Über „Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven“ von Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hg.)

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • NÜNNING, Ansgar/ NÜNNING, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. J. B. Metzler, Stuttgart u. Weimar 2008. ISBN 978-3-476-02237-0.

Wer diese Einführung liest riskiert, endgültig seinen Verstand zu verlieren. Das klingt hart, begründet sich aber wie folgt. Zum einen werden hier lediglich noch dazu „multiperspektivische Interpretationsmodelle“ mit unglaublich viel Terminologie und Neologismen angeboten. Warum? Weil, zum wievielten Male eigentlich?, die Geisteswissenschaften in eine Krise geraten sind oder sein sollen. Langsam möchte man vorschlagen: Wenn das ganze Unternehmen so krisenanfällig ist, warum in Gottes Namen legt man den ganzen Krempel nicht endlich zu den Akten? Weil man dazu entschlossen ist, mehr oder weniger wie gehabt weiter zu machen. Darum! Dies zumal dann, wenn man des weiteren erfährt, daß keiner so genau weiß, was die Kulturwissenschaft eigentlich genau ist. Also bastelt man weiter an seinem Selbstverständnis, wenn auf annähernd 400 Seiten über etwas verhandelt wird, von dem die mit ihm Beschäftigten nicht zu sagen wissen, was es ist. Soviel nur soll sicher und über jeden Zweifel erhaben sein: Die Kulturwissenschaftler gibt es, sie treiben etwas, aber die „Konturen“ und das „Profil“ ihres Treibens sind „trotz (oder wegen?) der Fülle von Publikationen noch recht unscharf“. Man möchte den in dieses heillose Tun Involvierten zurufen: Setzt euch hin, denkt nach, und wenn ihr dann etwas Gescheites herausgefunden habt, bringt es zu Papier und veröffentlicht es, wenn ihr dafür einen Verlag findet! Daß sie allerdings nie etwas Gescheites herausfinden werden hat mit ihrem Verständnis von Wissenschaft zu tun. Man erfährt, daß Wissenschaft ausnahmslos „selbstreferentiell“ ist. Sie ist, im Verständnis der Beiträger dieses Bandes, ein „diskursives Konstrukt“, „das auf unterschiedlichste Weise problematisiert, erforscht und beschrieben“ werden kann. Ist das nun die oben beschworene Krise? Oder ein Mittel dagegen? Oder beides? Egal und wie auch immer, viel wichtiger ist: Der wissenschaftlichen Befassung würdige Gegenstände existieren nicht etwa, sondern sie werden „nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, theoretischer Vorannahmen und Modelle durch konzeptuelle und terminologische Differenzierungen konstruiert bzw. ‚erfunden‘.“ Diesen Satz muß man sich ganz einfach auf der Zunge zergehen lassen. Denn was steht geschrieben? Kurz und bündig: Wissenschaft ist eine Ansammlung von Vorurteilen, mittels derer man herausfindet, was man herausfinden will, bzw. sich seinen Gegenstand willkürlich konstruiert oder auch ganz einfach erfindet. Wenn das stimmt, bleibt allerdings zu fragen, warum immerzu von diesen Konstruktionsbeflissenen über die Unbestimmtheit und Krisenanfälligkeit dieser Nicht-Disziplin gejammert wird, wo sie doch, ihrer wissenschaftstheoretischen Prämisse gemäß, von ihnen erfindungsreich und selbstreferentiell, tagaus, tagein ins Werk gesetzt wird. Denn: „Eine Wissenschaft spricht nicht über Gegenstände, sondern über Phänomene und Probleme. Und diese gibt es nicht ‚an sich‘, sondern nur für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.“ Stimmt! Also kein Lamento über Krisen, Unbestimmtheit des Gegenstandes, den ihr euch doch, so euer eigenes Selbstverständnis, nur zu geben braucht, um ihn, in welcher Gestalt auch immer, für den jeweiligen Eigenbedarf zu haben. Im Vergleich zu diesem wüsten Treiben sind Spiele von einer geradezu unglaublichen Exaktheit, weil man sich für gewöhnlich beim Spielen an das vorgeschriebene Regelwerk hält. Also noch einmal: Diesem „Begriffsbeben, das die Wissenschaft erregt“ – steht genauso geschrieben, und zwar ohne jede Selbstironie – sollte man sich nicht freiwillig überlassen. Es sei denn, man will seinen Verstand verlieren und/oder in diesen (Nicht-) Disziplinen, warum auch immer, seinen Abschluß machen. Aber das hatten wir bereits.

 

Digitalisiertes Sexwissen

Besprochen von Simon Pühler

  • PFITZENMAIER, Pascal/ HILLE, Gunter, REUTERS, Hella (Hg.): Bibliothek der Sexualwissenschaft: 36 Klassiker der Sexualwissenschaft als Faksimile auf DVD. Hille, Hamburg 2008. ISBN 978-3-86511-524-9.

Der Kulturwissenschaftler Pascal Pfitzenmaier hat zusammen mit Gunter Hille und Hella Reuters Klassiker der Sexualwissenschaft auf einer DVD herausgegeben. 36 teils vergriffene Werke sind nun im Projekt Gutenberg-DE in digitaler Neuauflage als faksimilierter e-Reprint erschienen. Dass hier tatsächlich gleich eine ganze „Bibliothek“ vorliegt, zeigt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dieses ersten Teils der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“: Über 14.000 gescannte Buchseiten – darunter zahlreiche Illustrationen, Schwarz-Weiß-Fotografien und farbige Tafelanhänge – verbergen sich hinter den hier versammelten Titeln, die vor allem die Anfänge der Sexualwissenschaft im späten 19. Jahrhundert bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Bestseller wie Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886, hier in der Ausgabe von 1912) oder Schlüsselwerke der Berliner Sexpioniere Iwan Bloch, Albert Eulenburg und Magnus Hirschfeld können nun – dank einfacher Handhabung und Navigation – am Computer wiederentdeckt werden.

Es ist spannend zu beobachten, wie in den Werken Krafft-Ebings, Blochs, Eulenburgs und Hirschfelds einerseits Aufklärungs- bzw. Emanzipationsstrategien verfolgt werden, die einen wesentlichen Grund für die Entstehung und Entwicklung der Sexualwissenschaft darstellten, und andererseits, wie die Mediziner – oder besser gesagt Medizin-Schriftsteller – jenes noch weitgehend unbekannte Feld des modernen Eros erkundeten und einer breiten Öffentlichkeit vorstellten. Dass die wissenschaftliche Betrachtung des Sexes von Anfang an auf ein klar umrissenes Objekt verzichten musste, macht den ungeheuren Reiz, aber auch das unlösbar Problematische dieser Disziplin aus.

Neben der Sexualmedizin kommen hier jene Fächer zur Geltung, die heute dem Kanon der Kulturwissenschaften zugeschlagen werden (Ethnologie, Religions- und Literaturwissenschaften etc.). In ihrer verblüffenden wie auch schillernden Mixtur formatieren bzw. antizipieren sie bereits die (post-)moderne Generforschung. In Das Sexualleben unserer Zeit (1906) fordert Iwan Bloch, dass die Sexualforschung interdisziplinär arbeiten solle, „nicht bloß vom Standpunkte des Arztes, sondern auch von dem des Kulturhistorikers“ aus, um dem Einfluss der Sexualität auf alle Lebensbereiche gerecht zu werden.

Trotz derartiger Weitsicht empfiehlt sich generell eine kritische Lektüre der Abhandlungen, welche die Rollenbilder und die Geistesströmungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg miteinbeziehen. Einige Texte oder Textpassagen sind nur mit Vorsicht zu genießen. So verwechseln die Autoren – bis auf eine Ausnahme (Ellen Key) sind alle männlich – gerne Natur mit Kultur: beispielsweise Richard von Krafft-Ebing in der Psychopathia sexualis (1886/1912). Oder sie erklären persönliche, mitunter antisemitische oder misogyne Standpunkte zu unumstößlichen Sex-Wahrheiten: zum Beispiel Otto Weininger in Geschlecht und Charakter (1903), Paul Julius Möbius in Der physiologische Schwachsinn des Weibes (1906) und Ferdinand Freiherr von Reitzenstein in Das Weib bei den Naturvölkern (1923/1931)). Oder aber sie entwerfen im günstigsten Falle einfach ein alternatives Geschlecht, das anders wahrnimmt und begehrt, so Magnus Hirschfeld im zweiten Band der Sexualpathologie, Sexuelle Zwischenstufen: Das männliche Weib und der weibliche Mann (1918).

Obwohl die Autoren jene Zwischentöne und Unschärferelationen, in denen sich Sex stets unbewusst artikuliert, zwar schon hinreichend erkannten (darin begründet sich ihre interdisziplinäre Arbeitsweise), gingen sie in ihren Schlussfolgerungen nicht selten biologistischen oder moralischen Vorstellungen auf den Leim. Selbst der „Einstein des Sexes“, Magnus Hirschfeld, der mit seinem Postulat der sexuellen Zwischenstufen den Grundstein für die aktuelle „Queer-Theory“ legte und sich zudem für die Rechte von Homosexuellen stark machte, betrachtete das Schwulsein letztendlich als Degeneration mit Krankheitswert. Auch wenn die Forschung in den letzten Jahrzehnten viele Irrtümer, Halbwahrheiten und Lügen aus dem Weg räumen konnte, bleibt die Wissenschaft vom Sex ein schwammiges und äußerst streitbares Feld. Daher kein Wunder, wenn auf drängende Fragen zum Thema, wie sie sich zuletzt in den Debatten um das Inzestverbot oder um den Sex unter Minderjährigen stellten, keine einfachen oder zufriedenstellenden Antworten gefunden werden können und Politik und Rechtsprechung meistens ziemlich ratlos dastehen.

Umso mehr lohnt es, den Blick auf das historische Material zu werfen. Auch hier zeichnet sich der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Norm oder Gesetz (Tugend, Moral, Sitte, Tabus, Verbote) und den abseitigen Begierden des Einzelnen oder bestimmter Gruppen deutlich ab. Krafft-Ebings Psychopathologie ist dafür vielleicht das prominenteste Beispiel. Denn jene sexuellen Handlungen, die nicht der Fortpflanzung dienen, klassifizierte der Neurologe als pervers und nahm damit – ohne es zu bemerken – die Heterosexualität in ihrer bürgerlichen Ausprägung als absolutes Maß. Gerade deswegen war ja jede Abweichung – sei es nun die Homosexualität, die Onanie oder die sadomasochistische Lust – für den Autor und seine Leserschaft so ungemein interessant. Darin lag der große internationale Erfolg dieser Publikation, eine wissenschaftlich fundierte Freakshow, die perfekt an die Schaulust und Sensationsgier im 19. Jahrhundert angepasst war. Trotzdem hatte sie ihren Vorteil: Viele sogenannte „Perverse“ waren froh zu erfahren, dass sie mit ihren Leidenschaften nicht allein waren. Erste Netzwerke, in denen spezielle sexuelle Vorlieben ausgelebt werden konnten, bildeten sich heraus.

Drei weitere Werke der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ widmen sich dem Sadomasochismus beziehungsweise der historischen Person des Marquis de Sade. Dieser berüchtigte Adlige hatte im Frankreich des 18. Jahrhunderts quasi eine Psychopathologie avant la lettre erfunden, in der er alle Perversionen seiner Zeit vollständig, das heißt mit enzyklopädischen Anspruch, aufgestellt hatte. Mit dem bedeutsamen Unterschied jedoch, dass seine Wissenschaft keinem übergeordneten, gesellschaftlichen Auftrag folgte, sondern nur dem eigenen Lustgewinn. Sades Erkenntnisse offenbaren sich in den untrüglichen Zeichen von Lust und Schmerz, die immer nur experimentell – das heißt im sexuellen Akt selbst – erfahrbar werden. Dabei geht es um das Augenblickliche und Zufällige des Sexes, aber auch um dessen Gewalt und Monstrosität. Vor diesem Hintergrund fiel es Albert Eulenburg leicht, den Schwindel der Psychopathia sexualis aufzudecken. Zu Recht kritisiert er, dass sich Krafft-Ebings Sadomasochismus-Definition an einem „normalen“ heterosexuellen Geschlechterverhältnis orientiere, um überhaupt von krankhaften Abweichungen reden zu können. Auch Iwan Bloch, der sein umfangreiches Wissen über Sade in zwei Büchern unter dem Pseudonym Dr. Eugen Dühren publizierte (und dabei schon eine bemerkenswerte Diskursanalyse betrieb), bricht mit vielen Klischeevorstellungen seiner und unserer Zeit. Dass Frauen – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Moderne fast immer von gesellschaftlicher Macht und Politik ausgeschlossen seien und nur als Anhängsel oder Symptom des Mannes figurieren, wird hier in einem aufschlussreichen Kapitel über „Die Frau im 18. Jahrhundert“ widerlegt.

Ein anderer Schwerpunkt der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ liegt auf dem Themenfeld „Sexualität und Fremde“. Die hier gelisteten Werke nähern sich der Sexualität weniger über die individuelle Abweichung als über den ethnografischen Blick auf andere Kulturen an. So beleuchtet Iwan Blochs sechsbändige Sexualpsychologische Bibliothek (1910) das Liebesleben in Frankreich, Japan und Spanien; etwa zeitgleich erschienen die Ausführungen des Sexualethnologen Ferdinand Freiherr von Reitzenstein zu Liebe und Ehe im alten Orient oder im europäischen Altertum. Obwohl dieser mit seinen Lieblingsthemen „Liebe und Ehe“ den Blick über den Tellerrand wagte und sich in andere Zeiten und Räume begab, blieben seine Erkenntnisse doch eher begrenzt. Denn anstatt das Fremde tatsächlich in seiner Andersheit zu erkunden, diente es ihm vielmehr dazu, die eigenen sexistischen Vorurteile zu bestätigen. Reitzensteins Werke sind „kulturgeschichtliche Dokumente der Neugierde an der Sexualität, zugleich aber auch der Versuch einer Aneignung oder Unterwerfung des Fremden in der Gestalt der Frau“, schreiben die HerausgeberInnen in ihrer Einleitung.

Überhaupt scheint „die“ Frau und das Eheleben in der frühen Sexualwissenschaft eine wichtige Rolle gespielt zu haben, wie es auch in der Ratgeberliteratur eines Paolo Mantegazza oder Theodoor Hendrik van de Velde deutlich wird, die mit jeweils drei Werken auf der DVD vertreten sind. Beim Stöbern bzw. Mausklicken in diesen Werken beschleicht einen der Verdacht, dass es gerade die Institution der bürgerlichen Ehe selbst sei, die unter den versammelten Ethno-Objekten die meiste Fremdheit und Exotik besitzt. Auf jeden Fall stellt sie einen historischen Ausnahme- und Sonderfall dar. Mit ihr wurde eine mächtige Norm gesetzt, die in ihren sozialen Forderungen und Konsequenzen fragwürdig und unbefriedigend bleibt – besonders für Frauen, aber auch für Männer.

Insgesamt ist der vorliegende erste Teil der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ im Projekt Gutenberg-DE ein Glücksfall für die Forschung und interessierte Leserschaft. Dies liegt nicht nur daran, dass der mühsame Gang in die herkömmliche Bibliothek entfällt, sondern vielmehr daran, dass ein äußerst komplexes Wissensgebiet übersichtlich dargestellt und leicht zugänglich gemacht wurde. Im Wust der Sexual-, Gender- und Queer-Literatur – siehe zuletzt: Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, Campus 2008 oder Nina Degele, Gender QueerStudies: Eine Einführung, UTB 2008 – wird es immer wichtiger, den Blick auf die Ursprünge und die Originalquellen nicht zu verlieren, das heißt, im Zweifelsfall schnell nachschlagen und vergleichen zu können. Zwar hätte die eine oder andere Textzusammenfassung noch ein bisschen länger und differenzierter ausfallen können – gerade bei den besonders problematischen Texten wäre eine genauere historische Einordnung bzw. ein Kommentar sehr hilfreich. Schade ist auch, dass eine Text-Suchfunktion nicht vorhanden ist. Doch bei der Menge des Materials (und auch bei dem wirklich sehr günstigen Preis) sind diese kleineren Mängel verzeihlich. Wir dürfen auf die Fortsetzung gespannt sein.

 

Helmut Pulte, Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur Mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • PULTE, Helmut: Axiomatik und Empirie : eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005. Edition Universität. ISBN 3-534-15894-6.

Man muß kein Prophet sein, um zu prognostizieren, daß sich dieses Buch, das man immer wieder lesen und/oder als Nachschlagewerk zu Rate ziehen kann, als Standardwerk etablieren wird oder bereits etabliert hat. Es bietet eine Analyse der Newtonschen Mechanik in ihrer mehr als 200jährigen, speziell – „bedingt durch die Konzeption reiner Mathematik“ (358) – deutschsprachigen Entwicklung. Im Zentrum steht die Frage nach ihrer Modernisierung vor dem Hintergrund der Frage nach dem Wandel im Verhältnis zwischen Axiomatik und Empirie. Sein wichtigstes Ziel sieht Pulte darin, „die Auflösung des axiomatischen Denkens der KMN (Klassische Mathematische Naturphilosophie, F.-P.H.) im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu analysieren“ (76). Der Übergang „von einem ‚axiomatisch-deduktiven‘ zu einem ‚hypothetisch-deduktiven‘ Theorieverständnis“ (81) soll nachvollzogen werden. Behandelt werden, um nur die wichtigsten Theoretiker zu nennen, I. Newton, L. Euler, J. Lagrange, I. Kant, J. Fries, C. G. J. Jacobi, B. Riemann und C. Neumann. Für an Fragen der reinen und angewandten Mathematik, der Physik und Wissenschaftstheorie (-geschichte) Interessierte ist diese Arbeit gleichermaßen lesenswert.

Für Newton, den Begründer des Mechanischen Euklidianismus, sind, so erfährt man, Axiome „die weitestgehenden Verallgemeinerungen von Erfahrung, die über die Bewegung materieller Körper gewonnen werden können“ (98). Das bedeutet, umgekehrt, daß es in Newtons mathematischer Theorie der Bewegung „eben nicht um die Bereitstellung einer formalen Struktur“ geht, „der nachträglich (durch Korrespondenzregeln) empirische Bedeutung verliehen wird. Vielmehr ist nach seinem Verständnis die Mathematik selber empirisch bedeutungsvoll …“ (111).

Ein anderes, hiermit in direktem Zusammenhang stehendes Beispiel: Der Mathematiker Leonhard Euler ist der Vertreter einer sensualistischen Ideenlehre. Alle Gedanken, inklusive der mathematischen Allgemeinbegriffe gehen auf die sinnliche Wahrnehmung zurück. Der Verstand macht, per Abstraktion, aus den aufs Einzelne bezogenen Vorstellungen der Wahrnehmung allgemeine Begriffe. Da also alle Allgemeinbegriffe, unter die auch die mathematischen der Zahl und der Ausdehnung fallen, auf Sinneswahrnehmung beruhen, entfällt für Euler, wie übrigens auch für D‘Alembert (vgl. 139 f.), die Schwierigkeit jeglichen Apriorismus‘: Aus dem Formalen etwas empirisch Reales zu machen. Weil die wie auch immer bestimmten Formen aus dem in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Einzelnen abgeleitet sind, ist die Beziehung eine per se lückenlose. „Euler wendet sich daher (…) emphatisch dagegen, abstraktiv gewonnene mathematische Allgemeinbegriffe und physische Einzeldinge nach dem Schema ‚Idealität-Realität‘ zu unterscheiden. Die Eigenschaften der Allgemeinbegriffe der Mathematik müssen sich immer in den spezielleren, mit physikalischen Einzeldingen korrespondierenden Ideen wiederfinden, so daß auch für Euler (…) ein ‚Anwendungsproblem‘ im modernen Sinne nicht existiert: „Alles, was einem allgemeinen Begriff zukömmt, kömmt auch den untergeordneten zu, und alle die Eigenschaften, die mit ihm verbunden sind, sind auch nothwendig mit den unter ihm begriffenen Individuis verbunden“. ‚Mathematische‘ Ausdehnung etwa ist kein idealer, für die Physik unbrauchbarer Begriff, sondern ist real in dem Sinne, daß die Eigenschaften, die die Mathematik von ihr aussagt, auch von (notwendig ausgedehnten) physischen Körpern ausgesagt werden können. Eulers bevorzugtes (weil auf Leibniz‘ Monadenlehre abzielendes) Beispiel hierfür ist die unendliche Teilbarkeit der Ausdehnung: Sie ist mathematisch möglich und also auch physisch. Wären solche Schlüsse nicht erlaubt, würde die Geometrie eine „ganz unnütze und vergebliche Spekulation“ sein; diejenigen, die „zwischen den abstrakten und wirklichen Gegenständen“ unterscheiden, „erwägen nicht, daß keine einzige Folgerung, kein einziger Schluß mehr gelten würde, wenn es nicht erlaubt wäre, von jenen auf diese zu schließen; denn was thun wir in allen unsern Schlüssen anders, als daß wir die besondern Begriffe für die allgemeinen setzen““ (181). Zusammengefaßt: Mechanische Axiome sind für Euler „auch als mathematische Sätze nicht a priori gültig, denn die Mathematik insgesamt ist keine Wissenschaft a priori in dem Sinne, daß ihre Axiome und (qua Übertragung Eulerscher ‚logischer Wahrheit‘) Theoreme unabhängig von jeder Erfahrung gelten würden“ (ebd.).

Aufschlußreich auch Lagranges, „vom modernen Standpunkt“, wie es heißt, „durchaus befremdliche Vorstellung“ – man ahnt den konventionalistischen Generalvorbehalt –, daß die „intrinsische mathematische Struktur der Natur (…) gleichsam abgebildet (wird, F.-P.H.) auf den mathematischen Kalkül, der seinerseits diese Struktur offenlegt. (…) Lagrange unternimmt hier den Versuch, die Symbole der abstrakten Algebra an konkrete, erfahrungsmäßig gegebene Bewegungen anzubinden und so als realitätsvermittelnd auszuweisen – ein Versuch, der vergleichbar ist mit Newtons genetischer Anbindung seiner Fluxionsrechnung an die mechanische Bewegung“ (208; vgl. ebenso 281).

Der Name des Mathematikers Carl. G. J. Jacobi steht für den Bruch mit dem axiomatischen Denken der Klassischen Mathematischen Naturphilosophie. Ihr „Certismus und ‚Evidentialismus‘ wird letztlich durch eine Auffassung reiner Mathematik („im Sinne bloßer symbolischer Konstruktion nach Gesetzen des Denkens“ (379), F.-P.H.) zu Fall gebracht, die ihre Grenzen genau zu bestimmen sucht, um innerhalb dieser Grenzen strengere Kriterien mathematischer Gewißheit und Evidenz zur Geltung zu bringen. Zugleich eröffnet diese Mathematikauffassung die Möglichkeit alternativer Prinzipienformulierungen (beispielsweise in Gestalt Riemannscher nichteuklidischer, und später auch n-dimensionaler Geometrien, F.-P.H.) – und stellt damit die Forderung der KMN nach Einzigartigkeit bzw. Eindeutigkeit der Systembildung zur Disposition – die in nichts anderem als der Kreativität der Mathematiker und der Autonomie der Mathematik selber angelegt ist: Die Möglichkeiten reiner Mathematik werden durch die Erfahrung nicht hinreichend restringiert, um das System der Mechanik eindeutig zu bestimmen. Aus diesen Gründen spreche ich hier von einer ‚rein mathematischen‘ Auflösung der KMN“ (330).

Riemanns auch wissenschaftstheoretisch moderner Standpunkt gewinnt Kontur, wenn man ihm den Standpunkt Newtons kontrastiert: „Für Newton konnte das Trägheitsprinzip zugleich ein empirisch verifiziertes Naturgesetz und ein mathematisches Axiom sein, weil für ihn die Euklidische Geometrie (und damit Euklidische Geradlinigkeit) die evidente und eindeutige Struktur des Raumes abgab. Riemann löst diesen einförmigen Zusammenhang gleichsam ‚von beiden Enden‘ her auf: Er hypothesiert das Trägheitsprinzip von der empirischen Seite her, und zugleich eröffnet er von mathematischer Seite andere Optionen, d.h. er problematisiert die für Newton selbstverständliche Eindeutigkeit. Diese zweite Seite stelle ich in die Tradition der (in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts Platz greifenden, F.-P.H.) reinen Mathematik, und sie findet in Riemanns ‚allgemeinem Begriff der mehrfach ausgedehnten Grösse‘ ihren deutlichsten Ausdruck“ (368 f.).

Für den Mathematiker Carl Neumann schließlich sind „mathematische und logische Sätze und Theorien (…) zwar inhaltsleer, aber sicher und wahr; die mathematische Physik jedoch partizipiert hieran nurmehr qua ‚Ableitungssicherheit‘ und nicht mehr auf der Ebene der Prinzipien selber, wie es in der KMN der Fall ist. Ein Certismus bezüglich Mathematik und Logik und ein Prinzipienfallibilismus bezüglich der mathematischen Physik (und empirischen Theorien im allgemeinen) kennzeichnen Neumanns Wissenschaftstheorie in den Principien der Galilei-Newton‘schen Theorie (1869, F.-P.H.)“ (414).

Das Fazit lautet: „Die Mathematik führt nicht nur keine materiale Wahrheit ‚von oben‘ in das wissenschaftliche System ein, wie es die ältere KMN wollte, sie eröffnet zudem ganz verschiedene Möglichkeiten, deduktive wissenschaftliche Systeme über den gleichen Erfahrungsbereich zu errichten. Die Mathematik selber zeigt nach Neumann auf, „wie ausserordentlich gross der Spielraum ist für die willkührlich zu wählenden Principien“; es zeigt sich, „dass das Gebiet abstracter Untersuchungen, welches sich hier dem Mathematiker bietet, ein unendliches ist“. Neumanns Principien der Galilei-Newton‘schen Theorie artikulieren deutlicher als jede andere Quelle der zweiten Jahrhunderthälfte die Auflösung der KMN ‚von oben‘, um die es in dieser Untersuchung geht, und sie liefern zugleich einen wichtigen Beleg für den bisher ‚verborgenen‘ Einfluß Jacobis. Die Mathematik, in der KMN der eigentliche Garant wissenschaftlicher Objektivität, ist zu reich an Möglichkeiten und zu unabhängig von Erfahrung, um nur einen ‚Spiegel‘ der physikalischen Realität abzugeben“ (417 f.).

Wenn allerdings laut Neumann mathematisch-physikalische Theorien bloß den Stellenwert subjektiver Gestaltungen haben, „welche (von willkührlich zu wählenden Principien aus, in streng mathematischer Weise entwickelt) ein möglich treues Bild der Erscheinungen zu liefern bestimmt sind“ (418), dann stellt sich zunächst die wissenschaftstheoretisch harmlose Frage: Wie, wenn nicht in theoretischer Be- und Verarbeitung bieten sich die Erscheinungen dar? Anders, in polemischer, weil der Position Neumanns angemessener Absicht formuliert: Eine Theorie, die sich, ihres Formalismus‘ und ihrer ausdrücklichen Willkür halber von so ziemlich allem, nur nicht ihrem abstrakt-autarken Regelwerk absolviert, kann nicht mehr ernsthaft nach der Adäquatheit ihrer Konstruktionen fragen. Sie ist ja, die gemachten Voraussetzungen stehen dafür, per se und a priori gegeben. Anders denn als logisch-mathematisch zugerichtete vermag eine derartige Theorienschwemme ihre Erscheinungen zugegebenermaßen überhaupt nicht mehr zu denken.

Dennoch, und dem gleich anschließend mitgeteilten zweiten Einwand zum trotz: Pultes wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung ist ungemein fundiert, genau und umfassend recherchiert und sprachlich exakt, klar, ich möchte sagen, souverän formuliert.

Schwer, bei dem Inhaltsreichtum dieser Arbeit eine halbwegs zufriedenstellende und repräsentative Auswahl zu treffen. Was ist der Erwähnung wert, auf welche Zusammenhänge ist unbedingt hinzuweisen und auf welche kann notfalls verzichtet werden? In der durch den Umfang einer Rezension ohnehin gebotenen Beschränkung zeigt sich der Meister.

Noch, en passant, eine unerhebliche Korrektur: Köhnkes Vorname ist nicht Karl, sondern Klaus, genauer, Klaus Christian.

Aber: In dieser Publikation wird das moderne, empirisch und/oder formal verfahrende, auf Erkenntnisgewißheit Verzicht leistende probabilistische und prinzipienfallibilistische Wissenschaftsverständnis lediglich referiert und beispielsweise dem induktiv abgesicherten „Prinzipiencertismus“ eines Newton – „there is no other way of doing any thing with certainty than by drawing conclusions from experiments & phaenomena untill you come at general Principles & then from those Principles giving an account (Erklärung, F.-P.H.) of Nature“ (134) – als eine ernst zu nehmende Alternative kontrastiert (vgl. 66 f., 72, 74 f., 111, 132 u. passim). Über den Sinn oder Unsinn dieser für Bescheidenheit plädierenden Haltung moderner Wissenschaftstheoretiker wird man, was wohl auch nicht ihre Aufgabe ist, in dieser historisch angelegten Arbeit leider nicht aufgeklärt. Deshalb seien hier abschließend, unter Berücksichtigung eines klassischen Vertreters gegenwärtiger Wissenschaftsauffassung, auf den sich auch Pulte als einen Gewährsmann regelmäßig und am Ende seiner Untersuchung gehäuft (414 ff., 419, 429 ff.) beruft, über diese Theorie, die eben keine Theorie der Wissenschaft, sondern ein einziger in polemischer Absicht vorgetragener Etikettenschwindel ist, ein paar sachdienliche Überlegungen nachgereicht.

Wissenschaftliche Exaktheit wird in Karl Poppers Erkenntnistheorie lediglich von logischen Sätzen erreicht, die, ihrer identitätslogisch untermauerten Abstraktheit wegen, nichts über die Wirklichkeit aussagen. Sie sind folglich zusammengefaßt in Theorien, die, weil sie von jeglichem Bezug auf einen Gegenstand losgesprochen sind, explizit den Stellenwert von „Erfindungen“ und „kühnen Vermutungen“ oder auch, weniger wohlwollend, von „schlecht durchdachten Mutmaßungen“ haben. Ihnen kontrastieren die empirischen Wissenschaften, deren ausnahmslos eingeschränkt gültigen Aussagen über die Wirklichkeit prinzipiell die Frage aufwerfen, ob sie zutreffen. Wissen ist also laut Popper weder im Bereich formallogischer Axiomatik zu erreichen noch in demjenigen induktiv und folglich gedankenlos (s.u.) zu erschließender Empirie. Womit er zweifelsohne recht hat. Nur, was hat dieses doppelt basierte Wissenschaftskonzept eigentlich mit Wissenschaft zu tun?

Popper diskreditiert den Anspruch von Wissenschaft(en) auf die Objektivität ihrer Einsichten dadurch, daß er einen Pappkameraden kreiert, an dem sich genau dieser Anspruch blamieren soll. Dieser zu widerlegende Pappkamerad heißt „Induktionsschluß“, wobei es sich um einen Schluß handelt, den es gar nicht gibt, der aber, als widerlegter, dazu herhalten muß, die Unmöglichkeit gesicherter Erkenntnis zu beweisen. Wie also funktioniert er?

In ihm wird „von besonderen Sätzen, die z.B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien geschlossen“, was, wie bei Pulte nachgelesen werden kann, bereits das methodologische Vorgehen Newtons gewesen ist. Die Allgemeinheiten allerdings, auf die es Popper, anders als Newton, die bei ihm für in ihrer Gesetzmäßigkeit begriffene Abläufe der Natur standen, abgesehen hat, sind insofern verräterisch, als er in ihnen nichts anderes zu sehen vermag als die Häufigkeit eingetretener Fälle. Das Allgemeine wird wie selbstverständlich durch ein numerisches Alle ersetzt. Das aber ist alles andere als selbstverständlich, sondern der erkenntnisbekrittelnden Absicht geschuldet. „Nun ist es aber nichts weniger als selbstverständlich, daß wir logisch berechtigt sein sollen, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele (!, F.-P.H.), auf allgemeine Sätze zu schließen. Ein solcher Schluß kann sich ja immer als falsch erweisen: Bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, daß alle Schwäne weiß sind“ (Logik der Forschung, 2. Aufl., Tübingen 1966, S. 3).

Es stimmt, der allgemeine Satz Poppers ist keine gesicherte Erkenntnis. Zum einen, weil man in ihm nichts über die Eigenart eines jeweils besonderen Gegenstandes erfährt, da er, zum anderen, nichts weiter leisten soll, als ein stets vervielfältigbares, da quantitativ gestütztes und folglich problematisches Alle zu projektieren. Und drittens denkt die Biologie nicht über die Farbe des Federkleides von Wasservögeln nach. Warum nicht? Weil die Farbe nichts über gattungsspezifische Merkmale dieses Tieres aussagt.

Die Wissenschaft(en) gehen anders vor. Sie lösen eine Gattung aus gutem Grund nicht in die Allheit ihrer einzelnen Mitglieder auf, weil sie sich gerade für das Allgemeine interessieren, das diese Einzelnen zu Mitgliedern dieser Gattung macht. Um das Herausarbeiten der Bestimmungsstücke des solcherart verstandenen Allgemeinen bemühen sich die Wissenschaften. Um bei dieser Anstrengung erfolgreich zu sein, wird einerseits von den zufälligen Bestimmungen der in Frage stehenden Sache abstrahiert, und andererseits werden in den Prädikaten ihrer Urteile gattungsspezifische, für das Objekt wesentliche Bestimmungen ausgesagt, wozu die Farbe ganz sicher nicht gerechnet wird. Über sie mag der wissenschaftlich ungeschulte Verstand von Kindern ins Grübeln kommen, der sich gegebenenfalls darüber irritiert zeigt, daß Jungschwäne ein dunkelgraues Federkleid haben, und deswegen den Jungschwan nicht als zur Art dieser Wasservögel gehörig zu identifizieren in der Lage ist.

Kurz gesagt: Die Allgemeinheit des Urteilens, die Popper in der sozusagen kindlichen Manier eines sich begriffsstutzig anstellenden Erwachsenen anzweifeln möchte, kommt nicht durch das gedankenlose Aufhäufen von Beobachtungen zustande. Selbst Kinder im übrigen lernen, indem sie zu sprechen anfangen, den gesehenen Einzelfall zu verallgemeinern, worin ein begründeter Anlaß zur Freude besteht, der sich darin äußert, daß sie das Verstandene unablässig wiederholen. Darüber hinaus: Popper weiß, er mag sich so gezielt engstirnig anstellen wie er will, offensichtlich um die fragliche Identität der majestätischen Langhälse, wenn er sie an ihrem Federkleid blamieren will. Anders formuliert, der kritische Rationalist stellt sich hier womöglich vorsätzlich dumm, um nämlich seinen prinzipiellen Einwänden gegen gesicherte wissenschaftliche Einsichten und seinem Plädoyer für bescheidene Behutsamkeit beim bemühten Forschen einen Schein von Plausibilität zu geben.

 

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft 2

Über „Lexikon der antisemitischen Klischees“ von Peter Waldbauer

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • WALDBAUER, Peter: Lexikon der antisemitischen Klischees. Antijüdische Vorurteile und ihre historische Entstehung. Mankau, Murnau a. Staffelsee 2007. ISBN 978-3-938396-07-0 Pick It!.

Peter Waldbauer greift mit seinem Buch Lexikon der antisemitischen Klischees ein interessantes und überaus relevantes Thema auf. Leider wird Waldbauer dem Thema nicht gerecht, da er es keineswegs beherrscht. Dies zeigt sich schon in der Einleitung. Denn es mutet komisch an, einem Buch über antisemitische Klischees ein jüdischen Sprichwort – Man hasst die Juden nicht, weil sie es verdienen, sondern weil sie verdienen – voran zu stellen, da es ein Klischee darstellt.

Schon in seiner Gestaltung ist es fragwürdig, warum das Lexikon der antisemitischen Klischees überhaupt ein Lexikon darstellen soll. Die einzelnen – so genannten – Klischees lassen sich nicht lexikalisch nachschlagen, vielmehr sind sie wie in einem Buch nach Themen gegliedert. Darüber hinaus wäre eine alphabetische Sortierung unnütz, da nicht das Klischee benannt, sondern es in eine Frageform eingebettet wird. Die meisten der Klischees beginnen also mit einem W – was, wer, wann. So drängt sich die Vermutung auf, dass es sich aus zwei Gründen um ein Lexikon handelt: Zum einen, weil Lexika eine objektivierende Kraft inne wohnt, die simple Behauptungen zu objektiven Sachverhalten nobilitiert. Zum zweiten können dieselben Argumente in vielen kurzen Lexikonartikeln wiederholt werden, während ein Buch in der Regel nach einem roten Faden verlangt, der sich nicht wiederholt, sondern weiter spinnt.

Inhaltlich ergibt sich die Argumentation, dass Juden gehasst werden, weil sie ihren Mitmenschen in vielen Dingen überlegen sind. Durch die ständige Auslegung von Tora und Talmud ist der Intellekt gestärkt (Seite 51) und durch jahrhundertelange Gefahr und Verfolgung waren die Juden stets gezwungen flexibel zu bleiben (Seite 50). Durch den hinkenden Vergleich zwischen dem ‚plumpen, sesshaft in der Mehrheit lebenden Bauern‘ und dem ‚flexiblen, mit hoher geistiger Mobilität ausgestatteten Judentum‘ kreiert Waldbauer ein Klischee des Juden, das wie eine positive Form von Rassismus anmutet. Dabei darf es natürlich nicht Ziel sein, negative durch positive Klischees zu ersetzen. Leider aber lässt dieser von Waldbauer gemixte Cocktail aus kulturgeschichtlich hergeleiteten Überlegen­heits­bekundungen das wenig glaubhafte Bild eines ‚Über-Juden‘ entstehen. ‚Positiver Rassismus‘, also eine Art der Überlegenheitsbekundung – das soll hier ausdrücklich festgehalten sein – ist genauso verwerflich wie ’normaler Rassismus‘, der von der Abwertung anderer lebt. Denn allzu positive Klischees machen dem ‚Unterlegenen‘ Angst und verhindern den Dialog miteinander.

Die Relevanz des Themas steht außer Frage, doch wurde das Thema, über antisemitische Klischees zu schreiben, weit verfehlt. Auffällig ist: durch die beständige Wiederholung derselben Argumente entsteht das Gefühl, Waldbauer geht es weniger um eine objektive Wahrheit und mehr um seine subjektive Überzeugung. So liest sich das Buch wie ein Pamphlet mit dem Ziel zu belegen, dass die Juden nicht nur zu unrecht verfolgt wurden, sondern kulturhistorisch aus den Verfolgungen und ihrer Minderheit eine Überlegenheit resultiert.

Über eine Einführung in die jüdische Geschichte wird man sicherlich nicht nur besser, sondern auch objektiver und unterhaltsamer informiert. Von Waldbauers Buch Lexikon der antisemitischen Klischees ist dringend abzuraten, denn Waldbauer argumentiert ungenau und verzerrend. Vor allem wiederholt er sich ständig, die Tonart bleibt das ganze Buch hindurch ermüdend gleich.

 

Über „Pitch it! Die Kunst, Filmprojekte erfolgreich zu verkaufen“ von Sibylle Kurz

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • KURZ, Sibylle: Pitch it! : die Kunst, Filmprojekte erfolgreich zu verkaufen. UVK, Konstanz 2008. ISBN 978-3-86764-113-5.

Dieter Kosslick schreibt im Vorwort zu Pitch it! von Sibylle Kurz, dass ein Pitch unbedingt drei Elemente beinhalten muss, um erfolgreich zu sein: „Begeisterung, Professionalität und die vollkommene Besessenheit vom eigenen Stoff“ (Seite 10). Genau dies macht Kurz in dem Buch Pitch it! deutlich, nämlich wie man mit Professionalität, Begeisterung und Besessenheit zu einem erfolgreichen Pitch gelangt.

Das bedeutendste Zeichen von Professionalität ist, den eigenen (Film-)Stoff und auch den Unique Selling Point (USP) sehr genau zu kennen. Mit dem USP ist die Unverwechselbarkeit des eigenen Stoffes durch eine originelle Umsetzung gemeint. Er ist die Antwort auf die Frage: What’s the difference that makes the difference?

Neben dem USP führt Kurz fünf Punkte an, die für einen Pitch entscheidend sind. Sie ähneln den journalistischen W-Fragen. Worum geht es (1)? Für welches Publikum (2) gibt es was zu sehen (3)? Warum machen Sie diesen Stoff (4) und wer muss wieviel investieren (5)? Als Teil des professionellen Handwerkszeugs müssen diese Fragen sofort und eindeutig beantwortet werden können und ist grundlegende Voraussetzung um die eigene Begeisterung und Besessenheit voll ausspielen zu können.

„Eine Kunst beim Pitchen ist, die Aufmerksamkeit des Zuhörers so schnell und so lange wie möglich zu fesseln“ (Seite 35) Dazu werden Stoffe im Präsens gepitcht, „am besten mit einer persönlichen, authentischen und enthusiastischen Art“ (Seite 35). Wer dies gut macht, kann sein Gegenüber in eine andere Welt ‚ver-führen‘, denn genau darum geht es beim Pitchen. Wer nicht selber von seinem Stoff begeistert ist, wird kaum sein Gegenüber dafür begeistern. „Kongruenz und Authentizität des Handelns sind die wichtigsten Faktoren für die Glaubwürdigkeit einer Präsentation.“ (Seite 181) Der innere Kritiker darf nicht unterdrückt werden (er hat sowieso immer ein böses Wort auf den Lippen), sondern muss von der gemeinsamen Sache überzeugt, auf die eigene Seite gezogen, ins Boot geholt werden. Sitzt der innere Kritiker erst Mal dort, wird mit Begeisterung und Besessenheit der eigene Stoff zu einem ‚visuellen Moodboard‘ verdichtet. Den Begriff des ‚visuellen Moodboard‘ leitet Kurz analog vom gezeichneten Storyboard ab. Er besagt, dass die Geschichte in emotional anrührenden Bildern erzählt wird. Mit dem visuellen Moodboard, dass sich aus Professionalität, Begeisterung und Besessenheit zusammensetzt, muss letztendlich der Entscheider überzeugt werden.

Entscheider sind jene paar Menschen im Filmbusiness, die über finanzielle Mittel verfügen und somit die Möglichkeit besitzen, aus einer Idee ein Projekt zu machen. Im Umgang mit Entscheidern, aber auch mit anderen Akteuren des Filmbusiness (was durchaus eine gesellschaftlich universelle Komponente hat), ist es oftmals wichtiger, Sozialkontakte herzustellen, als einen guten Stoff professionell vorzustellen. Warum, so muss man sich ehrlich fragen, wird heute die Kompetenz des ’social networking‘, also die Kompetenz anderen in der eigenen Umgebung ein gutes Gefühl zu vermitteln, höher angesehen als die inhaltliche Auseinandersetzung? Die wahrscheinlich richtige und dennoch unbefriedigende Antwort lautet: „Ein Produkt wird immer mit demjenigen identifiziert, der es anbietet – das Grundprinzip jeder Werbung. Wir alle kennen viele Alltagssituationen, in denen die Qualität eines Produkts an den Verkäufer und seine Glaubwürdigkeit gekoppelt wird.“ (Seite 179) Einen Entscheider im Pitch von der eigenen Idee zu überzeugen ist nicht leicht, aber auch nicht unmöglich. „Wenn Sie selbst von ihrer Geschichte leidenschaftlich überzeugt sind, wird Ihnen das gelingen.“ (Seite 69)

Nachdem Kurz eindrucksvoll die Grundlagen des Pitchens ausgebreitet hat, verbessert sie in der zweiten Hälfte des Buches mit einem Präsentationstechniken-Potpourri ein wenig die Welt der Kommunikation. Obwohl auch diese Passagen anregend zu lesen sind, stellen sie eher das schmückende Beiwerk zu den wichtigen Tipps für einen erfolgreichen Pitch im ersten Teil des Buchs dar.

Insgesamt stellen sich zwei Elemente als besonders wichtig für einen erfolgreichen Pitch heraus. Zuerst die Qualität der Geschichte und direkt danach die zwischenmenschliche Komponente oder auch anders herum. Das hängt von den individuellen Stärken des Pitchenden und den Vorlieben des Entscheiders ab. Man könnte auch sagen: Professionalität und Emotionalität – aber das ist zu weit herunter gebrochen. Somit produziert der professionelle Filmemacher in seinem Pitch die eingangs erwähnte ‚Differenz‘ gleich zweifach: Einmal im Hinblick auf seinen Stoff und dann nochmal, in der Art wie er seinen Stoff im Pitch präsentiert.

Die hilfreiche Herausarbeitung der hier angerissenen Tipps rund um den erfolgreichen Pitch ist das große Verdienst von Sibylle Kurz und darum muss, wer noch mehr darüber erfahren will, man das Buch lesen. „Es gibt einen prägnanten Satz, den sie verinnerlichen sollten: Der Zweck eines ersten Treffens mit einem Entscheider besteht darin, ein zweites Treffen zu initiieren.“ (Seite 47) Wenn man dieses Bonmot ein wenig abwandelt und sagt, dass ein erstes Buch zum Lesen eines zweiten Buchs (derselben Autorin, desselben Verlags) anregen soll, dann ist der Zweck mit Pitch it! voll und ganz erfüllt.

Über „Kameraautoren. Technik und Ästhetik“ von Thomas Brandlmeier

Besprochen von Ronald Klein

  • BRANDLMEIER, Thomas: Kameraautoren : Technik und Ästhetik. Schüren, Marburg 2008. ISBN 978-3-89472-486-3.

Michael Ballhaus plaudert im Gespräch mit Tom Tykwer über die Arbeit mit Fassbinder aus dem Nähkästchen: „Er ist selten gut vorbereitet gewesen, hatte aber immer seine Vision. Ungern hat er sich Motive angesehen. Er stand dann muffelnd in einer Ecke am Set und fragte mich: Was hast du dir überlegt“. Ballhaus gilt als einer der renommiertesten Künstler seines Faches. Nur wenige Kameramänner avancieren selbst zu Stars. Dabei illustriert Ballhaus’ Erinnerung, dass hinter der Linse stehen mehr bedeutet, als nur die Kamera zu schwenken und die Ausführungen des Regisseurs zu befolgen.

Thomas Brandlmeier, promovierter Chemiker, sowie habilitierter Medienwissenschaftler und Betriebswirt, untersucht die Arbeit an der Schnittstelle zwischen technischen Möglichkeiten und der Ästhetik der Regisseure in einem historischen Abriss und stellt das Wirken von 45 Kameraleuten vor. Ein Glossar erklärt dabei sämtliche Fachtermini, so dass der Einstieg auch für weniger Technikaffine problemlos möglich ist.

Das Kapitel „Deutscher Kamerastil bis 1933“ würdigt die frühen Innovationen, die heute bei Filmschaffenden und Kinogängern Selbstverständlichkeiten bedeuten. Guido Seeber beispielweise, erfand den Kameraschwenk, der seit 1900 zum Standardrepertoire der Filmkunst gehört. Nach und nacherweiterte sich das Repertoire der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten. Tonfilm und das Produzieren in Farbe stellten weitere Innovationen dar, die die Arbeit am Set nachhaltig beeinflussten.

Auf den allgemeinen Teil folgt die Vorstellung der „Kameraautoren“ – ein Terminus, den Brandlmeier bereits 1977 prägte. Dabei liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Künstler hinter der Linse einen eigenständigen und wiedererkennbaren Stil besitzen. Ihre Ästhetik stellt Brandlmeier ausführlich vor. Dabei fällt nicht nur auf, dass „Kamerautoren“ selbst sehr introvertierte Menschen sind (u.a. zählen Alekan, Almendros, Ballhaus und Seeber zu den wenigen, die ihr Schaffen in Büchern reflektieren), sondern auch überwiegend männlich. Die „Kameraautorin“ besitzt noch einen Exotenstatus.

Die Beiträge zu u.a. Conrad L. Hall, Sven Nykvist oder Vilmond Zsigmond erläutern technische und wirtschaftliche Hintergründe und setzen diese in ein Spannungsverhältnis zu den ästhetischen Ansätzen der „Kameraautoren“. Mit über 500 Seiten stellt das Buch eine exzellent recherchierte Einführung zum Thema „Kamera und Kunst“ dar. Die Kameraautoren haben es verdient, stärker in den Fokus der filmwissenschaftlichen Untersuchungen gestellt zu werden. Thomas Brandlmeier hat dafür einen sehr wertvollen Beitrag geleistet.

Über „Amundsen – Bezwinger beider Pole“ von Tor Bomann-Larsen

Besprochen von Ronald Klein

  • BOMANN-LARSEN, Tor: Amundsen. Bezwinger beider Pole: Die Biographie. Marebuchverlag, Hamburg 2007. ISBN 978-3-86648-068-1.

Der Norweger Roald Amundsen gilt als einer der größten und wagemutigsten Entdecker des 20. Jahrhunderts. 1911 erreichte er mit seiner Expedition als Erster die Antarktis. Doch seine wahre Leidenschaft galt dem Nordpol, den er 1926 mit dem Luftschiff „Norge“ überflog. Nur zwei Jahre später verschwand Amundsen mit seinem Flugzeug nahe der Bäreninsel beim Versuch, den Italiener Umberto Nobile zu retten. Bis heute wurden nicht einmal Wrackteile der Maschine gefunden. Allein die Expeditionen und das tragische, aber einem ambitionierten Entdecker angemessene Ende, bieten Stoff für ein spannendes Buch. Amundsen, der nicht nur von den eisigen Polen fasziniert war, sondern auch die Details seines Privatlebens im Kältecontainer verschloss, schrieb seine Erlebnisse selbst (um), z.B. in „Die Jagd nach dem Nordpol“. Der norwegische Historiker und Publizist Tor Bomann-Larsen montiert pointierte Auszüge daraus mit historischen Quellen. Durch Zufall stieß er auf Original-Dokumente Amundsens, die jahrzehntelang in einer Kiste auf einem Osloer Dachboden schlummerten. Nach akribischer Auswertung der Original-Quellen und der Zeugnisse von Zeitzeugen entstand eine 700 Seiten starke, fesselnde Biographie. Bomann-Larsen bewahrt die nötige Distanz (die vielen Biographen leider abgeht), verzichtet aber umgekehrt darauf, Amundsen komplett zu demontieren. Das Bild des großen Polarforschers verschiebt sich nach der Lektüre ohnehin. Der permanent in Geldschwierigkeiten steckende Amundsen fungierte als wahrer Marketing-Stratege, der seine Mission derart gut verkaufte, dass private Gönner, aber auch staatliche Unterstützung, seine Unsummen verschlingenden Unternehmungen deckten. Doch Amundsens Schicksal, der von sich selbst behauptete: „Hier bin ich also – das Pendant des Fliegenden Holländers, verdammt zur lebensgefährlichen Fahrt im Eismeer“, waren nicht nur die Pole, sondern ebenso die Frauen und die Politik…Packend, humorvoll, aber nie reißerisch geschrieben, verfasste Bomann-Larsen eine gelungene Biographie, die auch Leser in den Bann zieht, die sich nicht automatisch durch Eismeere und Entdeckungsfahrten angesprochen fühlen.

 

Über „Geht so. Wegbeschreibungen“ von Peter Hein

Besprochen von Ronald Klein

  • HEIN, Peter: Geht so : Wegbeschreibungen. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2007. ISBN 978-3-940357-03-8.

Auch die vermeintliche Hochkultur kocht nur mit Wasser. Goethe schlief auf seiner ersten Italienreise beim Besuch der Sixtinischen Kapelle in Rom ein. Bekanntlich führte der Aufenthalt im Mittelmeerland trotzdem zu einem kreativen Schub, der nicht nur Literarisches, sondern auch knapp 1000 Aquarelle hervorbrachte. Mehr als 200 Jahre später reiste Roger Willemsen zwar nicht so weit, aber dafür kreuz und quer zwischen Sylt und Passau, Koblenz und Leipzig hin und her. Daraus entstand das Buch „Deutschlandreise“: die eindringliche Beschreibung einer fremden Heimat. Was die Beiden können, kann Peter Hein alias Janie J. Jones, Sänger der Fehlfarben, schon lange und spitze seinen Stift: „Wegbeschreibungen, der vom Lektorat gewählte Untertitel, lässt doch einige hübsche Möglichkeiten zu“, wird der Leser am Ende des Buches aufgeklärt. Der Aufbruch nach Italien steht an. Auf den hundert Seiten davor prangen Beschreibungen deutscher Landstriche, die in der Regel mit der Suche und dem Finden einer Tränke eingeleitet werden: „[…] Also erst einmal einen Kaffee bzw. einen Espresso und je nach Sonderangebotslage ein Hefeweizen oder ein kleines Frischgezapftes; da entscheidet der Literpreis.“ („Rheinstrecke“); „[…] Richtung Reeperbahn könnte man wahrscheinlich noch wo saufen, kenn mich da nicht mehr so aus, aber ein paar gebratene Eier zum Hellen – Fehlanzeige.“ („Hamburg“); „[…] Also lässt man sich irgendein totes Tier aufs Brot schmieren, noch ein Bier auf den Weg – und jetzt ins unbekannte Augsburg“ (na, klar: „Augsburg“). Dazu die Schilderung des Bummels durch die Innenstadt, wo die Dominanz der Einkaufsstraßen nur noch Tristesse verbreitet. Spätestens nach der dritten Station offenbart sich das Erzählschema als voraussehbar. Auch wenn Hein genüsslich und gekonnt Spitzen gegen Mehdorn und die Bahn, Kunstsammler und Immobilienmakler etc. einbaut, lesen sich die Beschreibungen der Städte und ihrer Bewohner freundlich bis desinteressiert. Lediglich Magdeburg erhält hier eine Sonderstellung. An die Schilderung der Langeweile der Elbmetropole schließt sich die folgende Passage an: „Diese Arschstadt entpuppt sich als genauso verschissenes Volldeppen-Scheißnazidrecksnest, wie ich es von dieser verdammten Scheißzone nie wirklich glauben wollte, aber in meinen wüstesten Angstvorstellungen immer imaginiert habe. Es hatte schon seine Richtigkeit, diese Scheißwende zu ignorieren, außer wenn man nach Scheißberlin muß, das hat doch keine Vorteile gebracht. Nichs und Niemandem.“ – Die Düsseldorfer Musiker treffen dort auf pöbelnde Nazis-Skins und Polizisten, die sich nur äußerlich von den Glatzköpfen unterscheiden. „Es liegt ein Grauschleier über der Stadt“ postulierte Peter Hein 1980 mit den Fehlfarben. Mittlerweile hat er sich über das Land ausgebreitet. Das Buch lüftet den Schleier nicht. Letztlich ist alles so, wie wir es uns immer schon vorgestellt haben.

 

Ein Handbuch zum Schlagwort ´68 – Der Mythos „1968“ einmal nüchtern betrachtet

Besprochenvon Leif Allendorf

  • KLIMKE, Martin/ SCHARLOTH, Joachim (Hg.): 1968. Ein Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart; Weimar 2007. ISBN 978-3-476-02066-6.

In entnervender Gleichförmigkeit werden im „Jubiläumsjahr“ 2008 die immergleichen Bilder gezeigt, Zitate wiederholt und Kämpfe ausgetragen. Dabei führt die Beschränkung auf ausgetretene Pfaden zu keiner neuen Erkenntnis. Da ist das von Martin Klimke und Joachim Scharloth bei Metzler herausgegebene „Handbuch 1968“ eine willkommene Abwechslung. Denn dort werden die Mechanismen untersucht, die erst zur Entstehung des Begriffs „1968“ geführt haben, was Aufschluss darüber gibt, warum der Diskurs 40 Jahre danach so arm ausfällt: „In den letzten Jahren hat sich der Schwerpunkt der Erforschung der Studentenbewegung aber immer mehr von der Geschichte der Ereignisse hin zu einer Geschichte von Repräsentationen verlagert.“ Die Popularität der eigentlich marginalen Studentenbewegung verdankt sich ihrer medialen Verfälschung: das Happening ist alles, die Absicht gilt nichts, die Form des Protests wird zum Selbstzweck und damit entleert.

Um dieser Oberflächlichkeit zu entgehen ist es schon hilfreich, den zeitlichen Rahmen zu erweitern: die 60er Jahre als Vorbereitung, die 70er als Resultat zu betrachten und auf langfristigere Entwicklungen einzugehen. Die Einflüsse der Popmusik und neuer Spielfilmtechniken werden in dem verdienstvollen Band ebenso untersucht wie das, was danach kam, die RAF, eine neue Frauenbewegung usw. Aber auch geografisch wird hier der Blick über den Tellerrand gewagt: „Die Interdependenz und die Adaptionsprozesse der Protestbewegungen in den verschiedensten Ländern rücken somit zunehmend in das Blickfeld einer Geschichtswissenschaft, die sich von nationalstaatlichen Paradigmen ablöst, und sich auch dem Entstehen einer transnationalen Zivilgesellschaft im Gefolge der 1960er Jahre zuwendet.“

Zutreffend stellen die Autoren fest, dass trotz aller Bemühungen um seine Historisierung: ›1968‹ hat seinen Platz im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik noch nicht gefunden hat. Es steht als „Mythos, Chiffre, Zäsur, als Heldenlied oder Verwünschungsarie“ noch immer im Zentrum der Frage nach einer Selbstdefinition der Geschichte der Bundesrepublik. Die Aufregung über die Sponti-Vergangenheit des ehemaligen Außenminister Joschka Fischer oder die RAF-Ausstellung im Jahr 2003 beweisen die noch immer vorhandene Polarisierungskraft jener Ereignisse vor vier Jahrzehnten.

Neben einer solchen „Polarisierung“ wäre auch ein höheres Niveau zu wünschen. Das „Handbuch 1968“ trägt da einen ersten Schritt zu bei.

 

 

Dreimal auf Anfang: Mühl-Benninghaus‘ Studie zum deutschen Fernsehen

Besprochenvon Michael Krause

  • MÜHL-BENNINGHAUS, Wolfgang (Hg.): Dreimal auf Anfang : Fernsehunterhaltung in Deutschland. Vistas Verlag, Berlin 2006. ISBN 978-3891584255.

Für die meisten Menschen fängt die Geschichte des deutschen Fernsehens erst im geteilten Nachkriegsdeutschland an. Doch das stimmt nicht. Auch wenn im Dezember 1952 das Fernsehen der DDR in Berlin-Adlershof und wenige Tage später der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) den regulären Sendebetrieb in West-Berlin aufnahmen, war das nicht das erste Mal, dass ein regelmäßiges Fernsehprogramm in Deutschland zu empfangen war. Schon im „Dritten Reich“ hatte der Sender „Paul Nipkow“ seit 1935 ein regelmäßiges Programm aus Berlin gesendet, das in öffentlichen Fernsehstuben in Berlin und Hamburg und gegen Ende des Krieges vor allem in Lazaretten gesehen wurde. Von Beginn an war Unterhaltung wichtiger Bestandteil für die Programmmacher, die ihre Formate teils in Anlehnung an Film und Hörfunk orientierten, teilweise aber auch völlig neu entwickelten. Etablierte Unterhaltungsformen wie Varieté, Theater oder Kabarett waren ebenfalls Vorbilder. Für die NSDAP hatten Rundfunkunterhaltungsformen zudem einen sehr hohen Stellenwert, da die Massen nach Joseph Goebbels vom Geist der Partei „indirekt“ und „innerlich durchtränkt“ werden sollten. Adolf Hitler allerdings mied das noch junge Medium, wohl weil es sich kaum zur wirkungsvoll-pathetischen Inszenierung seiner Person eignete.

Bei den Fernsehanfängen nach dem Krieg spielte Unterhaltung wieder eine wichtige Rolle. Der Band Dreimal auf Anfang – Fernsehunterhaltung in Deutschland widmet sich diesen drei Entwicklungen der Fernsehunterhaltung. Er umfasst neun Beiträgen deutscher Film- und Fernsehwissenschaftler sowie mehr als 20 Interviews mit Zeitzeugen. Den Schwerpunkt des Buches bildet der Vergleich zwischen BRD und DDR bis etwa Mitte der 1960er Jahre. Herausgeber Wolfgang Mühl-Benninghaus versammelte dazu größtenteils Beiträge von Kollegen des Forscherkollegs „Programmgeschichte DDR-Fernsehen“ zu den Themen Show, Magazin, Kinder- und Jugendsendungen, Spielshows und Sport. In seinem Aufsatz „Schwierigkeiten mit der Unterhaltung“ gelingt es Mühl-Benninghaus, das deutsche Verständnis von Unterhaltung seit dem 19. Jahrhundert bis in die Nachkriegsjahrzehnte zu skizzieren und den Begriff im Hinblick auf historisch gewachsene Milieus und die beiden deutschen Gesellschaftsentwürfe zu problematisieren.

Dass Kulturpolitiker in der DDR reiner Unterhaltung ablehnend gegenüber standen, sofern sie nicht politisch für gesamtgesellschaftliche, den Sozialismus fördernde Zwecke genutzt werden konnte, verwundert kaum. Doch auch im Rundfunk der BRD erkennt Mühl-Benninghaus noch bis in die 1960er Jahre ein ganzheitliches Unterhaltungsverständnis, wonach diese sowohl Ausgleich und Entspannung verschaffen als auch „ästhetisch-erzieherisch“ wirken sollte. Dieser Anspruch ging jedoch spätestens im Jahr 1965 mit den Musiksendungen „Beat-Club“ in der BRD und „Basar“ im DDR-Fernsehen vollends bzw. zu großen Teilen verloren, wie Stefan Krüger und Alexandra Pfeil-Schneider in ihrem Beitrag aufzeigen. Sie vergleichen darin Formen der Jugendunterhaltung im Fernsehen der beiden deutschen Staaten. „Beat-Club“ und „Basar“, als erste, reine Unterhaltungsangebote für Jugendliche, waren trotz systembedingter Unterschiede wegweisend in ihrer Ästhetik und ihrem Publikumszuschnitt für nachfolgende Produktionen.

Ebenfalls sehr lesenswert sind die pointierten, aufschlussreichen Aufsätze Antje Buddes zur Fernsehunterhaltung im Dritten Reich, sowie der Aufsatz Gerd Hallenbergers zur Showgeschichte in BRD und DDR. Dieter Wiedemanns Beitrag zur Unterhaltsamkeit im frühen DDR-Kinderfernsehen fällt dagegen etwas ab, denn er löst seinen Titel „Der Unterhaltungswert der sozialistischen Erziehung“ nicht schlüssig ein. Zwar wird darin unter anderem in den 1970/80er Jahren eine Wende hin zu mehr Unterhaltung konstatiert, doch wird nicht klar, worin diese im Kinderfernsehen genau bestand. Sein Beitrag bleibt auch sonst essayistisch und vage. Ebenfalls störend ist, dass nicht jedes der vielen Interviews zum Anliegen des Bandes beiträgt, die frühe Fernsehunterhaltung zu beleuchten. Neben echten Perlen, wie den Gesprächen mit dem Medienwissenschaftler Knut Hickethier und dem Rundfunkjournalisten Heinz Riek, die viele interessante Details erhellen, fällt das allzu biographische, langatmige Interview mit dem Kameramann Horst Sauer unangenehm auf.

In dem insgesamt aber sehr informativen Sammelband, der beim Deutschen Rundfunkmuseum in einer Reihe von Schriften zum Rundfunk erschienen ist, bleiben diese Beiträge allerdings die Ausnahme. Erfreulich ist, dass den Autoren beim Vergleich des Unterhaltungsfernsehens in BRD und DDR in den meisten Beiträgen eine erstaunlich unvoreingenommene Sicht auf beide Fernsehtraditionen gelingt. Aufgrund seiner lockeren Vielfalt und der vielen Perspektiven ist der Band nicht notwendiger Weise chronologisch zu lesen. Die Einstiegsbarriere für Nichtfernsehwissenschaftler ist gering, weil die Aufsätze ansprechend geschrieben sind und sich selten ausgesprochener Fachtermini bedienen. Der großzügige, fehlerfreie Satz macht Freude und der Preis von 25 Euro für 360 Seiten und etwa 90 Schwarz-Weiß-Fotografien ist zudem fair.