Über „The Grimalkin“ von Noekk

Besprochen von Ronald Klein

Bereits das letztjährige Debüt-Album „The Water Sprite” bewies, dass die talentierte Zwei-Mann-Band nicht nur die Möglichkeiten des Prog-Rock-Genres auszuschöpfen mochte, sondern gegebenenfalls auch sprengte. Mit Spannung wurde der Nachfolger erwartet, der zwar nur drei Songs enthält, die aber alle im zweistelligen Minutenbereich liegen. Der Opener „The Albatross“ weiß mit einem furiosen Spannungsbogen zu begeistern. Ruhige Passagen treffen auf pure Dramatik. Ebenso intelligent arrangiert überzeugt mit „The Grimalkin“ der Titelsong des Albums. Das 20-minütige „Codex Deserta“ hingegen klingt anfangs nach wahrem Doom, entwickelt sich nach und nach zu einem verspielt-epischen Track. Je öfter das Album im CD-Player rotiert, um so mehr eröffnet sich die Klangwelt Noekks. Die vielen Details eröffnen sich nach und nach, was lang anhaltenden Hörgenuss garantiert. Überhaupt hat man das Gefühl, das Duo hat alles richtig gemacht. Die Vielfalt der Einflüsse (Doom, Folk, Hard Rock) trifft auf eine sympathische Aufnahmetechnik: verwendet wurden ausschließlich die stimmlichen First-Takes, was den anti-septischen Klang vieler Prog-Rock-Kapellen vermeidet. Empfehlenswert!

 

 

Trott und Wirklichkeit: Haruki Murakamis „Schlaf“

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • MURAKAMI, Haruki: Schlaf. DuMont, Köln 2009. ISBN 978-3-8321-9525-0 Pick It! .

Schon 1990 erschien in Japan die Erzählung „Schlaf“ von Haruki Murakami. Fünf Jahre später erschien sie auch in Deutschland. Nun hat der Kölner Dumont Verlag die Erzählung neu aufgelegt und in einem schmucken Buch herausgebracht. Sofort fällt auf, dass sich der Verlag mit diesem Buch besondere Mühe gegeben hat. So wurde das Buch sehr reichhaltig von Kat Menschik illustriert. Die auf dem beigeweiß der Buchseiten ausschließlich in dunklem Marineblau und Silbergrau gehaltenen Illustrationen greifen die Stimmungsbilder des Buchs wunderbar auf und führen sie als atmosphärische Stimmung fort. Zudem ist der Text großzügig gesetzt und wirkt durch viel Platz an den Rändern dennoch wie ein gefasster Textblock.

„Schlaf“ wird aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin erzählt, die nicht schlafen kann, deren Körper auch nicht danach verlangt. Vielmehr bleibt sie wach, konzentriert und fühlt sich gut dabei. Dadurch gewinnt die Ehefrau und Mutter viel Zeit hinzu. Zeit, die sie nutzt, um zu lesen oder um sich endlich wieder im Trott des Lebens selbst zu spüren. „Ich bin dreißig. Wenn man dreißig wird, merkt man, dass die Welt mit dreißig nicht zu Ende ist. Ich bin nicht gerade froh, älter zu werden, aber manche Sachen werden dadurch auch einfacher.“ Durch die zusätzliche Zeit, aber auch die besondere Situation, beginnt sie ihr Leben und ihre Umwelt schärfer wahrzunehmen.

„Seit ich nicht mehr schlief, empfand ich die Realität als extrem einfach. Sie lässt sich ganz einfach meistern. Es ist einfach Realität. Einfach Hausarbeit, einfach Familie. (…) Bloß Wiederholung.“ In „Schlaf“ geht es um die gelebte Wirklichkeit, die nicht in Frage gestellt wird, solange die kleinen Rituale funktionieren. Doch für die Protagonistin eröffnet sich die Frage, wie wahr ist Wirklichkeit, wenn die eigene Familie nicht bemerkt, dass man aus ihr herausgefallen ist?

Mit einer sehr nüchternen, beschreibenden Sprache verhandelt Murakami alltägliche, jedem bekannte Wahrheiten, die zugleich irritieren und die man doch nicht verbalisieren kann oder will. Wahrheiten, die sich in keinen Trott einpassen. Dass man einmal gelesene Bücher größtenteils wieder vergisst, dass man älter wird und sich das Leben damit verändert – ob man will oder nicht. Das Buch lädt dazu ein, den Tag im Gleichklang mit der Ich-Erzählerin zu verleben, sich in den Tag hinein zu setzen, mitten rein, und zu spüren, wie die Stunden einen umspülen und an einem vorbei ziehen, in der wohligen Gewissheit, dass eben genau das der Lauf der Dinge ist.

Neben dieser größeren Perspektive, ist das Buch eine wunderbare, eine gelebte Liebeserklärung an die Literatur. Daran wie sich Wahrnehmung und Zeitempfinden verschieben, wenn man ganz von einem guten Buch gefangen genommen wird.

Insgesamt hat sich der Verlag erfolgreich bemüht, etwas Besonderes zu schaffen, zumal die 20 Jahre überbrückt werden mussten, die seit der ersten Veröffentlichung vergangen sind. Der einzige Wermutstropfen ist, dass „Schlaf“ nach kaum vier Stunden ausgelesen ist. Bei Betrachtung der reinen Lesedauer, ist das Preis-Leistungsverhältnis schlecht. Durch das gelungene Zusammenspiel von hochwertigem Inhalt mit einer aufwendigen Herstellung wird dies jedoch mehr als nur aufgewertet. Gemeinsam entwickeln Text, Illustrationen und Herstellung einen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Die Illustrationen zeigen genau die Traumbilder, denen sich der Text verwehrt und die er doch in sich trägt. „Schlaf“ ist gleichermaßen als Einsteiger- oder Geschenkbuch geeignet und wird Buchliebhaber sogar verzücken.

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Metzlers Kleist-Handbuch: Ein unentbehrliches Standardwerk

Besprochen von Leif Allendorf

  • BREUER, Ingo: Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. J.B. Metzler 2009. ISBN: 978-3-476-02097-0 Pick It!.

Heinrich von Kleist erlebte – zeitgleich mit Friedrich Nietzsche – in den achtziger Jahren eine Renaissance. Dann wurde es wieder etwas ruhig um ihn, ehe in jüngerer Zeit eine Reihe von Untersuchungen erschien. So schaffte Jens Bisky endlich das Gerücht von Kleists vermeintlicher Homosexualität aus der Welt, indem er darauf hinwies, dass es „schwul“ im Preußenadel des 19. Jahrhunderts nicht gab.

Das bei Metzler erschienene Handbuch nimmt sich den Dichter nun systematisch von allen Seiten vor. Die Lebensgeschichte wird knapp gehalten, über sie kann man sich in jeder Biografie informieren. Den Großteil des 500-seitigen Bandes nimmt die Analyse des Werks ein, die unter allen möglichen Aspekten erfolgt. So folgt auf die ausführliche Darstellung und Deutung der Dramen, Novellen und sonstigen Schriften eine Untersuchung, wie jede Epoche von der Antike über die Aufklärung und die zu Kleists Lebzeiten aktuelle romantische Bewegung auf Autor und Schriften gewirkt – oder eben nicht gewirkt hat. Von Kleists freiem Umgang mit der Historie beispielsweise zeugt das Geschichtsbild seiner Dramen: Das Stauferreich wird in der „Herrmannsschlacht“ in die Zeit der römischen Antike verlegt, bei „Michael Kohlhaas“ herrscht noch im 16. Jahrhundert das mittelalterliche Fehdewesen. Auf knappstem Raum finden sich brillante Interpretationen wie die des Gedichts „Der Schrecken im Bade“. Von den unzähligen Aspekten, die folgen, seien nur ein halbes Dutzend willkürlich herausgegriffen: Adelskultur, Bildende Kunst und Rhetorik, Erkenntnis, Natur und Staat. Souverän werden aktuelle und neumodische Forschungsansätze geprüft: Psychoanalyse, Dekonstruktion, Medienwissenschaft.

Interessant ist auch die Rezeptionsgeschichte des Kleistschen Oevres aufgearbeitet. Die Wirkung in Deutschland steht in einem so krassen Missverhältnis zur quasi Nichtbeachtung im Ausland, dass man sich trefflich fragen kann, wie ein Dichter so „deutsch“ sein kann, dass er nicht exportierbar ist.

Das von Ingo Breuer mitverfasste und betreute Kleist-Handbuch ist eine unerschöpfliche Quelle von Informationen und Anregungen und wird auf absehbare Zeit das unentbehrliche Standardwerk zu diesem Thema sein.

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Solide Einführung in die Psycholinguistik

Besprochen von Ulrike Frenzel

  • DIETRICH, Rainer: Psycholinguistik. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2007. Reihe: Sammlung Metzler, Band 342, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. ISBN 978-3-476-12342-8 Pick It!.

Wissenschaft ist schnelllebig, die Linguistik ist da keine Ausnahme. Rainer Dietrich legt daher hier die bereits zweite, komplett überarbeitete Auflage seiner „Psycholinguistik“ vor – generell aktualisiert und vor allem im Bereich „Sprachstörungen“ umfassend erweitert. Das Buch ist als Einführung in das gleichnamige Wissenschaftsfeld gedacht und richtet sich in erster Linie an Studienanfänger und fortgeschrittene Studenten, die zur Wiederholung einen raschen Überblick über die Grundlagen ihres Faches suchen. Es hat den Anspruch, als Begleitliteratur für entsprechende Einführungskurse zu dienen, die von den Universitäten angeboten werden. Auch andere thematisch interessierte Leser können risikolos einen Blick in das Buch wagen. Fachleuten auf dem Gebiet hat es nichts Neues zu bieten – was allerdings auch nicht die Absicht dieser Publikation ist.

Das Buch ist deutlich strukturiert aufgebaut. In den ersten beiden der insgesamt sechs Kapitel klärt es zunächst die Fragen, was die Psychologistik eigentlich will und was ihren Arbeitsgegenstand, das „sprachliche Wissen“, ausmacht. Folgend werden die Bereiche „Spracherwerb“ (mit Ausflügen zu Bilingualität, zum Zweitspracherwerb und zum Gebärdenspracherwerb), „Sprechen“, „Sprachverstehen“ (inklusive Hören und Lesen) und „Sprachstörungen“ behandelt. Den Abschluss macht ein Sachregister, das vielleicht noch ein wenig ausführlicher hätte ausfallen können, sowie ein Literaturverzeichnis, das – für eine Einführung sehr hilfreich – Lehrbücher, Einführungen und Handbücher getrennt verzeichnet.

Die Umsetzung ist gut gelungen. Hoch anzurechnen ist dem Autor der sehr angenehme und flüssige Schreibstil. Hier möchte jemand ganz offensichtlich nicht nur gut klingen, sondern auch verstanden werden, ohne dass der Informationsgehalt aber unter einem zu flapsigen Ton leiden würde. Optisch ist das Buch übersichtlich gestaltet. Unterkapitel sind durch eine Reihe Teilüberschriften gegliedert, was weniger ausdauernden Lesern entgegenkommen dürfte. Grundlagenbegriffe werden erklärt, sobald sie auftauchen und durch Fettdruck hervorgehoben, so dass sie sich mit einem Blick wiederfinden lassen. Wichtige Aussagen werden stichpunktartig zusammengefasst. Eine Reihe von Abbildungen und Beispielsätzen lockern die Textgestalt zusätzlich auf. Als Zusatzmaterial enthält das Buch ein farbig gedrucktes Blatt mit Beispielen zum sogenannten Stroop-Test.

(Der Stroop-Test: Nennen Sie nacheinander laut und schnell die Farben, in denen die Wörter geschrieben sind! Sie werden sehen, wie schwer es fällt, nicht die geschriebenen Wörter zu lesen ...)

„Psycholinguistik“ ist eine gelungene und bezahlbare Einführung in das Gebiet im handlichen Taschenformat. Sie ist übersichtlich und verständlich geschrieben und stellt wichtige Schwerpunkte des Faches vor. Sie geht notwendigerweise nicht sehr tief in die Materie hinein, für Neulinge ist sie aber sehr empfehlenswert.

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Eine verfehlte Kulturgeschichte des Begriffs Nachhaltigkeit

Besprochen von Christiane Wolf

Ulrich Grobers selbsterklärtes Ziel seines Buches „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ ist „einen Schritt zurückzutreten: Aus der dabei gewonnen Distanz heraus Maß nehmen, Maßstäbe gewinnen, um die Gedankenwelt, den Begriff und das Wortfeld Nachhaltigkeit für sich selbst neu zu vermessen, seine Gravität, also seine Schwerkraft, aber auch seine Elastizität zu verstehen.“

Grober beschreibt zunächst theologische Vorstellungen des Mittelalter über die von Gott ständig erneuerte Natur, um dann die ersten Versuche nachhaltigen Handelns in der deutschen Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts zu verorten und im letzten Viertel des Buches einen Überblick über die wichtigsten Etappen der Diskussion in den letzten 50 Jahren zu geben.

Leider leistet Grober keinen Beitrag zur Klärung des Begriffes. Zu blumig und metaphorisch ist seine Sprache, die sich ständig in langen Beschreibungen verliert, und nicht von der Sprache der angeführten, oftmals literarischen Schriften von beispielsweise Schiller und Goethe unterscheidet.

Dazu kommt es regelmäßig zu krassen thematischen Sprüngen, so z.B. innerhalb einer halben Seite von Gospeltexten über Kreditkarten-Werbung, Habermas, den Terroranschlägen des 11. Septembers bis hin zur Bibel, sowie die immer wieder eingeschobenen pathetischen Schilderungen biographischer Sternstunden des Autors, der es sich nicht verkneifen kann, von seinem Erlebnis eines Auftritts der Band „The Doors“ in Frankfurt am Main zu berichten. Diese Vermengung einzelner Episoden aus den unterschiedlichsten Bereichen und Epochen führt sehr bald dazu, dass der Leser sozusagen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und das eigentliche Thema völlig aus den Augen verliert.

Eine kulturgeschichtliche Betrachtung sollte enthierarchisieren und den Fokus auf bisher außer Beachtung gelassene Aspekte, auf das „Mikro“ in der Geschichte richten, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Grober hingegen bedient das Klischee der klugen Köpfe der deutschen Geschichte (Goethe, Schiller, Humboldt etc.) und stellt den Begriff „Nachhaltigkeit“ als eine individualistische Entwicklung im Denken der großen Dichter und Denker dar. In seinen vereinfachten Darstellungen erliegt er der Versuchung, rückblickend jede noch so beiläufige Erwähnung eines für ihn relevanten Begriffs als „Vorgriff“ auf erst 200 Jahre später entwickelte Konzepte zu betrachten.

Das Ganze geschieht in einer pseudo-wissenschaftlichen Schreibweise, die schon mit der irreführenden Wahl des Buchtitels beginnt, sich in den zahlreichen gar nicht oder ungenau nachgewiesenen Zitaten fortsetzt und in einer für den Leser frustrierend undurchsichtigen Argumentationsweise gipfelt. Bis zum Schluss bleiben die Erwartungen des kulturhistorisch interessierten Lesers unerfüllt und die Frustration erreicht tatsächlich ihren Höhepunkt im allerletzten Absatz, der mit der Plattitüde „Pflanzt mehr Bäume!“ zusammengefasst werden kann.

Grobers Fähigkeiten mögen ausreichen, um metaphysische Bücher über das Wandern und die spirituelle Rettung der Menschheit durch die Rückkehr zur Natur zu schreiben. Von Versuchen, wissenschaftliche Abhandlungen zu verfassen, sollte er in Zukunft aber besser Abstand nehmen.

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Grampp, Sven: Das Ende des Films und das Ende der DDR am Ende des Films, 04.05.10

Kunst als Spiegel gesellschaftlicher Prozesse – gerade geschichtliche Zäsuren wie der Niedergang der DDR reflektieren sich besonders in ihr. Wie das Ende des Films mit dem Niedergang der DDR korrespondiert, untersucht Sven Grampp anhand von drei Filmen. 

Vom Ende her möchte ich einige Filme untersuchen, die sich im weitesten Sinne mit der deutsch-deutschen Geschichte beschäftigen und deren Kulminationspunkte in der so genannten Wende bzw. in der deutschen Wiedervereinigung zu finden sind. Gerade vom Ende her diese Filme zu verstehen, hat einiges für sich, wie ich glaube. Zwei Dinge kommen dort nämlich zusammen: Erstens werden hier die Wende-Ereignisse noch einmal rückblickend aus der Position der Nach-Wende reflektiert, oder umgekehrt ein (zumeist kurzer) Ausblick auf die Nach-Wende gegeben. Zweitens vollzieht sich diese Reflexion der Wende eben am Ende des Films und damit an einem Ort, der eine Schwelle darstellt zwischen zwei Bereichen, nämlich zwischen der fiktionalen Welt des Films und der außerfilmischen Realität. Wie ich zeigen möchte, exponieren die hier ausgewählten Filme das Ende des Films im Film symbolisch – und zwar in einer Weise, die verschiedenartig Verbindungslinien der diegetischen Welt mit den historischen Wende-Ereignissen herstellen. Dabei wird in sehr unterschiedlicher Weise Trauerarbeit geleistet hinsichtlich unwiederbringlich vergangener Ereignisse. Pointierter formuliert: Am Ende der Filme werden aus der Perspektive der Nach-Wende zwei Schwellenphänomene gekreuzt, betrauert und reflektiert: der Abschied von der DDR und der Abschied vom Film.

Die Enden von drei Filmen werde ich näher untersuchen. Es handelt sich dabei im Einzelnen um Prager Botschaft[1] Sonnenallee[2] und Good bye, Lenin![3] Obwohl es sehr viel mehr Filme gibt, in denen die Kreuzung des Endes der DDR mit dem Ende des Films ausfindig zu machen ist,[4] möchte ich mich auf diese drei beschränken, weil sie zum einen besonders klar die exponierte Stellung des Endes des Films mit dem Ende der DDR koppeln. Zum anderen lässt sich an diesen drei Filmen exemplarisch der Facettenreichtum dieser Kopplung nachzeichnen. Um den Stellenwert der Verschränkung des Endes der DDR mit dem des Films klarer zu konturieren, möchte ich jedoch den Filmanalysen einen kurzen Exkurs über das Ende voranstellen.

Exkurs zum Ende

Enden sind Schwellen, die von einem Bereich, respektive Zustand, in einen anderen führen; sie markieren einen Zwischenbereich. Das bekannteste und wohl problematischste Ende dürfte der Tod sein, genauer noch, für die Hinterbliebenen zumindest, das Gestorben-Sein. Mit Bezug auf den Tod reflektiert und problematisiert sich der Mensch als radikal zeitliches, mithin vergängliches Wesen seit jeher symbolisch in und durch Begräbnisrituale.[5] Solch ein Ritual hat vielfältige Funktionen: Hier wird die Schwelle von Leben und Tod problematisiert, (zumeist) in einen Sinnhorizont gestellt und so an den Verstorbenen erinnert. Das ist durchaus ambivalent und von widerstrebenden Tendenzen durchzogen. Wird doch zum einen eine fundamentale Zäsur gesetzt bezüglich eines Ereignisses, das besonders problematisch und erinnerungswürdig scheint. Zum anderen soll das Begräbnisritual gerade umgekehrt den Abschied erleichtern, den Anschluss an die Zukunft möglichst reibungslos ermöglichen und das Geschehen in einem übergreifenden Sinnhorizont ‚befrieden‘.

Enden müssen aber nicht immer so existenziell erschütternd sein, um symbolisch markiert zu werden. Zu denken ist beispielsweise an den Schulabschlussball, mit der obligatorischen Rede des Rektors, der zurückblickt auf das Erreichte, um anschließend gleich auf die mögliche rosige Zukunft, wenn man sich denn weiterhin ins Zeug lege, wendet. Oder der Theatervorhang, der definitiv ausdrückt: Jetzt ist das Stück zu Ende; endlich kann man nach Hause gehen. Ebenso markieren, reflektieren, problematisieren oder feiern beispielsweise Sammelbände zum 20-jährigen Jubiläum der Wende Enden. Die symbolische Besetzung von ‚Ende‘ strukturiert und semantisiert so gesehen zeitliche Prozesse durch Differenzsetzung (vorher/ nachher) und bindet gleichzeitig diese Prozesse in eine übergreifende Sinnordnung ein. Dabei wird qua Selektion Relevanz gesteuert; entschieden wird, was erinnerungswürdig ist und eben auch, was nicht.

Häufig – freilich nicht immer – sind symbolische Markierungen mit dem verbunden, was Sigmund Freud Trauerarbeit nennt.[6] Wenn Trauer die Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts darstellt oder auch umgekehrt die Reaktion auf Geschehnisse sein kann, die als so grausam oder gar traumatisch empfunden werden, dass die gegenwärtige Wahrnehmung massiv beeinflusst oder gehemmt wird, dann besteht die Trauerarbeit darin, die zu Ende gegangenen Ereignisse symbolisch zu markieren und eben damit zu bearbeiten. Auch der Film hat seine Enden. Er hat damit strukturell gesehen dieselben Probleme wie die eben angeführten Enden. So verwundert es nicht, dass auch seine Enden ein ums andere Mal symbolisch markiert und bearbeitet werden.[7] Und zwar nicht einfach dadurch, dass das Licht im Kinosaal angeht oder auf der Leinwand das Wort ‚Ende‘ erscheint, sondern viele Filme verdoppeln das Ende im Film, entfalten es also figurativ. Unter anderem hat sich Laurence Moinereau mit diesem Thema unter systematischen wie historischen Gesichtspunkten näher beschäftigt. Dabei entwickelt sie eine Hypothese, der ich mich hier anschließen möchte. Sie schreibt:

„Von ein paar – nicht unwesentlichen – Ausnahmen abgesehen, kam es erst in den 1960er-Jahren zu zwei miteinander zusammenhängenden Tendenzen: Erstens wurde das Wort ‚Ende‘ weggelassen, und zweitens wurde der Nachspann immer länger. Diese Veränderung war im Wesentlichen durch ökonomische und juristische Zwänge bedingt: der Nachspann diente oft schlicht als Ablageplatz für eine immer umfangreichere Liste von Namensnennungen. Die Akzentverlagerung blieb indessen nicht ohne Auswirkungen auf die Art, wie sich der Schluss des filmischen Werks vollzieht: Sie verstärkt den rituellen Charakter des Nachspanns und führt zu einer spezifischen Schwellenfunktion, die sich von der des Vorspanns unterscheidet, denn nun geht es nicht mehr darum, den Zuschauer beim Eintritt in, sondern beim Austritt aus der Fiktion zu begleiten, anders gesagt: beim Umgang mit seiner Trennung vom Film. Zwar haben es Vor- wie Nachspann, weil sie sich an einem Grenzort befinden, generell mit Diskontinuität und Übergang (von einer Welt oder einem Zustand in einen anderen) zu tun, doch nur beim Nachspann geht es unmittelbar um einen Verlust: Daher meine Hypothese, dass er für den Zuschauer die Stelle sein könnte, an der sich die Trauerarbeit in Bezug auf den Film vollzieht.[8]

Diese Markierungen beziehungsweise Bearbeitungen können freilich sehr unterschiedlich aussehen. Nur zwei Beispiele sollen angeführt sein.[9] Erstens kann auf die Figur der Wiederholung verwiesen werden. Wiederholt werden im Abspann Bilder oder Szenen aus dem Film. Damit wird das gerade Gesehene noch im Film in einen Erinnerungsmodus überführt. Schöne Beispiele dafür finden sich in einigen Filmen von François Truffaut; dort erscheinen die Schauspieler noch einmal im Abspann von einem ovalen Rahmen umgeben, der an ein Erinnerungsfoto gemahnt.[10]

Szene 1: Für ein Beispiel aus La Nuit Américaine siehe folgendes Video (vor allem 5:27-6:29 min):

[youtube cwdnT5BnUzI&feature=related]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=cwdnT5BnUzI&feature=related, 03.02.10)

Zweitens sei auf die Verklammerung verwiesen. Hierbei werden filmische und außerfilmische Welt verbunden. Insbesondere bei Spielfilmen, die auf historischen Ereignissen basieren, lässt sich beobachten, dass die fiktionale Welt häufig in die reale, wenn nicht gleich überführt, dann doch mit dieser verschränkt wird. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist Steven Spielbergs Schindler’s List.[11] Am Ende gehen die Schauspieler gemeinsam mit den historisch realen jüdischen Überlebenden, deren Rolle sie gerade gespielt haben, an das reale Grab Schindlers. Eindrücklich ist dieses Beispiel insofern, als Spielberg hier das Ende des Films prototypisch als Ort der Trauerarbeit mit all seinen Ambivalenzen nutzt: Wird doch eine Differenz zwischen filmischer und historischer Welt deutlich markiert (beispielsweise durch den Wechsel von Schwarz-Weiß zu Farbe) und gleichzeitig wird im gemeinsamen Gedenken an Schindler vor dessen Grab fiktionales und reales Geschehen, fiktionale und reale Trauerarbeit verknüpft.

Szene 2: Zum Ende von Schindler’s List siehe folgendes Video (vor allem 0:00-2:20 min):

[youtube HHbiAleHzoA]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=HHbiAleHzoA, 03.02.10)

Filme zur Wende am Ende

Im Folgenden möchte ich nun zeigen, wie das Ende einiger Filme speziell mit dem Ende der DDR gekoppelt ist und in welcher Weise bei diesen Kopplungen von Trauerarbeit gesprochen werden kann. Die drei Filme, die ich näher analysieren möchte, haben Gemeinsamkeiten, die sie als spezifische Wendefilme auszeichnen. Bei allen drei Filmen handelt es sich nämlich um mehr oder minder populäre deutsche Spielfilmproduktionen, die 1. nach der historischen Wiedervereinigung produziert wurden, die 2. eine deutsch-deutsche Geschichte erzählen, die ihre entscheidende historische Zäsur im Mauerfall respektive in der Wiedervereinigung findet und für die 3. der Mauerfall eine Davor/Danach-Konstellation bildet, die auch eine fundamentale dramaturgische Zäsur bedeuten, die wiederum 4. am Ende des Films verdichtet in Szene gesetzt wird.

Prager Botschaft

Der Film Prager Botschaft ist eine RTL-Produktion von 2007 und handelt von ausreisewilligen DDR-Bürgern, die im September 1989 nach Prag in die bundesrepublikanische deutsche Botschaft flüchten. Dabei wird ein Familien- und Liebesschicksal mit den Ereignissen im Herbst 1989 dramatisch ineinander gefügt. Immer wieder wird in die fiktionale Handlung dokumentarisches Material einmontiert, beispielsweise die längst zum Stereotyp geronnene Verkündigung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, dass die Ausreisewilligen nun tatsächlich in die Bundesrepublik übersiedeln könnten. Wichtiger jedoch als der Verlauf der Erzählung und ihrer dramaturgischen Mittel ist für mich die Gestaltung des Filmendes. An diesem Ende stehen der deutsche Botschafter und ein „hochrangiger Diplomat“, wie es im Film heißt, am Hauptbahnhof in Prag, um den ersten Zug mit DDR-Flüchtlingen, die in die BRD reisen dürfen, zu verabschieden (siehe Abb. 1a-c). Dabei erfolgt eine Schrifteinblendung, die auf die direkt folgende Zukunft verweist: „Wenige Wochen nach der Ausreise tausender Zufluchtssuchender über die Prager Botschaft öffnete die DDR am 9. November 1989 ihre Grenzen.“ Fakten werden aufgelistet und dann zu der geschichtsphilosophischen Gewissheit gewendet, dass zusammenkam beziehungsweise zusammengekommen sein wird, was zusammen gehört: „Die Mauer fiel und nur knapp ein Jahr später feierte die Nation ihre Wiedervereinigung zu einem gemeinsamen Deutschland.“ Der Zug fährt aus dem Bahnhof (nach Westen natürlich), während die beiden Protagonisten, die maßgeblich an dem ersten Schritt zur Wende beteiligt waren, sich nach links bewegen und sich, wie im Bild zu lesen ist, zum „Vychod“ aufmachen. „Vychod“ ist tschechisch und hat die Doppelbedeutung ‚Ausgang‘ und ‚Osten‘. Der spezielle „Vychod“ hier bildet den ‚Ausgang Ost‘ für die Protagonisten. Gleichzeitig ist damit aber auch der Ausgang, sprich das Ende des Films markiert.

Abb. 1 a-c: PRAGER BOTSCHAFT: ‚Ausgang‘ Ost am Ende von Prager Botschaft (D 2007, R: Lutz Konermann; RTL Erstausstrahlung: 23.09.07, 20.15h) [Alle Stills stammen vom Autor]

Die ‚Trauer‘ um das Ende der DDR und das Ende des Films wird in Prager Botschaft ganz einfach kompensiert durch die Schrifteinblendung, die die unterschiedlichen Realitätsebenen verklammert und am ‚Ausgang Ost‘ in die gemeinsame Zukunft von Protagonisten und Zuschauern weist.

Good bye, Lenin!

Mein zweiter Beispielfilm wendet sich am Ende nicht wie Prager Botschaft in die Zukunft, sondern umgekehrt in Richtung Vergangenheit. In Good bye, Lenin! wird von der Nach-Wende zurück auf die Vor-Wende geblickt. Doch bevor ich auf dieses Ende näher eingehe, sei noch eine kurze Inhaltsgabe vorangestellt, um das Ende besser einordnen zu können: Alex’ Mutter erleidet einen Herzinfarkt, als sie ihren Sohn auf einer Demonstration brutal von Polizeikräften bedrängt sieht. Sie fällt ins Koma und ‚verschläft‘ damit die Wende. Alex suggeriert ihr danach, dass die DDR fortbesteht. Mit einem Arbeitskollegen manipuliert er Dokumentarmaterial und fingiert so Fernsehberichte der Aktuellen Kamera für seine Mutter. Dabei wird „der Untergang der DDR zu einem triumphalen humanitären Sieg der DDR über den Westen umgemünzt“.[12] Drei Tage nach der Wiedervereinigung stirbt Alex’ Mutter an einem erneuten Herzinfarkt, im Glauben – so scheint es zumindest Alex vorzukommen[13] –, dass die DDR die Grenzöffnung aktiv und aus sozialistischen Überzeugungen heraus vorangetrieben hätte.

Abb 2

Abb. 2: GOOD BYE, LENIN!: Der Blick der Mutter (D 2003, R: Wolfgang Becker, DVD, Warner Home Video 2003) [Still stammt vom Autor]

Sehr facettenreich werden in Good bye, Lenin! historische Ereignisse reflektiert und erinnert.[14] Mir geht es aber nur um einen einzigen Aspekt: Das ganze Simulationsspiel wird als ödipal fundierte Wunschprojektion von Alex vorgeführt. Und genau das wird im letzten Bild des Films ersichtlich und zwar in einer rhetorisch und medial interessanten Weise. Um diese Behauptung zu plausibilisieren springe ich zunächst zum Anfang des Films zurück. Im Eingangsprolog, der von Alex als Erzähler kommentiert wird, sehen wir nach ungefähr fünf Minuten, wie seine Mutter an einem Fotoapparat hantiert, um den Selbstauslösermodus zu aktivieren. Aufgenommen ist die Szenerie mit einer Videokamera. Das Bild wackelt und wandert fahrig umher.

Szene 3: Zum Abschied von der Mutter siehe folgendes Video (vor allem 2:08-2:53 min):

[youtube Ta7jDchAaa0]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=Ta7jDchAaa0, 01.05.2010)

Ganz am Ende des Films – als Alex’ Mutter bereits gestorben ist – ist derselbe Ausschnitt noch einmal zu sehen. Dieses Mal wird das Bild am Ende stillgestellt und damit – im Gegensatz zum Anfang – als Erinnerungsfoto und letztes Bild des Films vor dem Abspann in Szene gesetzt (siehe Szene 3). Wir sehen, wie seine Mutter in die Kamera blickt, während Alex als Kind seine Mutter anblickt (siehe Abb. 2).

Eine Fotografie hat – im Gegensatz zum bewegten Film – einen zweifachen Abstand zum Leben. Das Abgebildete ist nämlich nicht nur vergangen, sondern auch aus dem zeitlichen Verlauf genommen.[15] Gleichzeitig ist aber das Abwesende als Spur in der Fotografie eigentümlich präsent in dieser stillgestellten Zeit.[16] Gesteigert wird diese eigentümliche Präsenz noch, wenn der Fotografierte direkt in die Kamera schaut und damit der Blick unentwegt auf dem Rezipienten zu ruhen scheint.[17] Genau das ist der Fall im vorliegenden Bild. Solch eine Blickkonstellation lässt sich tiefenpsychologisch und medientheoretisch relativ elegant ausbuchstabieren: Das geliebte Objekt, die Mutter, schaut einen an; aber nur scheinbar, ist es doch eben nur eine Fotografie, die vermeintlich einen Blickkontakt herstellt.[18] Eine Begierde nach der Präsenz der Mutter wird erzeugt und gleichzeitig enttäuscht. Denn die Mutter ist nur uneigentlich, eben medial vermittelt, präsent, also eigentlich abwesend, genauer noch: als Abwesende präsent.

Der Psychoanalytiker Jacques Lacan beschreibt eine dieser medialen Konstellation analoge Begehrensstruktur, die sich zuallererst im ödipalen Verhältnis von Mutter und Kind herausbilden soll. In einem seiner Seminare formuliert er den berühmten Satz: „Das Begehren des Menschen ist das Begehren des Anderen.“[19] Das zentrale und universale emotionale Bedürfnis des Menschen besteht nach Lacan also darin, dass ein anderer ihn begehrt. Als Sinnbild für die Befriedigung solch einer Begierde kann der liebevolle, anerkennende Blick der Mutter gelten. Eine Hoffnung auf die Befriedigung solch einer Begierde wird mit und in der Fotografie, die am Ende von Good bye, Lenin! erscheint, aufgerufen und – das ist entscheidend – gleichzeitig verweigert.[20] Scheint doch die fotografierte Mutter den Betrachter anzublicken. Jedoch ist dieser Blick ein konstitutiv vergangener. Damit erinnert die Fotografie tatsächlich nicht nur an den Blick der Mutter; noch sehr viel mehr hält sie das Bewusstsein über den Entzug dieses Blicks wach. Nicht eigentlich das Abwesende wird also vergegenwärtigt, sondern dessen Abwesenheit. Das Erinnerungsfoto beinhaltet dadurch eine ambivalente Trauerarbeit: Es erinnert an den Abwesenden als einen der konstitutiv der Vergangenheit angehört, ist aber auch Grund für die permanente Erzeugung von Trauer über das abwesende geliebte Objekt, das im Foto präsent ist und zurückzublicken scheint.

Während Good bye, Lenin! auf dieses letzte Bild zu vernehmen wir Alex’ Erzählerstimme aus dem Off, die da formuliert: „Das Land, das meine Mutter verließ, war ein Land, an das sie geglaubt hatte. Und das wir bis zu ihrer letzten Sekunde überleben ließen. Ein Land, das es in Wirklichkeit nie so gegeben hat. Ein Land, das in meiner Erinnerung immer mit meiner Mutter verbunden sein wird.“ Am Ende steht also ein Bild, in dem Alex seine Mutter als Junge anblickt, und während er es nach der Wende und nach ihrem Tod betrachtet, scheint sie ihn erneut anzublicken. Derweil wird aber nicht von einer DDR gesprochen, die vergangen ist und der nachgetrauert wird. Vielmehr ist davon die Rede, dass Alex sich an die Utopie seiner Mutter erinnert, die als solche niemals Wirklichkeit geworden war. Es werden also nicht historische Sachverhalte erinnert, sondern die Utopie der Mutter, die in den Nach-Wende-Simulationen von Alex weitergesponnen wurde und die dabei – wie Alex einmal selbst zugibt – eine Eigendynamik entfaltet hat, die auch ihn selbst in ihren Bann zog. Hierin liegt denn auch die Funktion des stillgestellten Bildes: Der tatsächliche Blick der Mutter wird zwar für immer entzogen sein und doch wird gerade mit der Fotografie die Sehnsucht danach stabil gehalten; genauso wie die Utopie, die im Blick der Mutter mitschwingt, niemals realisierbar sein wird, nunmehr aber – retrospektiv, nach der Wende, nach dem Tod der Mutter – auch die Sehnsucht von Alex ist.

Die Erinnerung an die Mutter und damit an die (Utopie der) DDR wird durch das Ende der Mutter, das Ende der DDR am Ende des Films – und so erst aus der Perspektive der Nach-Wende – zu einer unerfüllbaren, aber umso drängenderen Sehnsucht für Alex. Das ist eine zutiefst melancholische Konstellation. Sigmund Freud versteht unter Melancholie den psychischen Zustand, der eintritt, wenn die Trauerarbeit nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte, sondern permanent die Sehnsucht nach diesem einen konstitutiv entzogenen Objekt aufrechterhalten bleibt und durch nichts anderes ersetzt werden kann.[21] Genau solch ein Zustand wird am Ende von Good bye, Lenin! in Szene gesetzt.

Im abschließenden stillgestellten Bild sieht der junge Alex seine Mutter an, die wiederum den Erwachsenen Alex, den fiktiven Erzähler aus der Nach-Wende, anzuschauen scheint.[22] Aber auch uns, die realen Nach-Wende-Zuschauer, trifft der Blick von Alex’ gestorbener Mutter. Sind wir doch bezüglich der Blickkonstellation in die Position von Alex gerückt. Das hat klassisch rhetorischen Appellcharakter: Auch wir sollen durch den Blick der Mutter zu solch einer melancholischen Sicht der Dinge über das Ende des Films hinaus affiziert werden.

Sonnenallee

Ganz anders funktioniert die Trauerarbeit in Sonnenallee. Alltägliche Probleme und Leidenschaften der Jugend in den beginnenden 1970ern in Ost-Berlin werden uns hier, geleitet durch den Off-Kommentar des Protagonisten Michael Ehrenreich, komödiantisch näher gebracht.[23] Entscheidend ist für mich auch hier das Ende des Films. Der Erzähler entfaltet explizit eine nostalgisch gefärbte Gegenerinnerung zu den Erzählungen der Tristesse, die in der DDR geherrscht haben soll.[24] In diesem Sinne formuliert er den letzten Satz des Films: „Es war einmal ein Land und ich hab dort gelebt. Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung… und verliebt.“

Szene 4: Siehe hierfür folgendes Video (vor allem 2.49-3:52 min):

[youtube Hna9g2zdMs8]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=Hna9g2zdMs8, 03.02.10)

Begleitet wird die Schlusssequenz musikalisch durch einen bereits damals in der DDR populären Schlager, gesungen von Nina Hagen aus dem Jahre 1974.[25] Vor allem die permanent im Refrain wiederholt Zeile „Du hast den Farbfilm vergessen […] nun glaubt uns kein Mensch wie schön’s hier war ha ha ha ha“[26] unterstreicht vermeintlich den Willen zur nostalgischen Gegenerinnerung. Das ist auch auf der Bildebene abzulesen. Während des Liedes bewegt sich die Kamera rückwärts auf die deutsch-deutsche Grenze zu, die die Sonnenallee teilt und überschreitet diese Richtung Westen. Zu erkennen ist dabei ein zeitlicher Sprung aus den 1970ern in die Nach-Wende. Das geschieht nicht einfach nur dadurch, dass Michael nun retrospektiv auf seine Jugenderlebnisse zurückblickt. Die vergangene Zeit wird darüber hinaus durch das aus dem Genre des Western bekannte Steppenläufergewächs markiert, also mittels Büschen, die durch das Bild wehen (siehe Abb. 3a). Zusätzlich kommen auch Sektflaschen in den Blick, die – so scheint es zumindest – von der Feier des Mauerfalls übrig geblieben sind (siehe Abb. 3b).

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Abb3

Abb. 3a-b: SONNENALLEE: Das Ende der DDR am Ende der Sonnenallee (D 1999, R: Leander Haußmann; Sat.1 Fernsehausstrahlung: 18.06.2006, 20.15h) [Alle Stills stammen vom Autor]

Genau an dieser Stelle, als die Sektflaschen ins Bild kommen, wird der Farbfilm Sonnenallee zu einem Schwarz-Weiß-Film. Eine klassische Inversionsfigur findet damit scheinbar ihre konsequente Anwendung: Sonnenallee ist der Farbfilm, der darstellt, was bisher in den tristen (Schwarz-Weiß-)Erinnerungen an die DDR nach dem Ende derselben vergessen worden war.[27]

Es gibt aber gute Gründe dieser durchaus naheliegenden Deutung zu misstrauen. Man kann nämlich auch anders argumentieren und behaupten: Der Film ist überhaupt kein Film über die ehemalige DDR, sondern vielmehr eine Reflexion über die Erzählbarkeit von Erinnerung(en) mittels populärkultureller Topoi. Und noch ein Schritt weiter gedacht: Der Film reflektiert nicht nur die Erzählbarkeit von Erinnerung, sondern betreibt ‚Trauerarbeit‘ in einem sehr spezifischen Sinne, nämlich als Feier einer formalästhetischen Wiedervereinigung. Beides gilt es freilich näher auszuführen und dafür muss ich mich vorerst wieder etwas vom Ende des Films wegbewegen.

Zunächst zur Reflexion populärkultureller Erinnerung: Unschwer zu erkennen, bedient sich Sonnenallee allerlei populärkultureller Elemente. Westliche Pop-Musik ist allerorten zu vernehmen,[28] wie auch Ost-Schlager, beispielsweise das oben erwähnte Lied von Nina Hagen oder aber auch ein Lied mit dem Titel Geh’ zu ihr (…und laß Deinen Drachen steigen) von den Phudys.[29] Weiterhin folgt der Film dem relativ klassischen (und populären) Aufbau einer Komödie mit irrealen (Musical-)Momenten,[30] mitsamt „boy loves girl-Story“.[31] Ebenfalls sind Parallelen hinsichtlich Thematik und Aufbau offensichtlich zu populären US-amerikanischen Jungendfilmen der 1970er, wie American Graffiti oder Grease.[32] Aus solchen Versatzstücken wird eine Geschichte über die ehemalige DDR in Sonnenallee zusammengestellt. Eine mögliche Erinnerung wird konstruiert, die nicht vorrangig den Anschluss an historische Sachverhalte sucht, sondern aus medialen Formen und Stereotypen zusammengesetzt ist und diese auch als solche ausstellt. Genau deshalb scheint mir die Hypothese naheliegend, dass es sich vielleicht gar nicht um einen Film über die DDR handelt. Vielmehr ist es eine Reflexion über die Elemente populärkultureller Geschichtsschreibung im Zeitalter (massen-)medialer Reproduzierbarkeit am Beispiel einer Jugend in der DDR. Der ‚Farbfilm‘, den Michael vergessen haben soll, wie es im Lied von Nina Hagen heißt, wäre dann eben nicht mehr Inbegriff für das, wie es eben auch in der DDR gewesen sein soll – nämlich ‚schön‘ –, sondern wäre dann als Reflexion medial bedingten Erinnerns zu verstehen. Darauf verweist auch – und damit komme ich wieder zum Ende des Films – der Abspann. Dort werden noch einmal die Protagonisten in mehr oder minder witzigen Szenen aus dem Film und zum Teil noch nicht gezeigten Szenen vorstellig (siehe Abb. 4a-b). Dies ist seit Jahrzehnten ein durchaus gängiges filmisches Verfahren.[33]

Abb4a

Abb4b

Abb. 4a-b: SONNENALLEE: Erinnerungsarbeit im Abspann (D 1999, R: Leander Haußmann; Sat.1 Fernsehausstrahlung: 18.06.2006, 20.15h) [Alle Stills stammen vom Autor]

Der Abspann erfüllt dabei zwei Funktionen: Erstens ist es der Ausstieg aus dem Film, der noch einmal im Film an den Film erinnert und ihn damit schon distanziert.[34] Hier werden die Namen der Schauspieler eingeblendet und damit ein weiterer Schritt Richtung außerfilmischer Realität getätigt. So wird auch die fiktionale mediale Welt als mediale Schauspielwelt gerahmt und nicht wie etwa in Prager Botschaft via Schrift an die Realität der Wende angeschlossen.

Zweitens – und das scheint mir noch weit wichtiger, weil es die Hypothese der formalästhetischen Wiedervereinigung plausibilisiert – wird im Abspann nicht nur eine traditionelle filmische Erzählweise aufgegriffen, um uns aus dem Film zu führen, sondern es wird auch auf ästhetischer Ebene eine Verbindung von unterschiedlichen Filmtraditionen aus West und Ost vorgeführt. Während westlich geprägte Erzähltraditionen allgegenwärtig sind und auch diese Form des Abspanns eher einer solchen Erzähltradition zuzusprechen sein dürfte,[35] ist beispielsweise das den Abspann begleitende Schlusslied von Nina Hagen aus dem ‚Osten‘. Zudem sieht man im Abspann (und auch kurz im Film) eine Ikone des DDR-Films eingeblendet: Winfried Glatzeder, der Hauptdarsteller aus dem zum Kultfilm avancierten Film Die Legende von Paul und Paula aus dem Jahre 1973 (siehe Abb. 5).[36]

Abb 5

Abb. 5:  SONNENALLEE: ‚Erweiterte‘ Erinnerungsarbeit im Abspann (D 1999, R: Leander Haußmann; Sat.1 Fernsehausstrahlung: 18.06.2006, 20.15h) [Still stammt vom Autor]

Interessant ist nun nicht nur, dass mit Bezug auf diesen Schauspieler eine inhaltliche „Reminiszenz[…] an das DEFA-Erbe“[37] aufgerufen wird, wichtiger ist noch, wie das geschieht. Im Abspann wird auf ihn verwiesen, wie auf eine der handlungstragenden Figuren, obwohl der Protagonist ihm nur kurz im Hausflur begegnet. Hier wird nicht nur der Schauspieler, der die Figur Paul aus Die Legende von Paul und Paula gespielt hat, aufgerufen, sondern auch formalästhetisch zu dieser Figur oder vielmehr zu diesem Film eine Beziehung hergestellt. Das abschließende Bild in Die Legende von Paul und Paula zeigt ein Erinnerungsfoto von Paul und Paula (siehe Abb. 6). Bis in die Körperhaltung ist Paul alias Winfried Glatzeder am Ende von Sonnenallee genau noch einmal wie auf diesem Foto in Szene gesetzt.

Abb 6

Abb. 6: DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973, R: Heiner Carow, DVD, Icestorm Entertainment GmbH 2002). [Still stammt vom Autor]

Diese Bezugnahme weist eindrücklich auf das mediale Gedächtnis hin, das Sonnenallee ausbildet und vorführt. Populärkulturelle Topoi aus Ost und West werden aufgerufen und in eine Erzählung über die ehemalige DDR integriert. Auf dieser ästhetisch-medialen Ebene wird damit eine Wiedervereinigung zelebriert – nicht politisch, sondern von populärkulturellen Formen und Inhalten. Dadurch wird die ‚Trauer‘ über das Ende der DDR auf eine andere Ebene verlagert und verarbeitet als in Prager Botschaft. Zudem ist die Trauerarbeit damit auch – zumindest auf dieser ästhetischen Ebene – um einiges erfolgreicher abgeschlossen als in Good bye, Lenin!

Die Wende am Ende

Bei einem Rückblick auf diese drei filmischen Enden fällt auf, dass sie nicht nur jeweils sehr unterschiedliche, ja gegenläufige Trauerarbeiten mit Bezug auf die (Vor-)Wendeereignisse entfalten, sondern auch sehr unterschiedliche mediale Formen dafür wählen: Führt uns die Schrifteinblendung in Prager Botschaft hinein in die historischen Sachverhalte und in eine gemeinschaftliche ‚goldene‘ Zukunft, die unsere Gegenwart sein soll, so ist dagegen das stillgestellte Bild der Mutter in Good bye, Lenin! Ausdruck tiefster Melancholie über das konstitutiv Abwesende. Wiederum anders verhält es sich in Sonnenallee: Dort werden die bewegten, mit Schlagermusik untermalten ‚großen Momente‘ des Films am Ende noch einmal vorgeführt und münden in einer komödiantischen Wiedervereinigungsfeier ästhetischer Formen und Erinnerungen.

Die untersuchten Filme reflektieren damit ihre jeweils verwendeten medialen Formen unterschiedlich: Die Schrift liefert uns historische Tatsachen, die im Film selbst den Sprung in eine wunderbare Zukunft der Nach-Wende erlauben. Das bewegte Bild führt uns ebenfalls in die Nach-Wende, aber nicht in eine der Fakten, sondern zur Utopie einer Wiedervereinigung ästhetischer Formen und Symbole. Dagegen wird der Fotografie eine Rückwärtsgewandtheit zugeordnet, ein Festhalten an der Vor-Wende – und sei es auch nur eine aus der Nach-Wende imaginierte Vor-Wende. Was auch immer genau diese medialen Formdifferenzen sonst bedeuten mögen, die Wende jedenfalls wird mit ihnen in den Filmen sehr unterschiedlich vollzogen am Ende.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Prager Botschaft, Deutschland 2007, Regie: Lutz Konermann.
  2. Sonnenallee, Deutschland 1999, Regie: Leander Haußmann.
  3. Good Bye, Lenin!, Deutschland 2003, Regie: Wolfgang Becker.
  4. Bspw. Das Versprechen, Deutschland 1995, Regie: Margarethe von Trotta; Das Leben der Anderen, Deutschland 2006, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck; An die Grenze, Deutschland 2007, Regie: Urs Egger; Das Wunder von Berlin, Deutschland 2008, Regie: Roland Suso Richter.
  5. Vgl. dazu den Klassiker schlechthin Phillipe Ariès: Geschichte des Todes
    [1978]. 11. Aufl. München: dtv, 2005; oder kürzer gefasst Norbert Fischer: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt: Sutton 2001.
  6. Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie [1915]. In: ders.: Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften. 12. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 171-189, v.a. S. 173-176.
  7. Und auch die filmwissenschaftliche Forschung hat sich inzwischen sehr intensiv mit diesem Thema befasst. Vgl. dazu das Standardwerk von Richard Neupert: The End: Narration and Closure in the Cinema (Contemporary Film and Television). Detroit: Wayne State University Press 1995; für den deutschsprachigen Bereich vgl. Thomas Christen: Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen. Marburg: Schüren 2002; Alexander Böhnke: Paratexte des Films: Über die Grenzen des filmischen Universums. Bielefeld: transcript 2008, v.a. das Kapitel „The End“, S. 37-66 oder auch den Themenschwerpunkt Anfänge und Enden der Zeitschrift montage/av 12 (2003), Heft 2.
  8. Laurence Moinereau: Der Nachspann: Strategien der Trauer. In: montage/av 12 (2003), Heft 2, S. 170-181, hier S. 170.
  9. Vgl. einige weitere Beispiele bei Moinerau selbst, ebd., 171-173; noch sehr viel mehr Beispiele werden aufgeführt in: Christen, Das Ende im Spielfilm (Anm. 7), v.a. S. 64-68.ff.
  10. Bspw. La nuit americaine [FR Import] (Die amerikanische Nacht), Frankreich/ Italien 1973, Le dernier métro (Die letzte Metro), Frankreich/ BRD 1980; siehe dazu auch Moinerau, Der Nachspann (Anm. 10), S. 173.
  11. Schindler’s List (Schindlers Liste), USA 1993, Regie: Steven Spielberg.
  12. Kay Kirchmann: Geschichte spielen? Gemeinsamkeiten in den geschichtsphilosophischen Implikationen der counterfactual history und des Spiel-Films der 1990er Jahre. In: Spielformen im Spielfilm: Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Hg. von Rainer Leschke und Jochen Venus. Bielefeld: transcript 2007, S. 179-193, hier S. 190.
  13. Ob Alex’ Mutter nun weiß, dass Alex ihr vorspielt, die DDR würde weiter fortbestehen, ist nicht völlig klar. Es wird nie explizit formuliert. Nur einmal, als beide vor dem Fernseher sitzen und dabei das ‚Simulationsschauspiel‘ von der vermeintlichen Grenzöffnung für die Einreisewilligen aus dem Westen sehen, schaut die Mutter Alex in einer Weise an, die nahe legt, dass sie es weiß. Diese Lesart wird umso plausibler durch die vorhergehende Szene, in der Lara, Alex’ Freundin, die von Anfang an dafür war, der Mutter die Wahrheit über die Wende zu erzählen, ein Gespräch mit dessen Mutter führt, das die Rezipienten (und Alex) aber nicht hören, sondern nur durch eine Glasscheibe beobachten können. Zudem könnte man mit einigem Recht noch weitergehend behaupten, dass nicht nur Alex’ Mutter weiß, dass Alex ihr etwas vormacht, sondern auch, dass Alex weiß, dass es seine Muter weiß. Denn: Als sie das letzte Mal gemeinsam Fernsehen schauen und dabei dem oben beschriebenen ‚Simulationsschauspiel‘ folgen, wendet sich nicht nur die Mutter Alex zu, sondern auch er ihr und beide schauen sich lange an. Der Blick der Mutter ruht hier anerkennend auf ihrem Kind. Diesen Blick als Anerkennung der Leistungen von Alex und damit eben auch die Anerkennung seiner ‚Simulationsleistungen‘ zu interpretieren, scheint nicht völlig abwegig. Ob das tatsächlich der Wissensstand und die tatsächlichen Intentionen von Alex und seiner Mutter sind, wird aber nicht geklärt.
  14. Vgl. zu deren Analysen Kirchmann, Geschichte spielen (Anm. 15), v.a. 190-92; Kerstin Cornils: Die Komödie von der verlorenen Zeit: Utopie und Patriotismus in Wolfgang Beckers „Good Bye Lenin!“. In: Die Filmkomödie der Gegenwart. Hg. von Jörn Glasenapp und Claudia Lillge Fink: München 2008, S. 252-272; vgl. dazu auch den Beitrag von Markus Kuhn in vorliegendem Band.
  15. Vgl. zu dieser Argumentation prominent Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie (suhrkamp taschenbuch) [1980]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 100.
  16. Vgl. dazu ausführlicher ebd., v.a. S. 18 und S. 90f. Zur kritischen Diskussion solch eines Spur-Konzepts vgl. Peter Geimer: Das Bild der Spur. Mutmaßungen über ein untotes Paradigma. In: Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst (suhrkamp taschenbuch wissenschaft). Hg. von Sibylle Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 95-120.
  17. Vgl. dazu Barthes, Helle Kammer (Anm. 15),  S. 122.
  18. Roland Barthes’ Suchbewegungen nach dem ‚Wesen‘ der Fotografie kehren genau in diesem Sinne immer wieder zu dem Problem der An- und Abwesenheit der Mutter im fotografischen Bild zurück. Vgl. Barthes, Helle Kammer (Anm. 15), S. 76f., S. 85, S. 106,  S.118.
  19. Jacques Lacan: Le Séminaire : Livre X : L’Angoisse 1962-1963. Paris 2004, S. 34, zitiert nach Kai Hammermeister: Jacques Lacan. München: Beck 2008, S. 68 (Übersetzung von Kai Kammermeister). Mit dem angeführten Satz greift Lacan eine Wendung von Alexandre Kojève auf, der diese im Kontext seiner Neuinterpretation von Friedrich Hegels Konzept der Herz-Knecht-Dialektik formulierte, eine Dialektik, die er – und das wird auch für Lacan entscheidend – vor allem hinsichtlich der darin implizierten Begehrensdynamik ‚vergegenwärtigten‘ wollte. Vgl. Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens: Kommentar zur »Phänomenologie des Geistes« [1947]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 23f.
  20. Entscheidend ist diese Verweigerung auch für die Dynamik der Begehrensstruktur nach Lacan, die ihre Dynamik eben durch einen permanenten Aufschub der Befriedigung erhält. Vgl. zur Konstitution des Begehrens auch den wirkungsmächtigen Aufsatz Lacans Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion [1949]. In ders.: Schriften, Bd.1. 3. Aufl. Weinheim/Berlin: Quadriga 1991, S. 61-70.
  21. Vgl. Freud, Trauer und Melancholie (Anm. 6).
  22. Solch ein stillgestelltes, fotografisches Bild trägt nach Roland Barthes per se eine melancholische Signatur:

    „Unbeweglich fließt die PHOTOGRAPHIE von der Darstellung zurück zur Bewahrung […] sie [die Fotografie, ‚SG] ist ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie) […].“ (Barthes, Helle Kammer (Anm. 15), 100) Der Film wird an dieser Stelle von Barthes der Fotografie entgegengesetzt; strebe ersterer doch aufgrund seiner ‚Bewegungsbilder‘ zeitlich immer nach vorne. Das ist auch der Grund, warum der Film nach Barthes per se nicht melancholisch sein kann. Einmal abgesehen von dieser durchaus problematischen Einschätzung, ist solch ein Gedanke für Good bye, Lenin! fruchtbar zu machen: Die filmische Erzählung ist zwar durchtränkt von Melancholie, aber die herausragende Verdichtung findet sich am Ende des Films aber tatsächlich in einer Fotografie, die ,ohne Zukunft ist’.

  23. Zu einer ausführlicheren Beschreibung und Beurteilung siehe Christoph Classen: Sonnenallee. In: Filmgenres Komödie. Hg. von Heinz-B. Heller und Matthias Steinle. Ditzingen: Reclam 2005, S. 491-494.
  24. So urteilt bspw. Classen, Sonnenallee (Anm. 23), S.  494.
  25. Und im Übrigen seit Sonnenallee Begleitmusik zu so gut wie jeder Ostalgie-Show im Fernsehen.
  26. Du hast den Farbfilm vergessen (Nina Hagen & Automobil, Single, Amiga 1974).
  27. Vgl. Classen, Sonnenallee (Anm. 23), S. 494.
  28. Thematisch geht es darum, ‚westliche‘ Musik aufzunehmen oder illegale Platten von Westkünstlern wie den Rolling Stones zu kaufen. Formal werden viele Szenen von westlicher Popmusik begleitet.
  29. Geh’ zu ihr (…und laß Deinen Drachen steigen) (Phudys, Single Amiga 1973). Dieses Lied war Teil der Filmmusik zum Film Die Legende von Paul und Paula (DDR 1973, Regie: Heiner Carow).
  30. Für ihre Kriterien einer Filmkomödie siehe Heinz-B. Heller und Matthias Steinle: Einleitung. In: Filmgenres Komödie (Anm. 23), S. 11-21.
  31. Claasen, Sonnenallee (Anm. 23), S.  492.
  32. American Graffiti,USA 1973, Regie: George Lucas; Grease,USA 1977, Regie: Randal Kleiser. Vgl. zu dieser Einschätzung Classen, Sonnenallee (Anm. 23), S. 493.
  33. Vgl. dazu Christen, Das Ende im Spielfilm (Anm. 7), S. 63f.
  34. Siehe zu dieser Funktion auch Moinereau, Der Nachspann (Anm. 10), S. 173-175.
  35. In diese Richtung lassen sich auch die Beispiele lesen, die Moinereau und Christen bei ihren Analysen von Filmenden vorlegen – siehe: Christen, Das Ende im Spielfilm (Anm. 7), S. 63f.; Moinereau, Der Nachspann (Anm. 10), S. 173-175.
  36. Die Legende von Paul und Paula, DDR 1973, Regie: Heiner Carow.
  37. Claasen, Sonnenallee (Anm. 23), S. 493.

Therapiesitzung – Hegemanns Axolotl Roadkill

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • HEGEMANN, Helene: Axolotl Roadkill, Ullstein, Berlin 2010. ISBN: 978-3550087929.

Alle anderen sind „Bäh“ und man selbst irgendwie auch – so könnte man die Welt der jugendlichen Protagonistin Mifti, Ich-Erzählerin des Romans „Axolotl Roadkill“ und Alter-Ego der Autorin Helene Hegemann, in Hegemanns Erstling zusammenfassen. Mifti ist angeekelt, wie Teenager manchmal angeekelt sind. Ihr Leben ist zu gleichen Teilen durchzogen von Haltlosigkeit, wie von einer Unmenge an angerissenen Diskursen, die sie nicht verarbeiten kann und die ihre Haltlosigkeit verstärken. Zudem hält sich Mifti für therapieresistent. Dies wird ebenso betont, wie dass die Protagonistin an einem Roman über ihre Erlebnisse schreibt. Den Titel des fiktiven Romans kann man sich nun leicht ausmalen.

„Ich bin wild aufgewachsen und will wild bleiben“, lautet der unkeusche Wunsch der Protagonistin. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt dieser Vorsatz jedoch allzu fromm: jeder kennt den Wunsch und man weiß, wie er im Prozess des Erwachsenwerdens unabänderlich langsam bröckelt. Aber diese Unangepasstheit braucht die jugendliche Protagonistin, um sich von der Erwachsenenwelt abzugrenzen. Ein tendenziell pubertärer Vorgang.

Was dem Blogger Airen, dem man größere Authentizität nachsagen könnte, mit seiner Veröffentlichung „Strobo“ in einer Erstauflage von 300 Exemplaren nicht gelingen konnte, hat Hegemanns Roman in eine Besteller-Manie verwandelt: Die junge Autorin hat einer bestimmten Strömung der heutigen Zeit eine Stimme gegeben. Der Berliner Club Berghain, in einem alten Kraftwerk gelegen, ist schon länger eine steinerne Metapher für die Mischung aus Drogen, anonymen Sex und exzessivem Nachtleben, die von dem lesenden Bildungsbürger nur bestaunt, nicht aber gelebt werden darf.

„Niemand hat ein Gesicht, es herrscht grenzenlose Anonymität. Hier geht es also um Gott. Nur auf dieser Party ist man anonym, man ist nur dann anonym, wenn man Gott ist.“ Ähnlich wie dieses Beispiel hinken viele Vergleiche, Pointen und ganze Abschnitte. Zudem sind die Figuren zu schemenhaft und schematisch, um interessante Charaktere zu sein. Mifti ist darüber hinaus noch neunmalklug und vorlaut. Die meisten der Dialoge wirken gestelzt, in ihnen wird nicht die charakteristische Stimme einer Figur transportiert, sondern die im monologischen Duktus des Statements vorgetragene, notdürftig verdeckte Meinung der Autorin.

Für sich stehend ist „Axolotl Roadkill“ unreif, als Literatur nicht ernstzunehmen. Es liest sich wie die Aneinanderreihung breitgewalzter Sinnsprüche eines Teenager-Tagebuchs, zur Verarbeitung des Erlebten niedergeschrieben. Ein wenig Dialog davor und dahinter, ein bisschen Beschreibung drumherum, und ein zwei Sätze noch, die etwas Anrüchiges haben, über die man sich aufregen könnte – fertig ist ein Axolotl-Erzählabschnitt. Die narrative Klammer des Romans bleibt fadenscheinig. Die einzelnen Passagen sind wirr und unzusammenhängend wie niedergeschriebene Träume oder Drogentrips. Allerdings ohne Suchtpotential.

Insgesamt erfüllt das Buch viele Kriterien des Boulevard: Es geht um Sex, Drogen und Leute. Es ist in einer einfachen Sprache geschrieben, und auch die kaum vorhandene Handlung ist leicht zu verstehen. Im Prinzip geht Hegemann mit ihrer Erzählung den Weg, der von Charlotte Roche bereitet wurde: wenig Qualität, dafür viel Schmutz. Das hatte dem Verkauf schon damals nicht geschadet.

Erst wenn man also davon ausgeht, dass die Erzählung nicht im Roman, sondern erst in der Lebenswelt abgeschlossen ist, also in den Übertragungen, die von Mifti hin zu Helene Hegemann gemacht werden können, ergibt sich ein rundes Bild. Dann kommt allerdings auch eine lüsterne Gier nach Sensation hinzu. Darin liegt das – nahezu kathartische – Potential des Buchs. Vielleicht ist es das, was das Feuilleton anfangs an dem eigentlich unvollständigen, banalen Buch faszinierte. Nicht das Fräuleinwunder, sondern die verruchte Projektionsfläche für den lüsternen Blick in fremde Wohnzimmer? Ein literarischer Genuss ist es jedenfalls nicht.

Auch wenn es sich in diesem Fall nicht lohnt, der Stimme von Helene Hegemann zu lauschen – ungestüm, laut, unreif und mit kaum Tiefgang – so ist diese Stimme doch vernehmbar, und man darf auf ihre Entwicklung gespannt sein. Weil Schreiben auch eine therapeutische Wirkung hat, kann man behaupten, Mifti ist nicht therapieresistent, sondern hat sich mit dem Schreiben des Buchs selbst therapiert.

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Hanebüchene Prophezeiungen zur Weltwirtschaftskrise

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • BÖCKL, Manfred: Vom Stachel ihrer Gier werden sie getötet. Prophezeiungen zur Weltwirtschaftskrise und ihren möglichen katastrophalen Folgen. SüdOst Verlag, München 2010. ISBN 978-3-89682-186-7 Pick It!.

Was kann schon dabei herauskommen, wenn Propheten, Tempelritter und Visionäre gemeinsam mit Druiden, Paranormalen und einem präkognitiv veranlagten Bauern aus dem Waldviertel zitiert werden, um „eiskalte Feinde der Humanität“ ihres Tuns zu überführen? Genau dies macht der Autor Manfred Böckl in seinem Buch „Vom Stachel ihrer Gier werden sie getötet“, in dem er auf 144 Seiten „Prophezeiungen zur Weltwirtschaftskrise und ihren möglichen katastrophalen Folgen“ präsentiert.
Katastrophal ist einzig das Buch. Böckl verschlagwortet aktuell existierende Groß-Probleme – Finanzkrise, Umweltzerstörung, Terrorismus – auf peinlichste Art und Weise. „Unendlich geldgierige Konzernbosse“, „verantwortungslose Finanzabenteurer“ und „skrupellose Profitmaximierer“ sollen die eiskalten Feinde der Humanität sein. Sie stehen bei Böckl für „brutalen Neokapitalismus“ und fachen „hemmungslosen Konsumwahn“ an, der schließlich in der Zerstörung der Welt mündet.
Böckls Buch ist mit sprachlichen Plattitüden gespickt, die sich in die Argumentationsweise fortsetzen: Jeder Sachverhalt, der dem Autor nicht zusagt, seien es Handys, Computerspiele, Politiker oder Banken, ist menschenverachtend. Dass er sich dabei auf solch zweifelhafte Quellen wie Propheten, präkognitive Bauern oder britannische Druiden stützt, macht es nicht besser. Zum Beispiel erzählt eine Vision aus dem frühen Mittelalter von einer Eule, die einen Esel ausbrütet, der von einer Schlange großgezogen wird und schließlich die Krone aufgesetzt bekommt. Böckl „interpretiert“ diese Vision auf seine Weise: „In der Schlange und im Esel werden die machthungrigen, neokapitalistischen Zerstörer der Menschlichkeit, des Anstandes und auch der Natur kenntlich.“ An anderer Stelle warnt ein Visionär vor Handy- und Computerstrahlung und verweist auf seine deutlichen Kopfschmerzen, die er davon bekommen habe. Zum Schutz baute er sich eine Blockhütte, die die Strahlung abfängt.
Vielleicht könnte man über die dreiste Dummheit schmunzeln, mit der Böckl nichtssagende Weissagungen als Wahrheiten verkauft und gegen eine graue Masse der Nutznießer des Kapitalismus wettert. Aber wenn er von „nichteuropäischen Immigranten“ schreibt, „die sich der Integration vielfach verweigern und deren Gewaltbereitschaft in letzter Zeit beträchtlich gewachsen ist“, hört der Spaß auf.
Weder mit seiner antiquierten Sprache, der 80er Jahre Umschlaggestaltung oder dem hanebüchenen Inhalt verdient „Vom Stachel ihrer Gier werden sie getötet“ irgendwelche Sympathien. Vielleicht kann sich Manfred Böckl irgendwann vor jenen als Wunderheiler der modernen Gesellschaft bezeichnen, die an Propheten, Visionäre und Tempelritter glauben. Wahrscheinlicher und wünschenswert ist jedoch, dass weder er noch sein Buch von den Menschen wahrgenommen werden.

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Über „Bowling Alone“ von Robert D. Putnam

Besprochen von Hans W. Giessen

  • PUTNAM, R. D.: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. Simon & Schuster: New York 2000. ISBN 978-0684832838.

1. Verwaltung, Staatswesen, Gemeinschaftsgefühl und Medien

Robert D. Putnams Buch hat den Titel ”Bowling Alone“; dieser Titel stellt zugleich die Quintessenz seiner These dar. Ganz allgemein geht es um die Frage, wieso sich manche Gesellschaften zu wohlhabenden Gebilden, ,blühenden Gemeinwesen’ entwickeln, und andere nicht. Das Dramatische der Antwort des Autors Robert D. Putnams ist, dass er nicht nur einen Schlüssel erkannt zu haben glaubt, sondern gleichzeitig die Begründung, warum offensichtlich die Grundlage des amerikanischen Wohlstands – langsam, aber stetig – im Schwinden begriffen sei. (Im Übrigen geht Putnam von langfristigen Prozessen aus; eine kurzfristige Wirtschaftskrise hat mit seiner These nichts zu tun).
Für Putnam hängen die wirtschaftliche Entwicklung und der gesellschaftliche Wohlstand einer Region unter anderem und insoweit leicht nachvollziehbar davon ab, wie die jeweilige Verwaltung funktioniert.
Putnam ergänzt diesen Satz mit der weiteren These, dass eine Verwaltung vor allem dann gut funktioniere, wenn sie von einem gewissen Verantwortungsgefühl geprägt sei. Dieses Verantwortungsgefühl entstehe vor allem – oder eigentlich: nur – dann, wenn es überhaupt Gemeinschaften mit einem Gefühl gegenseitiger Verpflichtungen gebe, für die die Verwaltung dann tätig werden könne. Putnams Kernfrage lautet demnach: Wie entsteht ein solches Verantwortungsgefühl und ein darauf fußendes Gemeinwesen, wie kann es gefördert oder gegebenenfalls auch nur bewahrt werden? Die Brisanz der Putnam’schen Argumentationskette liegt darin, dass der Autor dieses Gefühl und die darauf aufbauenden gut funktionierenden Gemeinwesen bedroht sieht, aus strukturellen Gründen.
Putnams eigene Studien begannen in den frühen siebziger Jahren mit Feldforschungen in unterschiedlichen Regionen Italiens. Dort wurde zum damaligen Zeitpunkt eine Verwaltungsreform durchgeführt, deren Ziel eine größere Freiheit der einzelnen Regionen von der bis dahin alleinentscheidenden, übermächtigen Zentralregierung in Rom war. Die zwanzig Regionen des Landes, von Sizilien im Süden bis zum Trentino im Norden, erhielten neue Gesetzgebungskompetenzen – und wurden jetzt natürlich auch verantwortlich für die eigene Entwicklung. Robert D. Putnam fuhr direkt 1970 mit einigen Kollegen nach Italien und untersuchte, wie die neuen Verwaltungen ihre Aufgaben erledigten, wo und warum es zum Aufschwung kam, und weshalb es in manchen Regionen dennoch nicht so recht klappte. Es fiel auf, dass die stagnierenden Regionen allesamt im Süden lagen, während der Norden von der Reform im Grossen und Ganzen recht deutlich profitierte.
Dies mag aus verschiedenen Gründen überraschen. Zunächst war das Lebensniveau im Süden viel niedriger als im Norden. Nun kann eine zumindest relative Wohlstandssteigerung von einem niedrigen Sockel aus leichter bewerkstelligt werden als von hohem Niveau. Dazu kommt, dass die Verwaltungsbeamten des Nordens im Schnitt weniger gut ausgebildet waren als die des Südens. Wieso kam es dann zu dieser verblüffenden Entwicklung?
Durch eine Vielzahl von statistischen Untersuchungen konnte Putnam zeigen, dass sich die Unterschiede bis ins Mittelalter zurückführen lassen, als die Normannen in Süditalien einfielen und eine autoritäre Herrschaft errichteten. Vor allem seien sie bestrebt gewesen, die dort existierenden Dorfgemeinschaften aufzubrechen und weitgehend zu zerstören, damit sich kein Widerstand gegen die fremden Herren entwickeln konnte.
Es ist bemerkenswert, dass die Normannen – auch Wikinger, ein germanisches Volk, das ursprünglich ebenfalls gemeinschaftlich organisiert war und Konflikte im sogenannten Thing oder Allthing gemeinschaftlich löste, dort auch gemeinschaftlich Entscheidungen fällte – die gemeinschaftlichen Strukturen im eroberten Süditalien so radikal auflösten. Allerdings war dies offenbar bereits die Folge anderer und früherer Entwicklungen. Schon im neunten Jahrhundert eroberten Normannengruppen Teile des heutigen Nordwestfrankreich, die noch immer so bezeichnete Normandie. Hier experimentierten sie mit neuen Gesellschaftsstrukturen, die sich im Eroberungskampf als überlegen erwiesen: Die zunächst gleichberechtigten Teilnehmer einer Wikfahrt scharten sich unter der zentralen Herrschaftsgewalt des Normannenherzogs. Verstärkend kam hinzu, dass die Eroberer aus dem Norden ihre Bindungen an die Herkunftsregion verloren. Diese Kombination – ein Eroberungs- und Kriegszustand ohne traditionelle Bindungen – intensivierte den Prozess der Machtzentralisierung. Bei den Normannen gab es nur einen schwachen ,Adel’, wenn er überhaupt so bezeichnet werden kann; und es gab überhaupt kein Lehnswesen. Es gab also keine nennenswerten Strukturen, die sich zwischen die zentrale Macht und den Einzelnen stellen konnten. So konnte der Herzog eine zentrale Verwaltung aufbauen. Dieser Regierungsstil wurde im Übrigen später auch zum Vorbild der Königsherrschaft in Frankreich.
Als die Normannen dann in der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts aus der Normandie zu weiteren Eroberungszügen nach Süditalien aufbrachen, hatte sich dieses Herrschaftsmodell bereits durchgesetzt. Umso nachdrücklicher wurde es im neueroberten Territorium eingeführt. Offenbar eignete es sich gut zur Machtsicherung in einem fremden Gebiet. Robert D. Putnam betont, es sei das Bestreben der Normannen gewesen, die Bewohner der süditalienischen Territorien vom Wohlwollen der Herrschaft abhängig zu machen. Gegenseitiges Verantwortungsgefühl und der Stolz auf die eigene Gemeinschaft seien deshalb systematisch unterdrückt worden.
Im Norden dagegen blühten – aus gerade umgekehrten Gründen: weil die Zentralgewalt, das Heilige Römische Reich, so schwach geworden war – autonome Republiken auf, geprägt von engen Gemeinschaften, die ein hohes gegenseitiges Verantwortungsgefühl entwickelt hatten: Zünfte und Gilden und andere Gruppierungen, die, so Putnam, ein Gefühl des Vertrauens aufeinander erwachsen ließen, das es im Süden nie gegeben habe.
Putnam betont wiederholt die ,erstaunliche Konstanz‘ des italienischen Nord-Süd-Gegensatzes bis in die Gegenwart hinein. Die Strukturen hätten den Niedergang der bis dahin unabhängigen Republiken des Nordens im siebzehnten Jahrhundert ebenso überstanden wie das Risorgimento des neunzehnten Jahrhunderts. Und so konnte Putnam auch feststellen, dass die wirtschaftlich schwächsten Regionen noch immer exakt dem ehemaligen Herrschaftsgebiet der Normannenkönige im elften und zwölften Jahrhundert entsprachen. Gleichzeitig seien dies noch immer die Regionen mit dem am wenigsten ausgeprägten dörflichen Gemeinschaftsleben. Beispielsweise gebe es hier die wenigsten örtlichen Gesangsvereine oder Fußballclubs.
Aufgrund dieser Beobachtungen gelangte Robert D. Putnam zur Überzeugung, dass die Qualität der Verwaltung kaum vom Bildungsgrad der Verwaltungsbeamten abhänge, sondern vor allem vom jeweils vorherrschenden Gemeinschaftsgefühl. Da dieses im Norden ausgeprägter gewesen sei, wurde dort die Verwaltungsreform zur Erfolgsgeschichte, im Gegensatz zum Süden, wo es aufgrund der jahrhundertlangen Ausbeutung noch immer zuviel Misstrauen gebe. So schrieb der Amerikaner als Ergebnis seiner Italien-Studie etwas pointiert, dass eine gute Verwaltung ein Nebenprodukt von örtlichen Gesangsvereinen und Fußballclubs sei: Wo diese Gemeinschaften bedeutsam seien, entwickle sich ein allgemeines Gemeinschaftsempfinden, von dem dann die gesamte Region profitiere.
Wenn diese These Putnams zutreffend sein sollte, dann wird auch verständlich, warum er nach der Rückkehr in sein Heimatland so alarmiert war. Dort musste er nämlich feststellen, dass die zahllosen traditionellen Gemeinschaften – ein Erbe aus der Zeit, als das weite Land erobert wurde und jeder auf den anderen angewiesen war – in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dramatisch schwächer geworden waren. Robert D. Putnam präsentiert eindeutige Zahlen: Das Vertrauen in Regierungen, sei es auf der nationalen, sei es auf der lokalen Ebene, werde immer geringer, und immer weniger Bürger engagierten sich für ihr Gemeinwesen. Die Anzahl der Kirchgänger habe ebenso abgenommen wie die der Gewerkschaftsmitglieder. Die Mitgliedschaft bei den Pfadfindern, einer traditionell wichtigen Gemeinschaft in Amerika, werde immer schwächer, auch beim Roten Kreuz oder bei den Frauenverbänden. Insgesamt sei das Engagement in solch freiwilligen Gemeinschaften etwa in den fünfzehn Jahren von 1974 bis 1989 im statistischen Schnitt um ein Sechstel gesunken. Selbst das Kegeln in Verbänden und Vereinen werde immer weniger populär, obgleich es sich doch um eine der charakteristischsten amerikanischen Freizeitaktivitäten handele: Zwischen 1980 und 1993 habe es einen Rückgang um sage und schreibe 40 Prozent gegeben!
Bedeutet der Kegelclub für Nordamerika das, was der Fußballverein für Italien ist? Sicherlich, auf der ,kulturellen Ebene‘ gibt es enorme Unterschiede; kaum zwei Ballspiele dürften einander unähnlicher sein. Aber Robert Putnam vergleicht ja nicht die Spiele, sondern nimmt sie in ihrer Funktion für die Gesellschaft war, als Ausdruck durchaus vergleichbarer Strukturen. Und daher reagiert er besorgt. – Im Gegensatz zum Fußball kann Bowling im übrigen ja auch alleine gespielt werden, und in der Tat hat die Anzahl der Kegler, die nun ganz alleine ihren Sport ausübten, ohne irgendeinen Verein, dem sie angehörten, im selben Zeitraum um zehn Prozent zugenommen – für Putnam ein weiteres Indiz seiner These (und aus dieser Beobachtung leitet er auch den Titel seines Buches ab: “Bowling Alone“). So formuliert er noch recht allgemein, dass offenbar auch in Amerika das Bedürfnis wachse, das Privatleben selbstbestimmt und frei von Zwängen welcher Gemeinschaft auch immer zu gestalten.
Was mögen die Gründe für diese Entwicklung sein? Robert Putnam bestätigt, dass es ausgesprochen viele Ursachen geben könne. Er nennt etwa die zunehmende Mobilität, die traditionelle Bindungen schwäche. Wichtig sei zudem die Tatsache, dass nun auch Frauen immer stärker ins Berufsleben strömen, weil dies ebenso Zeit und Energie koste. Schließlich sei die Bevölkerungsentwicklung mit der Zunahme der Alten ein Problem. Aber am Bedeutsamsten sei die technische Entwicklung und insbesondere das Fernsehen. Darauf deute bereits ganz simpel die enorme Zeit, die dafür aufgewandt werde – mehr als vierzig Prozent der Freizeit eines amerikanischen Durchschnittsbürgers. Das Fernsehen befriedige viele Bedürfnisse der Bürger, aber, so Putnam, eben auf Kosten der Gemeinschaft. Deren Unterhaltungswert sei halt auch geringer, merkt er an. Einen entscheidenden Hinweis sieht er in verschiedenen statistischen Daten – vor allem in der Tatsache, dass Menschen, die täglich viele Stunden fernsehen, deutlich seltener Vereinsmitglieder seien als Wenigseher, sich deutlich seltener für andere engagierten und überhaupt deutlich seltener ihr Heim verließen. Auch diese Zahlen sind im Lauf der Jahrzehnte gewachsen und ausgeprägter geworden, bereits schwach seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und seit den siebziger Jahren immer deutlicher. Inzwischen haben Sendervermehrungen, Breitbandverkabelung und vor allem der Computer das Problem noch verstärkt.

2. Eine kurze Anmerkung zu Putnams Ansatz

Nun sind die Vereinigten Staaten das ,Mutterland’ des Fernsehkonsums, bereits seit den fünfziger Jahren. Die aktive Bevölkerung ist also bereits mit dem Fernsehapparat aufgewachsen – mehr noch: ihre Elterngeneration war die erste Fernsehgeneration; man könne also auch nicht sagen, dass sich eventuell noch die Erziehung auswirke, die die Eltern den Kindern angedeihen ließen. Inzwischen präge das Fernsehen bereits die Kindeskinder der ersten Zuschauer.
Dennoch hat in dieser Zeit der Wohlstand in den USA noch (wenngleich sehr asymmetrisch, aber Asymmetrien gab es hier schon lange) zugenommen, und ist nicht etwa geringer geworden. Insofern sind die Befürchtungen Robert D. Putnams offenbar zumindest übertrieben, und in der Tat lädt diese Beobachtung dazu ein, nach den Schwachstellen der Putnam’schen Theorie zu suchen. Das Problem ist offenbar, dass er zwar für Italien eine augenfällige Parallele zwischen gesellschaftlichem Engagement und der Effizienz der Verwaltung belegen kann, aber keinen Wirkungszusammenhang. Für Amerika kann Putnam Parallelen zwischen Fernsehkonsum und Abnahme des gesellschaftlichen Engagements empirisch-statistisch belegten, aber nicht, dass die Verwaltung darunter leide, und auch keine anderen Konsequenzen. Die italienischen Wirkungszusammenhänge gelten demnach nicht notwendigerweise auch für andere Kulturkreise, und für die Entwicklungen von Gemeinwesen gibt es auch andere, ebenso plausible Erklärungsversuche. So hat beispielsweise Max Weber mit seinem Konzept einer ,protestantischen Ethik’ ein mindestens ebenso überzeugendes Erklärungsmodell für den Wohlstand in Europa und Amerika aufgestellt.
Max Weber hatte in Nordamerika und Europa, insbesondere im Verlauf eines Vergleichs innerhalb Deutschlands, aber auch bezüglich der Unterschiede zwischen England und den lateinisch-katholischen Ländern beobachtet, dass es einen Zusammenhang zwischen der Religionszugehörigkeit und dem Wirtschaftsverhalten sowie dem allgemeinen Wohlstand gibt. Weber konnte dank aufwändiger Kulturanalysen die Ursache plausibel erklären; der Grund für den unterschiedlichen Wohlstand liege demnach nicht in unterschiedliche Strukturen, sondern in unterschiedlichen Lebenseinstellungen – also in kulturellen Faktoren. Insbesondere der die protestantische Strömung des Calvinismus verurteile das Ausruhen. Dort gelte sogar der Besitz als unethisch, wenn er nicht genutzt werde, um damit zu arbeiten, um also neue Werte zu schaffen. Dies wiederum begünstige die von einem solchen Leitgedanken getragenen Gesellschaften. Die Arbeitstugenden und die immer höhere Kapitalbildung hätten weitere technische Entwicklungen und letztlich immer mehr Wohlstand ermöglicht – unabhängig von Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühlen; sie bedürfen ihrer nicht.
Das Konzept der ,protestantischen Ethik’ widerspricht den italienischen Befunden Robert D. Putnams nicht, auch nicht den Aussagen hinsichtlich des Gemeinschaftslebens in Amerika, denn es ist auf einer anderen Ebene angesiedelt – aber es relativiert beispielsweise die von Putnam in düsteren Farben gemalten Bedrohungen unseres gesellschaftlichen Wohlstands. Im Übrigen ist auch diesem Modell sicherlich kein alleiniger Erklärungsanspruch zuzubilligen, wie nicht zuletzt das Beispiel der traditionell katholischen Länder Bayern oder Luxembourg zeigt, die (dennoch?) zu den wohlhabendsten Ländern Deutschlands beziehungsweise der EU aufgestiegen sind. So bleibt als Quintessenz, dass es wohl keine monokausale Erklärung gibt; und dass noch nicht einmal alle in einem kulturellen Kontext plausiblen Erklärungen Allgemeinverbindlichkeitsanspruch geltend machen können.

R. D. Putnam, with R. Leonardi and R. Y. Nanetti, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton, New Jersey 1992
M. Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 20, 1904, Band 21, 1905

Laurent Jullier: Star Wars. Anatomie einer Saga

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • JULLIER, Laurent: Star Wars. Anatomie einer Saga, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2007. ISBN 978-3896695574.

Zweifelsfrei: die Star-Wars-Saga hat sich in allen Punkten, d.h. Erzählung, Vermarktung und Publikumserfolg zu einem modernen Mythos entwickelt. Bekannt ist auch, dass sich ihr Schöpfer George Lucas bei der Konzeption von den Erzählstrukturen klassischer Mythen hat inspirieren lassen. Der französische Filmwissenschaftler Laurent Jullier hat 2007 mit dem Buch „Star Wars“ eine neue, wissenschaftsnahe „Anatomie einer Saga“ vorgelegt. Auf 344 Seiten nähert er sich dem Thema, ohne ihm wirklich nah zu kommen.
In der Einleitung des Buchs warnt Jullier vor der Betriebsblindheit wissenschaftlicher und feuilletonistischer Emsigkeit. „Denn vor allem von ihnen [den Forschern und Journalisten] werden die Konzepte und Ideologien herangetragen, von denen erwartet wird, dass sie sich im Werk selbst befinden“. Heißt: man interpretiert nicht seinen Gegenstand, sondern redet in dessen Namen über die eigenen Interessen. Dass der Autor im Verlauf des Buchs mehrfach ausgerechnet selbst in diese Falle tappt, ist mehr als ärgerlich. Aber Jullier trifft auch die begrüßenswerte Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Analyse des Erkenntnisgegenstandes. Die interne Analyse zeichnet sich dadurch aus, dass sie in „der Welt des Films bleibt und Wiederholungen, Antinomien und Symmetrien ausfindig macht. Man nimmt Maß, man verzeichnet technische Details“. Die externe Analyse dagegen beleuchtet die Verbindungen zwischen Film und Realität, Saga und Welt – sie ist das, was man einen kulturwissenschaftlichen Ansatz nennt.
Entsprechend der getroffenen Unterscheidung beginnt Jullier mit einer Analyse der formalen Struktur der Filme. Hierbei ist es allerdings schwer, der Argumentation zu folgen, da ausschließlich Zahlenreihen durchdekliniert werden. Der Zusammenhang zur inhaltlichen bzw. narrativen Ebene wird nicht hergestellt – etwas, was nicht nur möglich, sondern auch angebracht wäre. Insgesamt ist die interne Analyse zwar schlüssig, aber in ihrer Argumentation nicht zwingend und inhaltlich wenig aufschlussreich. Zumindest aber der Vergleich zwischen dem Pod-Race in „Star Wars Ep. 1“ und dem Wagenrennen in dem Film „Ben Hur“ mit Charlton Heston stellt ein gelungenes Stück Wissenschaft dar.
Diese gelungenen Stücke bleiben jedoch viel zu vereinzelt, da sich der Autor gerade im zweiten Teil seiner Arbeit – der externen Analyse – darauf verlegt, die Arbeiten anderer Interpreten auf ihre Schwächen hin abzuklopfen. Mehr noch, oftmals wirkt es geradezu zwanghaft, wie sich Jullier gegen andere Interpretationen stellt und spätestens, wenn er an der Verbindung der Begriffe „High Concept“ und „Star Wars“ mäkelt, wird seine Masche zur Macke.
Über weite Passagen ist das Buch in einem schnoddrigen Stil und dozentenhaften Tonfall geschrieben, der in Deutschland für wissenschaftliche Arbeiten sehr untypisch ist. Zudem wechselt das Buch phasenweise in den Modus der Ironie, der kaum von ernst gemeinten Aussagen zu unterscheiden ist.
Letztlich entspricht Julliers „Anatomie einer Saga“ weder sprachlich, analytisch oder inhaltlich dem, was man von einem wissenschaftlichen Werk erwarten darf. So richtig die prinzipielle Forderung nach einer Interpretation ist, die erst nah am Werk bleibt und sich dann für die Verbindung von Werk und Welt hin öffnet; so sehr steht der Verdacht nah, dass Jullier seinen Gegenstand wegen der popkulturellen Bedeutung und der großen Menge an vorhandenen Paratexten gewählt hat, um daran redselig seine Sicht auf die Welt abzuarbeiten. Von einer textnahen Interpretation jedenfalls kann kaum mehr die Rede sein. Insofern eignet sich dieses Buch nur für hart gesottene Fans der Star-Wars-Saga oder als ein Blick auf die Wirren des Wissenschaftsbetriebs.