Schneekönigin trifft Aschenputtel: Der britische Independent-Film “My summer of love” zwischen Liebesdrama und Sozialstudie

Besprochen von Leif Allendorf

  • My Summer of Love, Regie: Pawel Pawlikowski, Produktion: Großbritannien 2004, Laufzeit: 89 Min.

Zwei Mädchen flüstern sich im Dunkeln Schwüre zu: “Wenn du mich verlässt, werde ich dich töten!”, verspricht die eine. “Und wenn du mich verlässt, dann töte ich dich!”, bestätigt die andere. Aber es wird anders kommen. Die eine wird die andere verlassen. Und die andere wird die Treulose nicht töten. Obwohl es zunächst danach aussieht.

Der britische Streifen “My summer of love” wurde mit Preisen überhäuft. Er erhielt 2005 die Auszeichnungen “Bester Britischer Film”, den “London Critics Circle Award”, den “Evening Standard British Film Award” und wurde beim “Edinburgh I)nternational Film Festival” ebenso prämiert wie vom “Directors Guild of Great Britain”. Viel Lob für einen Streifen, der sehr unspektakulär das Leben in den elenden einstöckigen Arbeiterhäuschen auf dem englischen Land schildert.

Schneekönigin liest Aschenputtel von der Straße auf

Die aus einem reichen, wohlbehüteten Hause stammende Tamsin (Emily Blunt) liest die naive Mona (Natalie Press) buchstäblich auf der Straße auf. Die Bildsprache ist eindeutig: Tamsin sitzt hoch zu Ross ihres Pferdeschimmels, Mona liegt neben ihrem kaputten Mofa auf der Landstraße, als sie einander begegnen. Aber die eiskalte berechnende Schneekönigin Tamsin und das mit ihrem christlich bekehrten Bruder in einem heruntergekommenen Pub lebende Aschenputtel Mona freunden sich an und verlieben sich schließlich.

Sie haben eine Gemeinsamkeit: sie sind einsam. Mona ist Waise und Tamsin hat sich von ihrem Vater völlig entfremdet. Und so werden die folgenden Wochen für die zwei Königskinder ein Sommer der Liebe. Ob sie sich gemeinsam in der fast leer stehenden Prachtvilla von Tamsins Eltern aufhalten oder Monas Bruder zuschauen, der aus seiner ehemaligen Kneipe eine christliche Begegnungsstätte macht: die Unterschiede in Temperament und sozialer Herkunft scheinen sie einander eher näher zu bringen als zu trennen.

Bis dann eben der Verrat kommt. Tamsins tränenreicher Bericht über den Verlust ihrer Schwester ist gelogen. Alles scheint rückblickend ein Betrug gewesen zu sein – selbst die Liebe, die diesem Sommer seine Einzigartigkeit verliehen hat.

Eine Milieustudie oder der Bericht einer lesbischen Amour fou?

Der Regisseur findet beeindruckende Bilder. Die Tristesse der gottverlassenen englischen Siedlung auf dem Land wird mit wunderschönen Landschaftsbildern konterkariert. Der religiöse Wahn des ehemals gewalttätigen Bruders wird kritisch gezeigt, ohne den Menschen zu denunzieren.

Allerdings fragt sich der Zuschauer am Ende, welche Geschichte hier erzählt werden sollte. Die Geschichte einer lesbischen Liebe oder eine Mileustudie aus dem Landleben?

Die hervorragenden Darsteller machen einiges wieder gut. Ärgerlich bleibt, dass der Grund für Tamsins Liebesverrat völlig im Dunkeln bleibt. In dieser Hinsicht bleibt der ansonsten so präzise Film hinter seinem Anspruch zurück.