Sadjed, Ariane: Die Konsumgesellschaft im Iran, 19.11.09

Abseits gängiger Klischees über die gesellschaftlichen Verhältnisse im Iran beschreibt AVINUS-Autorin Ariane Sadjed die Rolle der islamischen Religion. Diese ist nämlich nicht zwangsläufig ein Mittel, um die Bevölkerung in Unmündigkeit zu halten. Vielmehr kann die Religion als Gegenpol zur Politik fungieren und damit Freiräume schaffen.


Religion und Moderne

Über den Iran zu sprechen bedeutet oft, erst die schreienden Bilder zu widerlegen, die mit dem Land assoziiert werden. Darstellungen in den Medien beschränken sich meistens auf zwei Extreme: es sind entweder Bilder fanatisch-religiöser Anhänger eines glühenden Anti-Amerikanismus oder topmodisch gekleidete Frauen mit auffallendem Make-up, die dem iranischen Regime vermeintlich subversiv gegenüber stehen. Wieso sind gerade diese zwei Bilder in der westlichen Medienöffentlichkeit so dominant? Kann darin eine Vorstellung von Widerstand erkannt werden, die nur eine bestimmte Art der Subversivität kenntlich macht, nämlich jene, die statt den Regeln des Gottesstaates jenen der globalen Konsumkultur – mit westlichen Waren – folgt? Die Islamische Republik hat sich seit ihrer Gründungsphase darauf berufen, sich von der westlichen Warenwirtschaft unabhängig zu machen. Doch spätestens seit der Präsidentschaft Rafsanjanis 1989-1997 wurde der freien Marktwirtschaft extensiv Raum gegeben[1]. Die neuen gesellschaftlichen Eliten, ausführende und kontrollierende Organe eines institutionell verordneten islamischen Habitus, sind mittlerweile in die wohlhabendsten Schichten aufgestiegen. Sie führen damit einerseits das Credo der Revolution von der Abkehr von materialistischen Ausschweifungen ad absurdum, lassen aber auch erstaunte Beobachter aus dem Westen zurück, die nicht verstehen, wieso unter den schwarzen Schleiern mancher Frauen teure Designerschuhe hervorblitzen. Die Vorstellung, dass Religiosität eher in armen und ungebildeten Bevölkerungsschichten verwurzelt ist[2] und die Teilnahme an der globalen Warenwirtschaft und ihren weltlichen Gütern ausschließt, trifft zumindest im Iran nicht zu. Religiosität hat so viele Facetten, dass man die, vor allem aus westlichen Kontexten bekannten, Kategorien umdenken oder erweitern muss. Dazu möchte ich zuerst auf Theorien der Säkularisierung eingehen und danach die Rolle der Konsumgesellschaft im Iran besprechen.

Die Hauptthese der Säkularisierungstheorie konstatiert einen Rückgang von Religiosität zugunsten von Rationalität und Vernunft, der sich durch die Trennung von Institutionen wie dem Staat und dem Markt von religiösen Institutionen vollzieht. Hefner (1998) zeigt durch seine Aufarbeitung der Geschichte der Kämpfe zwischen Kirche und Staat jedoch, dass die Befreiung vom Religiösen keine lineare Geschichte der Emanzipation ist, die zu der „sauberen“ Trennung geführt hat, von der in westlichen Gesellschaften heute ausgegangen wird. Die Vereinigten Staaten beispielsweise entschieden sich zwar gegen eine Staatskirche, dies führte aber nicht zu einer Abnahme verschiedener Religiosität, sondern zu einem starken Wettbewerb, der Rivalitäten und die Bildung von Sekten schürte. Durch solche Entwicklungen wurde die Religion pluralistischer. Religiöse Rituale verschwanden deswegen aber nicht aus der Öffentlichkeit. In islamischen Gesellschaften ist eine ähnliche Entwicklung, eine sogenannte Objektifizierung religiösen Wissens, feststellbar[3]. Während islamisches Wissen historisch stets in der Hand einer kleinen Elite war, sind dieses Wissen sowie islamische Praktiken heute einer wachsenden Anzahl von Menschen zugänglich. Der verstärkte Zugang zu höherer Bildung, das Aufkommen eines Marktes für islamische Schriften und Prozesse der Urbanisierung haben demnach in einigen Ländern zu einer Fragmentierung religiöser Autorität geführt, soziale Kräfte pluralisiert und der Demokratisierung Aufwind gegeben. Hefner betont, dass in diesem Wettstreit um Autorität nur in jenen Gesellschaften der “Neofundamentalismus” siegte, die mit Krisen wie Bürgerkrieg, ökonomischem Zusammenbruch, ethnischen Konflikten oder extremer staatlicher Gewalt konfrontiert waren. Das führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass der wahre „clash of civilizations“ nicht zwischen dem Westen und einem homogenen „Anderen“ stattfindet, sondern zwischen rivalisierenden Traditionsträgern innerhalb derselben Nationen und Zivilisationen.

Moaddel (2002) führt weiter aus, wie ein islamischer Diskurs in Opposition zu staatlichen Strukturen geformt wird. Anhand der Muslimbruderschaft in Ägypten beschreibt er, wie diese Bewegung in den 1930er und 40er Jahren für politische Mäßigung und Parlamentarismus eintrat. Extremistische Tendenzen begannen erst Fuß zu fassen, nachdem die Bruderschaft nach dem Umsturz der Regierung 1952 von jeglicher politischer Partizipation ausgeschlossen wurde. Die staatlich verordneten säkularen Ideologien in Ägypten, Syrien oder dem Iran politisierten den öffentlichen Diskurs und bildeten damit einen günstigen Kontext für das Erstarken eines islamischen Fundamentalismus. Der Demokratisierungsprozess hingegen, der von König Hussein in Jordanien Ende der 1980er Jahre initiiert wurde, beförderte die Säkularisierung der islamischen Bewegung Jordaniens[4]. Moaddel sieht seine Theorie durch die Entwicklungen im post-revolutionären Iran bestätigt: wo der monolithische, von oben verordnete Diskurs nun religiös ist, haben Prozesse der Objektifizierung und Fragmentierung religiöser Autorität – weit entfernt davon, Religion zu politisieren – die Entwicklung einer islamischen Bürgerrechtsbewegung und eine Säkularisierung der Religion gefördert.

In Bezug auf die Geschichte der Säkularisierung in Europa zeigt Salvatore (2005), dass eine bestimmte Form religiösen Fanatismus der Mobilisierung eines neuen, modernen Typus staatlicher Gewalt dienlich war. Anhand der Reconquista in Spanien zeigt er, dass die Schaffung eines Nationalstaates mit homogener Bevölkerung, Sprache und Religion nur durch die Verbindung von Kirche und Königshaus möglich wurde. Salvatore macht deutlich, dass diese Homogenisierung eine Vorbedingung für die nächste Stufe der Neutralisierung verschiedener religiöser Einstellungen und ihres Kampfgeistes war und die darauffolgende Säkularität als eine neue Form des Regierens innerhalb der aufkommenden, modernen politischen Strukturen einläutete. Die Vorstellung einer säkularen Öffentlichkeit als eine neutrale Position vis-a-vis der Vielzahl von Religionen, ein institutionelles und kulturelles Regelwerk, das vermeintlich fanatischen Aktivismus in seine sicheren Grenzen verweist, ist demnach nicht haltbar. Salvatore argumentiert in Anlehnung an Talal Asad (2003) dafür, Säkularität auch als einen normativen Diskurs wahrzunehmen, durch den bestimmte Formen moderner Machtpolitik Ausdruck finden. Eine plastischere Methode des Analysierens ist daher sinnvoller als die Analyse einer statischen Opposition von religiös und säkular.

Vielleicht liegt es unter anderem daran, dass die westliche Öffentlichkeit  – genau wie umgekehrt die islamische – mit der Erfassung bestimmter Wechselwirkungen zwischen Staatsmacht und Religion oder Religion und Massenkonsum gewisse Schwierigkeiten haben. In Bezug auf islamische Gesellschaften ist es daher unabdingbar, die Wahrnehmung der (ohne Zweifel vorhandenen) Unterschiede in der Herausbildung dieser Begrifflichkeiten einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen, die der historischen Entwicklung der respektiven Einstellungen und Praktiken genügend Raum gibt. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen im post-revolutionären Iran werden im folgenden genauer beleuchtet.

Konsumgesellschaft

Die iranische Regierung beansprucht die Führungsposition im Kampf um politische und kulturelle Autonomie für sich, indem sie an historische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis anknüpft[5]: schon während der Kajaren-Dynastie wurden nationale Ressourcen leichtfertig der englischen Krone übergeben, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu der konstitutionellen Revolution führte. Auf die Übernahme der zentralen Einkommensquelle, der iranischen Ölgesellschaft, durch die englische Regierung folgten kurz darauf innenpolitische Zwistigkeiten, die – mit Unterstützung der amerikanischen Regierung – den Sturz des demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh im Jahr 1953 nach sich zogen[6]. Die darauf folgende Wiedereinsetzung des Monarchen, Reza Schah Pahlavi, auf dessen Kooperation sich England und die USA stützen konnten, und die rasante Modernisierung nach „westlichem Stil“ hinterließ ein gravierendes ökonomisches Ungleichgewicht und führte zu einer Auflösung der traditionellen sozialen Strukturen. Mit der fortschreitenden Entfremdung der herrschenden Klassen von der großen Mehrheit der Bevölkerung verschärften sich die sozialen und politischen Konflikte, auf die der Schah immer autoritärer reagierte[7]. Die islamische Revolution 1979 sollte der Herrschaft dieser Eliten ein Ende setzen. Mit der Errichtung der Islamischen Republik und der Institutionalisierung revolutionärer Aktivitäten wurden daher in Bezug auf äußeres Auftreten, Körpersprache und Umgangsformen neue Verhaltensmuster, basierend auf „islamischen“ und „traditionellen“ Werten erfunden, die ein kulturelles Gegenmodell zum Westen, aber gleichzeitig auch Modernität und Fortschritt repräsentieren sollten. Die Übernahme dieser neuen Codes wurde unerlässlich für soziale Interaktionen in der postrevolutionären Gesellschaft Irans.[8]) Private Räume, Einkaufszentren, Parks, Restaurants oder Kinos sind aber noch immer Orte, in denen westliches Auftreten mitunter erwünscht ist. Die Repräsentanten dieser unterschiedlichen Einstellungen schaffen durch den Besitz und die Verwendung entsprechender Konsumgüter soziale Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Während die gesellschaftlichen Eliten unter dem Schah vor allem aufgrund der Wahrung westlicher statt iranischer Interessen angegriffen wurden, lassen sich vergleichbare Tendenzen nun bei der neuen islamischen Elite erkennen, die sich zwar in Ablehnung gegenüber westlichen Lebensmodellen übt, die Konsumkultur jedoch fest in ihrem Alltag integriert hat. Die politischen Autoritäten Irans scheinen eine bestimmte Form des Konsumierens zu ermutigen, nämlich jene, die eine islamische Identität und damit Konformität mit dem Staatsmodell der islamischen Republik affirmieren. Dies ist besonders im Iran ein prekäres Feld, wo durch die Revolution eine Neuordnung der Gesellschaft stattgefunden hat und die ehemals herrschende Mittel- und Oberklasse zwar entmachtet wurde, das Versprechen sozialer Gleichheit aber nicht eingelöst wurde. Die Wege, durch die die Oberschicht zu Geld gekommen ist, werden häufig mit Korruption und Vetternwirtschaft in Zusammenhang gebracht[9]. Von den unteren Schichten abgetrennt und kaum akzeptiert, rivalisieren verschiedene Teile dieses neuen Establishments untereinander. Dieser Kampf um Anerkennung wird durch unterschiedliches Konsumverhalten deutlich. Auf der einen Seite finden sich Lebenstile US-amerikanischer Prägung, auf der anderen Seite  „islamische“ Eliten, wo sich die Frauen zwar verschleiern, der Schleier allerdings aus wertvollstem Stoffe aus Dubai sein muss.  Diese Gruppierungen fechten einen „war of status competition” aus, „in which goods serve chiefly in status-marking and status-claiming capacities“[10].

Konsumverhalten kann also der Ausfechtung sozio-politischer Konflikte dienen. Die Darstellung des Konsumverhaltens als Ergebnis individueller, oft rein emotional geleiteter oder irrationaler Entscheidungen ohne strukturellen Hintergrund entpolitisiert den Konsum jedoch und verschleiert damit seine Funktion als sozialer Ordnungsmechanismus[11]. Wie Mary Douglas (1979) betont dient die Konstruktion von Konsum als einer Freizeitaktivität, die von der Sphäre der Produktion und des Politischen getrennt ist, der Aufrechterhaltung bestimmter Machtverhältnisse: „Irrational explanations of consumer behaviour get currency only because economists believe that they should have a theory that is morally neutral and empty of judgement, whereas no serious consumption theory can avoid the responsibility of social criticism. Ultimately, consumption is about power, but power is held and exercised in many different ways“[12].

Neben Mechanismen der sozialen Inklusion und Exklusion sieht Baudrillard (1998) durch die Wahlmöglichkeiten des Konsums jedoch auch emanzipatorisches Potential für das Subjekt. Die Konsumkultur geht mit der Entwicklung eines “wählenden Selbstes” einher[13], in der sich die von Geburt und sozialen Zuschreibungen festgelegte Identität zu einem reflexiven, offenen Projekt wandelt, das vom individuellen Auftreten bestimmt ist. Die Wurzeln dieser Entwicklung sehen Zukin und Maguire in Prozessen der Urbanisierung und Industrialisierung, die den Zugang zu einer Bandbreite neuer Waren und Erfahrung geöffnet haben, während dadurch gleichzeitig Familienstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse verändert wurden. „The individual is then free to choose his or her path toward self-realization, taking on an opportunity and obligation once reserved for the elite. This freedom, however, comes at the cost of security; without fixed rules, the individual is constantly at risk of getting it wrong“[14]. Diese Fragilität ist bezeichnend für den Iran, wo das teilweise gewaltsame Eindringen der Moderne zu verschiedenen Brüchen innerhalb der Gesellschaft geführt hat. Nichtsdestotrotz gehen Marketing-Manager in transnationalen Firmen davon aus, dass alle Konsumenten der Welt nach einem „amerikanischen“ Modell einer Konsumgesellschaft als Basis ihrer Bedürfnisse und Begehren streben[15]. Die Manager sehen in diesem Modell ein universelles Ziel von Modernisierung, Demokratie und Fortschritt, und ihre Marketingstrategien zielen darauf ab, nationale, kulturelle und ethnische Differenzen im Streben nach dieser universellen Konsumkultur zu eliminieren. Dadurch entstehen Widersprüchlichkeiten, in denen globale Einflüsse sowie partikular-lokale und die vom Regime vorgegebenen, vereinheitlichenden Praktiken nebeneinander existieren oder mit einander konkurrieren[16]. So haben sich in Teilen der Bevölkerung lokal spezifische Formen des Konsums herausgebildet, unabhängig von Religiösität, aber in irgendeiner Form auf die herrschende Meinung regieren.

Der vorliegende Text möchte daher der Frage nachgehen, wie gläubige Iraner und offizielle Repräsentanten des Islam das Verhältnis ihrer Religion zu modernen Formen der Massenkultur definieren und ob sie sich als Vertreter einer islamischen Lebensweise sehen, die gegen dieses Eindringen „von außen“ ankämpft, oder ob sie der Ansicht sind, so gut wie alle Gesellschaften müssten sich heute mit der Entwicklung des internationalen Konsummarktes auseinandersetzen.

Befreiung oder Disziplinierung?

In seiner Vorlesung über Governmentalität legt Foucault (1991) einschneidende Veränderungen in der Geschichte gesellschaftlicher Machtbeziehungen dar, aus denen die modernen Techniken des Regierens hervorgegangen sind. Nach Foucault ist die zunehmende Zentralität des politischen Apparates im Westen des beginnenden 18. Jahrhunderts nicht auf eine zentrale Macht zurück zu führen, die ihren Einfluss auf die Gesellschaft durch die Ausdehnung der Staatsmacht erweitert hat. Vielmehr haben Staaten es bewerkstelligt, „to connect themselves to a diversity of forces and groups that in different ways had long tried to shape and administer the lives of individuals in pursuit of various goals“[17]. Mit der Stärkung des Konzepts vom Individuum in der Gesellschaft werden diese Strategien der Disziplinierung mehr und mehr internalisiert und damit diffuser, wodurch die regulierende Macht subtiler wird. Foucault’s Schriften über Governmentalität zeigen auch, wie wichtig  der Prozess der Individualisierung für den Aufstieg des Konsumenten als frei wählendes Individuum war. Die Schaffung der Subjektivität war im Kapitalismus essentiell, weil er die Produktion von Subjekten benötigte, die sich selbst als autonome, selbstbestimmte und aktive Individuen wahrnahmen. Foucault greift damit auf Althussers Argument zurück, das besagt, der Schlüsselmechanismus der Ideologie sei, Individuen zu konstituieren, die sich als autonome Subjekte wahrnehmen und ihre Unterwerfung selbst ausüben, als wäre es ihr eigener freier Wille[18]. Diese Erkenntnis ist wichtig für eine Analyse der Konsumgesellschaft im Iran, weil sie die Gleichsetzung von Konsum und Freiheit hinterfragt, die sowohl im Blick von außen auf den Iran, als auch innerhalb des Irans selbst immer wieder zur Debatte steht. Massenkultur und Konsum haben, neben anderen Faktoren, zweifellos zu Prozessen der Demokratisierung, Rationalisierung und Individualisierung im Iran geführt[19]. Gleichzeitig findet jedoch auch eine Idealisierung und Privatisierung des Konsums statt, durch die Aspekte wie die Maximierung von Profit um jeden Preis oder die Verschärfung sozialen Ungleichgewichts verdeckt werden.

Es mag verlockend sein, die modebewussten, auffällig geschminkten jungen Frauen zu Kämpferinnen gegen das iranische Regime zu stilisieren. Viele Iraner wünschen sich durchaus eine Demokratie. Die Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft jedoch als ein monolithisches Verhältnis zwischen religiösen Unterdrückern und freiheitsliebenden Unterdrückten darzustellen, wird der Komplexität der Situation nicht gerecht. Das  Konzept einer zugrunde liegenden (religiösen) Logik, die überwunden werden muss, damit Strukturen sich verändern, entspricht nicht der Vielseitigkeit, über die sich die Ordnung in der Gesellschaft manifestiert. Einerseits herrscht nämlich innerhalb des Iran eine vielfältige Auseinandersetzung darüber, wie die iranische oder islamische Identität repräsentiert gehört. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass durch Massenkonsum und die globale Zirkulation von Waren religiöse Symbole und Praktiken immer mehr in die Alltagskultur eindringen[20]. Die spezifisch iranische Situation ist, dass hier bereits seit über hundert Jahren ein Kampf gegen Fremdeinfluss und Fremdherrschaft stattfindet, der die eigenen Herrscher mal Tür und Tor geöffnet haben, dann wieder bekämpft haben. Welche Aspekte der globalen Konsumkultur zu einer Demokratisierung der iranischen Gesellschaft geführt haben, und welche Konflikte dadurch entstanden, denen sich auch andere – westliche – Gesellschaften gegenüber sehen, gilt es zu untersuchen.

Literatur

  • Ervand Abrahamian (1982). Iran Between Two Revolutions. Princeton Studies on the Near East.
  • Ali M. Ansari (2000). Iran, Islam, and Democracy: the politics of managing change. London: Royal Institute of International Affairs, Middle East Programme.
  • Talal Asad (2003). Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity. Cultural memory in the present. Stanford: Stanford University Press.
  • Jean Baudrillard (1998). The Consumer Society: Myths and structures. London: Sage.
  • Graham Burchell, Colin Gordon, Peter Miller (Hg) (1991). The Foucault Effect: Studies in Gouvermentality. Chicago: Univ. of Chicago Press.
  • Ann Cvetkovich (1992). Mixed feelings: feminism, mass culture, and Victorian sensationalism. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press
  • Mary Douglas & Baron Isherwood (1979). The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption. London: Allen Lane.
  • Shmuel Eisenstadt (2006). Die großen Revolutionen und die Kulturen der Moderne. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Mike Featherstone (1991). Consumer Culture and Postmodernism. London: SAGE Publ.
  • Michel Foucault. Governmentality. In: Graham Burchell, Colin Gordon and Peter Miller (Hg) (1991). The Foucault Effect: Studies in Governmentality, S. 87–104. Chicago: University of Chicago Press.
  • Grant McCracken (1988). Culture and consumption: New approaches to the symbolic character of consumer goods and activities. Bloomington: Indiana University Press.

Artikel

  • Thaddeus Coreno, Fundamentalism as Class Culture. Sociology of Religion, vol. 63, nr.3, (Autumn 2002), S. 335-260.
  • Robert Hefner. Multiple Modernities: Christianity, Islam, and Hinduism in a Globalizing Age. Annual Review of Anthropology 27, 1998, S. 83-104.
  • Mansoor Moaddel, The Study of Islamic Culture and Politics: An Overview and Assessment. Annual Review of Sociology 2002, 28: S. 359-86.
  • Armando Salvatore, The Euro-Islamic Roots of Secularity: A Difficult Equation. Asian Journal of Social Science, Vol. 33, nr.3, 2005: S. 412-437 (26).
  • Nikolas Rose, Pat O’Malley, and Mariana Valverde, GOVERNMENTALITY. Annual Review Law Soc. Sci. 2006. 2: S. 83–104.
  • Sharon Zukin and Jennifer Smith Maguire, Consumers and Consumption. Annual Review of Sociology, 2004, 30: S. 173-197.

 

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. vgl. Ansari, 2000.
  2. Coreno, 2002.
  3. Hefner, S.38.
  4. Moaddel, S. 374.
  5. Eisenstadt, 2006.
  6. Ansari, 2000.
  7. Abrahmian, 1982.
  8. vgl. Masserat Amir Ebrahimi, Public Spaces in Enclosure: www.pagesmagazine.net/masserat.html (22.8.2009
  9. Ansari, 2000.
  10. McCracken 1988, S. 6.
  11. Cvetkovic, 1992.
  12. Douglas, S. 89.
  13. Zukin & Maguire 2004, S. 59.
  14. Zukin & Maguire, S. 64.
  15. Zukin & Maguire, S. 66.
  16. Featherstone, 1991.
  17. Rose, S. 87.
  18. Rose, S. 90.
  19. Adelkhah, 1992.
  20. Böhme 2006.

Studie zu Frauenrechten im Iran

Besprochen von Ariane Sadjed

  • OSANLOO, Arzoo: The Politics of Women’s Rights in Iran. Princeton University Press, Princeton, N.J. 2009. ISBN: 978-0691135472.

Nach mehrjähriger Feldforschung publiziert die amerikanische Anthropologin Arzoo Osanloo ihre Ergebnisse und argumentiert subtil aber beharrlich dafür, dass die Wahrnehmungen, die der Westen vom Iran hat, überdacht werden müssen. Dafür liefert sie sowohl theoretisches als auch konkretes ethnographisches Material.

Bevor Arzoo Osanloo ihre akademische Karriere begann, war sie als Anwältin tätig, spezialisiert auf Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund hat die Anthropologin an der University of Washington nun ein Buch über die Entwicklung des Rechtssystems im Iran seit der Gründung der islamischen Republik 1979 vorgelegt. Die Argumentation, auf der ihr Buch basiert, widerlegt die sowohl im Iran wie auch international verbreitete Ansicht, die islamische Republik sei eine Rückkehr zu ursprünglichen, vorzeitlichen Traditionen. Osanloo betont, dass der Iran nach der Revolution auf modernen Strukturen wie einer republikanischen Staatsform und einer Verfassung beruht, und zeigt, wie die Verbindung von republikanischer Politik und islamischen Prinzipien neue Räume und Diskurse eröffnet hat, innerhalb derer sich die Staatsbürger zunehmend als tätige Subjekte bewusst werden.

Überdies hat Osanloo ihre Analyse in Abgrenzung zu jenem Kulturrelativismus entwickelt, der behauptet, kulturübergreifende Vergleiche seien nicht möglich, da jede Kultur für sich selbst steht und die Praktiken im jeweiligen Kontext unangreifbar sind. Die Autorin arbeitet im Unterschied dazu durchaus mit der Methode des »Kontextualisierens«: Dies meint die Behandlung von »distant«, also uns fremden Praktiken, in Anbetracht ihrer Entstehungsgeschichte und ihres gesellschaftlichen Hintergrundes. Durch diese Art der analytischen Untersuchung sei eine unmittelbare Überprüfung und fundierte Kritik der jeweiligen Praktiken möglich. Im Fall des Rechtssystems im Iran wäre dies zum Beispiel die Umsetzung rechtlicher Vorgaben in der Praxis.

Das Buch beginnt mit der Feststellung, dass das Recht nicht neutral sei, sondern ein Produkt seiner Rahmenbedingungen. Die Entwicklung und Anwendung von Recht ist vielmehr ein lebendiges und sich ständig veränderndes Feld. Die Formulierung von Menschenrechten in einem ausschließlich säkularen Rahmen ist demnach ebenso kulturspezifisch und in der Geschichte Westeuropas verortet, wie Frauenrechte aus der Perspektive eines säkular-liberalen Feminismus zu denken sind. Eine strenge Unterscheidung zwischen einer unpolitischen Kultur und vermeintlich kulturneutralen – aus einer übergeordneten Rationalität heraus formulierten – Menschenrechten ist damit nicht haltbar. In Bezug auf Frauenrechte ist das gängige Konzept im Islam, dass die »Natur« von Männer und Frauen unterschiedlich ist. Dies wird deutlich, wenn Osanloo z.B. erklärt, dass die Regelung, dass eine Frau bei einem Todesfall in der Familie weniger erbt als ein Mann, so begründet ist, dass der „verbleibende“ Mann damit für die Familie sorgen muss, also für seine Mutter, Schwestern etc. finanziell die Verantwortung trägt. Aufgrund dessen ergeben sich unterschiedliche Rollen, Aufgaben und Rechte der Geschlechter. Männer und Frauen gleichen sich nicht, aber daraus wird noch keine gesellschaftliche Unter- oder Überlegenheit abgeleitet. In ihrer Unterschiedlichkeit sind beide Geschlechter gleichberechtigt, darauf basiert in großen Teilen auch das islamische Recht. Die Umsetzung dieses Prinzips hängt allerdings von den Interpretationen ab, die die jeweiligen Machthaber daraus ableiten. Die Autorin zeichnet anhand einer klaren und theoretisch fundierten Analyse, die auf mehrmonatigen Aufenthalten im Iran, Interviews und dem Verfolgen von Gerichtsverfahren beruht, die Veränderungen im Verhältnis zwischen Staat und seinen Subjekten nach und konzentriert sich dabei vor allem auf die Rolle von Frauen. Immer wieder wird deutlich, dass den Frauen das Wissen darüber, wie sie sich in der Gesellschaft mehr Rechte verschaffen können, weitgehend fehlt – Osanloo geht hier vor allem auf Scheidungsprozesse ein. Aber innerhalb der relativ jungen staatlichen Strukturen finden verschiedene Formen der Wissensweitergabe statt, in formellen Räumen durch Anwältinnen, oder informell in Koran-Lesekreisen für Frauen, den so genannten »Jalezeh«. Zu den letztgenannten Treffen werden oft Referentinnen eingeladen, die die Frauen über Themen informieren, über die sie mehr zu erfahren wünschen. So berichtet Osanloo von einem Treffen:

»Hajinouri, eine ehemalige Parlamentarierin, hatte kurz nach der Revolution eine bekannte, nicht-staatliche Organisation für Frauen und Familie gegründet. Sie war auch Co-Autorin mehrerer wichtiger Teile der Gesetzgebung in Bezug auf Frauenrechte. Durch die Bank waren die Frauen von Hajinouri und ihrem Vortrag gefesselt. Sie zeigte Wege auf, wie Frauen unter Berufung auf den Islam eine rechtliche Besserstellung einfordern können. Doch sie ging sogar noch weiter: Offenbar war es ihre Absicht, den Frauen zu sagen, dass sie mehr Verantwortung dafür übernehmen müssten, zu lernen, welche Wege es gäbe und wie man diese zugänglich machen könnte, um in Ehestreitigkeiten ihre Interessen zu wahren.«

Das Rechtssystem hält zwar verschiedene Möglichkeiten bereit, das heißt aber leider noch lange nicht, dass sie in der Praxis auch umgesetzt werden. Eine andere Anwältin für Frauenrechte, die Osanloo in ihrer Arbeit über mehrere Jahre begleitet hat, problematisiert die steigende Anzahl von Männern und Frauen, die in Scheidungsprozessen mittlerweile auf juristischem Weg Entschädigungen suchten:

»Sie wunderte sich über die damit einhergehende juristische Rationalisierung und Trennung zwischen dem Recht und den althergebrachten sozialen Prinzipien. Frauen wären jetzt nachlässig gegenüber der Tatsache, dass mit den positiven juristischen Rechten auch Verpflichtungen verbunden seien, die in der Scharia und dem Koran formuliert sind. Die Beharrlichkeit, mit der Frauen juristisch ihre Ansprüche einforderten, erzeugte sogar für diese Anwältin eine zu große Diskrepanz zu der Moral und ethischen Prinzipien der Gesellschaft.«

Es scheint also, dass der rationalistische Rechtsdiskurs die gemeinschaftliche Tradition des islamischen Rechtssystems immer mehr verdrängt. Dies ist angesichts der Tatsache, dass der iranische Staat alles für die Implementierung islamischer Werte einsetzt, verwunderlich.

Das reichhaltige ethnographische Material gibt die vielen unterschiedlichen Positionen wider, die im Iran in Bezug auf die richtige Definition von Recht existieren. In westlichen Medien beliebte Streitpunkte – wie das etwa Kopftuch – werden nicht eigens thematisiert, allenfalls in den Gesprächen erwähnt. Das macht die Darstellung authentisch und zeigt, welche Dinge im Alltagsleben der Frauen eine Rolle spielen. Die Autorin nimmt auch davon Abstand, das Geschehen, das sie untersucht, moralisch zu bewerten oder Empfehlungen abzugeben. Sie zeichnet sorgfältig und exakt nach, wie ein bestimmter Mechanismus in der Gesellschaft funktioniert und beschreibt damit letztlich einen dynamischen und dialogischen Prozess, den sie in Hinblick auf internationale Diskurse und Politiken so charakterisiert: Bei allem stetigen Bemühen, sich vom Westen abzugrenzen, werden im Iran dennoch einige von der westlichen Ideengeschichte geprägte Elemente und Begrifflichkeiten in die Staatsform, das Rechtssystem und damit die soziale Struktur eingebracht. Diese in Einklang mit islamischen Prinzipien zu bringen ist ein Ziel, das durch verschiedene Interessengruppen auf unterschiedliche Art und Weise vorangetrieben wird. „Islamische“ Prinzipien können für Rechtsexperten etwas anderes bedeuten als für politische Autoritäten. Was letztere als „islamisch“ propagieren, unterscheidet sich von jenem Islam, den Aktivistinnen wie Hajinouri sich als einen Weg vorstellen, um der Gesellschaft eine ethische Grundlage zu bieten. Es gibt im Iran also auch innerhalb des religiösen Lagers unterschiedliche Auffassungen über die Verbindung von Islam und Politik.

Eine Übersetzung des Buches ins Deutsche ist leider nicht geplant – was bedauerlich ist. Schließlich behandelt die Autorin das Thema Frauenrechte weder vom Standpunkt aus, dass Frauen im Iran pauschal unterdrückt werden, noch glorifiziert sie die »neue islamische Frau«. Es ist ein gelungener Versuch, die Rolle des Staates im Iran zu analysieren und das Land damit ein Stück weit zu entmystifizieren. Die Islamische Republik hat ein ganz eigenes Rechtssystem und die Scharia ist nicht (nur) ein irrationales »Schreckens-System«, wie es oft dargestellt wird. Auch sie entspringt und korrespondiert mit einem sozialen Kontext.

Erstmals erschienen in Das Argument