Allendorf, Leif: Neoliberalismuskritik, 10.10.06

In jüngster Zeit regt sich Unmut über den real existierenden Kapitalismus, und zwar auch in Kreisen, wo man dies nicht gewohnt ist. So forderte NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers kürzlich dazu auf, sich von der „Lebenslüge“ zu verabschieden, Steuersenkungen würden für mehr Arbeitsplätze sorgen. Sein Parteifreund, der Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus, brachte stattdessen die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ins Gespräch. 800 Euro des auch als Bürgergeld bezeichneten Unterhalts sollen das kostspielige Sozialsystem ersetzen. Was noch vor wenigen Monaten unmöglich schien: So verschiedene Parteien wie CDU und Grüne, Linkspartei und sogar die marktliberale FDP entwickeln derzeit alternative Konzepte. Mit prinzipieller Ablehnung reagiert allein die SPD.
Die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14. März 2003, in der das Staatsoberhaupt ankündigte, statt der Arbeitslosigkeit künftig die Arbeitslosen zu bekämpfen, nimmt der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach zum Ausgangspunkt seiner Abrechnung Das Reformspektakel : warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient.. “Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen.” Zum Thema der Rentenanpassung heißt es: “Was unter Bundeskanzler Kohl als Kahlschlag gebrandmarkt wurde, gilt inzwischen als Reformprojekt.” Das allgemeine wirtschaftsliberale Denken ist gegen Kritik resistent: “Es ließ sich vom Widerspruch empirischer Konjunkturanalysen, Kreislaufdiagnosen, nachfrageorientierter Szenarien sowie vom Nachweis tatsächlicher Wechselwirkungen der monetären und realwirtschaftlichen Sphäre nicht beeindrucken.

Schöne Aussichten: Revolution von oben 2006

Als ein tief in der christlichen Soziallehre verwurzelter Mensch formuliert Hengsbach zwei Forderungen: “Die am Rand stehen, sollen nicht den Preis dafür zahlen, dass es den Höherverdienenden besser geht. Und den Wohlhabenden darf es besser gehen, solange die Lebensqualität der Benachteiligten nicht sinkt.”

Albrecht Müller (siehe Foto links), bis 1994 für die SPD im Bundestag, bezeichnet die mantrahaft in Funk und Fernsehen wiederholten Glaubenssätze des Neoliberalismus als “Denkfehler, Mythen und Legenden”, so unter anderem : “Steuersenkungen schaffen Arbeitsplätze.” Ausgerechnet Rot-Grün habe sich als “Rammbock der neoliberalen Revolution” betätigt, mit desaströsen Folgen für das eigene Lager: “SPD und Grüne haben den Konservativen mit ihrer Politik und mit ihren programmatischen Erklärungen den Weg dafür bereitet, nach einer Machtübernahme spätestens im Jahre 2006 ungestört und ohne Widerstand von politischer Seite die Revolution von oben durchzuführen und den Abbau sozialstaatlicher Regelungen zu realisieren.”

Das Steuerwunder auf den Cayman Islands

Der Journalist und Autor Harald Schumann beschreibt in seinem Buch Die Globalisierungsfalle: Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand das „Cayman-Wunder“. Die Cayman-Islands sind eine Inselgruppe in der Karibik südlich von Kuba, britisches Territorium mit Steuersouveränität. Die Hauptinsel ist 14 Quadratkilometer klein, hat 15.000 Einwohner – aber 500 Banken. Es gibt kein deutsches Kreditinstitut, das es seinen Kunden nicht anbieten würde, irgendeine Art von Steuerflucht auf die Cayman-Islands zu begehen. Neben Cayman gibt es 50 vergleichbare Steuerfluchtorte. Schätzungen des US-Finanzministeriums zufolge werden in diesen Steueroasen Jahr für Jahr etwa fünf Billionen US-Dollar der Besteuerung der Länder, in denen die erbracht werden, entzogen. Als Folge würden allein in Deutschland nach Schätzungen des Bundesamtes für Finanzen über die organisierte Steuerflucht an solche Orte Summen, die etwa der Größenordnung der jährlichen Neuverschuldung entsprechen, verloren gehen.

Damit geht einher ein „jobless growth“, Wachstum ohne Arbeit. Der Siemenskonzern hat zwischen 1992 und 1996 seinen weltweiten Gewinn um 15 Prozent gesteigert – und gleichzeitig 20 Prozent seiner Stellen abgebaut, 50.000 Mitarbeiter. In der Produktion der so genannten Handys, oder, in Schumanns Worten, der „kleinen Terrorgeräte“, wo bei Siemens Zuwachsraten von 25-30 Prozent pro Jahr zu verzeichnen waren, gab es fast keine zusätzlichen Jobs, weil die Produktivität pro Kopf in der gleichen Größenordnung zugelegt hat. Airbus plant im deutschen Bereich die Verdoppelung der Produktion und wird voraussichtlich dennoch keine neuen Leute einstellen und wenn, dann lediglich als Zeitarbeiter, vermittelt über Zeitarbeitsfirmen.
Viele, die ihre sicheren Jobs verlieren, sind nach Schumanns Einschätzung nicht zu lebenslanger Arbeitslosigkeit, sondern einfach nur zu schlechteren Jobs verdammt. Insgesamt seien inzwischen ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse Nicht-Norm-Arbeitsverhältnisse. Noch 1980 machten solche Arbeitsverhältnisse weniger als 20 Prozent aus.

Wirtschaftet die Wirtschaft uns also arm? Von dem einst selbstverständlichen Ziel, Wohlstand für alle zu schaffen, ist schon lange nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Wo immer über dringend nötige Reformen diskutiert wird, heißt es: Löhne senken, Wachstum steigern, Beseitigung aller Handelshemmnisse und Entlastung der „eigentlichen Leistungsträger“, der Unternehmen, von Steuern und Abgaben. Obwohl Wirtschaftsexperten wie Joseph Stiglitz oder George Soros längst die verheerenden Folgen einer ungehemmten Liberalisierungspolitik für Wirtschaft wie Gesellschaft beschrieben haben, werden diese Patentrezepte unverdrossen angeboten. Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Afheldt unterzieht in seinem Buch Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft die „harten Fakten“ aus 25 Jahren Wirtschaftsliberalismus einer schneidenden Analyse. Sie zeigt, dass vom wachsenden „Sozial-Produkt“ immer weniger bei den Bürgern ankommt, dass die derzeitige Wirtschaftsordnung zu einer gespaltenen Gesellschaft führt – und damit für alle zunehmend unwirtschaftlich wird.

Attac & Co.

Was ist gegen die Fehlentwicklung der Globalisierung zu tun? Seit einigen Jahren macht das Aktivisten-Netzwerk Attac auf sich aufmerksam. Das Autorentrio Christiane Grefe, Matthias Greffrath und Harald Schumann wagen in attac. Was wollen die Globalisierungskritiker? eine Bestandsaufnahme dieser Bewegung. Christina Janssen im Deutschlandfunk lobt: “Die mitunter diffuse Argumentation der Globalisierungskritiker, ihre teils radikal-ideologischen Verbalattacken gegen Weltbank, Internationalen Währungsfonds und Welthandelsorganisation versuchen Grefe, Greffrath und Schumann mit Fakten zu untermauern. Wer wissen möchte, wie die Politik von Weltbank, IWF und Co. in der Praxis aussehen, findet hier eine plastische, teils erschreckende, teils natürlich auch zugespitzte Schilderung. So dient der schmale Band nicht zuletzt all jenen als Argumentationshilfe, die mit Attac sympathisieren.”

Die Arbeitsideologie hinterfragt

Der Sozialwissenschaftler Manfred Füllsack wagt es, die Arbeitsideologie in Frage zu stellen. In seinem Buch Leben ohne zu arbeiten. Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens stellt er die Trennung von Arbeit und Einkommen zur Diskussion. Im Gegensatz zur Debatte um ein „Ende der Arbeit“ geht Füllsack davon aus, dass die menschliche Arbeit künftig nicht weniger wird, sich sogar vermehrt. Es sei aber notwendig, diese Arbeit mithilfe eines garantierten Grundeinkommens vom Lebensunterhalt zu entkoppeln, „auf dass damit auch die Arbeit schließlich so frei werde, wie dies die Wissenschaft schon lange für sich proklamiert.“ Die „arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer arbeitskreise“ (agspak.de) lobt: “Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung, unter dem Blickwinkel der stets wachsenden Produktivität der Arbeit auf Grund einer ständig weiter akkumulierten Problemlösungskapazität, ist spannend zu lesen. (…), wobei der Autor nicht den Eindruck zu erwecken versucht, dass damit schon alle Probleme der Arbeit gelöst wären.” Das österreichische Portal sozialliberale.net sieht das Problem allerdings ganz woanders. Danach nennt Füllsack “treffend den Grund, warum sich keine der ‘traditionellen Parteien’ für ein Grundeinkommen einsetzt: Die Idee des Grundeinkommens wurde im Laufe der Zeit sowohl von eher ‘linken’ als auch von eher ‘wirtschaftsliberalen’ Bewegungen vertreten und auch angegriffen und lässt sich daher auch nicht einfach in ein Links-Rechts-Schema einfügen, weil sie „zu sehr an das Gedankengut [des politischen Mitbewerbers] erinnert”. Das Fazit: “Auch wenn viele Fragen wie die nach der Finanzierung eines Grundeinkommens oder die nach dem zu erwarteten Verhalten von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern noch einer weiterführenden Diskussion bedürfen (…). Die Grundeinkommensidee ist weniger eine Frage der Finanzierung als vielmehr eine Frage des politischen Willens.”

Prognose: Der Kapitalismus ist nicht mehr zu retten

Ganz radikal ist der Nürnberger Soziologe Robert Kurz, der bereits 1994 mit Der Kollaps der Modernisierung mit der Ideologie der freien Marktwirtschaft aufräumte. Sein Schwarzbuch Kapitalismus vertritt die Ansicht, dass es nur noch ein Abenteuer geben kann: die Überwindung der Marktwirtschaft jenseits der alten staatssozialistischen Ideen. Danach mag eine andere Geschichte beginnen. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsgruppen sinkt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweist sich als Illusion. Die Marktwirtschaft wird mit ihren Produktivitätssprüngen – Automation und Globalisierung – nicht mehr fertig. In einer Analyse der drei großen industriellen Revolutionen zeigt Robert Kurz, weshalb das bisherige System von Arbeit, Geldeinkommen und Warenkonsum nicht mehr zu retten ist. Robert Kurz seziert die Marktwirtschaft, zeichnet die drei industriellen Revolutionen nach und belegt, wie der Kapitalismus aus weitverzweigten Wurzeln und vielen Quellen im Laufe der Geschichte Varianten seiner inneren Widersprüchlichkeit hervorgetrieben hat: Liberalismus und Sozialdemokratie, den Staatssozialismus als Form nachholender Modernisierung, aber auch immer wieder Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Kurz beschreibt, wie die bisherigen Gegenentwürfe das Wesen der kapitalistischen Geldmaschine unangetastet ließen und selber Trendsetter der permanenten Modernisierung waren. „Aber ausgerechnet in demselben Maße, wie er von allen Parteien zum alternativlosen Schicksal der Menschheit erklärt wird, treibt der Kapitalismus heute auf eine ausweglose Situation zu.“

Literaturhinweise

Aufruf zur Menschlichkeit. Über F. Hengsbachs ‚Das Reformspektakel‘

Besprochen von Camilo Jiménez

Das 2005 neu aufgelegte Buch des Jesuitenpaters Friedhelm Hengsbach, Das Reformspektakel. Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient, formuliert die seit dem Ende des industrialisierten Zeitalters immer wieder ausgesprochene Klage darüber, dass der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Fortschritts steht und sich dadurch eine immer inhumanere Gesellschaft bildet. Das Buch will aber zugleich Hoffnung machen. Für Hengsbach liegt die Rettung der Menschen in ihren eigenen Händen.

Der 190-seitige Band behandelt die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder initiierte „Agenda 2010“. Für den 68-jährigen Professor für Christliche Gesellschaftsethik steht zweierlei fest: Zum einen, dass die Reformen in Deutschland, so wie sie bisher durchgeführt werden, nur schief laufen können. Und zweitens, dass die einzige Möglichkeit eines positiven Ausgangs dieses deutschen „Reformspektakels“ eine Rückbesinnung auf die Priorität des Menschen ist. „Die am Markt orientierten Reformversuche sind bedrohlich für den sozialen Zusammenhalt“, lautet die grundlegende Argumentation des Buches.

Während die „Agenda 2010“ die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in Deutschland versprach, zeigt die Entwicklung der Lebensumstände in Deutschland im ersten Jahr nach Verabschiedung des Reformpakets genau das Gegenteil. Für die Bürger, den Markt und für den Sozialstaat ging es gleichermaßen bergab. Das liegt für Hengsbach nicht allein an den Reformplänen von Rot-Grün, sondern an der Sozialpolitik der letzten dreißig Jahre – sowohl in Deutschland als auch in allen anderen Arbeitsgesellschaften weltweit.

Zentral bei der Kritik der Agenda 2010 ist eine generelle In-Frage-Stellung davon, was man heute unter „Reform“ zu verstehen hat: „Reform bedeutet immer Veränderung. Aber sollten sich die Verhältnisse nur verändern, nicht verbessern?“ Von vornherein setze das Reformstreben in Deutschland, so Hengsbach, eine grundlegende Entwurzelung der Menschen im Land voraus: „Die Agenda rechnet mit gesellschaftlich entkoppelten Menschen“, also mit einer Gesamtheit von Staatsbürgern, die genau alle Voraussetzungen erfüllen, deren voller oder partieller Mangel aber die Reformen motiviert hat. „Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen. Die Adressaten der Agenda sollen sich wie souveräne Wirtschaftssubjekte verhalten.“ Seit dem Amtsamtritt Helmut Kohls im Jahr 1982 suche man nicht mehr nach dem sozialen Zusammenhalt Deutschlands. Dem Sozialstaat würden seine lebenswichtigsten Teile abgeschnitten und diese zu marktliberalen Reformprojekten umgewandelt.

Friedhelm Hengsbach entzündet die Diskussion über die ethischen Verpflichtungen der gesellschaftlichen Institutionen gegenüber den Menschen. Ist der Staat für die Menschen da oder der Mensch für den Staat? Hengsbachs Buch vertritt eine feste Position in diesem Bezug. Für ihn ist es Aufgabe der sozialen Institutionen, allen Notwendigkeiten des Menschen zur Verfügung zu stehen. Also, der Staat für die Menschen.

Die Verteidigung einer solchen Stellung gegenüber Phänomenen, wie z.B. der Marktwirtschaft oder der sozialen Ungleichheit — die die Verfolgung eines solchen menschen-solidarischen Prinzips in Frage stellen —, wird stets im erbitterten Kampf gegen Widersacher aller Art stehen. Hengsbach tritt in diesem Sinne als Konservativer auf. Seine Ansprache für die Solidarität zwischen Institutionen und Menschen versucht die Veränderung der Gesellschaft durch ein Prinzip zu blockieren: dass der Mensch der Mittelpunkt jeglicher Gesellschaft ist.

Jeder Mensch muss „Zivile Verantwortung“ übernehmen

Letztlich ist Das Reformspektakel ein Aufruf zu einer Bewegung des Volkes für sein Recht auf Gerechtigkeit und Menschenwürde. Für Hengsbach bildet die Zivilgesellschaft das Modell einer „demokratischen Selbstorganisation“. Mit einem Bewusstsein für die Mängel der während der 80er und 90er Jahre prominenten Zivilgesellschaft, sieht Hengsbach, dass der Weg aus einem Entmenschlichungsprozess in der Gesellschaft jedoch in den Prinzipien einer zivilgerichteten Sozialordnung zu finden ist. Begriffe wie „Corporate Citizenship“ und „Zivile Verantwortung“ werden erwogen; Tatsachen, wie die massenhaften Demonstrationen gegen die Hartz IV-Reform, das Zusammenschließen der zahlreichen Verlierer der Reformen in Unionen und Korporationen (und heute wohl in einer populären Linkspartei) werden berücksichtigt. Aufgrund dieser Beobachtungen sieht Hengsbach reale Möglichkeiten für einen gesellschaftlichen Ausgleich in Deutschland.

Friedhelm Hengsbach ist kein Pessimist. Die noch bestehende Chance, eine normative Gesellschaft zu bilden, die den Menschen — so wie sie sind — dient, ist eine Möglichkeit, die aber allmählich hinter den Kulissen des deutschen „Reformspektakels“ zu verschwinden droht. Das Werk eines Moralisten kann nur ein Schlusswort haben: „Aktion!“.

Bestellen!