenn sie als Dekoration weiter unter uns weilt. Deutsche Feuilletonisten steigen zwar immer wieder gerne mit der Romantik ins Bett und unterhalten Affären von unterschiedlicher Dauer. Aber jede Affäre verweist doch am Ende nur auf ungebührliches Verhalten. Man kann sich den bürgerlichen, gutsituierten, publikumswirksamen Romantiker des 19. Jahrhunderts schlecht als Ökofreak mit Latzhose, der selbstgepflanzte Biokartoffeln erntet, als linken Sozialarbeiter oder Quartiersmanager in Berlin-Neukölln vorstellen. Zur Romantik gehört, über das Schreckliche in der Welt zu schreiben, ohne es je erlebt zu haben oder durchleben zu wollen. Der Weltschmerz speziell bei männlichen Autoren der Romantik ist oft, nicht immer, zu sehr zur Pose erstarrt, als das er motivieren könnte, wirklich etwas zu verändern. Seien wir einmal ehrlich: Welcher Weltschmerz hätte jemals die Welt verändert? Jeder Schmerz ruft sofort das geeignete Betäubungsmittel auf den Plan.

Bildet die Globalisierung diesbezüglich sogar einen Beschleuniger, weil sich in der Romantik Moderne-Kritiker von links und rechts zu Hause fühlen?

Romantik ist auch als Fluchtbewegung zu begreifen. Romantiker wie Novalis wenden sich ihrer Innerlichkeit zu, sie suchen ihre Idealwelt im individuellen Denken und in der Kunst. Der Romantiker verschließt die Augen vor dem tatsächlichen Elend der Welt, weil er denkt, tatsächlich nichts verändern zu können. So gesehen ist die Romantik natürlich wieder da, die Betäubungsindustrie des westlichen Welt ist genuin romantisch. Joey Ramone singt trefflich gequält: „I wanna be sedated“. Ein eher aufklärerisch gesinnter Mensch würde vielleicht darin übereinstimmen, dass die Welt grauenhaft sei, sie wäre für ihn aber nie so grauenhaft, daß er nicht auf die Idee käme, sie trotzdem, mit klaren Kopf, verändern zu wollen. Während der Pessimismus den Romantiker zur Introspektion zwingt, überschätzt der optimistische Aufklärer seine Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Beides kann böse enden, weshalb man sich von Romantikern und Aufklärern gleichermaßen fernhalten sollte.

Weder mit pseudoromantischer Irrationalität noch mit einem Denken, das sich in die Grenzen der instrumentellen und ökonomischen Vernunft einschließt, lässt sich der globale Raubtierkapitalismus, der dem Menschen die Würde nimmt und seinen natürlichen Lebensraum ruiniert, überwinden. Lassen wir die Aufklärung des 18. und die Romantik des 19. Jahrhunderts ruhen: wir sollten lernen, selbständig und verantwortungsbewusst zu leben, was nicht ausschließt, sich immer wieder von Geschichte inspirieren zu lassen. Wer aber denkt, mit den Lösungsangeboten vergangener Jahrhunderte die heutigen Probleme beschreiben und bewältigen zu können, täuscht sich gewaltig, weil er lediglich alte Kulissen vor die neuen schiebt.

Nebenbei: Nicht jeder, mit Eichendorff, ›Taugenichts‹, der in einem Straßencafé im Prenzlauer Berg seinen Laptop aufklappt und zu arbeiten vorgibt, ist ein Romantiker. Ebenso wenig der, der sich unrettbar in phantastischen Welten, wie sie das Internet oder Computerspiele bereithalten, verliert. Während der erste Typ einen Menschen vorstellt, wie ihn sich die Wirtschaftsbosse vorstellen, nämlich auf keiner Gehaltsliste stehend, bis zum Elend selbstverantwortlich, beziehungslos und weltweit einsetzbar, trifft den zweiten der Spott Heines, der über die verkommene Romantik Ludwig Tiecks ironisch lobend ausruft: »Ja, seine Phantasie ist ein holdseliges Ritterfräulein, das im Zauberwalde nach fabelhaften Tieren jagt, vielleicht gar nach dem seltenen Einhorn, das sich nur von einer reinen Jungfrau fangen läßt.«

Die Welt zu poetisieren bedeutet keineswegs, sie computergestützt aufzuhübschen. Die Romantik ist, richtig verstanden, kein Oberflächenphänomen. Romantik zielt auf Überwindung der Konflikte zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, sie deutet auf Versöhnung hin, keine Versöhnung allerdings, die sich nur deshalb einstellt, weil man zu bequem und arriviert geworden ist, um konstruktiv miteinander zu streiten. Wie sieht es aber heute aus? Alles Getrennte strebt weiter auseinander und wird sich niemals wiederfinden. Von Romantik keine Spur.

Wie bewertest Du den Einfluss der Romantik auf die Pop-Kultur? In den 90igern boomten TV-Serien, die das Irrationale thematisierten. Angefangen bei phantastischen Formaten wie „Twin Peaks“ (Lynch) und „Geister“ (von Trier) über „Akte X“ bis zu Durchschnittsware wie „Buffy“ oder „Dark Angel“.

Zunächst zu der Serie Akte X: Für die Literatur- und Kulturwissenschaft wäre es durchaus ein Gewinn, wenn es mehr Forscher gäbe, die wie Fox Mulder gezielt die X-Akten der deutschen und europäischen Literatur untersuchen und aufbereiten würden. Wen interessiert der totgepflegte Backcatalog der Beatles, wenn man stattdessen den rohen Studiosessions und den produktiven Gesprächen während des künstlerischen Entstehungsprozesses lauschen könnte. Ich möchte die vibrierenden Energien, die in der Geschichte stecken, spüren und erlebbar machen. Der Kanon lässt mich kalt. Deshalb begebe ich mich auf die Suche nach vermeintlichen Monstern, weil mich das Unangepasste, das an den Nahtstellen zwischen unterschiedlichen Epochen entsteht und das normalerweise nicht sein darf, weil es der Kanon so will, interessiert.

Man könnte Fox Mulder als letzten Romantiker bezeichnen, der immer wieder auf die Seltsamkeiten und das Abnorme innerhalb der geregelten und rationalisierten Welt hindeutet. Er ist deshalb der letzte, weil er das romantische Denken an sein Ende führt: Ihm ist völlig klar, dass Wirklichkeit konstruiert, erlogen und poetisch erzeugt wird, trotzdem sucht er nach der wahren Wirklichkeit, nach der unumstößlichen Wahrheit, die irgendwo ›da draußen‹ existieren soll. Ein solches Verhalten endet natürlich entweder im Wahnsinn oder im Philistertum.

Die angesprochenen Serien nehmen sich ausschließlich des Phantastischen, eines Details des romantischen Denkens, an, weil sich das gut verkauft und die Menschen immer zu interessieren scheint. Es wäre indessen grundfalsch, überall Romantik wittern zu wollen, es wird viel Unsinn geredet. Vielleicht war Kurt Cobain der Novalis des 20. Jahrhunderts, vielleicht war Novalis der James Dean des 19. Das sind alles leere Worte, die sich leicht sagen lassen, die man gerne hört, weil ihnen eigentlich keine Bedeutung innewohnt. Wenn irgendwo die Namen Novalis, Schlegel, Brentano und Hoffmann fallen, muss das nicht notwendig etwas mit Romantik zu tun haben. Es existiert die Romantik ausschließlich im 19. Jahrhundert, alles andere ist fades Surrogat, Mode, Kommerz.

Die Gothic-Szene und deren erweitertes Umfeld bezieht sich explizit auf die Romantik (man denke zum Beispiel an den Eichendorff-Sampler). Siehst Du bei weiteren Künstlern einen direkten Einfluss oder zumindest die Transformation der Ideen und Ästhetik der Romantik?

Es sieht auf den ersten Blick wirklich so aus, als würden sich die Gothic-Szene und andere Jugendbewegungen auf die Romantik beziehen. Wenn man diesen Leuten allerdings zuruft: »Toll, wie ihr die Hymnen an die Nacht musikalisch umgesetzt habt. Wahnsinn, wie ihr die Dunkelheitseuphorie von Novalis hörbar machen könnt.«, dann zieht man fragende Blicke aus teilweise grotesk geschminkten Gesichtern auf sich. Mit Romantik im eigentlichen Sinne hat das natürlich wenig zu tun. Oft sind es alte Schulthemen, an die man sich im Probenraum mehr schlecht als recht erinnert. Letztlich sind Jugendbewegungen und Romantik keineswegs identisch. Ich achte jede kindliche Freude am Höhlenbau, Verstecken und an der Kostümierung, aber warum muss man von Romantik reden? Es hat wohl mehr damit zu tun, sich erfolgreich von anderen, von den Eltern insbesondere, zu unterscheiden, sich mit Gleichgesinnten über Kleidung und Musik zu definieren. Novalis war der Ansicht, dass u. a. der Tod ein gewaltiges Reflexionspotential besitzt, das leider kein jugendlicher Grübelzwang auszuschöpfen vermag.

Ich meine, Michel Houellebecq könnte als ein Nachfolger der Romantik gehandelt werden. Er muss sich nicht mit großen Namen schmücken, und ein allgemeiner, trivialer Weltschmerz liegt ihm fern. Scharfzüngig und klar analysiert er die Geschichte und das Sosein der westlichen Zivilisation. Ein Leitspruch seines Schreibens lautet: »Die Welt ist entfaltetes Leid. An ihrem Ursprung steht ein Knoten aus Leid. Alle Existenz ist eine Ausdehnung und ein Zermalmen. Alle Dinge leiden, bis sie sind. Das Nichts erbebt vor Schmerz, bis es das Sein erlangt: in einer furchtbaren Krise.« Was in diesem Fragment zunächst ganz schrecklich aussieht, geht aus mythologischen, naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Traditionen hervor. H. betont das Werden, die Dynamik des Lebens, die sich nicht in menschliche Kategorien pressen lässt, betont das Lebensgefährliche am Leben und die unglaublichen, kreativen Kräfte, die jede Krise freisetzt. Das schmerzhafte Entfachen von Kreativität ist genuin romantisch.

Im scheinbaren Gegensatz zur Romantik bleibt Houellebecq die Versöhnung schuldig. Er sagt: »Haben Sie keine Angst vor dem Glück; es existiert nicht.« Ich bin der Ansicht, dass eben dies eine sehr beglückende und befreiende Aussage und Erfahrung ist bzw. sein kann: Houellebecq bricht mit allen Glücksversprechen, die die Gesellschaft bereithält, er wendet sich gegen den von der Gesellschaft erzeugten Zwang, in einer bestimmten Weise glücklich zu sein/zu werden. Wer den Glücks- und Heilsversprechen entsagt, der setzt sich nicht zur Ruhe, wird nicht faul und träge, wartet nicht, bis die ferne Glückszeit anbricht, der handelt im Hier und Jetzt. Wer das große Glück aus den Augen verliert, der wird demütig, der schätzt den schönen Augenblick, ohne auf ein Endziel zu schielen, der geht mit Menschen um, ohne von ihnen eine Gegenleistung zu erwarten, ohne sie zu instrumentalisieren und zu Objekten, die er für sein Glück und Seelenheil benötigt, herabzuwürdigen. Wer dem Glück am Ende des Horizontes den Rücken zukehrt, taugt nicht zum Fanatiker und ist deshalb erlösungsfähig.

Es ist befreiend, unglücklich sein zu dürfen, sich selbst ohne Betäubung in seinem Schmerz kennenzulernen. Aber dem Schmerz folgt die Geburt von etwas Großem, für das man nie den Sinn verlieren darf. Ein Ausbruch aus dem Ist-Zustand der Welt lohnt immer, da bin ich ganz Romantiker. Alles eine Frage der Desorganisation. Ich mache von meinem ›Verwirrungsrecht‹, wie Friedrich Schlegel sagen würde, Gebrauch.

Dr. Völker, vielen Dank für das Gespräch.


Rückblick ohne Ostalgie. Musiker André Herzberg im Interview mit Leif Allendorf, 03.11.05

André Herzberg, Jahrgang 1955, war als Sänger der DDR-Band „Pankow“ für eine Jugendgeneration von Ostdeutschen das, was im Westen Herbert Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen waren. Nach der Wende war es still um das einstige Idol. 2005 sprach er erstmals über das Thema jüdische Identität in der DDR.

Was bedeutete jüdische Herkunft in der DDR? Gab es da eine bestimmte Erwartungshaltung der anderen?

Das wurde überhaupt nicht thematisiert. Es gab einen Status, den man von offizieller Seite Leuten zuerkannt hat, die in direkter Konfrontation zum Nazi-Regime gestanden hatten: entweder „Opfer des Faschismus“ oder „Kämpfer gegen den Faschismus“. Meine Mutter gehörte aufgrund ihrer frühen KPD-Mitgliedschaft zu der zweiten Gruppe, die höher angesehen wurde. Es gab in diesem Zusammenhang kleine Privilegien, eine Wohnung, Geld. So bekam ich bis zum Ende des Studiums einen monatlichen Zuschuss. Dass meine Eltern Juden waren, wurde dabei nicht angesprochen

Es gab also eine Gemeinsamkeit von Gegnern des Faschismus, es wurde kein Schisma gemacht zwischen jüdisch und kommunistisch?

Meine Tante, die Auschwitz überlebt hatte, hatte den etwas niedrigeren Status als Opfer des Faschismus, was ich absurd finde, da meine Mutter mit der Emigration ein vergleichsweise harmloses Schicksal hatte.

Wurde das Thema jüdische Herkunft im Freundes- und Bekanntenkreis zur Sprache gebracht?

Der Bekanntenkreis meiner Eltern bestand zum größten Teil aus jüdischen Immigranten. Es war ein familiärer Kreis, zu dem beispielsweise die Schriftstellerin Barbara Honigmann gehörte. Die Kinder verkehrten mit den anderen Immigrantenkindern. Ich gehörte schon nicht mehr richtig dazu, wohl aber meine älteren Geschwister.

Ihre Mutter hat sich stark mit dem Staat DDR identifiziert. Wie ist sie mit dem Thema jüdische Herkunft umgegangen?

Meine Mutter hat in traumatischer Weise über diese Dinge gesprochen. Sie erzählte, wie sie aus ihrer Wohnung geflüchtet ist und ihre Mutter zurückgelassen hat, wie sie nach Deutschland zurückgekehrt ist und die Mutter war tot. Aber all das nur in Andeutungen. Was Judentum ausmacht und jüdisches Leben, damit wollten meine Eltern nichts zu tun haben. Sie waren nicht religiös und sind als gute Kommunisten aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten.

Wie stehen Sie selbst dazu? Hat jüdische Identität für Sie eine Relevanz?

Das ist ein ganz langer Prozess, von den Andeutungen über die Wahrnehmung der Andersartigkeit bis zum Abbröckeln des vorgegebenen Antifaschismus in der DDR. Während meiner Lehre in der NVA erlebte ich, dass die meisten kein Problem mit der Nazi-Zeit hatten und in dem Kriegsende keinen Bruch, sondern einen nahtlosen Untergang sahen. So wurde beispielsweise auf unserer Stube von den Soldaten heimlich Hitlers Geburtstag gefeiert.

Ein zynischer Scherz?

Das war eher nach dem Motto: Was verboten ist, macht uns gerade scharf. Das kam bei der Sauferei dann zum Vorschein. Für mich war das völlig verblüffend, weil es in völligem Widerspruch zu meiner Erziehung und dem Weltbild stand, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich war entsetzt, habe das aber für mich behalten.

Ist die Militärzeit nicht generell eine Notsituation, die man zu überstehen versucht und erst später darüber nachdenkt?

Dieses Später hat bei mir sehr lange gedauert. In den Siebzigerjahren war der Staat Israel noch der zionistische Feind gewesen. In der letzten Phase der DDR wurde das Thema Israel etwas freundlicher behandelt. Ich hatte in erster Linie eine ablehnende Haltung gegen die Schule, gegen meine Eltern, gegen das Leben in der DDR. Irgendwann trug die jüdische Identität dazu bei, dass ich mich völlig als Außenstehender fühlte. Eine tiefere Beschäftigung damit kam aber erst nach der Wende.

Wie sah die aus?

Das ist ein noch nicht abgeschlossener Prozess. Ich habe Schwierigkeiten mit der jüdischen Identität. Das halte ich in Deutschland überhaupt für schwierig, wenn man sich nicht völlig religiös orientiert. Die jetzt bestehende jüdische Gemeinde wird im Osten von russischen Einwanderern dominiert, die weitgehend unter sich bleiben. Und die westdeutsche Gemeinde ist mir ebenfalls fremd, weil diese Menschen ebenfalls einen ganz anderen Lebenshintergrund haben als ich. Erst bei meinen Reisen nach Israel zu Verwandten dort in den Neunzigerjahren hat bei mir ein Nachdenken über die eigene Familie eingesetzt, und damit verbunden ein gewisser Normalitätsprozess. Vorher war das bei mir alles unter der Decke gewesen.

Wessen Initiative waren die Besuche in Israel? Die Ihrer Eltern?

Nein, meine eigene. Meine Eltern sind diesen Schritt nicht mitgegangen, sondern bei 1989 stehen geblieben. Mein Vater blockt das bis heute völlig ab. Er war kommunistischer Hardliner und hat diese Seite seiner Biografie ausgeblendet.

Welche Verwandten haben Sie in Israel besucht?

Verwandte meines Vaters, die mein Vater nie gesehen hat, die aber von uns wussten und mich sehr herzlich aufgenommen haben. Dass sie im Kibbuz leben, hat mir den Kontakt erleichtert. Die Kibbuzbewegung hat ja starke Ähnlichkeit mit der linken Bewegung des Sozialismus. Als ich dort ankam, kam mir das alles sehr vertraut vor. Es war wie im Osten, LPG, sozialistischer Großbetrieb, die blauen Arbeitsoveralls, die die Leute trugen, Wandbilder, die mich an Planerfüllung erinnerten. Nur mit dem wichtigen Unterschied, dass dort das Tor offen war, und nicht, wie in der DDR, verschlossen. Jeder kann kommen, und wer nicht bleiben will, kann gehen. Ich habe mich dort so wohl gefühlt, dass ich mit diesem Begriff jüdische Identität erstmals unbefangen umgehen konnte.

Sie sind ganz ohne Großeltern aufgewachsen?

Absolut. Meinen Großeltern väterlicherseits ist es gelungen, nach Amerika zu kommen. Von dort aus sind sie dem Bruder meines Vaters nach Südafrika gefolgt, wo sie mittlerweile verstorben sind. Ich habe sie nie gesehen, nur ein paar dürftige Zeilen bekommen, in einem Brief, den mein Großvater mir geschrieben hat. Daneben gab es in dieser Generation nur noch die Großmutter mütterlicherseits, die in Auschwitz umkam. Es ist also der totale Bruch in der Familie.

Ein Bruch, den die übrige Bevölkerung nicht hatte.

Da gibt es natürlich auch Einschnitte, Väter, die nicht aus dem Krieg zurückkehrten. Ich bin nicht der einzige, den das betrifft. In Familien beispielsweise, wo Angehörige in die Nazi-Diktatur involviert waren, dürfte das Schweigen ebenfalls verbreitet sein. Ich glaube allerdings, dass im Fall meiner Eltern, wo das Jüdischsein überhaupt nicht artikuliert wurde, das Sprechen darüber extrem schwierig ist.

Sie sind das jüngste von drei Kindern. Wie gehen Ihr Bruder und Ihre Schwester mit diesem Thema um?

Über den Kopf. In meiner Familie ist es typisch, mit so etwas sehr rational umzugehen. Mein Bruder hat sich geradezu wissenschaftlich mit dem Thema Judentum, Nazizeit und Überleben beschäftigt und hat Bücher zu dem Thema veröffentlicht. Das Gefühl bleibt auf diese Art meiner Ansicht nach außen vor.

Kennen Sie Menschen, die damit anders umgegangen sind?

Barbara Honigmann kommt aus ähnlichen Verhältnissen wie ich. Ihre jüdische Hochzeit in Ost-Berlin 1984, die ich miterlebt habe, hat große Aufmerksamkeit erregt. Sie ist dann nach Straßburg übergesiedelt, und ich hatte den Eindruck, dass hier jemand völlig unvermittelt von einer Identität in die andere springt. Es hat mich irritiert, dass sie sich in ihren darauf folgenden Büchern nur noch jüdisch definiert. Ich lebe mit einer gebrochenen Identität, ich fühle mich genauso als Deutscher wie als Jude.

Wir haben über Einschnitte gesprochen. Die Wende war sicher auch ein Einschnitt für den Musiker André Herzberg. Sie haben den Westen aber bereits vor 1989 kennen gelernt.

Ich durfte ab Mitte der Achtzigerjahre reisen. Ideologisch hat man sich abgeschottet. Aber es gab gleichzeitig Wirtschaftsinteressen, und die Band „Pankow“ war ein kleiner Wirtschaftsfaktor. Die wirtschaftlichen Interessen siegten, und sie ließen uns touren. Für mich war das ein Ventil. Auch wenn der Wahnsinn, die Verhältnisse, in denen ich in der DDR lebte, von außen betrachtet noch viel wahnsinniger erschien, ich konnte mich wie ein Engel auf beiden Seiten bewegen. Ich habe das genossen, aber auch gemerkt, wie wahnsinnig fremd und verloren ich mich im Westen fühlte und wie froh ich war, anschließend wieder in die heimische Höhle zu kriechen, wo ich mich auskannte.

Nun existiert die Höhle nicht mehr und der Westen ist zu Ihnen nach Prenzlauer Berggekommen. Fühlen Sie sich fremd und verloren?

Eine gewisse Fremdheit ist geblieben. Das hängt auch mit meiner beruflichen Situation zusammen. Das Publikum nimmt mich nach wie vor als Sänger der Gruppe „Pankow“ wahr. In diese Rolle werde ich – wie bei der jüngsten Ostalgie-Welle – immer wieder hineingedrängt.

Um aus Rolle herauszutreten haben Sie Ihr letztes Album als André Herzberg und nicht unter dem Etikett „Pankow“ herausgebracht. Außerdem sind Sie als Autor tätig. Mit Erfolg?

Ich verstehe mein Handwerk und ich weiß, was ich tue. Die Resonanz auf die Musik und das Buch ist gut, aber der kommerzielle Erfolg ist bislang ausgeblieben.

Sicherlich war es in einer Nischengesellschaft leichter, etwas bekannt zu machen, als im gegenwärtigen Überangebot.

Es mag auch daran liegen, dass das Thema DDR gerade nicht en vogue ist – es sei denn, im Rahmen von Ostalgie-Shows.