Aufruf zur Menschlichkeit. Über F. Hengsbachs ‚Das Reformspektakel‘

Besprochen von Camilo Jiménez

Das 2005 neu aufgelegte Buch des Jesuitenpaters Friedhelm Hengsbach, Das Reformspektakel. Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient, formuliert die seit dem Ende des industrialisierten Zeitalters immer wieder ausgesprochene Klage darüber, dass der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Fortschritts steht und sich dadurch eine immer inhumanere Gesellschaft bildet. Das Buch will aber zugleich Hoffnung machen. Für Hengsbach liegt die Rettung der Menschen in ihren eigenen Händen.

Der 190-seitige Band behandelt die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder initiierte „Agenda 2010“. Für den 68-jährigen Professor für Christliche Gesellschaftsethik steht zweierlei fest: Zum einen, dass die Reformen in Deutschland, so wie sie bisher durchgeführt werden, nur schief laufen können. Und zweitens, dass die einzige Möglichkeit eines positiven Ausgangs dieses deutschen „Reformspektakels“ eine Rückbesinnung auf die Priorität des Menschen ist. „Die am Markt orientierten Reformversuche sind bedrohlich für den sozialen Zusammenhalt“, lautet die grundlegende Argumentation des Buches.

Während die „Agenda 2010“ die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in Deutschland versprach, zeigt die Entwicklung der Lebensumstände in Deutschland im ersten Jahr nach Verabschiedung des Reformpakets genau das Gegenteil. Für die Bürger, den Markt und für den Sozialstaat ging es gleichermaßen bergab. Das liegt für Hengsbach nicht allein an den Reformplänen von Rot-Grün, sondern an der Sozialpolitik der letzten dreißig Jahre – sowohl in Deutschland als auch in allen anderen Arbeitsgesellschaften weltweit.

Zentral bei der Kritik der Agenda 2010 ist eine generelle In-Frage-Stellung davon, was man heute unter „Reform“ zu verstehen hat: „Reform bedeutet immer Veränderung. Aber sollten sich die Verhältnisse nur verändern, nicht verbessern?“ Von vornherein setze das Reformstreben in Deutschland, so Hengsbach, eine grundlegende Entwurzelung der Menschen im Land voraus: „Die Agenda rechnet mit gesellschaftlich entkoppelten Menschen“, also mit einer Gesamtheit von Staatsbürgern, die genau alle Voraussetzungen erfüllen, deren voller oder partieller Mangel aber die Reformen motiviert hat. „Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen. Die Adressaten der Agenda sollen sich wie souveräne Wirtschaftssubjekte verhalten.“ Seit dem Amtsamtritt Helmut Kohls im Jahr 1982 suche man nicht mehr nach dem sozialen Zusammenhalt Deutschlands. Dem Sozialstaat würden seine lebenswichtigsten Teile abgeschnitten und diese zu marktliberalen Reformprojekten umgewandelt.

Friedhelm Hengsbach entzündet die Diskussion über die ethischen Verpflichtungen der gesellschaftlichen Institutionen gegenüber den Menschen. Ist der Staat für die Menschen da oder der Mensch für den Staat? Hengsbachs Buch vertritt eine feste Position in diesem Bezug. Für ihn ist es Aufgabe der sozialen Institutionen, allen Notwendigkeiten des Menschen zur Verfügung zu stehen. Also, der Staat für die Menschen.

Die Verteidigung einer solchen Stellung gegenüber Phänomenen, wie z.B. der Marktwirtschaft oder der sozialen Ungleichheit — die die Verfolgung eines solchen menschen-solidarischen Prinzips in Frage stellen —, wird stets im erbitterten Kampf gegen Widersacher aller Art stehen. Hengsbach tritt in diesem Sinne als Konservativer auf. Seine Ansprache für die Solidarität zwischen Institutionen und Menschen versucht die Veränderung der Gesellschaft durch ein Prinzip zu blockieren: dass der Mensch der Mittelpunkt jeglicher Gesellschaft ist.

Jeder Mensch muss „Zivile Verantwortung“ übernehmen

Letztlich ist Das Reformspektakel ein Aufruf zu einer Bewegung des Volkes für sein Recht auf Gerechtigkeit und Menschenwürde. Für Hengsbach bildet die Zivilgesellschaft das Modell einer „demokratischen Selbstorganisation“. Mit einem Bewusstsein für die Mängel der während der 80er und 90er Jahre prominenten Zivilgesellschaft, sieht Hengsbach, dass der Weg aus einem Entmenschlichungsprozess in der Gesellschaft jedoch in den Prinzipien einer zivilgerichteten Sozialordnung zu finden ist. Begriffe wie „Corporate Citizenship“ und „Zivile Verantwortung“ werden erwogen; Tatsachen, wie die massenhaften Demonstrationen gegen die Hartz IV-Reform, das Zusammenschließen der zahlreichen Verlierer der Reformen in Unionen und Korporationen (und heute wohl in einer populären Linkspartei) werden berücksichtigt. Aufgrund dieser Beobachtungen sieht Hengsbach reale Möglichkeiten für einen gesellschaftlichen Ausgleich in Deutschland.

Friedhelm Hengsbach ist kein Pessimist. Die noch bestehende Chance, eine normative Gesellschaft zu bilden, die den Menschen — so wie sie sind — dient, ist eine Möglichkeit, die aber allmählich hinter den Kulissen des deutschen „Reformspektakels“ zu verschwinden droht. Das Werk eines Moralisten kann nur ein Schlusswort haben: „Aktion!“.

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