von Ariane Sadjed
- OSANLOO, Arzoo: The Politics of Women’s Rights in Iran. Princeton University Press, Princeton, N.J. 2009. ISBN: 978-0691135472.
Nach mehrjähriger Feldforschung publiziert die amerikanische Anthropologin Arzoo Osanloo ihre Ergebnisse und argumentiert subtil aber beharrlich dafür, dass die Wahrnehmungen, die der Westen vom Iran hat, überdacht werden müssen. Dafür liefert sie sowohl theoretisches als auch konkretes ethnographisches Material.
Bevor Arzoo Osanloo ihre akademische Karriere begann, war sie als Anwältin tätig, spezialisiert auf Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund hat die Anthropologin an der University of Washington nun ein Buch über die Entwicklung des Rechtssystems im Iran seit der Gründung der islamischen Republik 1979 vorgelegt. Die Argumentation, auf der ihr Buch basiert, widerlegt die sowohl im Iran wie auch international verbreitete Ansicht, die islamische Republik sei eine Rückkehr zu ursprünglichen, vorzeitlichen Traditionen. Osanloo betont, dass der Iran nach der Revolution auf modernen Strukturen wie einer republikanischen Staatsform und einer Verfassung beruht, und zeigt, wie die Verbindung von republikanischer Politik und islamischen Prinzipien neue Räume und Diskurse eröffnet hat, innerhalb derer sich die Staatsbürger zunehmend als tätige Subjekte bewusst werden.
Überdies hat Osanloo ihre Analyse in Abgrenzung zu jenem Kulturrelativismus entwickelt, der behauptet, kulturübergreifende Vergleiche seien nicht möglich, da jede Kultur für sich selbst steht und die Praktiken im jeweiligen Kontext unangreifbar sind. Die Autorin arbeitet im Unterschied dazu durchaus mit der Methode des »Kontextualisierens«: Dies meint die Behandlung von »distant«, also uns fremden Praktiken, in Anbetracht ihrer Entstehungsgeschichte und ihres gesellschaftlichen Hintergrundes. Durch diese Art der analytischen Untersuchung sei eine unmittelbare Überprüfung und fundierte Kritik der jeweiligen Praktiken möglich. Im Fall des Rechtssystems im Iran wäre dies zum Beispiel die Umsetzung rechtlicher Vorgaben in der Praxis.
Das Buch beginnt mit der Feststellung, dass das Recht nicht neutral sei, sondern ein Produkt seiner Rahmenbedingungen. Die Entwicklung und Anwendung von Recht ist vielmehr ein lebendiges und sich ständig veränderndes Feld. Die Formulierung von Menschenrechten in einem ausschließlich säkularen Rahmen ist demnach ebenso kulturspezifisch und in der Geschichte Westeuropas verortet, wie Frauenrechte aus der Perspektive eines säkular-liberalen Feminismus zu denken sind. Eine strenge Unterscheidung zwischen einer unpolitischen Kultur und vermeintlich kulturneutralen – aus einer übergeordneten Rationalität heraus formulierten – Menschenrechten ist damit nicht haltbar. In Bezug auf Frauenrechte ist das gängige Konzept im Islam, dass die »Natur« von Männer und Frauen unterschiedlich ist. Dies wird deutlich, wenn Osanloo z.B. erklärt, dass die Regelung, dass eine Frau bei einem Todesfall in der Familie weniger erbt als ein Mann, so begründet ist, dass der „verbleibende“ Mann damit für die Familie sorgen muss, also für seine Mutter, Schwestern etc. finanziell die Verantwortung trägt. Aufgrund dessen ergeben sich unterschiedliche Rollen, Aufgaben und Rechte der Geschlechter. Männer und Frauen gleichen sich nicht, aber daraus wird noch keine gesellschaftliche Unter- oder Überlegenheit abgeleitet. In ihrer Unterschiedlichkeit sind beide Geschlechter gleichberechtigt, darauf basiert in großen Teilen auch das islamische Recht. Die Umsetzung dieses Prinzips hängt allerdings von den Interpretationen ab, die die jeweiligen Machthaber daraus ableiten. Die Autorin zeichnet anhand einer klaren und theoretisch fundierten Analyse, die auf mehrmonatigen Aufenthalten im Iran, Interviews und dem Verfolgen von Gerichtsverfahren beruht, die Veränderungen im Verhältnis zwischen Staat und seinen Subjekten nach und konzentriert sich dabei vor allem auf die Rolle von Frauen. Immer wieder wird deutlich, dass den Frauen das Wissen darüber, wie sie sich in der Gesellschaft mehr Rechte verschaffen können, weitgehend fehlt – Osanloo geht hier vor allem auf Scheidungsprozesse ein. Aber innerhalb der relativ jungen staatlichen Strukturen finden verschiedene Formen der Wissensweitergabe statt, in formellen Räumen durch Anwältinnen, oder informell in Koran-Lesekreisen für Frauen, den so genannten »Jalezeh«. Zu den letztgenannten Treffen werden oft Referentinnen eingeladen, die die Frauen über Themen informieren, über die sie mehr zu erfahren wünschen. So berichtet Osanloo von einem Treffen:
»Hajinouri, eine ehemalige Parlamentarierin, hatte kurz nach der Revolution eine bekannte, nicht-staatliche Organisation für Frauen und Familie gegründet. Sie war auch Co-Autorin mehrerer wichtiger Teile der Gesetzgebung in Bezug auf Frauenrechte. Durch die Bank waren die Frauen von Hajinouri und ihrem Vortrag gefesselt. Sie zeigte Wege auf, wie Frauen unter Berufung auf den Islam eine rechtliche Besserstellung einfordern können. Doch sie ging sogar noch weiter: Offenbar war es ihre Absicht, den Frauen zu sagen, dass sie mehr Verantwortung dafür übernehmen müssten, zu lernen, welche Wege es gäbe und wie man diese zugänglich machen könnte, um in Ehestreitigkeiten ihre Interessen zu wahren.«
Das Rechtssystem hält zwar verschiedene Möglichkeiten bereit, das heißt aber leider noch lange nicht, dass sie in der Praxis auch umgesetzt werden. Eine andere Anwältin für Frauenrechte, die Osanloo in ihrer Arbeit über mehrere Jahre begleitet hat, problematisiert die steigende Anzahl von Männern und Frauen, die in Scheidungsprozessen mittlerweile auf juristischem Weg Entschädigungen suchten:
»Sie wunderte sich über die damit einhergehende juristische Rationalisierung und Trennung zwischen dem Recht und den althergebrachten sozialen Prinzipien. Frauen wären jetzt nachlässig gegenüber der Tatsache, dass mit den positiven juristischen Rechten auch Verpflichtungen verbunden seien, die in der Scharia und dem Koran formuliert sind. Die Beharrlichkeit, mit der Frauen juristisch ihre Ansprüche einforderten, erzeugte sogar für diese Anwältin eine zu große Diskrepanz zu der Moral und ethischen Prinzipien der Gesellschaft.«
Es scheint also, dass der rationalistische Rechtsdiskurs die gemeinschaftliche Tradition des islamischen Rechtssystems immer mehr verdrängt. Dies ist angesichts der Tatsache, dass der iranische Staat alles für die Implementierung islamischer Werte einsetzt, verwunderlich.
Das reichhaltige ethnographische Material gibt die vielen unterschiedlichen Positionen wider, die im Iran in Bezug auf die richtige Definition von Recht existieren. In westlichen Medien beliebte Streitpunkte – wie das etwa Kopftuch – werden nicht eigens thematisiert, allenfalls in den Gesprächen erwähnt. Das macht die Darstellung authentisch und zeigt, welche Dinge im Alltagsleben der Frauen eine Rolle spielen. Die Autorin nimmt auch davon Abstand, das Geschehen, das sie untersucht, moralisch zu bewerten oder Empfehlungen abzugeben. Sie zeichnet sorgfältig und exakt nach, wie ein bestimmter Mechanismus in der Gesellschaft funktioniert und beschreibt damit letztlich einen dynamischen und dialogischen Prozess, den sie in Hinblick auf internationale Diskurse und Politiken so charakterisiert: Bei allem stetigen Bemühen, sich vom Westen abzugrenzen, werden im Iran dennoch einige von der westlichen Ideengeschichte geprägte Elemente und Begrifflichkeiten in die Staatsform, das Rechtssystem und damit die soziale Struktur eingebracht. Diese in Einklang mit islamischen Prinzipien zu bringen ist ein Ziel, das durch verschiedene Interessengruppen auf unterschiedliche Art und Weise vorangetrieben wird. „Islamische“ Prinzipien können für Rechtsexperten etwas anderes bedeuten als für politische Autoritäten. Was letztere als „islamisch“ propagieren, unterscheidet sich von jenem Islam, den Aktivistinnen wie Hajinouri sich als einen Weg vorstellen, um der Gesellschaft eine ethische Grundlage zu bieten. Es gibt im Iran also auch innerhalb des religiösen Lagers unterschiedliche Auffassungen über die Verbindung von Islam und Politik.
Eine Übersetzung des Buches ins Deutsche ist leider nicht geplant – was bedauerlich ist. Schließlich behandelt die Autorin das Thema Frauenrechte weder vom Standpunkt aus, dass Frauen im Iran pauschal unterdrückt werden, noch glorifiziert sie die »neue islamische Frau«. Es ist ein gelungener Versuch, die Rolle des Staates im Iran zu analysieren und das Land damit ein Stück weit zu entmystifizieren. Die Islamische Republik hat ein ganz eigenes Rechtssystem und die Scharia ist nicht (nur) ein irrationales »Schreckens-System«, wie es oft dargestellt wird. Auch sie entspringt und korrespondiert mit einem sozialen Kontext.
Erstmals erschienen in Das Argument