Über „Gesellschaftliche Erinnerung“ von Martin Zierold

Besprochen von Victor Nono

In den letzten Jahren sehen wir nicht nur eine enorme Ausweitung der Beschäftigung mit Holocaust und Nationalsozialismus in populären Medien, sondern auch eine Vielzahl neuer wissenschaftlicher Studien dieses durch Medien gewandelten Diskurses, der für den Beginn einer neuen Phase der Erinnerungskultur sprechen könnte.

Das Gros der Literatur konzentriert sich dabei auf zwei Aspekte: Zum einen auf die Mediatisierung von Erinnerung, also auf die Tatsache, dass Erinnerung nicht unabhängig von Medien gedacht werden kann und dass Erinnerung gerade an Holocaust und Nationalsozialismus in zunehmendem Maße von Massenmedien aufgegriffen und bearbeitet wird. Zum anderen auf die Frage, in welcher Weise die Mediatisierung von Erinnerungen auf die Zeitzeugen zurückwirken und die Erinnerungen überformen oder bereits bei der Wahrnehmung der Ereignisse präformieren.

Neben einer präzisen Zusammenfassung vor allem der von sozialpsychologischer und gesellschaftswissenschaftlicher Seite in den letzten Jahren betonten Veränderung der Erinnerung von Zeitzeugen durch Medien, wie etwa in den Arbeiten von Harald Welzer, plädiert Martin Zierold in seiner Studie für eine medienwissenschaftliche Perspektive, die die Medialität von Erinnerung berücksichtigt.

Zentrale Referenz für erinnerungskulturelle Diskurse ist für die meisten Arbeiten der von Jan und Aleida Assmann in den letzten Jahren entwickelte erinnerungstheoretische Ansatz eines Übergangs von einem kommunikativen zu einem kulturellen Gedächtnis, das erklärt, warum im Verlauf von rund 4 Generationen oder ca. 80 Jahren Erinnerungen aus einer alltäglichen Kommunikation übergehen in kulturell ritualisierte bzw. mediatisierte Erinnerungen.

Martin Zierolds Buch setzt nun gerade bei dieser weitverbreiteten Referenz an, nimmt sie gleichsam als Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit den Unzulänglichkeiten dieses weitverbreiteten Modells: Das beginnt mit der Kritik an einer allzu saloppen Metaphorik, die im Grunde die Frage einer konkreten medialen „Trägerschaft“ eines kollektiven Gedächtnisses ignoriert. Zierold kritisiert etwa: „Wenn nicht geklärt wird, wie das ‚kollektive Gedächtnis‘ nach Ansicht der jeweiligen Autoren modelliert ist, legt die geringe theoretische Ausarbeitung vieler Entwürfe Lesarten nahe, die dieses Gedächtnis geradezu als ontologische Entität erscheinen lassen.“ (S. 86)

Stattdessen fordert er eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Medialität von Gedächtnis und Erinnerung und verweist auf Autoren wie Astrid Erll, die ein “ ‚ausdifferenziertes Mehrebenenmodell der ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses“ entwickelt, das seines eng an Siegfried J. Schmidts „Medienkompaktbegriff“ (S. 103) anschließt, wie Zierold schreibt.

Aus dieser Sicht wird vor allem der Ansatz von Jan und Aleida Assmann problematisch, der Medien zwar in die Reflexion mit aufnimmt, in ihnen doch zugleich auch einen blinden Fleck zu haben scheint.  So kritisiert Zierold, „dass die Auseinandersetzung mit den aktuellen elektronischen Medien am wenigsten überzeugen kann. Während Argumentationen zu Schriftlichkeit und Buchdruck sich auf eine Fülle von Studien stützen können, bleibt die Analyse gegenwärtiger Medienentwicklungen zurück. Hier ist auch terminologisch erneut zu kritisieren, dass A. Assmann elektronische Medien bedenkenlos im Kontext des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ behandelt, obgleich der Begriff qua definitionem, wie oben dargelegt, für die Analyse jüngerer Entwicklungen kaum geeignet ist. Doch nicht nur vor diesem Hintergrund ist die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis für gegenwärtige Gesellschaften höchst zweifelhaft: In wenig differenzierten Gesellschaften mag noch gelten, dass eine qualitative Grenze zu ziehen ist zwischen medial vermittelter Erinnerung an eine absolute Vergangenheit und primär interpersonal vermittelter ‚lebendiger‘ Erinnerung an Generationen-Erfahrungen, die über eine Zeitspanne von 80-100 Jahre reichen. Heute jedoch scheint es schon fast banal, darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit unserer Kenntnisse stets medial vermittelt ist, ob sie sich auf eine ‚absolute‘ Vergangenheit, die Erfahrungen der Elterngeneration oder die aktuelle Gegenwart beziehen.“ (S. 91/92)

Zierold akzeptiert daher auch nicht die von A. Assmann skizzierte Position, die dazu führe, – wie er schreibt – die Massenmedien „als das Ende jeder Erinnerung abzutun.“ (S. 92)

Gerade im Hinblick auf die Steigerung der Komplexität der aktuellen Medienlandschaft durch die Multiplikation von Medien ist Zierolds Kritik wohl überfällig und vor allem als Plädoyer für eine differenziertere Beachtung von Medien zu lesen. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive, wie von ihm vorgeschlagen, ist nicht nur ein Desiderat, sondern wohl eine unverzichtbare Forderung, je mehr wir uns der Gegenwart – also Erinnerungskulturen annähern, die sich erst durch die Analyse ihrer Medialität erschließen.

Zierolds Buch liefert zugleich einen präzise zusammengefassten Überblick über die aktuellen Diskurslinien, angefangen bei jenen über individuelles bis hin zu sozialem, kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Sein Buch ist jedem zu empfehlen, der eine kritische Diskursanalyse der aktuellen Debatten über Erinnerungskulturen sucht ohne die Orientierung verlieren zu wollen.

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