Grampp, Sven: Das Ende des Films und das Ende der DDR am Ende des Films, 04.05.10

Kunst als Spiegel gesellschaftlicher Prozesse – gerade geschichtliche Zäsuren wie der Niedergang der DDR reflektieren sich besonders in ihr. Wie das Ende des Films mit dem Niedergang der DDR korrespondiert, untersucht Sven Grampp anhand von drei Filmen. 

Vom Ende her möchte ich einige Filme untersuchen, die sich im weitesten Sinne mit der deutsch-deutschen Geschichte beschäftigen und deren Kulminationspunkte in der so genannten Wende bzw. in der deutschen Wiedervereinigung zu finden sind. Gerade vom Ende her diese Filme zu verstehen, hat einiges für sich, wie ich glaube. Zwei Dinge kommen dort nämlich zusammen: Erstens werden hier die Wende-Ereignisse noch einmal rückblickend aus der Position der Nach-Wende reflektiert, oder umgekehrt ein (zumeist kurzer) Ausblick auf die Nach-Wende gegeben. Zweitens vollzieht sich diese Reflexion der Wende eben am Ende des Films und damit an einem Ort, der eine Schwelle darstellt zwischen zwei Bereichen, nämlich zwischen der fiktionalen Welt des Films und der außerfilmischen Realität. Wie ich zeigen möchte, exponieren die hier ausgewählten Filme das Ende des Films im Film symbolisch – und zwar in einer Weise, die verschiedenartig Verbindungslinien der diegetischen Welt mit den historischen Wende-Ereignissen herstellen. Dabei wird in sehr unterschiedlicher Weise Trauerarbeit geleistet hinsichtlich unwiederbringlich vergangener Ereignisse. Pointierter formuliert: Am Ende der Filme werden aus der Perspektive der Nach-Wende zwei Schwellenphänomene gekreuzt, betrauert und reflektiert: der Abschied von der DDR und der Abschied vom Film.

Die Enden von drei Filmen werde ich näher untersuchen. Es handelt sich dabei im Einzelnen um Prager Botschaft[1] Sonnenallee[2] und Good bye, Lenin![3] Obwohl es sehr viel mehr Filme gibt, in denen die Kreuzung des Endes der DDR mit dem Ende des Films ausfindig zu machen ist,[4] möchte ich mich auf diese drei beschränken, weil sie zum einen besonders klar die exponierte Stellung des Endes des Films mit dem Ende der DDR koppeln. Zum anderen lässt sich an diesen drei Filmen exemplarisch der Facettenreichtum dieser Kopplung nachzeichnen. Um den Stellenwert der Verschränkung des Endes der DDR mit dem des Films klarer zu konturieren, möchte ich jedoch den Filmanalysen einen kurzen Exkurs über das Ende voranstellen.

Exkurs zum Ende

Enden sind Schwellen, die von einem Bereich, respektive Zustand, in einen anderen führen; sie markieren einen Zwischenbereich. Das bekannteste und wohl problematischste Ende dürfte der Tod sein, genauer noch, für die Hinterbliebenen zumindest, das Gestorben-Sein. Mit Bezug auf den Tod reflektiert und problematisiert sich der Mensch als radikal zeitliches, mithin vergängliches Wesen seit jeher symbolisch in und durch Begräbnisrituale.[5] Solch ein Ritual hat vielfältige Funktionen: Hier wird die Schwelle von Leben und Tod problematisiert, (zumeist) in einen Sinnhorizont gestellt und so an den Verstorbenen erinnert. Das ist durchaus ambivalent und von widerstrebenden Tendenzen durchzogen. Wird doch zum einen eine fundamentale Zäsur gesetzt bezüglich eines Ereignisses, das besonders problematisch und erinnerungswürdig scheint. Zum anderen soll das Begräbnisritual gerade umgekehrt den Abschied erleichtern, den Anschluss an die Zukunft möglichst reibungslos ermöglichen und das Geschehen in einem übergreifenden Sinnhorizont ‚befrieden‘.

Enden müssen aber nicht immer so existenziell erschütternd sein, um symbolisch markiert zu werden. Zu denken ist beispielsweise an den Schulabschlussball, mit der obligatorischen Rede des Rektors, der zurückblickt auf das Erreichte, um anschließend gleich auf die mögliche rosige Zukunft, wenn man sich denn weiterhin ins Zeug lege, wendet. Oder der Theatervorhang, der definitiv ausdrückt: Jetzt ist das Stück zu Ende; endlich kann man nach Hause gehen. Ebenso markieren, reflektieren, problematisieren oder feiern beispielsweise Sammelbände zum 20-jährigen Jubiläum der Wende Enden. Die symbolische Besetzung von ‚Ende‘ strukturiert und semantisiert so gesehen zeitliche Prozesse durch Differenzsetzung (vorher/ nachher) und bindet gleichzeitig diese Prozesse in eine übergreifende Sinnordnung ein. Dabei wird qua Selektion Relevanz gesteuert; entschieden wird, was erinnerungswürdig ist und eben auch, was nicht.

Häufig – freilich nicht immer – sind symbolische Markierungen mit dem verbunden, was Sigmund Freud Trauerarbeit nennt.[6] Wenn Trauer die Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts darstellt oder auch umgekehrt die Reaktion auf Geschehnisse sein kann, die als so grausam oder gar traumatisch empfunden werden, dass die gegenwärtige Wahrnehmung massiv beeinflusst oder gehemmt wird, dann besteht die Trauerarbeit darin, die zu Ende gegangenen Ereignisse symbolisch zu markieren und eben damit zu bearbeiten. Auch der Film hat seine Enden. Er hat damit strukturell gesehen dieselben Probleme wie die eben angeführten Enden. So verwundert es nicht, dass auch seine Enden ein ums andere Mal symbolisch markiert und bearbeitet werden.[7] Und zwar nicht einfach dadurch, dass das Licht im Kinosaal angeht oder auf der Leinwand das Wort ‚Ende‘ erscheint, sondern viele Filme verdoppeln das Ende im Film, entfalten es also figurativ. Unter anderem hat sich Laurence Moinereau mit diesem Thema unter systematischen wie historischen Gesichtspunkten näher beschäftigt. Dabei entwickelt sie eine Hypothese, der ich mich hier anschließen möchte. Sie schreibt:

„Von ein paar – nicht unwesentlichen – Ausnahmen abgesehen, kam es erst in den 1960er-Jahren zu zwei miteinander zusammenhängenden Tendenzen: Erstens wurde das Wort ‚Ende‘ weggelassen, und zweitens wurde der Nachspann immer länger. Diese Veränderung war im Wesentlichen durch ökonomische und juristische Zwänge bedingt: der Nachspann diente oft schlicht als Ablageplatz für eine immer umfangreichere Liste von Namensnennungen. Die Akzentverlagerung blieb indessen nicht ohne Auswirkungen auf die Art, wie sich der Schluss des filmischen Werks vollzieht: Sie verstärkt den rituellen Charakter des Nachspanns und führt zu einer spezifischen Schwellenfunktion, die sich von der des Vorspanns unterscheidet, denn nun geht es nicht mehr darum, den Zuschauer beim Eintritt in, sondern beim Austritt aus der Fiktion zu begleiten, anders gesagt: beim Umgang mit seiner Trennung vom Film. Zwar haben es Vor- wie Nachspann, weil sie sich an einem Grenzort befinden, generell mit Diskontinuität und Übergang (von einer Welt oder einem Zustand in einen anderen) zu tun, doch nur beim Nachspann geht es unmittelbar um einen Verlust: Daher meine Hypothese, dass er für den Zuschauer die Stelle sein könnte, an der sich die Trauerarbeit in Bezug auf den Film vollzieht.[8]

Diese Markierungen beziehungsweise Bearbeitungen können freilich sehr unterschiedlich aussehen. Nur zwei Beispiele sollen angeführt sein.[9] Erstens kann auf die Figur der Wiederholung verwiesen werden. Wiederholt werden im Abspann Bilder oder Szenen aus dem Film. Damit wird das gerade Gesehene noch im Film in einen Erinnerungsmodus überführt. Schöne Beispiele dafür finden sich in einigen Filmen von François Truffaut; dort erscheinen die Schauspieler noch einmal im Abspann von einem ovalen Rahmen umgeben, der an ein Erinnerungsfoto gemahnt.[10]

Szene 1: Für ein Beispiel aus La Nuit Américaine siehe folgendes Video (vor allem 5:27-6:29 min):

[youtube cwdnT5BnUzI&feature=related]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=cwdnT5BnUzI&feature=related, 03.02.10)

Zweitens sei auf die Verklammerung verwiesen. Hierbei werden filmische und außerfilmische Welt verbunden. Insbesondere bei Spielfilmen, die auf historischen Ereignissen basieren, lässt sich beobachten, dass die fiktionale Welt häufig in die reale, wenn nicht gleich überführt, dann doch mit dieser verschränkt wird. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist Steven Spielbergs Schindler’s List.[11] Am Ende gehen die Schauspieler gemeinsam mit den historisch realen jüdischen Überlebenden, deren Rolle sie gerade gespielt haben, an das reale Grab Schindlers. Eindrücklich ist dieses Beispiel insofern, als Spielberg hier das Ende des Films prototypisch als Ort der Trauerarbeit mit all seinen Ambivalenzen nutzt: Wird doch eine Differenz zwischen filmischer und historischer Welt deutlich markiert (beispielsweise durch den Wechsel von Schwarz-Weiß zu Farbe) und gleichzeitig wird im gemeinsamen Gedenken an Schindler vor dessen Grab fiktionales und reales Geschehen, fiktionale und reale Trauerarbeit verknüpft.

Szene 2: Zum Ende von Schindler’s List siehe folgendes Video (vor allem 0:00-2:20 min):

[youtube HHbiAleHzoA]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=HHbiAleHzoA, 03.02.10)

Filme zur Wende am Ende

Im Folgenden möchte ich nun zeigen, wie das Ende einiger Filme speziell mit dem Ende der DDR gekoppelt ist und in welcher Weise bei diesen Kopplungen von Trauerarbeit gesprochen werden kann. Die drei Filme, die ich näher analysieren möchte, haben Gemeinsamkeiten, die sie als spezifische Wendefilme auszeichnen. Bei allen drei Filmen handelt es sich nämlich um mehr oder minder populäre deutsche Spielfilmproduktionen, die 1. nach der historischen Wiedervereinigung produziert wurden, die 2. eine deutsch-deutsche Geschichte erzählen, die ihre entscheidende historische Zäsur im Mauerfall respektive in der Wiedervereinigung findet und für die 3. der Mauerfall eine Davor/Danach-Konstellation bildet, die auch eine fundamentale dramaturgische Zäsur bedeuten, die wiederum 4. am Ende des Films verdichtet in Szene gesetzt wird.

Prager Botschaft

Der Film Prager Botschaft ist eine RTL-Produktion von 2007 und handelt von ausreisewilligen DDR-Bürgern, die im September 1989 nach Prag in die bundesrepublikanische deutsche Botschaft flüchten. Dabei wird ein Familien- und Liebesschicksal mit den Ereignissen im Herbst 1989 dramatisch ineinander gefügt. Immer wieder wird in die fiktionale Handlung dokumentarisches Material einmontiert, beispielsweise die längst zum Stereotyp geronnene Verkündigung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, dass die Ausreisewilligen nun tatsächlich in die Bundesrepublik übersiedeln könnten. Wichtiger jedoch als der Verlauf der Erzählung und ihrer dramaturgischen Mittel ist für mich die Gestaltung des Filmendes. An diesem Ende stehen der deutsche Botschafter und ein „hochrangiger Diplomat“, wie es im Film heißt, am Hauptbahnhof in Prag, um den ersten Zug mit DDR-Flüchtlingen, die in die BRD reisen dürfen, zu verabschieden (siehe Abb. 1a-c). Dabei erfolgt eine Schrifteinblendung, die auf die direkt folgende Zukunft verweist: „Wenige Wochen nach der Ausreise tausender Zufluchtssuchender über die Prager Botschaft öffnete die DDR am 9. November 1989 ihre Grenzen.“ Fakten werden aufgelistet und dann zu der geschichtsphilosophischen Gewissheit gewendet, dass zusammenkam beziehungsweise zusammengekommen sein wird, was zusammen gehört: „Die Mauer fiel und nur knapp ein Jahr später feierte die Nation ihre Wiedervereinigung zu einem gemeinsamen Deutschland.“ Der Zug fährt aus dem Bahnhof (nach Westen natürlich), während die beiden Protagonisten, die maßgeblich an dem ersten Schritt zur Wende beteiligt waren, sich nach links bewegen und sich, wie im Bild zu lesen ist, zum „Vychod“ aufmachen. „Vychod“ ist tschechisch und hat die Doppelbedeutung ‚Ausgang‘ und ‚Osten‘. Der spezielle „Vychod“ hier bildet den ‚Ausgang Ost‘ für die Protagonisten. Gleichzeitig ist damit aber auch der Ausgang, sprich das Ende des Films markiert.

Abb. 1 a-c: PRAGER BOTSCHAFT: ‚Ausgang‘ Ost am Ende von Prager Botschaft (D 2007, R: Lutz Konermann; RTL Erstausstrahlung: 23.09.07, 20.15h) [Alle Stills stammen vom Autor]

Die ‚Trauer‘ um das Ende der DDR und das Ende des Films wird in Prager Botschaft ganz einfach kompensiert durch die Schrifteinblendung, die die unterschiedlichen Realitätsebenen verklammert und am ‚Ausgang Ost‘ in die gemeinsame Zukunft von Protagonisten und Zuschauern weist.

Good bye, Lenin!

Mein zweiter Beispielfilm wendet sich am Ende nicht wie Prager Botschaft in die Zukunft, sondern umgekehrt in Richtung Vergangenheit. In Good bye, Lenin! wird von der Nach-Wende zurück auf die Vor-Wende geblickt. Doch bevor ich auf dieses Ende näher eingehe, sei noch eine kurze Inhaltsgabe vorangestellt, um das Ende besser einordnen zu können: Alex’ Mutter erleidet einen Herzinfarkt, als sie ihren Sohn auf einer Demonstration brutal von Polizeikräften bedrängt sieht. Sie fällt ins Koma und ‚verschläft‘ damit die Wende. Alex suggeriert ihr danach, dass die DDR fortbesteht. Mit einem Arbeitskollegen manipuliert er Dokumentarmaterial und fingiert so Fernsehberichte der Aktuellen Kamera für seine Mutter. Dabei wird „der Untergang der DDR zu einem triumphalen humanitären Sieg der DDR über den Westen umgemünzt“.[12] Drei Tage nach der Wiedervereinigung stirbt Alex’ Mutter an einem erneuten Herzinfarkt, im Glauben – so scheint es zumindest Alex vorzukommen[13] –, dass die DDR die Grenzöffnung aktiv und aus sozialistischen Überzeugungen heraus vorangetrieben hätte.

Abb 2

Abb. 2: GOOD BYE, LENIN!: Der Blick der Mutter (D 2003, R: Wolfgang Becker, DVD, Warner Home Video 2003) [Still stammt vom Autor]

Sehr facettenreich werden in Good bye, Lenin! historische Ereignisse reflektiert und erinnert.[14] Mir geht es aber nur um einen einzigen Aspekt: Das ganze Simulationsspiel wird als ödipal fundierte Wunschprojektion von Alex vorgeführt. Und genau das wird im letzten Bild des Films ersichtlich und zwar in einer rhetorisch und medial interessanten Weise. Um diese Behauptung zu plausibilisieren springe ich zunächst zum Anfang des Films zurück. Im Eingangsprolog, der von Alex als Erzähler kommentiert wird, sehen wir nach ungefähr fünf Minuten, wie seine Mutter an einem Fotoapparat hantiert, um den Selbstauslösermodus zu aktivieren. Aufgenommen ist die Szenerie mit einer Videokamera. Das Bild wackelt und wandert fahrig umher.

Szene 3: Zum Abschied von der Mutter siehe folgendes Video (vor allem 2:08-2:53 min):

[youtube Ta7jDchAaa0]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=Ta7jDchAaa0, 01.05.2010)

Ganz am Ende des Films – als Alex’ Mutter bereits gestorben ist – ist derselbe Ausschnitt noch einmal zu sehen. Dieses Mal wird das Bild am Ende stillgestellt und damit – im Gegensatz zum Anfang – als Erinnerungsfoto und letztes Bild des Films vor dem Abspann in Szene gesetzt (siehe Szene 3). Wir sehen, wie seine Mutter in die Kamera blickt, während Alex als Kind seine Mutter anblickt (siehe Abb. 2).

Eine Fotografie hat – im Gegensatz zum bewegten Film – einen zweifachen Abstand zum Leben. Das Abgebildete ist nämlich nicht nur vergangen, sondern auch aus dem zeitlichen Verlauf genommen.[15] Gleichzeitig ist aber das Abwesende als Spur in der Fotografie eigentümlich präsent in dieser stillgestellten Zeit.[16] Gesteigert wird diese eigentümliche Präsenz noch, wenn der Fotografierte direkt in die Kamera schaut und damit der Blick unentwegt auf dem Rezipienten zu ruhen scheint.[17] Genau das ist der Fall im vorliegenden Bild. Solch eine Blickkonstellation lässt sich tiefenpsychologisch und medientheoretisch relativ elegant ausbuchstabieren: Das geliebte Objekt, die Mutter, schaut einen an; aber nur scheinbar, ist es doch eben nur eine Fotografie, die vermeintlich einen Blickkontakt herstellt.[18] Eine Begierde nach der Präsenz der Mutter wird erzeugt und gleichzeitig enttäuscht. Denn die Mutter ist nur uneigentlich, eben medial vermittelt, präsent, also eigentlich abwesend, genauer noch: als Abwesende präsent.

Der Psychoanalytiker Jacques Lacan beschreibt eine dieser medialen Konstellation analoge Begehrensstruktur, die sich zuallererst im ödipalen Verhältnis von Mutter und Kind herausbilden soll. In einem seiner Seminare formuliert er den berühmten Satz: „Das Begehren des Menschen ist das Begehren des Anderen.“[19] Das zentrale und universale emotionale Bedürfnis des Menschen besteht nach Lacan also darin, dass ein anderer ihn begehrt. Als Sinnbild für die Befriedigung solch einer Begierde kann der liebevolle, anerkennende Blick der Mutter gelten. Eine Hoffnung auf die Befriedigung solch einer Begierde wird mit und in der Fotografie, die am Ende von Good bye, Lenin! erscheint, aufgerufen und – das ist entscheidend – gleichzeitig verweigert.[20] Scheint doch die fotografierte Mutter den Betrachter anzublicken. Jedoch ist dieser Blick ein konstitutiv vergangener. Damit erinnert die Fotografie tatsächlich nicht nur an den Blick der Mutter; noch sehr viel mehr hält sie das Bewusstsein über den Entzug dieses Blicks wach. Nicht eigentlich das Abwesende wird also vergegenwärtigt, sondern dessen Abwesenheit. Das Erinnerungsfoto beinhaltet dadurch eine ambivalente Trauerarbeit: Es erinnert an den Abwesenden als einen der konstitutiv der Vergangenheit angehört, ist aber auch Grund für die permanente Erzeugung von Trauer über das abwesende geliebte Objekt, das im Foto präsent ist und zurückzublicken scheint.

Während Good bye, Lenin! auf dieses letzte Bild zu vernehmen wir Alex’ Erzählerstimme aus dem Off, die da formuliert: „Das Land, das meine Mutter verließ, war ein Land, an das sie geglaubt hatte. Und das wir bis zu ihrer letzten Sekunde überleben ließen. Ein Land, das es in Wirklichkeit nie so gegeben hat. Ein Land, das in meiner Erinnerung immer mit meiner Mutter verbunden sein wird.“ Am Ende steht also ein Bild, in dem Alex seine Mutter als Junge anblickt, und während er es nach der Wende und nach ihrem Tod betrachtet, scheint sie ihn erneut anzublicken. Derweil wird aber nicht von einer DDR gesprochen, die vergangen ist und der nachgetrauert wird. Vielmehr ist davon die Rede, dass Alex sich an die Utopie seiner Mutter erinnert, die als solche niemals Wirklichkeit geworden war. Es werden also nicht historische Sachverhalte erinnert, sondern die Utopie der Mutter, die in den Nach-Wende-Simulationen von Alex weitergesponnen wurde und die dabei – wie Alex einmal selbst zugibt – eine Eigendynamik entfaltet hat, die auch ihn selbst in ihren Bann zog. Hierin liegt denn auch die Funktion des stillgestellten Bildes: Der tatsächliche Blick der Mutter wird zwar für immer entzogen sein und doch wird gerade mit der Fotografie die Sehnsucht danach stabil gehalten; genauso wie die Utopie, die im Blick der Mutter mitschwingt, niemals realisierbar sein wird, nunmehr aber – retrospektiv, nach der Wende, nach dem Tod der Mutter – auch die Sehnsucht von Alex ist.

Die Erinnerung an die Mutter und damit an die (Utopie der) DDR wird durch das Ende der Mutter, das Ende der DDR am Ende des Films – und so erst aus der Perspektive der Nach-Wende – zu einer unerfüllbaren, aber umso drängenderen Sehnsucht für Alex. Das ist eine zutiefst melancholische Konstellation. Sigmund Freud versteht unter Melancholie den psychischen Zustand, der eintritt, wenn die Trauerarbeit nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte, sondern permanent die Sehnsucht nach diesem einen konstitutiv entzogenen Objekt aufrechterhalten bleibt und durch nichts anderes ersetzt werden kann.[21] Genau solch ein Zustand wird am Ende von Good bye, Lenin! in Szene gesetzt.

Im abschließenden stillgestellten Bild sieht der junge Alex seine Mutter an, die wiederum den Erwachsenen Alex, den fiktiven Erzähler aus der Nach-Wende, anzuschauen scheint.[22] Aber auch uns, die realen Nach-Wende-Zuschauer, trifft der Blick von Alex’ gestorbener Mutter. Sind wir doch bezüglich der Blickkonstellation in die Position von Alex gerückt. Das hat klassisch rhetorischen Appellcharakter: Auch wir sollen durch den Blick der Mutter zu solch einer melancholischen Sicht der Dinge über das Ende des Films hinaus affiziert werden.

Sonnenallee

Ganz anders funktioniert die Trauerarbeit in Sonnenallee. Alltägliche Probleme und Leidenschaften der Jugend in den beginnenden 1970ern in Ost-Berlin werden uns hier, geleitet durch den Off-Kommentar des Protagonisten Michael Ehrenreich, komödiantisch näher gebracht.[23] Entscheidend ist für mich auch hier das Ende des Films. Der Erzähler entfaltet explizit eine nostalgisch gefärbte Gegenerinnerung zu den Erzählungen der Tristesse, die in der DDR geherrscht haben soll.[24] In diesem Sinne formuliert er den letzten Satz des Films: „Es war einmal ein Land und ich hab dort gelebt. Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung… und verliebt.“

Szene 4: Siehe hierfür folgendes Video (vor allem 2.49-3:52 min):

[youtube Hna9g2zdMs8]

(außerdem zu finden unter: http://www.youtube.com/watch?v=Hna9g2zdMs8, 03.02.10)

Begleitet wird die Schlusssequenz musikalisch durch einen bereits damals in der DDR populären Schlager, gesungen von Nina Hagen aus dem Jahre 1974.[25] Vor allem die permanent im Refrain wiederholt Zeile „Du hast den Farbfilm vergessen […] nun glaubt uns kein Mensch wie schön’s hier war ha ha ha ha“[26] unterstreicht vermeintlich den Willen zur nostalgischen Gegenerinnerung. Das ist auch auf der Bildebene abzulesen. Während des Liedes bewegt sich die Kamera rückwärts auf die deutsch-deutsche Grenze zu, die die Sonnenallee teilt und überschreitet diese Richtung Westen. Zu erkennen ist dabei ein zeitlicher Sprung aus den 1970ern in die Nach-Wende. Das geschieht nicht einfach nur dadurch, dass Michael nun retrospektiv auf seine Jugenderlebnisse zurückblickt. Die vergangene Zeit wird darüber hinaus durch das aus dem Genre des Western bekannte Steppenläufergewächs markiert, also mittels Büschen, die durch das Bild wehen (siehe Abb. 3a). Zusätzlich kommen auch Sektflaschen in den Blick, die – so scheint es zumindest – von der Feier des Mauerfalls übrig geblieben sind (siehe Abb. 3b).

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Abb3

Abb. 3a-b: SONNENALLEE: Das Ende der DDR am Ende der Sonnenallee (D 1999, R: Leander Haußmann; Sat.1 Fernsehausstrahlung: 18.06.2006, 20.15h) [Alle Stills stammen vom Autor]

Genau an dieser Stelle, als die Sektflaschen ins Bild kommen, wird der Farbfilm Sonnenallee zu einem Schwarz-Weiß-Film. Eine klassische Inversionsfigur findet damit scheinbar ihre konsequente Anwendung: Sonnenallee ist der Farbfilm, der darstellt, was bisher in den tristen (Schwarz-Weiß-)Erinnerungen an die DDR nach dem Ende derselben vergessen worden war.[27]

Es gibt aber gute Gründe dieser durchaus naheliegenden Deutung zu misstrauen. Man kann nämlich auch anders argumentieren und behaupten: Der Film ist überhaupt kein Film über die ehemalige DDR, sondern vielmehr eine Reflexion über die Erzählbarkeit von Erinnerung(en) mittels populärkultureller Topoi. Und noch ein Schritt weiter gedacht: Der Film reflektiert nicht nur die Erzählbarkeit von Erinnerung, sondern betreibt ‚Trauerarbeit‘ in einem sehr spezifischen Sinne, nämlich als Feier einer formalästhetischen Wiedervereinigung. Beides gilt es freilich näher auszuführen und dafür muss ich mich vorerst wieder etwas vom Ende des Films wegbewegen.

Zunächst zur Reflexion populärkultureller Erinnerung: Unschwer zu erkennen, bedient sich Sonnenallee allerlei populärkultureller Elemente. Westliche Pop-Musik ist allerorten zu vernehmen,[28] wie auch Ost-Schlager, beispielsweise das oben erwähnte Lied von Nina Hagen oder aber auch ein Lied mit dem Titel Geh’ zu ihr (…und laß Deinen Drachen steigen) von den Phudys.[29] Weiterhin folgt der Film dem relativ klassischen (und populären) Aufbau einer Komödie mit irrealen (Musical-)Momenten,[30] mitsamt „boy loves girl-Story“.[31] Ebenfalls sind Parallelen hinsichtlich Thematik und Aufbau offensichtlich zu populären US-amerikanischen Jungendfilmen der 1970er, wie American Graffiti oder Grease.[32] Aus solchen Versatzstücken wird eine Geschichte über die ehemalige DDR in Sonnenallee zusammengestellt. Eine mögliche Erinnerung wird konstruiert, die nicht vorrangig den Anschluss an historische Sachverhalte sucht, sondern aus medialen Formen und Stereotypen zusammengesetzt ist und diese auch als solche ausstellt. Genau deshalb scheint mir die Hypothese naheliegend, dass es sich vielleicht gar nicht um einen Film über die DDR handelt. Vielmehr ist es eine Reflexion über die Elemente populärkultureller Geschichtsschreibung im Zeitalter (massen-)medialer Reproduzierbarkeit am Beispiel einer Jugend in der DDR. Der ‚Farbfilm‘, den Michael vergessen haben soll, wie es im Lied von Nina Hagen heißt, wäre dann eben nicht mehr Inbegriff für das, wie es eben auch in der DDR gewesen sein soll – nämlich ‚schön‘ –, sondern wäre dann als Reflexion medial bedingten Erinnerns zu verstehen. Darauf verweist auch – und damit komme ich wieder zum Ende des Films – der Abspann. Dort werden noch einmal die Protagonisten in mehr oder minder witzigen Szenen aus dem Film und zum Teil noch nicht gezeigten Szenen vorstellig (siehe Abb. 4a-b). Dies ist seit Jahrzehnten ein durchaus gängiges filmisches Verfahren.[33]

Abb4a

Abb4b

Abb. 4a-b: SONNENALLEE: Erinnerungsarbeit im Abspann (D 1999, R: Leander Haußmann; Sat.1 Fernsehausstrahlung: 18.06.2006, 20.15h) [Alle Stills stammen vom Autor]

Der Abspann erfüllt dabei zwei Funktionen: Erstens ist es der Ausstieg aus dem Film, der noch einmal im Film an den Film erinnert und ihn damit schon distanziert.[34] Hier werden die Namen der Schauspieler eingeblendet und damit ein weiterer Schritt Richtung außerfilmischer Realität getätigt. So wird auch die fiktionale mediale Welt als mediale Schauspielwelt gerahmt und nicht wie etwa in Prager Botschaft via Schrift an die Realität der Wende angeschlossen.

Zweitens – und das scheint mir noch weit wichtiger, weil es die Hypothese der formalästhetischen Wiedervereinigung plausibilisiert – wird im Abspann nicht nur eine traditionelle filmische Erzählweise aufgegriffen, um uns aus dem Film zu führen, sondern es wird auch auf ästhetischer Ebene eine Verbindung von unterschiedlichen Filmtraditionen aus West und Ost vorgeführt. Während westlich geprägte Erzähltraditionen allgegenwärtig sind und auch diese Form des Abspanns eher einer solchen Erzähltradition zuzusprechen sein dürfte,[35] ist beispielsweise das den Abspann begleitende Schlusslied von Nina Hagen aus dem ‚Osten‘. Zudem sieht man im Abspann (und auch kurz im Film) eine Ikone des DDR-Films eingeblendet: Winfried Glatzeder, der Hauptdarsteller aus dem zum Kultfilm avancierten Film Die Legende von Paul und Paula aus dem Jahre 1973 (siehe Abb. 5).[36]

Abb 5

Abb. 5:  SONNENALLEE: ‚Erweiterte‘ Erinnerungsarbeit im Abspann (D 1999, R: Leander Haußmann; Sat.1 Fernsehausstrahlung: 18.06.2006, 20.15h) [Still stammt vom Autor]

Interessant ist nun nicht nur, dass mit Bezug auf diesen Schauspieler eine inhaltliche „Reminiszenz[…] an das DEFA-Erbe“[37] aufgerufen wird, wichtiger ist noch, wie das geschieht. Im Abspann wird auf ihn verwiesen, wie auf eine der handlungstragenden Figuren, obwohl der Protagonist ihm nur kurz im Hausflur begegnet. Hier wird nicht nur der Schauspieler, der die Figur Paul aus Die Legende von Paul und Paula gespielt hat, aufgerufen, sondern auch formalästhetisch zu dieser Figur oder vielmehr zu diesem Film eine Beziehung hergestellt. Das abschließende Bild in Die Legende von Paul und Paula zeigt ein Erinnerungsfoto von Paul und Paula (siehe Abb. 6). Bis in die Körperhaltung ist Paul alias Winfried Glatzeder am Ende von Sonnenallee genau noch einmal wie auf diesem Foto in Szene gesetzt.

Abb 6

Abb. 6: DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973, R: Heiner Carow, DVD, Icestorm Entertainment GmbH 2002). [Still stammt vom Autor]

Diese Bezugnahme weist eindrücklich auf das mediale Gedächtnis hin, das Sonnenallee ausbildet und vorführt. Populärkulturelle Topoi aus Ost und West werden aufgerufen und in eine Erzählung über die ehemalige DDR integriert. Auf dieser ästhetisch-medialen Ebene wird damit eine Wiedervereinigung zelebriert – nicht politisch, sondern von populärkulturellen Formen und Inhalten. Dadurch wird die ‚Trauer‘ über das Ende der DDR auf eine andere Ebene verlagert und verarbeitet als in Prager Botschaft. Zudem ist die Trauerarbeit damit auch – zumindest auf dieser ästhetischen Ebene – um einiges erfolgreicher abgeschlossen als in Good bye, Lenin!

Die Wende am Ende

Bei einem Rückblick auf diese drei filmischen Enden fällt auf, dass sie nicht nur jeweils sehr unterschiedliche, ja gegenläufige Trauerarbeiten mit Bezug auf die (Vor-)Wendeereignisse entfalten, sondern auch sehr unterschiedliche mediale Formen dafür wählen: Führt uns die Schrifteinblendung in Prager Botschaft hinein in die historischen Sachverhalte und in eine gemeinschaftliche ‚goldene‘ Zukunft, die unsere Gegenwart sein soll, so ist dagegen das stillgestellte Bild der Mutter in Good bye, Lenin! Ausdruck tiefster Melancholie über das konstitutiv Abwesende. Wiederum anders verhält es sich in Sonnenallee: Dort werden die bewegten, mit Schlagermusik untermalten ‚großen Momente‘ des Films am Ende noch einmal vorgeführt und münden in einer komödiantischen Wiedervereinigungsfeier ästhetischer Formen und Erinnerungen.

Die untersuchten Filme reflektieren damit ihre jeweils verwendeten medialen Formen unterschiedlich: Die Schrift liefert uns historische Tatsachen, die im Film selbst den Sprung in eine wunderbare Zukunft der Nach-Wende erlauben. Das bewegte Bild führt uns ebenfalls in die Nach-Wende, aber nicht in eine der Fakten, sondern zur Utopie einer Wiedervereinigung ästhetischer Formen und Symbole. Dagegen wird der Fotografie eine Rückwärtsgewandtheit zugeordnet, ein Festhalten an der Vor-Wende – und sei es auch nur eine aus der Nach-Wende imaginierte Vor-Wende. Was auch immer genau diese medialen Formdifferenzen sonst bedeuten mögen, die Wende jedenfalls wird mit ihnen in den Filmen sehr unterschiedlich vollzogen am Ende.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Prager Botschaft, Deutschland 2007, Regie: Lutz Konermann.
  2. Sonnenallee, Deutschland 1999, Regie: Leander Haußmann.
  3. Good Bye, Lenin!, Deutschland 2003, Regie: Wolfgang Becker.
  4. Bspw. Das Versprechen, Deutschland 1995, Regie: Margarethe von Trotta; Das Leben der Anderen, Deutschland 2006, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck; An die Grenze, Deutschland 2007, Regie: Urs Egger; Das Wunder von Berlin, Deutschland 2008, Regie: Roland Suso Richter.
  5. Vgl. dazu den Klassiker schlechthin Phillipe Ariès: Geschichte des Todes
    [1978]. 11. Aufl. München: dtv, 2005; oder kürzer gefasst Norbert Fischer: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt: Sutton 2001.
  6. Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie [1915]. In: ders.: Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften. 12. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S. 171-189, v.a. S. 173-176.
  7. Und auch die filmwissenschaftliche Forschung hat sich inzwischen sehr intensiv mit diesem Thema befasst. Vgl. dazu das Standardwerk von Richard Neupert: The End: Narration and Closure in the Cinema (Contemporary Film and Television). Detroit: Wayne State University Press 1995; für den deutschsprachigen Bereich vgl. Thomas Christen: Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen. Marburg: Schüren 2002; Alexander Böhnke: Paratexte des Films: Über die Grenzen des filmischen Universums. Bielefeld: transcript 2008, v.a. das Kapitel „The End“, S. 37-66 oder auch den Themenschwerpunkt Anfänge und Enden der Zeitschrift montage/av 12 (2003), Heft 2.
  8. Laurence Moinereau: Der Nachspann: Strategien der Trauer. In: montage/av 12 (2003), Heft 2, S. 170-181, hier S. 170.
  9. Vgl. einige weitere Beispiele bei Moinerau selbst, ebd., 171-173; noch sehr viel mehr Beispiele werden aufgeführt in: Christen, Das Ende im Spielfilm (Anm. 7), v.a. S. 64-68.ff.
  10. Bspw. La nuit americaine [FR Import] (Die amerikanische Nacht), Frankreich/ Italien 1973, Le dernier métro (Die letzte Metro), Frankreich/ BRD 1980; siehe dazu auch Moinerau, Der Nachspann (Anm. 10), S. 173.
  11. Schindler’s List (Schindlers Liste), USA 1993, Regie: Steven Spielberg.
  12. Kay Kirchmann: Geschichte spielen? Gemeinsamkeiten in den geschichtsphilosophischen Implikationen der counterfactual history und des Spiel-Films der 1990er Jahre. In: Spielformen im Spielfilm: Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Hg. von Rainer Leschke und Jochen Venus. Bielefeld: transcript 2007, S. 179-193, hier S. 190.
  13. Ob Alex’ Mutter nun weiß, dass Alex ihr vorspielt, die DDR würde weiter fortbestehen, ist nicht völlig klar. Es wird nie explizit formuliert. Nur einmal, als beide vor dem Fernseher sitzen und dabei das ‚Simulationsschauspiel‘ von der vermeintlichen Grenzöffnung für die Einreisewilligen aus dem Westen sehen, schaut die Mutter Alex in einer Weise an, die nahe legt, dass sie es weiß. Diese Lesart wird umso plausibler durch die vorhergehende Szene, in der Lara, Alex’ Freundin, die von Anfang an dafür war, der Mutter die Wahrheit über die Wende zu erzählen, ein Gespräch mit dessen Mutter führt, das die Rezipienten (und Alex) aber nicht hören, sondern nur durch eine Glasscheibe beobachten können. Zudem könnte man mit einigem Recht noch weitergehend behaupten, dass nicht nur Alex’ Mutter weiß, dass Alex ihr etwas vormacht, sondern auch, dass Alex weiß, dass es seine Muter weiß. Denn: Als sie das letzte Mal gemeinsam Fernsehen schauen und dabei dem oben beschriebenen ‚Simulationsschauspiel‘ folgen, wendet sich nicht nur die Mutter Alex zu, sondern auch er ihr und beide schauen sich lange an. Der Blick der Mutter ruht hier anerkennend auf ihrem Kind. Diesen Blick als Anerkennung der Leistungen von Alex und damit eben auch die Anerkennung seiner ‚Simulationsleistungen‘ zu interpretieren, scheint nicht völlig abwegig. Ob das tatsächlich der Wissensstand und die tatsächlichen Intentionen von Alex und seiner Mutter sind, wird aber nicht geklärt.
  14. Vgl. zu deren Analysen Kirchmann, Geschichte spielen (Anm. 15), v.a. 190-92; Kerstin Cornils: Die Komödie von der verlorenen Zeit: Utopie und Patriotismus in Wolfgang Beckers „Good Bye Lenin!“. In: Die Filmkomödie der Gegenwart. Hg. von Jörn Glasenapp und Claudia Lillge Fink: München 2008, S. 252-272; vgl. dazu auch den Beitrag von Markus Kuhn in vorliegendem Band.
  15. Vgl. zu dieser Argumentation prominent Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie (suhrkamp taschenbuch) [1980]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 100.
  16. Vgl. dazu ausführlicher ebd., v.a. S. 18 und S. 90f. Zur kritischen Diskussion solch eines Spur-Konzepts vgl. Peter Geimer: Das Bild der Spur. Mutmaßungen über ein untotes Paradigma. In: Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst (suhrkamp taschenbuch wissenschaft). Hg. von Sibylle Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 95-120.
  17. Vgl. dazu Barthes, Helle Kammer (Anm. 15),  S. 122.
  18. Roland Barthes’ Suchbewegungen nach dem ‚Wesen‘ der Fotografie kehren genau in diesem Sinne immer wieder zu dem Problem der An- und Abwesenheit der Mutter im fotografischen Bild zurück. Vgl. Barthes, Helle Kammer (Anm. 15), S. 76f., S. 85, S. 106,  S.118.
  19. Jacques Lacan: Le Séminaire : Livre X : L’Angoisse 1962-1963. Paris 2004, S. 34, zitiert nach Kai Hammermeister: Jacques Lacan. München: Beck 2008, S. 68 (Übersetzung von Kai Kammermeister). Mit dem angeführten Satz greift Lacan eine Wendung von Alexandre Kojève auf, der diese im Kontext seiner Neuinterpretation von Friedrich Hegels Konzept der Herz-Knecht-Dialektik formulierte, eine Dialektik, die er – und das wird auch für Lacan entscheidend – vor allem hinsichtlich der darin implizierten Begehrensdynamik ‚vergegenwärtigten‘ wollte. Vgl. Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens: Kommentar zur »Phänomenologie des Geistes« [1947]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 23f.
  20. Entscheidend ist diese Verweigerung auch für die Dynamik der Begehrensstruktur nach Lacan, die ihre Dynamik eben durch einen permanenten Aufschub der Befriedigung erhält. Vgl. zur Konstitution des Begehrens auch den wirkungsmächtigen Aufsatz Lacans Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion [1949]. In ders.: Schriften, Bd.1. 3. Aufl. Weinheim/Berlin: Quadriga 1991, S. 61-70.
  21. Vgl. Freud, Trauer und Melancholie (Anm. 6).
  22. Solch ein stillgestelltes, fotografisches Bild trägt nach Roland Barthes per se eine melancholische Signatur:

    „Unbeweglich fließt die PHOTOGRAPHIE von der Darstellung zurück zur Bewahrung […] sie [die Fotografie, ‚SG] ist ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie) […].“ (Barthes, Helle Kammer (Anm. 15), 100) Der Film wird an dieser Stelle von Barthes der Fotografie entgegengesetzt; strebe ersterer doch aufgrund seiner ‚Bewegungsbilder‘ zeitlich immer nach vorne. Das ist auch der Grund, warum der Film nach Barthes per se nicht melancholisch sein kann. Einmal abgesehen von dieser durchaus problematischen Einschätzung, ist solch ein Gedanke für Good bye, Lenin! fruchtbar zu machen: Die filmische Erzählung ist zwar durchtränkt von Melancholie, aber die herausragende Verdichtung findet sich am Ende des Films aber tatsächlich in einer Fotografie, die ,ohne Zukunft ist’.

  23. Zu einer ausführlicheren Beschreibung und Beurteilung siehe Christoph Classen: Sonnenallee. In: Filmgenres Komödie. Hg. von Heinz-B. Heller und Matthias Steinle. Ditzingen: Reclam 2005, S. 491-494.
  24. So urteilt bspw. Classen, Sonnenallee (Anm. 23), S.  494.
  25. Und im Übrigen seit Sonnenallee Begleitmusik zu so gut wie jeder Ostalgie-Show im Fernsehen.
  26. Du hast den Farbfilm vergessen (Nina Hagen & Automobil, Single, Amiga 1974).
  27. Vgl. Classen, Sonnenallee (Anm. 23), S. 494.
  28. Thematisch geht es darum, ‚westliche‘ Musik aufzunehmen oder illegale Platten von Westkünstlern wie den Rolling Stones zu kaufen. Formal werden viele Szenen von westlicher Popmusik begleitet.
  29. Geh’ zu ihr (…und laß Deinen Drachen steigen) (Phudys, Single Amiga 1973). Dieses Lied war Teil der Filmmusik zum Film Die Legende von Paul und Paula (DDR 1973, Regie: Heiner Carow).
  30. Für ihre Kriterien einer Filmkomödie siehe Heinz-B. Heller und Matthias Steinle: Einleitung. In: Filmgenres Komödie (Anm. 23), S. 11-21.
  31. Claasen, Sonnenallee (Anm. 23), S.  492.
  32. American Graffiti,USA 1973, Regie: George Lucas; Grease,USA 1977, Regie: Randal Kleiser. Vgl. zu dieser Einschätzung Classen, Sonnenallee (Anm. 23), S. 493.
  33. Vgl. dazu Christen, Das Ende im Spielfilm (Anm. 7), S. 63f.
  34. Siehe zu dieser Funktion auch Moinereau, Der Nachspann (Anm. 10), S. 173-175.
  35. In diese Richtung lassen sich auch die Beispiele lesen, die Moinereau und Christen bei ihren Analysen von Filmenden vorlegen – siehe: Christen, Das Ende im Spielfilm (Anm. 7), S. 63f.; Moinereau, Der Nachspann (Anm. 10), S. 173-175.
  36. Die Legende von Paul und Paula, DDR 1973, Regie: Heiner Carow.
  37. Claasen, Sonnenallee (Anm. 23), S. 493.

Grampp, Sven: Das Medium des neuzeitlichen Lichts – Gutenberg und die Lichtsymbolik, 06.08.09

1798, rund zweihundert Jahre vor der Verabschiedung der Gutenberg-Galaxis durch den Medientheoretiker Marshall McLuhan, beantragte der Direktor der Berliner Sternwarte, Johann E. Bode, bei einem Fachtreffen von Astronomen, ein Sternbild nach Johannes Gutenbergs Erfindung zu benennen. Damit sollte der Buchdrucker in den illustren Kreis antiker Götter und Fabelwesen aufgenommen werden, deren Sternenbilder den Himmel bevölkern und die Nacht erhellen.[1]

Sternenbild in Alexander Jamieson Sternenatlas von 1822

Abb. 1: Der Buchdruck samt Setzkasten als Sternenbild in Alexander Jamieson Sternenatlas von 1822

Johannes Gutenberg war und ist – selbst noch im Akt seiner Verabschiedung – eine äußerst populäre Figur gesellschaftlicher Selbstverortung. Kaum eine erfinderische Leistung ist in der Neuzeit über einen so langen Zeitraum mit gleicher Regelmäßigkeit und Begeisterung gefeiert worden wie die Gutenberg zugeschriebene Erfindung der Druckerpresse mit beweglichen Lettern. Davon legen nicht zuletzt die Feiern beredtes Zeugnis ab, die zum Gedenken an Gutenberg und seine Erfindung in Jahrhundertintervallen abgehalten wurden.[2] Das Symbol Gutenberg ist also langfristig kommunikativ anschlussfähig, wird aber – wie zu zeigen sein wird – sehr unterschiedlich besetzt. Es trägt epochale Zäsurbestimmungen ebenso wie technische Fortschrittseuphorie oder reformatorische und nationale Integrationsangebote.

Die symbolische Besetzung Gutenbergs bezieht sich dabei auffallend häufig auf die Idee des Lichts. Immer wieder und in unterschiedlichsten Kontexten tritt Gutenberg als Lichtbringer und -bote in Erscheinung, wobei mit vollen Händen aus den Traditionsbeständen christlicher und aufklärerischer Symbolik geschöpft wird. Schon wenige Beispiele zeigen dies: „Gutenbergs typographische Fackel hat die ganze Erde erleuchtet […].“[3] „Es wurde ein Mann von Gott gesandt, der hieß Johannes. Derselbe kam und zeugt vom Licht.“[4] „Mit Gutenberg […] trat das Verborgene ans Licht […] verschwand die Nacht, brach an der Tag.“[5] Bei dieser Verschränkung der Symbole Licht und Gutenberg ergibt sich eine immense Bandbreite semantischer und funktionaler Besetzungen. Einerseits soll im Folgenden diese Bandbreite genutzt werden, um am Beispiel Gutenbergs die variable Einsatzmöglichkeit von Lichtgestalten und deren Funktionslogik aufzuzeigen, andererseits soll aber auch das Spezifische der Lichtgestalt Gutenberg dargestellt werden. Im Laufe der Jahrhunderte bildete sich nämlich eine bestimmte Sichtweise auf Gutenberg aus, die zunehmende Dominanz gewann: Mit Gutenberg und der ihm zugesprochenen Erfindung wird eine irreversible kulturgeschichtliche Zäsur bezeichnet. Dabei wird zumeist eine klare Trennung behauptet zwischen „der düstren Nacht des Mittelalters“[6] und der Neuzeit, die durch den ‚Lichtboten‘ Gutenberg geradezu initiiert worden sei und durch Gutenbergs Erfindung, wie es in einer Beschreibung aus dem 19. Jahrhundert heißt, „einen unübersteiglichen Damm gegen jeden Rückfall in die vorige Barbarei“[7] erhalten habe. Der Erfinder Gutenberg figuriert somit als Mittler bzw. Medium des neuzeitlichen Lichts, seine Erfindung, das technische Verbreitungsmedium Buchdruck, als Gründungsakt und als herausragendes Signum der Neuzeit. Erfinder und Erfindung werden dabei im Symbol Gutenberg verschmolzen.

Um diese Behauptungen schrittweise nachvollziehbar zu machen, ist der Text folgendermaßen aufgebaut: Nach einleitenden Bemerkungen zum hier zu Grunde gelegten Symbolbegriff folgen Ausführungen zur Funktion und Tradition von Lichtsymbolik und Lichtgestalten. Danach sollen die symbolischen Verschränkungen der Figur Gutenberg und der Idee des Lichts nachgezeichnet werden. Dafür wurden primär literale und visuelle Quellen aus dem 19. Jahrhundert herangezogen, die im Umfeld der Gutenbergjahrhundertfeiern situiert sind. Anhand dieses Quellenkorpus lässt sich exemplarisch die Vielfalt und vor allem die Funktionslogik der symbolischen Inszenierungen Gutenbergs nachzeichnen, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet haben.

I. Zum Begriff des Symbols

In der wissenschaftlichen Diskussion ist sehr umstritten, was als Symbol verstanden werden kann und soll.[8] In diese Debatte wird hier nicht eingestiegen. Stattdessen sollen pragmatisch einige Aspekte des Symbolbegriffs skizziert werden, um eine heuristische Basis zu schaffen, mit der die Verschränkung der Symbole Gutenberg und Licht ausreichend konturiert werden kann.

Symbole sind zunächst einmal ganz einfach Zeichen: Sie repräsentieren etwas, und zwar etwas, das sie selbst nicht sind. „Zeichen affizieren in uns das von ihnen Repräsentierte. Sie sind Erinnerungsmuster für die von ihnen repräsentierten Bilder, Erfahrungen und Empfindungen. Sie ‚appräsentieren‘, schaffen etwas (wieder) herbei, was sie nicht selbst sind.“[9] Da Zeichen aufeinander verweisen und so Zeichensysteme bilden, ermöglichen sie überdies, die Welt sinnvoll zu ordnen und zu deuten. Die Außenwelt wird so zu einer kommunizierbaren Wirklichkeit. Gleichsam wird durch den Austausch von Zeichen gemeinschaftliches Handeln ermöglicht.[10] Zeichen haben also mindestens vier Charakteristika: Sie repräsentieren etwas (verweisen auf Abwesendes); sie appräsentieren etwas (vergegenwärtigen das Abwesende); sie ermöglichen es, die Welt sinnvoll zu ordnen, und sie sind Instrumente intersubjektiver Handlungskoordination.

Symbole sind jedoch ein spezifischer Zeichentypus, dem die genannten Charakteristika in spezifischer Weise zu eigen sind. Durch die Sprachgemeinschaft wird eine symbolische Bezeichnung konventionalisiert, was bedeutet, dass man diese Konvention kennen muss, um ein Symbol verstehen zu können.[11] Trotz dieser konventionellen Verbindung von Symbol und symbolisiertem Gegenstand wird beim Symbol der Aspekt der Vergegenwärtigung hervorgehoben. Die Konventionalität und Mittelbarkeit der Bedeutungszuweisung wird dabei möglichst verdeckt; es wird eine unmittelbare Präsentation des Bezeichneten suggeriert: „Symbolische Repräsentation ist […] ein Spezialfall der Appräsentation: Sie ist die in Wahrnehmung und Darstellung aktiv zu leistende unmittelbare Präsentation vermittelter Erfahrung. Sie zielt auf die direkte Erfahrung des Indirekten, auf die Unmittelbarkeit des Vermittelten.“[12] Um es pointiert zu formulieren: Symbole bedeuten nicht, sondern lassen etwas sichtbar werden. Durch diese Leistung erhalten Symbole eine herausragende Evidenz – sie vermögen ‚unmittelbar‘ zu überzeugen.

Symbole finden sich auf Ebene der Alltagskommunikation, etwa in Form eines Straßenschildes; sie können aber auch auf einen transzendenten Sinnzusammenhang abzielen. Ausschließlich um diesen Zusammenhang soll es hier gehen. Symbole formen, formulieren und aktualisieren einen „Kosmos der Weltbilder und der in sie eingelagerten Traditionen.“[13] Sie sind zuständig für letzte Sinnfragen, für logisch-diskursiv nicht einholbare (oder zumindest nicht eingeholte) Orientierungsprobleme. Symbolische Repräsentation kann also als Reaktion auf und Konturierung von Ambivalenzen und Grenzerfahrungen, ganz allgemein als Reaktion auf und Konturierung von (existenziellen) Problemsituationen verstanden werden. Ihre Funktion besteht darin, transzendente Sinnorientierung bereitzustellen und so intersubjektive Handlungen zu koordinieren. Diese Funktion erfüllt die symbolische Repräsentation nicht mittels logisch-diskursiver Argumentation, sondern durch den Rückgriff auf Elemente aus den weltbildkonstituierenden Traditionsbeständen und deren Aktualisierung und Inszenierung als unmittelbare Vergegenwärtigung von Transzendentem.

II. Lichtsymbolik und Lichtgestalten

Zur Inszenierung unmittelbarer Vergegenwärtigung von Transzendentem scheint Licht besonders gut geeignet zu sein. In einem Symbollexikon heißt es etwa: „Licht, allgegenwärtige Erscheinung, die uns in ihren Wirkungen vertraut, in ihrem Wesen weitgehend unfaßbar ist. Von daher bevorzugtes Symbol für Immaterialität, Geist, Gott […].“[14] Ungeachtet der naturwissenschaftlichen Fragestellung, ob und wie das ‚Wesen‘ des Lichts physikalisch fassbar gemacht werden kann, ist es hinsichtlich seiner ‚flüchtigen‘ Materialität als elektromagnetisches Phänomen für die menschlichen Sinne auf jeden Fall weit weniger gut zu erfassen und zu erkennen als etwa die evidente Materialität eines Stuhles. Zugespitzt formuliert: Die Materialität des Lichtes mutet immateriell an und scheint sich geradezu zur ‚sinnbildhaften‘ Darstellung von Immateriellem bzw. Transzendentem anzubieten. Der jüdisch-christliche Gott wird demgemäß auch im ersten Brief des Johannes als reines, jenseitiges Licht beschrieben: Gott sei Licht und keine Finsternis sei in ihm. Hier wird ein immaterielles und jenseitiges Wesen beschrieben, das nur qua Lichtsymbolik sinnbildlich anschaulich werden kann.

Das Licht zeichnet sich aber nicht nur aus durch seine Symbolisierung des Immateriellen bzw. Jenseitigen, sondern gerade durch seine Fähigkeit, das Immaterielle und das Materielle in sich zu vereinigen. So spielt das Symbol des Lichts in Schöpfungsmythen eine zentrale Rolle – also in Geschichten von handfester Materialisierung: „[…] in nahezu allen Schöpfungsmythen [wird] die Entstehung der Welt(en) mit dem Werden des Lichtes und damit des Sichtbar-Werdens der Erscheinungen in Verbindung gebracht.“[15] Der Schöpfungsmythos der Genesis etwa operiert zentral mit der Lichtsymbolik: Gott scheidet das Licht von der Finsternis und setzt somit eine erste Ordnung „als Figuration des Werdens“ (Kirchmann 2000, 15) ein. Damit ist aber eine zumindest ambivalente Situation geschaffen: Licht ist nämlich dann sowohl Sinnbild des Werdens, des Einsetzens von Zeitlichkeit und somit der Geschiedenheit von Gott als auch Sinnbild des Dauernden, Zeitlosen und Ungeschiedenen, eben Sinnbild Gottes selbst. Die ambivalente Besetzung des Lichts beschreibt eine Problemlage: „Wie ist unter der Annahme der Abspaltung des Hiesigen, Zeitlichen aus dem Reich des Einen, Zeitlosen noch eine Teilhabe am Göttlichen möglich?“[16] – Welchen Zugang hat man noch, mit anderen Worten, zum göttlichen, reinen Licht, wenn doch gerade durch die Lichtwerdung der Zugang zu diesem verwehrt wird? Im mythischen und religiösen Kontext wird dieses Problem mit folgender Figur angegangen: „Da das Ungeschiedene nicht endlich sein kann, ohne selbst zum Geschiedenen zu werden, muß es auch nach dem Anfang aller Zeiten weiterhin bestehen. Das Geschiedene wiederum kann nicht vollständig abgetrennt vom Ungeschiedenen sein, hätte ersteres doch ansonsten aus sich selbst heraus sein vollständiges Gegenteil kreiert […]. Insofern ist auch das Licht Objekt und Medium der Schöpfung zugleich.[17] In mythischem Denken wird diese Figur in ein zyklisches Weltbild überführt: Lichtwerdung (Einmaliges) und Dauerndes (fortwährende Existenz des Lichts) werden „als grundsätzliche Vereinbarkeit von Zeit und Ewigkeit, Schöpfung und Existenz befriedet […].“[18] Jüdisch-christliches Denken etabliert dagegen ein lineares Zeitmodell, das durch die Problemlösungsstrategie der Eschatologie befriedet wird: „Indem das Leben nach dem Muster der christlichen Heilsbotschaft auf eine versprochene Zukunft hin – nämlich die Wiederkehr des Heilands und damit die Aufhebung der Zeiten schlechthin – ausgerichtet wird, entwickelt sich jene lineare Vorstellung von zeitlichen Abläufen, die als vorgegebene und sinnvolle Bewegung zwischen einem Anfangs- und einem Endpunkt figurieren.“[19] Der Endpunkt der Entwicklung, der Jüngste Tag, wird in der Bibel denn auch folgerichtig als (erneute) Lichtwerdung beschrieben – als Aufhebung des Geschiedenen im göttlich Ungeschiedenen (siehe bspw. Apostelgeschichte 13, 47; 26, 18; 23; Offenbarung 22, 5).

Trotz der eschatologischen Lösung bleibt in der jüdisch-christlichen Tradition das Problembewusstsein bestehen, dass der menschlichen Existenz immer auch die Möglichkeit der Abkehr – sei es willentlich, als Vorgang des Vergessens oder schlicht aus Unkenntnis – vom Zielpunkt, der (vollständigen) Wiederaufnahme in das ungeschiedene göttliche Licht, eingeschrieben bleibt.[20] Das göttliche Licht braucht Botschafter, Mahner und Vermittler. In der christlichen Tradition sind solche Botschafter und Mittler beispielsweise die Engel. Sie überbringen Botschaften aus der göttlichen Sphäre in die weltliche. Dargestellt werden sie zumeist als Gestalten, „deren transparenter lichterfüllter Leib das himmlische Licht reflektiert“.[21] Auch Propheten, wie beispielsweise Johannes der Täufer, zeugen vom Licht.[22] Mittler und Propheten werden mit Aureole, Heiligenschein oder Fackel ausstaffiert, die sie als Träger und Mittler des göttlichen Lichts auszeichnen. Christus wiederum ist die Verkörperung des göttlichen Lichts schlechthin, sein herausragender Offenbarer, der nicht nur vom göttlichen Licht zeugt, sondern das Licht ist und das eschatologische Heilsversprechen erneuert und einlösen wird. Jesus wird hierbei geradezu als (Neu-)Schöpfer der Welt beschrieben.[23]

Die Taten der Mittler, Propheten und Offenbarer können als Eingriffe Gottes in den steten Ablauf der Welt verstanden werden. Sie initiieren außergewöhnliche Ereignisse, durch die der Verlauf der linearen, profanen Zeit aufgehoben wird und das Göttliche in der Welt aufscheint. Der Eingriff Gottes qua Mittler bedeutet eine Zäsur: Die Ankunft Jesu in der Welt wird als (Neu-)Schöpfung und Zäsur beschrieben. Auch die Tätigkeiten der anderen Mittler werden als Neubeginn und Zäsur beschrieben – eben als Lichtwerdung. Sei diese Neuordnung nun individueller Natur (etwa die Botschaft eines Engels, die zur Veränderung der Lebensweise einer Person führt) oder kollektiver (die Auferstehung Jesu), stets wiederholt sich darin dieselbe formale Struktur des ersten Schöpfungsaktes als Lichtwerdung. Es sind kleinere und größere Wiederholungen des Schöpfungsaktes, durch die das reine göttliche Licht aufscheint, eine Neuordnung initiiert wird und die utopische eschatologische Figur Anwendung findet.

Nicht nur in biblischen Texten lässt sich diese Figuration finden. Auch Martin Luther etwa wird immer wieder als Lichtgestalt dargestellt und beschrieben. Als Reformator hat er eine Zäsur und einen Neubeginn gesetzt. Konsequent der christlich-ikonographischen Tradition folgend, wurde seine Tat als (erneute) Lichtwerdung beschrieben.[24] Auch außerhalb des religiösen Kontextes und bis hinein in die Neuzeit kommt die benannte Lichtkonzeption zur Anwendung: „Weit über den engeren Geltungsbereich des Religiösen hinausgehend, wird in der Neuzeit unter diesen Vorzeichen dem außergewöhnlichen Ereignis, der historischen Zäsur, dem individuellen oder kollektiven Neubeginn weiterhin die Befähigung zugesprochen (…), den profanen Ablauf der linearen Zeit aufzuheben. Immer dort und dann, wenn und wo ein Neubeginn, eine Neuschöpfung, der Eintritt in ein neues Zeitalter gegeben ist bzw. postuliert wird, ist die mythische Besetzung des primordialen Lichtes sofort bei der Hand. […] Auch nach allen Säkularisierungen bleibt das Moment des Anfangs nur als Lichtwerdung denkbar […].“[25]

Gerade die säkularisierte Aufklärung übernimmt die christliche Lichtsymbolik, freilich unter Vorgaben ihrer eigenen Wertmaßstäbe. Schon in der Bezeichnung Aufklärung kommt die Symbolik des Lichtes zum Tragen. Es ist eine metaphorische Übertragung aus dem Metereologischen: das Wetter klart auf. Noch deutlicher wird die Verbindung zum Licht im englischen enlightenment, im französischen lumières oder im italienischen illuminismo. ((Hof 1983, S. 111f.)) Das 18. Jahrhundert beschreibt sich selbst als neues Zeitalter, als Zeitalter der Aufklärung; Johann Gottfried Herder etwa preist sein Jahrhundert als das „lichteste Jahrhundert“. ((Herder, zitiert nach Hof 1983, S. 117.)).Als ‚Licht der Aufklärung‘ steht das Licht nun für die Ratio und für die Neuorganisation der Welt nach Maßgabe eben dieser Ratio. In der christlichen Tradition galt das lumen supranaturalis Gottes als ausschließliches Erkenntnismedium – das Licht Gottes erleuchtet den Menschen und lässt ihn erkennen. ((Historisches Wörterbuch 1980, S. 282f.)) In der Aufklärung wird die Vernunft zum dominanten Erkenntnismedium erkoren und explizit in Gegensatz zum göttlichen Licht gesetzt, was in der Beschreibung der Vernunft als lumen naturalis offensichtlich wird. ((Historisches Wörterbuch 1980, S. 286.)) ‚Natürliches‚ vernünftiges‘ Licht soll ins ‚widernatürliche, unvernünftige‘ Dunkel des Aberglaubens und der Unkenntnis gebracht werden. Trotz der erkenntnistheoretischen Umbesetzung der Gewissheitsinstanz, von Gott zur Ratio, steht dieser Plan von der Abschaffung der Dunkelheit fest in der Tradition christlicher Schöpfungs- und Lichtsymbolik: Eine geistige, politische und kulturelle Neuorganisation wird als Lichtwerdung postuliert (die Durchsetzung der Ratio), unter der Annahme eines teleologischen, utopischen Verlaufs der Welt, der durch die Ratio garantiert ist (was als ‚säkularisierte Heilsgeschichte‘ verstanden werden kann).

Der Revolutionär als Lichtgestalt

Abb. 2: Der Revolutionär als Lichtgestalt

Seit der Reformation – oder doch spätestens seit der Französischen Revolution und der Aufklärung – partizipiert nahezu jede Revolutionsrhetorik an der christlichen Lichtfiguration. Sei es in der Bezugnahme auf das revolutionäre Ereignis selbst, das als Aussetzung der alten Ordnung und Zeit beschrieben wird, sei es in Hinblick auf die Revolutionäre, die als Initiatoren der Revolution gelten und als Lichtgestalten inszeniert und mit der Verheißung eines revolutionären Endpunktes, etwa der Aufhebung aller Klassenunterschiede, verbunden werden (siehe Abb. 2). Auch ganz anders gelagerte politische, nationale Bestrebungen werden formal mit dem christlichen Lichtkonzept besetzt. Adolf Hitler zum Beispiel wird häufig als Lichtgestalt, die das ›Volk heim ins Reich holt‹, von Albert Speer in Szene gesetzt (siehe Abb. 3). Hitler steht hierbei für eine Zäsur, eine Absetzungsbewegung gegenüber dem Vorangegangenen, der profanen Zeit, für eine Neuschöpfung und das Versprechen einer utopischen, heilsgeschichtlichen Rückkehr in die ‚völkische Heimat‘. Pointierter formuliert: Es geht um das Aussetzen der profanen Zeit im ‚Tausendjährigen Reich‘. ((Reichel 1991.))

Die ‚aufsteigende Lichtlinie zu Hitler‘ in einer Lichtdominszenierung Albert Speers

Abb. 3: Die ‚aufsteigende Lichtlinie zu Hitler‘ in einer Lichtdominszenierung Albert Speers

Bis hinein in die Populärkultur hat sich die formale Struktur christlicher Lichtkonzeption fortgesetzt. Wenn etwa Franz Beckenbauer als Lichtgestalt des Fußballs bezeichnet wird, dann geschieht dies streng nach der Logik christlicher Lichtfiguration: Beckenbauer ist der Fußballer, der die „Libero-Position revolutionierte“ (WM-Rekordspieler 2006) und damit einen Bereich eröffnet haben soll jenseits des alltäglichen Fußballspiels. Mit einer eleganten Ballannahme Beckenbauers wird der profane, monotone Verlauf des Fußballspiels unterbrochen von einem außergewöhnlichen Ereignis – ein kurzes Aussetzen der profanen Zeit. Gleichsam ist mit Beckenbauer ein utopischer Zielpunkt formuliert – der ‚ideale‘ Fußball, der durch und bei ihm aufschien, ist die Verheißung, wie das Fußballspiel einst (idealerweise) aussehen könnte, ein ‚säkularisiertes Heilsversprechen‘, wenn man so will. Folgerichtig ist Beckenbauer denn auch Trainer geworden, hat als solcher 1990 die deutsche Nationalmannschaft zur Fußballweltmeisterschaft geführt und wird seither als „Lichtgestalt“ (WM-Rekordspieler 2006) bezeichnet.Inzwischen ist er auch als erfolgreicher Kommentator und Sportfunktionär tätig. Er ist Mittler, Bote und Mahner des reinen (Fußball-)Lichts.

Franz Beckenbauer

Abb. 4: Beckenbauer kurz nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1990 im Flutlicht des Stadion Olimpico in Rom

III. Gutenberg als Medium des Lichts

Auch Johannes Gutenberg lässt sich in die Reihe der Lichtgestalten stellen; auch er ist Mittler, Bote und Mahner des Lichts. Die Bandbreite seiner Mittlerfunktionen ist so facettenreich, dass es sich lohnt, näher darauf einzugehen. Schon im späten 15. Jahrhundert – kurz nach seiner Einführung – wurde der Buchdruck kontrovers diskutiert. ((Giesecke 1998, S. 124ff.)) 1540 war er bereits so populär, dass möglicherweise im reformatorischen Kontext die erste Jahrhundertfeier zum Gedenken an den Buchdruck abgehalten wurde. ((Estermann 1999, S. 21ff.)) Über die historische Gestalt Gutenberg war und ist jedoch wenig bekannt, selbst die näheren Umstände der Erfindung sind weitgehend unklar. Nicht zuletzt dadurch ist die symbolische Besetzung Gutenbergs und seiner Erfindung offen für sehr unterschiedliche Projektionen. ((Estermann 1999, S. 233f.; Füssel 1999, S. 39ff.)) Doch trotz aller Variabilität bleibt die Lichtsymbolik über Jahrhunderte eine Konstante beim Gedenken an Gutenberg respektive an den Buchdruck. Vier zentrale Stränge sollen hier näher beschrieben werden: Gutenberg 1. als erleuchteter Genius, Erfinder und tragischer Held, 2. als nationale Lichtgestalt, 3. als Reformator und Medium des göttlichen Lichts und 4. als Aufklärer und Medium des neuzeitlichen Lichts.

1. Gutenberg als erleuchteter Genius, Erfinder und tragischer Held

Spätestens seit dem 18. Jahrhundert löst sich die Erfinderfigur Gutenberg vollständig aus dem bis dahin vorherrschenden Triumvirat Johann Fust – Peter Schöffer – Johannes Gutenberg, das traditionellerweise für die Erfindung des Buchdrucks stand ((siehe Estermann 1999, S. 112ff.)) Dazu trug die aufkommende Quellenkritik des 18. Jahrhunderts bei. Der Göttinger Professor für Historie, Johann David Köhler, publizierte zur Gutenbergfeier 1740 eine Abhandlung über die Geschichte des Buchdrucks mit dem bezeichnenden Titel: Hochverdiente und aus bewährten Urkunden wohlbeglaubte Ehren-Rettung Johann Gutenbergs. ((Estermann 1999, 110f.)) Dazu hatte er bis dato ungedruckte Quellen und Urkunden herangezogen, darunter erstmals das Helmasperger Notariatsinstrument, in dem sich ein Rechtsstreit zwischen Fust und Gutenberg niedergeschlagen hat. Fust hatte Gutenberg angezeigt, weil dieser mehrere Darlehen, die ihm Fust gewährt hatte, nicht zurückzahlen konnte. Das Gericht verurteilte Gutenberg zur Herausgabe der Druckerwerkzeuge für die 42-zeilige Bibel an Fust. Köhler unterstellte in seiner Interpretation Fust Gewinnsucht und sogar Betrugsabsichten ((Estermann 1999, S. 112f.)) Fust wird also als Negativfigur gegen den betrogenen Erfinder Gutenberg in Position gebracht. Die Geschichte des Buchdrucks wird zur Betrugsgeschichte und zum Kriminalstück. ((Keckeis 2005.))

„Fust wird mit dem Verdikt der Geldgier behaftet, damit nicht genug, es geht auch um den Diebstahl der Erfindung, des ‚ingeniums‘. Die Ausdifferenzierung von Gutenberg und Fust erfolgt durch ein Begriffsfeld, das für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung wurde, dem Genie und seine Nachahmer.“ ((Keckeis 2005, S. 136.)) Die Geniekonzeptionen des 18. Jahrhunderts sprachen dem Einzelnen, dem Außergewöhnlichen einen Zugang zu Wahrnehmungen und Erkenntnissen zu, der den Normalsterblichen verschlossen bleibt. ((Gethmann-Siefert 1995, S. 127ff.)) Dieser Zugang wird im Sinne der christlichen Lichttradition als Aufscheinen des göttlichen Lichtes interpretierbar, das den Einzelnen erleuchtet; dieser kann das Licht analog zur göttlichen Schöpfung ins (künstlerische, intellektuelle oder – im Falle Gutenbergs – technische) Werk setzen. Gutenberg wird noch im 19. Jahrhundert häufig als Genie in der Tradition dieser Lichtsymbolik gepriesen: „Aber dem deutschen Gutenberg blitzte der Silberblick des schöpferischen Genius in die unermüdlich forschende Seele, die todten Typen wurden lebendig.“ ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 29.))

Durch die Kontrastierung mit einer ‚dunklen’ Gestalt kann das Genie Gutenberg noch heller scheinen. Fust bietet sich dazu als idealer Gegenpart an, was vor allem auch in dramatischen Werken vielfach Verwendung fand. ((Keckeis 2005.)) Die sprachliche Nähe des Namens Fust zur mythischen Figur Faust wurde dabei ebenso ausgenützt wie die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ‚schwarze Kunst’ (einerseits als schwarze Magie, Teufelskunst, andererseits als Beschreibung des Buchdrucks in der Ableitung von der Farbe der Druckerschwärze). „In der Überlagerung der Erfindung des Buchdrucks durch den Faust-Mythos und dessen schwarze Magie geht Georg Heinrich Mahncke in seinem 1809 erschienenen Johannes von Guttenberg, Erfinder der Buchdruckkunst, und Doctor Johann Faust oder Die Zeichen der Zeit noch weiter [als andere Dramen; S.G.], indem der Erfinder Gutenberg von seinem negativ besetzten Gegenspieler Faust durch einen Pakt (!) ins Garn gelockt wird, um ihn später seiner Erfindung und Ehre zu berauben, was allerdings letztlich misslingt.“ ((Keckeis 2005, S. 137.))

Zur Denkmalseinweihung 1837 in Mainz wurde das Oratorium Gutenberg mit 400 Sängern der Mainzer Liedertafel aufgeführt. Faust (Fust) erscheint auch hier wieder als Gegenspieler Gutenbergs ((Estermann 1999, S. 131f.)) Fust will die Druckerpresse gegen politisch Feinde einsetzen (Flugschriften) und die Funktionsweise des Drucks geheim halten. Gutenberg dagegen will die Presse zu frommen Zwecken (Druck der Bibel) verwenden und die Erfindung in die Welt tragen. Zu Beginn des Stückes wird Gutenberg verdächtigt, schwarze Magie auszuüben. Am Ende wird er von diesem Vorwurf freigesprochen; Faust erlangt nach ausgiebiger Läuterung Vergebung, und die Presse kann nun ihren frommen Zweck erfüllen. Gutenberg steht hier als Garant für die sakralen und wohltätigen Ziele, und seine schwarze Kunst ist keine schwarze Magie, sondern vielmehr weiße – „diese Kunst ist reine Gotteskraft“, ((zitiert nach Estermann 1999, S.  132.)) heißt es im abschließenden Gesang.

Auch ein Holzschnitt, verfertigt nach einer Zeichnung von Adolf Menzel, zeigt das Gegensatzpaar Fust – Gutenberg im Jahre 1440, dem Jahr der angenommenen Erfindung (Abb. 2). Gutenberg präsentiert Fust eine soeben gedruckte Seite. Von rechts fällt Licht auf Gutenberg, durch eine Öffnung, hinter der ein Kirchturm auszumachen ist. Fust, in dunkle Kleider gehüllt, steht links von Gutenberg, reibt sich die Hände und blickt in die Ferne. Während Gutenberg von dem kirchlich-göttlichen Licht erfasst wird und als begeisterter Erfinder auftritt, denkt Fust womöglich bereits an die ökonomische Verwertbarkeit. Gutenberg wird hier ganz konkret als Lichtgestalt gezeichnet und gegen die dunkle Gestalt Fusts herausgehoben.

Licht und Schatten der Erfindung

Abb. 5: Licht und Schatten der Erfindung

Die Aktivitäten Fusts und Schöffers hätten Gutenberg nicht nur ruiniert, sondern ihn auch um den Ruhm des Erfinders gebracht. Gutenberg wird dabei als tragischer Held und vergessenes Genie inszeniert, das den ihm zustehenden Ruhm zu Lebzeiten nicht erhielt. Genauso wird er bei der Einweihung des Gutenbergdenkmals in Mainz 1837 verstanden. Mit der Aufstellung des ersten Gutenberg-Denkmals sei „eine große Schuld getilgt“, ((Gedenkbuch Mainz 1837, S. 1.)) wie es in einer der Gedenkschriften heißt. Der tragische Held wird hier als zu Unrecht vergessenes Genie inszeniert und als einzigartige Lichtgestalt gefeiert.

2. Gutenberg als nationale Lichtgestalt

Schon im 16. Jahrhundert etablierte sich die Beschreibung des Buchdruckes als Gottesgeschenk. Ebenso früh entbrannte eine heftige Kontroverse darum, welcher Nation nun die Ehre zukomme, den Buchdruck erfunden bzw. zuerst von Gott empfangen zu haben. ((Giesecke 1998, 199ff.)) Vor allem die deutsche Nation hatte großes Interesse daran, die Erfindung für sich reklamieren zu können, weil sie sich damit als Kulturnation gegenüber Italien und Frankreich zu etablieren gedachte ((Giesecke 1998, S. 192ff.)) An einem Kupferstich aus dem Jahre 1740 lässt sich die nationale Bestrebung gut nachvollziehen (Abb. 6).

Der Wettstreit der Nationen

Abb. 6: Der Wettstreit der Nationen

Am Himmel thront eine von Licht umgebene Personifikation der Typographie; rechts daneben Merkur, der Götterbote, und links Minerva, Göttin der Weisheit. Das von oben herabfallende göttliche Licht trifft auf der Erde als erstes auf die links sitzende Germania, die Schilde mit Porträts von Gutenberg und Fust hält. Etwas tiefer sitzen die Personifikationen der anderen Nationen. Die Frage nach dem Herkunftsland des Buchdrucks scheint hier klar entschieden, und Gutenberg und Fust, als die zuerst vom göttlichen Licht Erfassten, sind die zentralen Erfinderfiguren.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird Gutenberg nahezu ausschließlich als alleiniger Erfinder des Buchdrucks gefeiert. Zur 400jährigen Säkularfeier des Buchdrucks wird er in vielen Städten als herausragende deutsch-nationale Lichtgestalt herausgestellt. Auf einem Widmungsblatt für den Deutschen Buchdrucker-Verband etwa ist Gutenberg mit einer Fackel in der erhobenen rechten Hand abgebildet (Abb. 7). Darunter sind vertikal die Buchdruckvertreter in der jeweils zeitgenössischen Tracht und einem Banner mit den Jahreszahlen 1540, 1640, 1740 und 1840 zu erkennen. Gutenberg wird hier klar als Lichtbringer gezeichnet, der mit seiner Erfindung eine Nationalentwicklung in Gang gesetzt hat, die im Laufe der Jahrhunderte die Gestalt einer bürgerlichen Kulturnation annimmt. Hier ist Gutenberg Begründer und Schöpfer eines (bürgerlichen) Nationenideals.

Gutenberg als (nationaler) Schöpfer

Abb. 7: Gutenberg als (nationaler) Schöpfer

In einem Ölgemälde aus demselben Jahrhundert erhält Gutenberg die Rolle eines nationalen Kulturstifters, der die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart ermöglicht (Abb. 8). Von rechts her reitet Kaiser Wilhelm I. auf Gutenberg zu. Die Bildunterschrift bezeichnet Wilhelm I. als „Wiederhersteller Deutscher Einheit und Macht“. ((zitiert nach Estermann 1999, S. 295.)) Gutenberg begrüßt ihn „und führt ihm aus Walhalla kommende Männer aus Deutschlands Vergangenheit vor […]“ ((Estermann 1999, S. 295.)) – darunter Goethe, Schiller, Leibniz. Gutenbergs Erfindung wird hier also verstanden als Bedingung dafür, dass die deutsche Nation als Kulturnation eine Kontinuität ausbilden konnte. Wilhelm I. und Gutenberg sind Repräsentanten der Verbindung von Politik und Kultur, von Gegenwart und Vergangenheit, die zu einer Wiedergeburt der deutschen Nation führen. Es geht also auch hier um eine (Neu-)Schöpfung, und natürlich ist dabei das Licht nicht fern. Zentral im Bild strahlt das Licht vom Horizont her direkt auf Gutenberg, der dem Leuchten zugewandt ist. Kaiser und Gutenberg begegnen sich im hellen Lichtschein – die Wiedervereinigung wird als Lichtspektakel in Szene gesetzt.

Die Wiedergeburt der Kulturnation als Lichtspektakel

Abb. 8: Die Wiedergeburt der Kulturnation als Lichtspektakel

3. Gutenberg als Reformator und Medium des göttlichen Lichts

Der Buchdruck wird, wie bereits angeführt, von Anfang an im reformatorischen Kontext als Gottesgeschenk begriffen. Noch in zahlreichen Säkularfeiern des 19. Jahrhunderts wird der Buchdruck mit dem Topos des Gottesgeschenkes in Verbindung gebracht und als erneute Lichtwerdung verstanden ((Estermann 1999, S. 126.)) Gott sendet nach diesem Verständnis den Buchdruck, damit das Wort Gottes allen zugänglich wird; der Buchdruck ist somit Werkzeug der „Wiedergeburt“ ((Hausrath 1840, S. 6.)) der christlichen Gemeinschaft. Die Idee, dass der Buchdruck das Wort Gottes allen zugänglich machen soll und dass darüber hinaus das Wort Gottes als alleinige Autorität gelten soll, wird vor allem im reformatorischen Kontext unter der theologischen Maxime sola scriptura relevant. ((Estermann 1999, S. 38.)) Luther selbst, der diese Maxime vehement vertrat, beschrieb den Buchdruck wie folgt: „Der Buchdruck ist das letzte und zugleich größte Geschenk [Gottes; S.G.]. Durch den Buchdruck nämlich sollte nach Gottes Willen der ganzen Erde die Sache der wahren Religion im Vergehen der Welt bekannt und in alle Sprachen ausgegossen werden. Es ist gewiß die letzte, unauslöschliche Flamme der Welt.“ ((Luther zitiert nach Giesecke 1998, S. 162.)) Diese Auffassung wurde in der Folge im reformatorischen Kontext ein fester Bestandteil protestantisch geprägter Säkularfeiern. Die Implikationen sind weitreichend: Wenn der Buchdruck die ‚letzte, unauslöschliche Flamme’ ist, dann ist mit dem Buchdruck ein Zustand erreicht, in dem keine weiteren Geschenke nötig sind, um Gottes Willen weiterzutragen. Das göttliche Wort ist durch die unendliche Reproduzierbarkeit gesichert, und in den Worten ist alle göttliche Weisheit aufzufinden, so dass Gott nicht mehr selbst eingreifen muss. Michael Giesecke beschreibt dies in seiner Untersuchung der Etablierung des Buchdrucks pointiert mit den Worten: „Gott hat den Menschen als letztes Geschenk eine typographische Datenverarbeitungsanlage vermacht und sie zugleich mit einer göttlichen Weisheit gespeichert. Alle notwendigen Informationen und Lehren können aus dieser Maschine abgerufen werden.“ ((Giesecke 1998, S. 163.)) Demgemäß ist es nur folgerichtig, den Buchdruck als zäsurales, außergewöhnliches Ereignis und erneute Schöpfung bzw. Lichtwerdung zu beschreiben und zu feiern.

In den Säkularfeiern wird der Buchdruck immer stärker auf Gutenberg als dessen Erfinder bezogen: „Da sprach Gott abermals: ‚Es werde Licht!‘ Und Gott machte ihn [Gutenberg; S.G.] zu seinem Werkzeug.“ ((Gedenkbuch Elberfeld 1840, S. 38.)) Gott schöpft hier also die Welt noch einmal, und Gutenberg ist derjenige, der dabei als Mittler dieser zweiten Schöpfung fungiert, indem er den Buchdruck erfindet. Die Namensgleichheit von Johannes Gutenberg und Johannes dem Täufer wurde bei der Beschreibung des Mittlers und Erfinders weidlich ausgeschöpft: „Johannes Gutenberg war ein Mann von Gott gesandt. [… ] Wie einst die Erscheinung des Täufers Johannes die Nacht aufzuhellen begann […] so ist auch der Anfang des Bücherdrucks die Morgenröthe gewesen, die der allseitigen Erleuchtung und geistigen Kräftigung der ganzen Menschen vorausging.“ ((Elberfeld 1840, S. 38.)) Erfinder und Erfindung werden dabei im Symbol Gutenberg verschmolzen und stehen für eine erneute Lichtwerdung und Schöpfung Gottes: „In dieser Sichtweise erscheint Gutenberg als ein Medium, in dem und durch das sich der göttliche Wille ausdrückt.“ ((Giesecke 1998, S. 159.))

4. Gutenberg als Aufklärer und Medium des neuzeitlichen Lichts

Seit dem 18. Jahrhundert figuriert Gutenberg im Kontext öffentlicher Veranstaltungen häufig als Aufklärer. Dabei wird zumeist der Topos des Gottesgeschenks mit Aufklärungsideen verknüpft; ((Estermann 1999, S. 81.)) so etwa nachzulesen in einem Gedenkbuch der Jahrhundertfeier 1840 in Braunschweig. Buchdruck und Gutenberg werden hier als von Gott gesandt beschrieben. Daneben werden Gutenberg und der Buchdruck verstanden als Initiatoren und Garanten des Sieges der „Aufklärung und des Lichtes über den Irrwahn und die Finsterniß“ ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 22.)) Mit der Erfindung des Buchdrucks „trat an die Stelle des im Ganzen dunklen Gefühlslebens, in dem diese [die Menschheit; S.G.] mehrere Jahrhunderte lang traumähnlich befangen lag, das erwachende Selbstbewußtsein, der zum Denken und klaren Erkennen reifende Verstand […].“ ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 7f.)) Durch den Buchdruck sind nun Ideen und Erkenntnisse jedem zugänglich – nicht nur können (prinzipiell) alle Menschen am Wissen teilhaben, sondern auch die „historische Simultanität allen möglichen Wissens“ ((Scholz 2004, S. 22.)) gilt als durch den Buchdruck gewährleistet. Die Menschheit, so die Implikation, wird durch diese Möglichkeit quasi automatisch zu (Selbst-)Bewusstsein und Verstand geführt. Durch den Buchdruck ist ein Prozess in Gang gesetzt worden – „Aufgang eines neuen großen Tages für die Menschheit“ ((Gedenkbuch 1840b, S. 7.)) –, der den aufklärerischen Zielen unaufhaltsam entgegenstrebt. Der Buchdruck distribuiert also nach solch einem Verständnis das ‚Licht’ der Aufklärungsideen und ist gleichzeitig die Bedingung dafür, dass es überhaupt zu einer flächendeckenden Aufklärung kommen kann. Hierbei wird der Buchdruck ähnlich verstanden wie im Kontext der Reformation: als Distributionsapparat und Möglichkeitsbedingung einer gesellschaftlichen Veränderung.

Mit dem technischen Verbreitungsmedium des aufklärerischen Lichtes korrespondiert die Erfinderfigur: Gutenberg habe mittels seiner Erfindung die „Fackel der Aufklärung“ ((Wagner 1837, S. 12.)) zuallererst entzündet – der Erfinder wird zum Ausgangspunkt der Aufklärung. In den Texten zu den Gedenkfeiern wird immer wieder darüber räsoniert, welchen Stellenwert der Erfinder einer Technik gegenüber Dichtern, Weltweisen, Künstlern oder Wissenschaftlern überhaupt haben kann und ob es gerechtfertigt sei, Gutenberg als einen solchen Ausgangspunkt der Aufklärung zu platzieren. ((Gedenkbuch Mainz 1937, S. 35.)) Die zentrale Frage, die sich dahinter verbirgt, lautet in heutiger Terminologie: Ist es gerechtfertigt, die Hardware höher einzuschätzen als die Software? Eine Antwort, die im Kontext der Mainzer Denkmalsfeier 1837 gegeben wird: „Sein [Gutenbergs; S.G.] Werk ist anderer Natur [als das der Dichter, Politiker und Wissenschaftler; S.G.], dem Anscheine nach minder glänzend, doch in Wahrheit gleich inhaltsschwer, ja von ausgedehnterer Wirkung, durch Raum und Zeit von unendlichen Folgen.“ ((Gedenkbuch 1837, S. 13.)) Gutenbergs Erfindung hat also dieser Auffassung zufolge eine größere Wirkung als andere Werke, seien sie nun künstlerischer, politischer oder wissenschaftlicher Art – die Erfindung hat ‚unendliche Folgen’. Damit wird der Buchdruck als kulturhistorische Zäsur verstanden und als Moment einer irreversiblen und unendlichen Dynamisierung: „Die Erfindung Gutenbergs hat einen unübersteiglichen Damm gegen den Rückfall in die vorige Barbarei aufgeworfen. Keiner menschlichen Kraft wird es noch gelingen, die hohe Stufe der Civilisation, auf die Gott die Menschheit durch diese Erfindung geführt hat, zu zerstören.“ ((Gedenkbuch Mainz 1937, S. 26.)) Und: „Die Entwicklung der Kräfte des Menschen hat seit der Erfindung des Buchdrucks nicht mehr stillgestanden und wer von der Zukunft noch einen Stillstand erhofft, wird sich irren.“ ((Gedenkbuch Mainz 1937, S. 24.))

Gutenbergs Erfindung wird auch gegenüber anderen Erfindungen hervorgehoben. Weder Eisenbahn noch Fotografie etwa seien mit dem Buchdruck zu vergleichen, und zwar, weil diese Erfindungen erst auf Grund der durch den Buchdruck initiierten Dynamik aufkommen konnten. ((Gedenkbuch Elberfeld 1840, S. 40f.)) Demgemäß heißt es denn auch über Gutenberg: „Er ward der Begründer einer neuen und dauernden Civilisation und der Schöpfer eines Lichts, das nie verlöschen wird […].“ ((Wagner 1837, S. 47.))

Michael Giesecke interpretiert Zeugnisse, die im 15. und 16. Jahrhundert den Buchdruck beschreiben, als Indikatoren eines gewandelten erkenntnistheoretischen Selbstverständnisses: „Nicht mehr nur Gott und die menschliche Vernunft gelten als Erkenntnisorgane, ‚lumen supranaturalis’ bzw. ‚lumen naturalis’ als Erkenntnismedien, sondern auch die Druckerei wird zu einem Erkenntnisorgan, welches mit einem eigenen Licht, man könnte sagen, einem ‚lumen artificalis’, der Finsternis Schätze der Erkenntnis entreißt. Es findet also gleichsam eine Technisierung der Erkenntnis, der ‚Illumination’ oder der ‚Aufklärung’ statt.“ ((Giesecke 1998, S. 150.))

Für diverse Selbstbeschreibungen des 19. Jahrhunderts kann man noch einen Schritt weiter gehen: Mit Gutenberg wird eine kulturgeschichtliche Zäsur gesetzt, eine technische moderne Kultur eingeläutet, die nicht nur eine neue Erkenntnisweise neben anderen bereitstellt, sondern einen kulturellen Prozess initiiert, der irreversibel ist und eine genuin neuzeitliche Dynamik in Gang setzt. Als Medium des neuzeitlichen Lichts verbreitet der Buchdruck nicht nur das Wort Gottes oder Ideen der Aufklärung, sondern als technisches Medium revolutioniert er die Wissens- und Gesellschaftsordnung insgesamt. Der Buchdruck wird zunehmend als Ausgangspunkt und Symbol einer technisch fundierten Neuzeit interpretiert. Mit Giesecke gesprochen: Das Licht der Neuzeit ist das lumen artificalis. Gleichsam wird der Erfinder Gutenberg zum Schöpfer und Medium, der dieses neuzeitliche ‚künstliche’ Licht in die Welt gebracht hat.

Gutenberg figuriert demnach, in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlichen funktionalen Zusammenhängen als Lichtgestalt. Als prototypische Lichtgestalt kann Gutenberg gelten, weil er vor allem in den semantischen Feldern Genie, Politik und Reformation ganz ähnlich eingesetzt wurde wie etwa die ‚Lichtgestalten‘ Schiller oder Luther. ((Burkhardt 1988, S. 223f., Noltenius 1988.)) Das Spezifische an der ‚Lichtgestalt’ Gutenberg dürfte dagegen wohl die Bezugnahme auf eine technisch fundierte Neuzeit sein.

Über alle unterschiedlichen Besetzungen und Bezugnahmen hinweg folgt die Verbindung von Gutenberg mit der Lichtsymbolik formal der christlichen Schöpfungstradition. Mit Gutenberg wird eine Lichtwerdung verbunden, die eine Zäsur beschreibt, eine Neuordnung der Welt im Geiste der Nation, Gottes, der Vernunft oder der Technik. Diese Zäsur wird immer auch mit einer Utopie verbunden, sei es die Festigung des Heilsversprechens, die Vereinigung einer Nation, die vollständige Aufklärung des Menschen oder zumindest der unendliche Fortschritt.

Diese Darstellungen und Inszenierungen erhalten also die für Symbole spezifischen Funktionen: Die jeweiligen Inszenierungen Gutenbergs reagieren auf zeitspezifische Probleme – etwa: nationale Identität, Zugang zu Gott, säkularisierte und beschleunigte Welt. Sinnorientierung wird z.B. mit der Utopie einer nationalen Gemeinschaft oder einer aufgeklärten Weltgemeinschaft bereit gestellt. Die Unmittelbarkeit der symbolischen Repräsentation ergibt sich dabei primär durch die Verbindung mit dem Licht: In den zitierten Texten wird der Stellenwert Gutenbergs nicht allein argumentativ untermauert; durch die Verbindung von Licht und Gutenberg wird eine symbolische Ebene eingeführt, die weit darüber hinaus geht. Die Texte inszenieren eine unmittelbare Evidenz der Größe Gutenbergs allein schon durch die Verbindung zur christlichen Lichtsymbolik und deren weitreichenden Konnotationen.

IV. Illumination

Noch deutlicher wird diese symbolische Unmittelbarkeit dann, wenn Gutenberg in Lichtinszenierungen eingepasst wird – wenn sich also die symbolische Verschränkung von Licht und Gutenberg regelrecht ‚materialisiert‘. Bei der Mainzer Feier zur Denkmalsenthüllung 1837 lassen sich hierfür Beispiele finden. Diese Gutenbergfeier hatte Volksfestcharakter. Es gab Bälle, Umzüge, Feuerwerk, Fackelzüge etc. Dabei wurden die typischen Medien bürgerlicher Erinnerungskultur zum Einsatz gebracht (Umzüge, Chöre, Kanonen, Denkmal usf.). ((Estermann 1999, S. 122f.)) Ein Fackelzug zum Denkmal Gutenbergs wurde hochgradig symbolisch inszeniert. Nicht nur wurden die Fackeln getragen zur Erinnerung an die „typographische Fackel“ Gutenbergs , „die“, wie es in einer der Festschriften heißt, „die ganze Erde erleuchtet“, ((zitiert nach Estermann 1999, S. 116.)) darüber hinaus wurden die einzelnen Fackeln am Ende des Zugs zu einer einzigen vereinigt, was die erneute Lichtwerdung durch den Buchdruck und die damit einhergehende Vereinigungsutopie symbolisch repräsentieren sollte. Interessanter ist vielleicht aber ein Spektakel, das am Vorabend der Feier für die bereits angereisten Gäste inszeniert wurde. An einem Schiff wurde „ein beleuchtetes Transparentgemälde, das die ganze Länge des Rheinschiffs einnahm“ ((Wagner 1837, S. 8.)) angebracht. Darauf abgebildet war Gutenberg in Gestalt des Denkmals, das am nächsten Tag enthüllt werden sollte, daneben zwei allegorische Figuren: die eine hielt die Weltkugel, die andere eine Fackel, mit der die Weltkugel erleuchtet wird. Das Schiff fuhr in der Dunkelheit „unter Kanonendonner und den Gesängen und militärischen Märschen der k.k. österreichischen Militärmusik, langsam rheinabwärts“, ((Wagner 1837, S. 8.)) während die Besucher es vom Ufer aus beobachten konnten. Hier wird die Lichtsymbolik in einer Lichtinszenierung materialisiert. Die allegorische Darstellung der Welterleuchtung wird in eine unmittelbare Erfahrung übersetzt: Der ‚erleuchtete’ Gutenberg bringt hier ganz konkret Licht ins Dunkel der Nacht. Dazu singt der unter dem Deck platzierte Militärchor ein Gutenberg gewidmetes Lied mit den Zeilen: „[…] Durch des Weltalls ferne / Glänzen weit die Sterne, / Die sein Geist versprühet, / hell und wolkenlos […].“ ((Wagner 1837, S. 9.))

V. Am Ende der Gutenberg-Galaxis

Lange nachdem Gutenbergs Geist bei der Feier in Mainz Sterne versprüht hatte und lange nachdem für Gutenberg ein eigenes Sternbild beansprucht worden war, postulierte der Medientheoretiker Marshall McLuhan in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts das Ende der Gutenberg-Galaxis, was zu einem eigenen Topos der Medienhistoriographie und -prognostik wurde. ((Höltschl 2005.)) Bei McLuhan erfolgt eine kulturkritisch motivierte Einschätzung Gutenbergs. Gutenberg wird bei McLuhan zu einer Gestalt, die nicht mehr Bote eines neuzeitlichen utopischen Lichtes ist; stattdessen wird Gutenberg zu einer ‚dunklen’ Gestalt, die den Menschen „Diskontinuität“ und „Selbstentfremdung“ brachte. ((McLuhan 1962, S. 300.)) War Gutenberg noch im 19. Jahrhundert, wie oben zitiert, Garant für das „erwachende Selbstbewusstsein“ und für die Befreiung aus einem „traumähnliche(n)“ Zustand, ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 7f.)) soll er nun bei McLuhan ganz im Gegenteil verantwortlich sein für den „geistigen Schlaf“. ((McLuhan 1962, S. 305.)) Seine Erfindung, der Buchdruck, mutiert dabei zur „kleine(n) gutenbergsche(n) Folterbank“. ((McLuhan 1962, S. 308.))

McLuhan postuliert, dass durch den Buchdruck eine noch mündlich dominierte Manuskriptkultur in eine typographische umgewandelt wurde, was als „radikaler kultureller und gesellschaftlicher Wandel zur europäischen Neuzeit“ ((Coy 1995, VIII.)) verstanden wird. Die Prinzipien des Buchdrucks – Segmentierung, Mechanisierung und Wiederholung – hätten zu abstrakten, uniformen und mechanischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Denkweisen geführt und dabei zur „Selbstentfremdung“ ((McLuhan 1962, S. 308.)) des Menschen. Diesem ‚entfremdeten’ Zeitalter stellt McLuhan das mit dem Telegraphen im 19. Jahrhundert sukzessive aufkommende Zeitalter der elektronischen Medien gegenüber, durch das ein ‚ganzheitliche(s) Feld simultaner Beziehungen’ ((McLuhan 1964,S.  37.)) global hergestellt werde. Damit soll ein neues „Einfühlungsvermögen“ einhergehen und „ein Glaube, der auf eine schließliche Harmonie aller Kreaturen gerichtet ist.“ ((McLuhan 1964, S. 18.))

Die Lichtsymbolik wandert in McLuhans Beschreibungen von Gutenberg ab und wird auf die neuen, elektronischen Medien übertragen. Mit diesen sieht McLuhan ein „Zeitalter der Illumination“, ((McLuhan 1964, S. 527.)) ein neues „Goldene(s) Zeitalter“ ((McLuhan 1964, S. 100.)) anbrechen. Er postuliert eine Neuschöpfung und verspricht eine Verabschiedung von der Entfremdung. McLuhan befindet sich hier vollständig im Bannkreis christlicher Lichtsymbolik.

Der kurze Verweis auf McLuhan zeigt, dass Lichtgestalten im Wandel der Zeiten durchaus zu dunklen Gestalten mutieren können; dass jedoch die Lichtsymbolik damit nicht einfach verschwindet – sie wird umbesetzt und figuriert weiterhin wirkungsmächtig in der Tradition des Schöpfungsmythos. Die symbolische Besetzung des Lichts im Kontext des Schöpfungsmythos weist weit über die christliche Tradition hinaus und scheint eine außerordentliche Beharrungskraft zu besitzen, auch jenseits altehrwürdiger Lichtgestalten.

Quellen

Nachweise der Bildzitate
Abb. 1: Tafel XXV, aus: Alexander Jamieson: A Celestial Atlas comprising a
sistematic display of the Heaven. London 1922. Zitiert nach: Pfeiffer 2005.

Abb. 2: Cover‐Zeichnung zum Spiegel‐Titelthema „Mythos Ché Guevara“,
in: Der Spiegel, Nr. 38, 16.09.1996.

Abb. 3: Nürnberg – Reichsparteitag der NSdAP, „Reichsparteitag der Ehre“,
Rudolf Heß, Robert Ley und Adolf Hitler auf Tribüne vor „Lichtdom“, 8.‐14.
Sept. 1936. Scherl Bilddienst, Berlin 12.9.1936. Bundesarchiv Bild 183‐
2006‐0329‐502.

Abb. 4: Zitiert nach: Deutscher Fußball‐Bund: Nationaltrainer. Franz Beckenbauer.
Der Unvergleichbare, die Lichtgestalt – Franz Beckenbauer
(1984‐1990), http://www.dfb.de/index.php?id=1234, 23.07.09.

Abb. 5: Adolf Menzel: Gutenberg zeigt Fust eine frische Druckseite. Holzschnitt
nach einer Zeichnung Menzels von Friedrich Unzelmann, gedruckt
bei A. W. Schade, Berlin 1840, 25,5 x 28,5 cm, auf Japanpapier. Gutenberg
Museum Mainz (Inv. Nr. GM 92.749 GS). Zitiert nach: Estermann 1999,
178, 270.

Abb. 6: Prosper Marchand: Histoire de l’origine et des premiers progès de
l’imprimerie. La Haye 1740, S. 152, Kupferstich, Blattgröße 26 x 18 cm.
Stadt‐ und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. (Sign. N. libr. 1172). Zitiert
nach: Estermann 1999, 77, 261f.

Abb. 7: J.C. Gubitz: Gutenbergs 400jährige Säkular‐Feier. Allen Mitgliedern
des Deutschen Buchdrucker‐Verbandes gewidmet, Reproduktion (Autotypie)
des Widmungsblattes, Berlin 1840, 17 x 10,4 cm. Gutenberg Museum
Mainz (Inv. Nr. GM 240). Zitiert nach: Estermann 1999, 173, 268.

Abb. 8: „Gutenberg begrüßt Kaiser Wilhelm I.“ Lichtdruck nach einem Ölgemälde
von Professor Hermann Schaper, Hannover, 1888/89 im großen
Festsaal des geh. Kommerzienrates Georg Jänecke in Hannover, Lichtdruck
20,5 x 24 cm. Deutsches Buch‐ und Schriftmuseum Leipzig (ohne Nr.). Zitiert
nach: Estermann 1999, 295f.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Pfeiffer 2005.
  2. Estermann 1999.
  3. Gedenkbuch Mainz 1837, S. 13.
  4. Wagner 1837, S. 23f.
  5. Gutenbergfest Erfurt 1840, S. 22.
  6. Gedenkbuch Braunschweig 1840.
  7. Gedenkbuch Mainz 1837, S. 26.
  8. Schlögl 2004, S. 13ff.
  9. Soeffner 2000, S. 188.
  10. Soeffner 2000, S. 198.
  11. Eco 1972, S. 197ff.
  12. Soeffner 2000, S. 190f.
  13. Soeffner 2000, S. 188.
  14. Herder Lexikon 1978, S. 101.
  15. Kirchmann 2000, S. 14.
  16. Kirchmann 2000, S. 16.
  17. Kirchmann 2000, S. 16.
  18. Kirchmann 2000, S. 16.
  19. Kirchmann 2000, S. 20.
  20. Lutz 1983.
  21. Christliche Ikonographie 1971, S. 97.
  22. Johannes-Evangelium 5, 35.
  23. bspw. Johannes-Evangelium 1, 9f.
  24. Scribner 1981, 71f.
  25. Kirchmann 2000, S. 26f.