Gedächtnismedium Film: Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945

Besprochen von Victor Nono

Ausgehend von den Arbeiten von Harald Welzer wendet sich Christoph Vatter einem in den letzten Jahren gewachsenen Interesse an der Mediatisierung von Erinnerung, insbesondere an den Holocaust und den Nationalsozialismus zu. Anders als Welzer interessiert er sich jedoch weniger für die Rückwirkung der filmischen Darstellung auf die Zeitzeugen als vielmehr auf den Beitrag von filmischen Darstellungen für die Diskursgeschichte des Dritten Reiches bzw. Frankreichs unter deutscher Besatzung. „Medien können nach dieser Auffassung ein Erinnerungsangebot darstellen“, schreibt Vatter,  „das – wenn es entsprechend breit rezipiert wird – zum Kommunikationsanlass werden und in einer bestehende Erinnerungskultur integriert werden kann. Das Zusammenspiel mehrerer Medien, d.h. die transmediale Darstellung eines Ereignisses oder Themas, könnte – in Analogie zu kognitiven Lerntheorien – zu einer tieferen Verarbeitung und damit auch zu produktiven Aneignungsprozessen der Rezipienten beitragen […] Die Erinnerungskultur einer Gesellschaft umfasst demnach nicht nur das erinnerte historische Geschehen, sondern auch die Summe all seiner medialer Verarbeitungen, die Gegenstand gesellschaftlicher Kommunikation waren und sind.“ (S. 37)

Diese an aktuelle Forschungsdiskussionen anknüpfende Reflexion ist für Vatter Anlass, sich der Bedeutung filmischer Darstellungen für die Erinnerungskulturen in Frankreich und Deutschland zuzuwenden. Dabei gelingt ihm zunächst eine kleine Miniatur: die knappe und übersichtliche Zusammenfassung der wesentlichen Etappen deutscher und französischer Diskurse im Vergleich, die tatsächlich einen wertvollen Überblick gerade der in Deutschland wenig bekannten französischen Entwicklungen bietet.

Das Hauptaugenmerk von Vatters Arbeit liegt indes auf der Beobachtung der filmischen Entwicklung, die mit eindrucksvollen Analysen glänzt. Dabei wählt Vatter jeweils exemplarisch für eine historische Phase Filme aus, die in besonderem Maße die Debatte prägten: Angefangen bei René Clement, Wolfgang Staudte, Helmut Käutner, Julien Duvivier, Kurt Hoffmann und Claude Berri bis hin zu Louis Malle, Rainer Werner Fassbinder, Gérard Jugnot und Roland Suso Richter reicht eine breite Palette hochkarätiger Filmemacher, die die Entwicklung bis 2002 verfolgt.  Auch wenn sich die Systematik der Auswahl der Filme nicht immer erschließt, überzeugen die Einzelanalysen durch die pointierten Analysen, die filmanalytische und diskursanalytische Ergebnisse miteinander in Verbindung setzen.  Vatters Buch bietet damit erstmals einen vergleichenden Überblick über die „Filmgeschichte des Diskurses“ über Holocaust und Nationalsozialismus in Deutschland und Frankreich.

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Geschichte – Erinnerungen – Ästhetik

Besprochen von Victor Nono

Dass Erinnerungskultur schon immer schon durch Medien geprägt war und ist, hat sich in der Forschung der letzten Jahren mehr als durchgesetzt. In dieser Linie, die Medien der Erinnerungskultur zu beschreiben, liegt auch eine der neuesten Publikationen, der von Kirsten Dickhaut und Stephanie Wodianka herausgegebene Band Geschichte – Erinnerung – Ästhetik, der sich der Beziehung zwischen diesen drei Begriffen widmet, wobei vor allem auf die Figur der Medialität referiert wird, die sich auf die von den Autorinnen gebrauchten Chiffre des „Ästhetischen“ verkürzt. So wird die Idee der Geschichte selbst als etwas Kontextabhängiges erfahren, als etwas, dass nach dem jeweiligen Stand der Ästhetik in einem „spezifischen kulturhistorischen Kontext wie ‚Geschichte‘ erinnert wird“ (Dichhaut/Wodianka 2010, S. XVII). Medienerfahrungen zeigen sich ferner in der Form der Ästhetik oder der Ästhetisierung von Geschichte. „In einer generelleren Hinsicht begründet die Historizität von Formen und Konzepten des Ästhetischen aber auch ein stets kulturhistorisch zu verortendes Verhältnis zwischen ästhetischer Präformierung von Geschichtswahrnehmung und Ästhetisierung von Geschichte“, heißt es bei den Autorinnen. Und schließlich könne Ästhetik die Deutung von Geschichte verändern oder selbst in Geschichte eingreife oder – als Medienereignis – „selbst zum erinnerungswürdigen Ereignis werden“ (Dickhaut/Wodianka, S. XVIII). Die in dem Band visierte Medialität konzentriert sich auf das Spannungsfeld zwischen Geschichtsschreibung (Nora, Bloch, etc.) und Literatur mit einem klarem Schwerpunkt auf romanische Autoren. Dabei versucht das Projekt Brücken zu schlagen zwischen Geschichtswissenschaft, Erinnerungsforschung und Literaturwissenschaft – so der disziplinäre Leitfaden. Leider fehlt es – nimmt man Ansgar Nünnings Beitrag zu theoretischen Modellen literarischer Geschichtsschreibung einmal aus – weitgehend an konzeptionellen Reflexionen, die den Anspruch hätten, modellbildend das Verhältnis von Geschichte, Erinnerung und Ästhetik zu skizzieren und dabei auch deren Medialität zu berücksichtigen, gerade auch weil der Band mehrere Jahrhunderte – vom Mittelalter bis in die Gegenwart – umfasst. Gelungen ist dem Werk hingegen eine eindrucksvolle Sammlung qualitativ hochwertiger Einzelbeiträge, die sich mit vielfältigen (vor allem für Romanisten interessanten) Phänomenen der Geschichtsschreibung und der Literaturgeschichte beschäftigen, die unter dem Aspekt der Gedächtnis- und Erinnerungsproblematik gegen den Strich gelesen wurden.

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Gedächtnis und Erinnerung: Ein interdisziplinäres Handbuch

Besprochen von Victor Nono

In den letzten Jahren hat sich das Interesse am Diskurs über Gedächtnis und Erinnerung deutlich verstärkt, zum einen, weil Zeitzeugen für zentrale Ereignisse des 20. Jahrhunderts wie den Holocaust, den Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg aus Altersgründen kaum mehr zur Verfügung stehen oder weil die historischen Ereignisse wie die Auflösung der Ost-West-Gegensätze selbst neue Formen der Erinnerungskultur provozieren, und zum anderen weil neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Diskurse der unterschiedlichsten Disziplinen differenziertere Analysen als je zuvor ermöglichen.

Bei der großen Anzahl der Veröffentlichungen der letzten Zeit ist es schwierig, den Überblick über einige der grundlegenden Eckpunkte zu behalten, auf die die Diskurse sich immer wieder beziehen.

Das von Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer herausgegebene interdisziplinäre Handbuch zu Gedächtnis und Erinnerung fasst wesentliche Aspekte der Debatte der letzten Jahre über Gedächtnis und Erinnerungskultur zusammen, spiegelt damit durchaus den aktuellen Forschungsstand und leistet vor allem Orientierung in diesem z.T. etwas unübersichtlichen Feld.

Die von den Herausgebern koordinierte Arbeit zahlreicher weiterer Autoren strukturiert das Feld nach vier Aspekten: 1. Es werden zunächst die neurobiologischen und psychologischen Grundlagen von Gedächtnis erörtert um 2. vor allem in Sozial- und Kulturwissenschaften etablierte Vorstellungen von autobiographischem, kollektivem, kulturellem, kommunikativem und sozialem Gedächtnis zu erläutern. Den 3. Punkt bilden die Medien des Erinnerns, die, nach unterschiedlichen Medien von Schrift, Architektur, Literatur, Film und Fernsehen usw. gegliedert, Formen des Erinnerns nachspüren, um dann 4. die unterschiedlichen Schwerpunkte der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung verschiedener Disziplinen von der Geschichtswissenschaft bis hin zur Geschlechterforschung herauszustellen.

Auch wenn die einzelnen Artikel dabei unverbunden bleiben und nicht aufeinander reagieren, ja oft konträre oder abweichende Vorstellungen im Verständnis von Gedächtnis und Erinnerung zeigen, ist doch eine eindrucksvolle Übersicht entstanden, die dem Anspruch eines Nachschlagewerks durchaus gerecht wird. Es erkundet dabei weniger neue Positionen (etwa zur in den letzten Jahren aufgekommenen Diskussion über die Medialität des Erinnerns) und dokumentiert vielmehr vorhandene Debatten. Als solches ist dieses Handbuch ein hilfreiches Instrument für alle, die in dem unübersichtlichen Diskurs über Erinnerungskultur den Überblick behalten wollen.

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Über „Gesellschaftliche Erinnerung“ von Martin Zierold

Besprochen von Victor Nono

In den letzten Jahren sehen wir nicht nur eine enorme Ausweitung der Beschäftigung mit Holocaust und Nationalsozialismus in populären Medien, sondern auch eine Vielzahl neuer wissenschaftlicher Studien dieses durch Medien gewandelten Diskurses, der für den Beginn einer neuen Phase der Erinnerungskultur sprechen könnte.

Das Gros der Literatur konzentriert sich dabei auf zwei Aspekte: Zum einen auf die Mediatisierung von Erinnerung, also auf die Tatsache, dass Erinnerung nicht unabhängig von Medien gedacht werden kann und dass Erinnerung gerade an Holocaust und Nationalsozialismus in zunehmendem Maße von Massenmedien aufgegriffen und bearbeitet wird. Zum anderen auf die Frage, in welcher Weise die Mediatisierung von Erinnerungen auf die Zeitzeugen zurückwirken und die Erinnerungen überformen oder bereits bei der Wahrnehmung der Ereignisse präformieren.

Neben einer präzisen Zusammenfassung vor allem der von sozialpsychologischer und gesellschaftswissenschaftlicher Seite in den letzten Jahren betonten Veränderung der Erinnerung von Zeitzeugen durch Medien, wie etwa in den Arbeiten von Harald Welzer, plädiert Martin Zierold in seiner Studie für eine medienwissenschaftliche Perspektive, die die Medialität von Erinnerung berücksichtigt.

Zentrale Referenz für erinnerungskulturelle Diskurse ist für die meisten Arbeiten der von Jan und Aleida Assmann in den letzten Jahren entwickelte erinnerungstheoretische Ansatz eines Übergangs von einem kommunikativen zu einem kulturellen Gedächtnis, das erklärt, warum im Verlauf von rund 4 Generationen oder ca. 80 Jahren Erinnerungen aus einer alltäglichen Kommunikation übergehen in kulturell ritualisierte bzw. mediatisierte Erinnerungen.

Martin Zierolds Buch setzt nun gerade bei dieser weitverbreiteten Referenz an, nimmt sie gleichsam als Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit den Unzulänglichkeiten dieses weitverbreiteten Modells: Das beginnt mit der Kritik an einer allzu saloppen Metaphorik, die im Grunde die Frage einer konkreten medialen „Trägerschaft“ eines kollektiven Gedächtnisses ignoriert. Zierold kritisiert etwa: „Wenn nicht geklärt wird, wie das ‚kollektive Gedächtnis‘ nach Ansicht der jeweiligen Autoren modelliert ist, legt die geringe theoretische Ausarbeitung vieler Entwürfe Lesarten nahe, die dieses Gedächtnis geradezu als ontologische Entität erscheinen lassen.“ (S. 86)

Stattdessen fordert er eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Medialität von Gedächtnis und Erinnerung und verweist auf Autoren wie Astrid Erll, die ein “ ‚ausdifferenziertes Mehrebenenmodell der ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses“ entwickelt, das seines eng an Siegfried J. Schmidts „Medienkompaktbegriff“ (S. 103) anschließt, wie Zierold schreibt.

Aus dieser Sicht wird vor allem der Ansatz von Jan und Aleida Assmann problematisch, der Medien zwar in die Reflexion mit aufnimmt, in ihnen doch zugleich auch einen blinden Fleck zu haben scheint.  So kritisiert Zierold, „dass die Auseinandersetzung mit den aktuellen elektronischen Medien am wenigsten überzeugen kann. Während Argumentationen zu Schriftlichkeit und Buchdruck sich auf eine Fülle von Studien stützen können, bleibt die Analyse gegenwärtiger Medienentwicklungen zurück. Hier ist auch terminologisch erneut zu kritisieren, dass A. Assmann elektronische Medien bedenkenlos im Kontext des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ behandelt, obgleich der Begriff qua definitionem, wie oben dargelegt, für die Analyse jüngerer Entwicklungen kaum geeignet ist. Doch nicht nur vor diesem Hintergrund ist die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis für gegenwärtige Gesellschaften höchst zweifelhaft: In wenig differenzierten Gesellschaften mag noch gelten, dass eine qualitative Grenze zu ziehen ist zwischen medial vermittelter Erinnerung an eine absolute Vergangenheit und primär interpersonal vermittelter ‚lebendiger‘ Erinnerung an Generationen-Erfahrungen, die über eine Zeitspanne von 80-100 Jahre reichen. Heute jedoch scheint es schon fast banal, darauf hinzuweisen, dass die Mehrheit unserer Kenntnisse stets medial vermittelt ist, ob sie sich auf eine ‚absolute‘ Vergangenheit, die Erfahrungen der Elterngeneration oder die aktuelle Gegenwart beziehen.“ (S. 91/92)

Zierold akzeptiert daher auch nicht die von A. Assmann skizzierte Position, die dazu führe, – wie er schreibt – die Massenmedien „als das Ende jeder Erinnerung abzutun.“ (S. 92)

Gerade im Hinblick auf die Steigerung der Komplexität der aktuellen Medienlandschaft durch die Multiplikation von Medien ist Zierolds Kritik wohl überfällig und vor allem als Plädoyer für eine differenziertere Beachtung von Medien zu lesen. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive, wie von ihm vorgeschlagen, ist nicht nur ein Desiderat, sondern wohl eine unverzichtbare Forderung, je mehr wir uns der Gegenwart – also Erinnerungskulturen annähern, die sich erst durch die Analyse ihrer Medialität erschließen.

Zierolds Buch liefert zugleich einen präzise zusammengefassten Überblick über die aktuellen Diskurslinien, angefangen bei jenen über individuelles bis hin zu sozialem, kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Sein Buch ist jedem zu empfehlen, der eine kritische Diskursanalyse der aktuellen Debatten über Erinnerungskulturen sucht ohne die Orientierung verlieren zu wollen.

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Über „Die Silikonliebhaber“ von Javier Tomeo

Besprochen von Bastian Buchtaleck

Mit dem Roman „Die Silikonliebhaber“ führt der spanische Autor Javier Tomeo den Leser auf leichtfüßige Weise in eine skurrile, doppelbödige Erzählwelt. Eine Welt, in der Sexpuppen aus Silikon nicht nur sprechen können und ein Bewusstsein besitzen, sondern ihren Besitzern beim Liebesakt die Hörner aufsetzen. Mit mehr als 70 Jahren erzeugt Tomeo eine derbe, sexualisierte Welt, die einen ironischen Blick auf die heutige Gesellschaft erlaubt.

Die Liebesbeziehung des alternden Ehepaares Basilio und Lupercia ist derart heftig eingeschlafen, dass sich beide unabhängig voneinander Sexpuppen angeschafft haben – Marilyn und Big John. Zwar erinnert sich das Paar einmal wöchentlich bei einem gemeinsamen Mittagessen daran, „dass sie während einer kurzen Zeitspanne in ihrem Leben einigermaßen glücklich miteinander gewesen waren“, nun aber können sie sich nicht mehr füreinander erwärmen. Sex haben sie nur noch mit ihren Puppen.

Schrille Erzählung als Spiegel der Gesellschaft

Skurril wird die Erzählung, als Basilio und Lupercia ihre Puppen beim Sex erwischen. Big John besorgt es Marilyn richtig, und beide bestehen anschließend darauf, dass dies ihr Recht sei. Die sich in der Folge entspinnenden Ereignisse halten nicht nur Lupercia und Basilio einen Spiegel vor, sondern der heutigen Gesellschaft. Gummipuppen begreifen im Gegensatz zu vielen Menschen, dass „Ficken nicht alles sein kann“, und verlieben sich. Die unterschiedlichen Weltsichten der menschlichen und der dinglichen Protagonisten zeigen: Menschen benehmen sich oft nur menschenähnlich. Lupercia jedenfalls findet es völlig normal, Marilyn eine Schlampe zu nennen und Big John durch ein Loch in der Hülle zu töten, während die Puppen für ein Recht auf freie Entscheidung eintreten.

Zweite Erzählebene: Vom Wahnsinn des Schreibens

Um diese überzeichnete Erzählung herum hat der zu den meistübersetzten spanischen Gegenwartsautoren gehörende Tomeo eine zweite Erzählebene gefügt. In dieser begleitet ein genervter aber geduldiger Lektor einen mäßig begabten Autoren bei dessen Romanprojekt. Bezeichnenderweise heißt der Verfasser des Romans im Roman Ramón. Gegenüber seinem Lektor bezeichnet er sein Werk als einen interaktiven, pornosentimentalen Roman. Dem Lektor bleibt nichts weiter übrig als dem Wahnsinn freien Lauf zu lassen. »Kein Mensch hat das Recht, irgendjemanden daran zu hindern, den Blödsinn, der ihm einfällt, zu Papier zu bringen.« Eine postmoderne, sehr tolerante, eine zeitgenössische Position.

Insgesamt ist „Die Silikonliebhaber“ ein vielschichtiges, verspieltes Buch und auf eine schrille Weise komisch, vergleichbar den Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodovar. Der stetige Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen; die komischen Effekte durch die die, dem Geschehen entsprechende, derbe Sprache, machen den Reiz des Buchs aus und zugleich die Unterscheidung schwierig, ob die letzte Volte noch eine weitere Sinnebene eröffnet hat oder es sich vielmehr um pittoreskes Beiwerk handelt. Mal liegt die eine, dann wieder die andere Vermutung näher. Treffenderweise nimmt man den Roman zwar gerne in die Hand, kann ihn jedoch ebenso einfach wieder zur Seite legen.

© bastianbuchtaleck.de

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Berlin: Die Sinfonie der Großstadt (1927)

Besprochen von Marcel Hanke

Großstädte versprühen einen gewissen Charme, sei es durch ihre Betriebsamkeit, die Anonymität oder das Vorhandensein verschiedenster Kulturen. Oftmals sind sie die heimlichen Stars in vielen großen Produktionen. Doch schon 1927 stand eine Stadt im Mittelpunkt eines Filmes: „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ von Walter Ruttmann. Es ist eine Dokumentation über einen Tag aus dem Berlin der Dreißiger Jahre, seine Glanz – und Schattenseiten. Der Film beginnt mit einer Zugfahrt. In einer wunderbaren Sequenz aus schnellen Schnitten, nähern wir uns dem morgendlichen Berlin. An uns vorbei fliegen Felder, Häuser und Strommasten. Die Stadt schläft noch, als der Zug im Anhalter Bahnhof ankommt. Es ist 5 Uhr morgens. Die Kamera streift durch leere Straßen und zeigt eine verborgene Schönheit, eine Unschuld, wie man sie im Verlauf des Filmes nicht mehr zu sehen bekommen wird. Nur eine Katze und ein Schutzmann sind auf den Beinen, als die Stadt langsam erwacht und die ersten Personen auf die Straßen strömen. Schon bald ist aus den wenigen Menschen eine Masse geworden, welche sich auf den Bahnsteigen tummelt und ihre Arbeit beginnt. Die Stadt hat zu Leben begonnen. Wie wild fahren nun die Züge und Busse durch die Gegend. Sie sind das System, das Alles am Laufen hält und werden den ganzen Film lang auftauchen. Weitere wunderbar geschnittene Passagen schließen sich an, als mehrere Tore geöffnet werden und nahtlos ineinander fließen. Detailgetreue Ansichten von Maschinen gewähren einen, besonders aus unserer Sicht, nahezu einmaligen und nostalgischen Blick in die Arbeitsverhältnisse der damaligen Zeit. Aber nicht nur das geschäftige Treiben der Arbeiter wird dem Zuschauer näher gebracht, sondern auch das Leben der Frauen und Kinder, wie sie zur Schule strömen, den Einkauf erledigen. Auch hier greift Ruttmann auf schon bekannte Elemente zurück, wie die ineinander laufenden Schnitte. Ein weiteres Highlight im Film ist sicherlich die Sequenz in der Mittagspause, da dort das gesellschaftliche Leben kompakt zusammengefasst wird. Man springt von Tisch zu Tisch. Vom einfachen Essen der Arbeiter, zum dekadenten Mahl der Oberschicht. So gibt es teilweise signifikante Unterschiede in der Gesellschaft und Ruttmann zeigt sie auf: einen Mann, der Zigarettenstummel sammelt; Kinder, die im Dreck spielen – die Armut ist allgegenwärtig. Passend zu diesen gegensätzlichen Szenen gibt es eine Passage im Film, die das Leben in der Großstadt gut widerspiegelt: die Achterbahnfahrt zum Ende des Filmes symbolisiert wunderbar das stetige Auf und Ab in einer Großstadt bzw. im Sein allgemein. Dazu passen auch die eingestreuten Sequenzen vom Selbstmord der Frau, wobei man hier doch davon ausgehen kann, dass diese Szene gestellt sei. Ein Indiz ist sicher der starke close-up auf die Augen, welcher schon expressionistische Züge annimmt und sicherlich nicht so entstanden sein kann, wie die restlichen Aufnahmen. Des Weiteren gibt es noch ein, zwei Einstellungen, die ebenso künstlich gewirkt haben. Man sollte sich jedoch nicht an solchen Kleinigkeiten hochziehen, da man so das Werk ganz klar abwertet, und das hat es nicht verdient. Allein das Herzblut, welches investiert wurde, die eineinhalb Jahre Dreharbeiten; sie zeugen von der Liebe Ruttmanns zu diesem Projekt und verdienen Anerkennung. Natürlich wiederholen sich einige Passagen im Film, aber ist es nicht in der Realität auch so? Natürlich stellt man sich die Frage, warum eigentlich Berlin, da der Film eigentlich genauso gut hätte in Paris, London oder New York gedreht werden können. Doch da liegt der große Reiz in diesem Werk, da „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ ein Film über jede der genannten Großstädte sein könnte, weil sie nach dem gleichen Prinzip funktionieren und am Leben gehalten werden. Es ist die allgemeine Faszination an diesen Schmelztiegeln, seinen Bewohnern, seinen Mechanismen, die diesen Film und die Städte so interessant machen. Verpackt in eine ansprechende musikalische Untermalung, dürfte sich dieses Stück lebendige Geschichte in den Herzen von Filmliebhabern festsetzen. Wenn sich dann der Film, also auch der Tag, dem Ende neigt, und man die Menschen beim abendlichen Tanzen, Speisen und Genießen des Lebens beobachtet, so möchte man meinen, dass der Tag wohl nie enden würde. Doch dann kommen einem die Anfangsszenen ins Gedächtnis und man weiß, dass auch die Stadt bald zur Ruhe kommt und ihren verdienten Schlaf erhält, damit es am nächsten Tag wieder vom Neuen losgehen kann. Sicherlich ist dies kein einfacher Film, da er von seinem Zuschauer Aufmerksamkeit und bei einigen vielleicht auch Durchhaltevermögen fordert, doch man wird nicht enttäuscht sein, und wenn man die Chance hat diesen Film zu sehen, dann sollte man diese auch ergreifen.
© Frankies Filmecke

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Troja – ein Mythos wird entkernt

Besprochenvon Thomas Weber

  • Troja, Regie: Wolfgang Petersen, Produktion: USA, Malta, Großbritannien 2004, Laufzeit: 165 Minuten.

Wolfgang Petersen hat in seinem Streifen alles eliminiert, was den Stoff interessant macht.

Es gibt Stoffe, die kehren mit schöner Regelmäßigkeit in den kulturindustriellen Verwertungskreislauf zurück, der immer wieder die gleichen Geschichten remediatisiert, sie zu neuen Clustern und Produktzyklen zusammenstellt. Dabei verändert sich der Stoff bei jeder Bearbeitung und sagt weniger etwas mittels seiner schon hinreichend erzählten Story aus, sondern vielmehr durch die Art und Weise eben jener Bearbeitung.

Troja-Cluster mit Brad Pitt und Wolfgang Petersen

Wolfgang Petersens Verfilmung des Troja-Stoffes mit Brad Pitt in der Rolle des Achill ist eines der herausragenden Ereignisse des neuen Troja-Clusters vor allem auf Grund der öffentlichen Aufmerksamkeit, die dem Film zu Teil wurde. Die Art und Weise der Petersen-Inszenierung erzählt dabei eine Geschichte der mythologischen Entkernung: die Debatte der Götter, die sich in Homers Epos immer wieder in das Geschehen einmischten, wurden ebenso aus dem von Petersen linear und eindimensional konstruierten Handlungsstrang eliminiert, wie die rund 10 jährige Belagerung von Troja oder gar die homophilen Neigungen des Helden Achill, mit denen ein Star wie Brad Pitt sich beim amerikanischen Publikum offenbar nicht den Ruf „ruinieren“ wollte.

Industrielle Verwertung

Sogar Mike Hillenbrand von der amazon.de-Redaktion, dem industriellen Verwerter der seit dem 17.09.04 erhältlichen DVD/VHS – Version, fällt auf: “Hollywood-Star und ‘sexiest man alive’ Brad Pitt dreht immer mal wieder Filme, in denen er seinen gelungenen Körper seinen weiblichen Fans präsentieren darf. Mit Troja legt er einen der besseren Streifen aus dieser Kategorie vor. Das Epos lebt hauptsächlich von seiner und Eric Banas Ausstrahlung, der Achills Widersacher Hektor spielt. Während die meisten anderen ihrer Kollegen gegen die aufwendig inszenierten Bilder und Special Effects hoffnungslos unterliegen (einzig wirklich erwähnenswerte Ausnahme ist hier Priamos-Darsteller Peter O’Toole), können Pitt und Bana dem opulent ausgestatteten Drama ihren Stempel aufdrücken. An ihnen liegt es sicher nicht, dass trotz aller Bildgewalt ein etwas schaler Beigeschmack nach dem Filmgenuss bleibt.”

Reduktion des Stoffes

Und sogar den Zuschauern fallen offensichtliche Schnitzer auf; so schreibt etwa Philipp Weinreuter als Rezensent für amazon.de: “Fangen wir also kurz und knapp mit einigen wesentlichen Inhalten an die fehlen, bzw. falsch sind:

* die Götter, der Apfel der Zwietracht werden ausgeklammert, keine Athene, keine Hera, keine Aphrodite, keine Heirat von Pelus und Thetis, kein Apollon usw.
* 10 Jahre Belagerung werden unterschlagen,
* Menelaos wird völlig unnötiger Weise von Hektor erstochen,
* Agamemmnon wird von Brisis erstochen,
* Ajax kommt viel zu kurz und wird auch von Hektor besiegt,
* auf griechischer Seite fehlen Dimomedes, Philoktetes und Neoptolemos gänzlich,
* Änäas komm auf trojanischer Seite viel zu kurz.”

Dabei ist ein Vergleich von literarischer Vorlage und filmischer Umsetzung mit Vorsicht zu genießen. Veränderungen sind häufig notwendig oder unumgänglich. Doch es fragt sich, wohin die Modifikationen führen sollen?

Internationales Popcorn-Kino

Bei Petersen kommt jedenfalls eine Troja-Geschichte heraus, die wie geschaffen ist fürs internationale Popcorn-Kino, nach gängigen Drehbuchrezepten angerichtet, frei von komplexen Zusatzstoffen, gewürzt mit hinreichend bekannten Stars (oder solchen, die es werden wollen wie Diane Kruger) und garniert mit durchaus beeindruckenden special effects, die die Kosten für das visuell aufgemotzte Schlachtengetümmel weiter in die Höhe treiben und damit auch die Budgets, an denen künftige Filme sich zu orientieren haben, wenn sie dem Zuschauer einfach nur eine gute Geschichte erzählen wollen.

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Über „The Water Sprite“ von Noekk

Besprochenvon Ronald Klein

Es ist nun längst kein Geheimnis mehr, dass hinter den Noekk-Musikern Baldachin und Yugoth die Herren Helm und Schwadorf stecken, die zusammen das letzte Empyrium-Album einspielten. Ähnlich wie auch das andere Nachfolge-Projekt The Vision Bleak einen eigenen Charakter besitzt, knüpft Noekk nicht genau dort an, wo einst die Legende, die den Spagat zwischen anspruchsvollen Black Metal und Neofolk vollzog, aufhörte. Der Sage nach handelt es sich bei Noekk um ein Wesen, das sowohl Frauen wie Männer betörte und anschließend in den Abgrund riss. Auch bei „The Water Sprite“ fühlt sich der Hörer gefangen genommen, wenn er den sieben, stark prog-rock beeinflussten Stücken eine Chance gibt. Prog-Rock? Richtig! Die beiden Musiker orientieren sich an dem 70er Jahre Art-Rock, arbeiten mit Orgeln, verleugnen jedoch nie ihre Metal-Wurzeln, was sich gerade bei den Arrangements der schnelleren Songs in den Vordergrund tritt. Also, keine Sorge. Es handelt sich um alles andere als laschen Retro-Rock, sondern um sieben pfiffige Komposition, die einerseits durch ihre Kraft (auch in den langsamen Parts!) und die immer wieder auftretende Unvorhersehbarkeit gewinnen. Man soll nicht immer den beigelegten Pressetexten Glauben schenken, aber wenn Baldachin den fehlenden Probenprozess betont, möchte man nur nicken. Denn die mitreißende Spontaneität macht zweifelsohne den Charme dieser wirklich starken Platte aus, die mit „How Fortunate The Man With None“ auch über eine exzellente Dead-Can-Dance-Coverversion verfügt.

Über „Aucassin Et Nicolette“ von GAE BOLG

Besprochenvon Ronald Klein

Bei “Aucassin et Nicolette, Chantefable“ aus dem Jahr 1225 handelt es sich um das erste Prosimetron (Mischung aus Prosa- und Versen) der französischen Literatur. Der namentlich nicht bekannte, pikardisch schreibende Autor erzählt in 21 Vers- und 20 Prosapassagen mit feiner Ironie die Geschichte des Grafensohnes Aucassin und der schönen Sklavin Nicolette, die sich gegen den Willen des Grafen lieben und erst nach allerlei Schwierigkeiten und Abenteuern endlich heiraten dürfen.
Das Werk enthält Anlehnungen an den hellenistischen Liebes- und Schicksalsroman à la Heliodor, die Chanson de Geste, die höfische Lyrik, den höfischen Roman und den damals neuen Prosa-Ritterroman.

Kaum verwunderlich, dass dieses Album des französischen Musikers Eric Roger (Mitglied bei Sol Invictus) alles andere als Pop-Musik darstellen kann. Sehr stark mittelalterlich beeinflusst und authentisch arrangiert, erzählen die 15 Perlen von Schlachtgetümmel, sagenhaften Abenteuern und der phantastischen Liebesgeschichte. Wer sich auf Musik einlässt, die nichts mit den Mittelalter-Crossover-Bands gemein hat, erlebt eine aufregende Reise, die nach 48 Minuten mit dem Drücken der Repeat-Taste auf dem CD-Player zum ersten Mal endet, um dann sofort erneut zu beginnen.

Über „Der Satanische Surfer“ von Festival der Geisteskranken

Besprochenvon Ronald Klein

Vor fast zehn Jahren feierte das Projekt von DJ Demian (Ex-Soko Friedhof) mit „Burn, Manson, Burn“ sein Debüt. Zumindest als literarische Figur trat danach Demian in David Lines kongenialen Roman „Schwarze Messe“ auf. Die literarische Brücke schlägt auch der Albumtitel, der sich auf eine Kurzgeschichte Demians aus seiner Teenager-Zeit bezieht. In einer von einem Virus geplagten Welt haben nur die Gegensätze überlebt: Die Mörder und die Sklaven, die Huren und Heuchler. Alle Elemente des Splatter-Film sind auf der CD enthalten. Wie im Film-Genre bilden die Extrem-Darstellungen nur eine Schablone zur Interpretation der Wirklichkeit. Musikalisch geht es angenehm heftig zu. Gleich der Opener „Trail of Blood“ begeistert mit bös verzerrter Stimme, finsteren Samples und einen treibenden Beat. Mit „Kill My Baby“ befindet sich ein schaurig-schöner Ohrwurm auf der Scheibe, der entfernt an die melancholische Seite Soko Friedhofs erinnert. „Go Go Chick“ hingegen swingt regelrecht, während „Virus“ selbst Wumpscut alt aussehen lässt. „Black Hole“ wiederum geht als schwermütige, aber originell arrangierte Rock-Ballade durch. Letztlich verhält es sich mit allen 16 Tracks des Konzept-Albums ähnlich: Jedes einzelne Stück steht musikalisch für sich, fügt sich beim Durchhören aber wunderbar ins Gesamtkonzept, das Wiederholungen auslässt. Man merkt Demian die Liebe zu den Klängen an, denn nicht nur Komposition und Arrangement nehmen auch dem x-ten Durchlauf gefangen – ebenso harmonisch betten sich die Samples in die Songstrukturen. Echter Tipp für aufgeschlossene Ohren!