Enderle, Rubens: Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx, 23.10.08

Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx[1]

von Rubens Enderle

I

Bereits wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Grundlinien der Philosophie des Rechts[2] im Jahr 1820 kam der Hegelschen Staatstheorie für die politische Debatte innerhalb Deutschlands eine erhebliche Bedeutung zu. Die in zwei Gruppen geteilten Schüler Hegels – die Jung- bzw. Linkshegelianer und die Alt- bzw. Rechtshegelianer – entfesselten einen aufgeregten Streit um die politisch-theoretische Erbschaft des Meisters. Es handelte sich hauptsächlich um die Interpretation des Themas der Versöhnung des Vernünftigen mit dem Wirklichen. Für die Junghegelianer ging es um den Beweis, dass das Wirkliche nicht unmittelbar mit dem empirisch-positiv Bestehenden identifiziert werden dürfe, sondern durch die Arbeit des Negativen vermittelt auf eine höhere Stufe des Begriffs gehoben werden müsse. Damit verfolgten die Junghegelianer die – theoretische – Absicht, der Hegelschen Staatstheorie ihren humanistischen, emanzipatorischen Inhalt zurückzugeben. Praktisch bemühten sie sich als journalistisch Tätige um die Verwirklichung dieses vernünftig-begrifflichen Inhalts: Sie propagierten die Überführung der nach wie vor absolutistischen preußischen Monarchie in eine zumindest konstitutionelle Monarchie, wobei sie zunächst nicht offen demokratische Positionen vertraten. In diesem Bestreben sind sie seit 1841 noch bestärkt worden, als sich nämlich herausstellte, dass die von Friedrich Wilhelm IV. initiierte Verfassungsreform allenfalls ein halbherziger Kompromiss war. Die konstitutionelle Monarchie war nicht einmal ein Ausgleich zwischen den Interessen des (Feudal-) Adels und den Reformkräften, so dass die Junghegelianer sich gedrängt sahen, der Hegelschen Staatstheorie zugunsten einer Propagierung demokratischen Gedankenguts den Rücken zu kehren.

Obwohl Marx dem junghegelianischen Denken damals nahe stand, gab es doch auch gravierende Differenzen. Anfang 1841, anläßlich seiner Doktorarbeit, denunzierte er die Kritiker Hegels als „moralisch“ und „unphilosophisch“, wenn sie sich polemisch über Hegels sogenannte „Akkommodation“ äußerten. Sie vertraten irrtümlicherweise die Ansicht, Hegel habe sich aus taktischen Gründen und Opportunitätsrücksichten den politischen Gegebenheiten angepaßt und vergaßen darüber, dass Hegel – philosophisch gesprochen – in einem „unmittelbaren, substantialen, sie (hingegen, R.E.) in (einem, R.E.) reflectirten Verhältniß zu seinem System standen“. Anders gesagt, Hegels Fehler war der seines Systems und eben keine persönlich motivierte Vorsichtsmaßregel eines Ängstlichen. Eine wirkliche philosophische Kritik hätte Marx zufolge also folgendes zu leisten gehabt: zu demonstrieren, dass „die Möglichkeit dieser scheinbaren Accomodationen in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Princips selber ihre innerste Wurzel hat“, oder, noch prononcierter, dass die als eigentlich systemfremd beanstandete Akkommodation ans Bestehende das Prinzip der Philosophie Hegels sei. Also habe man die innerliche Entwicklung von Hegels Denken, seine ureigene Logik offenzulegen, die, metaphorisch gesprochen, „bis an deren äußerste Peripherie sein eigenstes geistiges Herzblut hinpulsirte“. Diese Rekonstruktion könne aber, ihrer Befangenheit wegen, keine moralisch fundierte Kritik leisten, sondern bloß eine, die am „Fortschritt des Wissens“ ihr Maß habe; die Rede ist von immanenter Kritik. „Es wird nicht das particulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform construirt, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben, und damit zugleich darüber hinausgegangen“.[3] Anstelle des mißbilligenden Deutens auf sogenannte Unzulänglichkeiten Hegelschen Denkens habe die wahre Kritik sie aus ihrem Grund heraus zu begreifen und damit an ihnen selbst als unwahr zu widerlegen.

Diese erste Marxsche Erklärung des Begriffs der „philosophischen Kritik“ ist 1842 in einen Artikel der Rheinischen Zeitung wiederaufgenommen und weiter entwickelt worden. In einer Art Glosse gegen die Historische Rechtsschule und ihren Vorläufer Gustav Hugo demonstrierte Marx den in Wahrheit romantischen Hintergrund von Hugos vermeintlichem Kantianismus und sprach in diesem Zusammenhang von einem „Betrug“. Darüber hinaus verglich er die „gemeine Skepsis“ der Historischen Rechtsschule mit der „Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts“, d.h. mit der skeptischen Note der durch Kant beeinflußten und ins Subjektive modifizierten Aufklärungsphilosophie. Während die Skepsis der Historischen Rechtsschule den Schein von Rationalität nur deswegen kritisiert, um sich dem bloß Positiven nur umso bedingungsloser auszuliefern, sucht die aufgeklärte Kritik das hinter diesem Schein verborgene Wesen sichtbar werden zu lassen. Dieses Wesen gibt sich dem geschichtlich geübten Blick als die „Loslösung des neuen Geistes von alten Formen, die nicht mehr werth und nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“, zu erkennen. Hier kann man einerseits mutmaßen, dass es sich um eine hegelianisierende Interpretation der Kantischen praktischen Philosophie handelt. Allerdings sollte man sich andererseits nichts vormachen: Marx vertritt keinesfalls einen Moralismus, dessen Spezifikum es ist, die Historie an noch dazu apriorischen Sollensmomenten zu blamieren. Nicht um eine abstrakte Idee der Vernunft, nicht um das Kantische Noumenon eines subjektiven Geistes geht es ihm, sondern darum, den Begriff der in sich notwendigen geschichtlichen Entwicklung zu erfassen. Die Skepsis des 18. Jahrhunderts zertrümmerte bloß das Zertrümmerte, verwarf das ohnehin Verworfene. Der „neue Geist“ hingegen befreite sich von den „alten Formen, die dank der eigenen Entwicklung dieses Geistes nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“. Kantisch an diesem durch Hegel vermittelten Standpunkt ist allenfalls noch die insgesamt aufklärerisch-kritische Grundeinstellung bei Marx. Ohne eine auch praktisch werdende Kritik gibt das „Verworfene“ dem „neuen Leben“ keinen Raum, der „neue Geist“ bleibt an die „alten Formen“ gebunden und man wird Zeuge der „Verfaulung“ einer Welt, die sich in diesem Zerfallsprozess „selbst genießt“.[4] Die Kritik, so läßt sich zusammenfassend sagen, ist keine, die die Welt an einer externen Rationalität blamieren möchte, sondern sie selbst ist nichts weiter als eine rationale Betrachtung geschichtlicher Abläufe, sozusagen deren Selbstbewusstwerden, wodurch, so die Unterstellung, der Boden bereitet wird für die Verwirklichung wahrer Rationalität.

In dem Manuskript Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie (ZKhR) und dem Briefwechsel von 1843, der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde, gibt Marx der Idee der „philosophischen Kritik“ ihre endgültige Gestalt. In der ZKhR kontrastiert er sie sowohl dem spekulativen Dogmatismus Hegels als auch dem „entgegengesetzten, dogmatischen Irrthum“ der „vulgären Kritik“, d.h. derjenigen der Berliner Gruppe der Freien, deren wichtigste Mitglieder Bruno Bauer und Max Stirner waren. Die „vulgäre Kritik“ nimmt in Hinblick auf die empirische Wirklichkeit eine arrogante Haltung ein. Sie befaßt sich mit den Widersprüchen des Bestehenden nur deswegen, um, in intellektuellem Hochmut, alles Reale und die in ihr beheimatete menschlich-sinnliche Praxis inklusive der sogenannten „Masse“ verachten zu können. Beschäftigt sich die „vulgäre Kritik“ beispielsweise mit der Verfassungsfrage, dann macht sie lediglich „auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc.“ und „findet überall Widersprüche“. Sie ist „selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft, so wie man früher etwa das Dogma der heiligen Dreieinigkeit durch den Widerspruch von 1 und 3 beseitigte“. Die „wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung“ dagegen „faßt“ die Widersprüche „in ihrer eigenthümlichen Bedeutung“, „begreift ihre Genesis, ihre Nothwendigkeit“, und „zeigt die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn“.[5]

Kurze Zeit später, in einem Brief vom September 1843, behauptet Marx, dass die „kritische Philosophie“ sich auf zwei Bereiche erstrecken müsse: den des Theoretischen von Religion und Wissenschaft und den des Praktischen der Politik. Ihre Aufgabe sei die „Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf“. Das Thema des „Selbstbewusstseins“ nimmt also immer noch einen zentralen Platz im Marxschen Denken ein. Das Neue im Vergleich zu den anderen Texten besteht hier allerdings in einem merklichen Einfluss Feuerbachs, der im Februar 1843 die Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie veröffentlicht hatte. Marx schreibt an Ruge: „Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.“[6] Es handelte sich letztlich darum, die Kritik über die Grenzen des Feuerbachschen Denkens hinauszuführen, da dieses in dem engen theoretischen Rahmen der Religion und Wissenschaft gefangen war. Zu bedenken freilich bleibt auch: Die Feuerbachsche Anthropologie wird dennoch zum entscheidenden Vorbild für die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie.

II

Mit der Waffe der Kritik ausgerüstet war Marx für seine Abrechnung mit der Staatsphilosophie Hegels gewappnet. Seit Ende 1841 hatte er angefangen, an einem gegen die Philosophie Hegels – besonders gegen seine Theorie des Staates – gerichteten Artikel zu arbeiten. Im März 1842 verspricht er Ruge einen Text zu liefern, dessen Kern „die Bekämpfung der constitutionellen Monarchie als eines durch und durch sich widersprechenden und aufhebenden Zwitterdings“[7] sei. Diesen Beitrag, der in den Deutschen Jahrbüchern oder in den Anekdota hätte erscheinen sollen, blieb Marx schuldig, was auf seine immer intensivere Mitarbeit – zuerst als Beiträger, ab Oktober 1842 als Chefredakteur – an der Rheinischen Zeitung zurückgeführt werden kann. Außerdem wurde ihm wohl bewusst, dass diese praktisch-politisch motivierte Tätigkeit ihn zu einer Auseinandersetzung mit Problemen führte, deren Lösung eine tiefere Untersuchung der bestehenden materiellen Verhältnisse verlangte. Die seit Oktober 1842, seit seiner Arbeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung zu konstatierende progressive Radikalisierung der Marxschen Kritik war auch verursacht durch seine Unzufriedenheit hinsichtlich seiner eigenen Einschätzung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Retrospektiv hat er diesen Zusammenhang 1859 in der Vorrede Zur Kritik der politischen Ökonomie notiert: „Im Jahr 1842-43, als Redakteur der ‚Rheinischen Zeitung‘, kam ich zuerst in die Verlegenheit über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen“. Marx beschloss, sich von „der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehn“, und fährt dann fort: Die „erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegel’schen Rechtsphilosophie“.[8]

Die namhaft gemachte Berücksichtigung der „materiellen Interessen“ kommt dann bereits in den im Oktober und November 1842 in der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Artikeln Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz zum Zuge. Hier ergreift er Partei für die Interessen der verarmten Teile der Bevölkerung, denen selbst das Sammeln des trockenen, von den Bäumen gefallenen sogenannten ‚Raffholzes‘ verboten worden war. Die bedingungslose Subsumtion des Einzelnen unter die Allgemeinheit des Staates und das verabsolutierte und keine Ausnahmen duldende Recht des Privateigentums wird scharf kritisiert. Dem zum Handlanger des Privateigentums pervertierten Staat wird die Idee eines Staates kontrastiert, der sich vor allem auch der Interessen der verarmten Klasse anzunehmen hätte. Dessen Gewohnheitsrecht, die gemeinsten Bedürfnisse des menschlichen Lebens zu befriedigen, werde ihm durch das Recht auf Privateigentum ganz prinzipiell streitig gemacht.

Eine eigentümliche Mischung von Moral und Kritik bestimmt Marx‘ Argumentation. Das Holzdiebstahlsgesetz setzt diejenigen ins Unrecht, die, aus purer Not, sich an dem Recht auf Privateigentum vergreifen. Anstatt nun aber gegen einen Staat zu polemisieren, der prinzipienfest die Drangsale der von seiner Gesetzgebung unmittelbar Betroffenen missachtet, erteilt Marx ihm überraschenderweise einen Rat: des „instinktiven Rechtssinns“ seiner verarmten Klasse eingedenk zu sein, sprich, den Gerechtigkeitssinn derselben zu instrumentalisieren, um sie so zur wirklichen Teilnahme am Gemeinschaftsleben zu motivieren.[9] Das institutionalisierte Elend wird politisiert und ausgerechnet einem Staat, der das Sterben gerade erst legalisiert hat, wird angetragen, er möge auch die positiven und legitimen Eigenarten der Sitten der Armen, zu denen eben das Holzsammeln gehört, juristisch anerkennen. Nichts ist leichter und vor allem, in des Wortes doppelter Bedeutung, billiger zu haben als das: Die Eingemeindung der Paupers in den gemeinsamen Wertehimmel.

Immerhin, eine derart affirmative Kritik schien Marx dann doch nicht zufriedenzustellen. Ihm wurde klar, dass er – spiegelverkehrt – den wirklichen Zustand der Gesellschaft zu einer abhängigen Variablen des Rechtswesens des Staates gemacht hatte. Armut ist danach kein soziales Faktum, sondern wird aus der Abwesenheit des politischen Oberaufsehers abgeleitet, wo sie doch, umgekehrt, gerade erst durch die staatliche Gesetzgebung für rechtens erklärt worden ist. Denn genau dafür steht, darüber hinaus, das von Marx selbst geforderte Gewohnheitsrecht der armen Klasse: Es läßt, ein bloß moralisches Palliativ, die Armut innerhalb der sozialen Wirklichkeit unverändert bestehen, indem es ihr lediglich eine politisch-gesetzliche Einkleidung gibt. Die bürgerliche Gesellschaft ist und bleibt eine Klassengesellschaft mit der „Abstraktheit des Staates“ als gesetzgebendem Oberaufseher auch und gerade dann, wenn er sich des Bodensatzes der Gesellschaft rechtsförmlich in der Art annimmt, dass er seine prinzipielle Benachteiligung dadurch festschreibt, daß er ihn unter die – partikulären – Interessen des Privateigentums subsumiert. Faktisch zu kurz gekommen kann der Schein gepflegt werden, als kämen auch die Bedürfnisse der ausnahmslos Unterlegenen zu ihrem Recht. Marx hat, m.a.W., inzwischen die Akkommodation an die ontologisch untermauerte Überlegenheit des Staates selbst durchschaut, deren partieller Fürsprecher er kurz zuvor noch gewesen war.

Im philosophiehistorischen Kontext liest sich das dann als eine Art Bekenntnis etwa so: „Meine Untersuchung mündete in das Ergebniß, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in der politischen Oekonomie zu suchen sei.“[10] Marx‘ Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie ist ein Dokument des Übergangs einer zum Teil idealistischen Position eines kritischen Materialisten, der sich in den 50er Jahren endgültig den ökonomischen Fragen des Kapitals zuzuwenden begann.

III

Nach seiner Zeit bei der Rheinischen Zeitung ist Marx nach Kreuznach übergesiedelt, wo er am Vormittag des 19. Juli 1843 Jenny von Westphalen heiratete. Sie sind beide bis Oktober des Jahres in Kreuznach geblieben. Während dieser Zeit wartete Marx auf Nachrichten von Ruge, der ihn über das Datum und den Ort der Veröffentlichung der Deutsch-Französischen Jahrbücher[11], an denen Marx als Beiträger und Mitverleger mitzuarbeiten sich verpflichtet hatte, unterrichten wollte. Unterdessen studierte er die Geschichte der Französischen Revolution und die Klassiker der politischen Philosophie und nahm eine „kritische Revision“ der Hegelschen Philosophie des Rechts vor. Aus dieser Auseinandersetzung mit Hegel ging ein Manuskript von 157 Seiten hervor, in dem Marx große Teile der Grundlinien der Philosophie des Rechts – es handelt sich dabei hauptsächlich um die §§ der dritten, dem Staate gewidmeten Abteilung – abschrieb und kommentierte.[12]

Das Hauptthema der Marxschen Kritik an der politischen Philosophie Hegels ist die für die Moderne charakteristische Behauptung eines Gegensatzes zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft und der Hegelsche Versuch, diese Extreme theoretisch nach dem Vorbild der preußischen konstitutionellen Monarchie zu versöhnen. Die Marxsche Kritik gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, die Widersprüche oder Akkommodationen Hegels lediglich zu benennen, und erschöpft sich ebensowenig in der Absicht, dem preußischen Staat die Vision eines idealen Gemeinwesens zu kontrastieren. Die „wahrhaft philosophische Kritik“ hat nach Marx vielmehr die „Genesis“ und die „Notwendigkeit“ der wirklichen Widersprüche zu erfassen, egal ob es sich um Widersprüche des preußischen Staates, des modernen Staates oder der Hegelschen Philosophie handelt. Die Widersprüche der Hegelschen Philosophie werden aus ihr selbst heraus erklärt, d.h. aus den ontologischen Voraussetzungen der Hegelschen Spekulation, die den zentralen Gegenstand der Marxschen Kritik bildet. Erst auf der Grundlage der Kritik der spekulativ-logischen Voraussetzungen kommt Marx zu dem hieraus abzuleitenden speziellen Fall der Hegelschen Staatsauffassung.

Die Kritik der Spekulation, womit das Manuskript beginnt, ist eine grundsätzliche, wenn man so will, ontologische Kritik. In dem § 262 bestimmt Hegel den Staat als die „wirkliche Idee“, als den „Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet (…)“. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind laut Marx „das Treibende“, die „conditio sine qua non“, die „Voraussetzungen“ des Staates: „Das Faktum ist, daß der Staat aus der Menge, wie sie als Familienglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft existire hervorgehe“. Spekulatives Denken spricht jedoch dieses Faktum „als That der Idee“ aus, „nicht als die Idee der Menge, sondern als That einer subjektiven von dem Factum selbst unterschiedenen Idee“, und verleiht ihm dadurch eine logisch-vernünftige, von der realen Tatsache unabhängige und verselbständigte Form. Die empirische Wirklichkeit „ist nicht vernünftig wegen ihrer eigenen Vernunft, sondern weil die empirische Thatsache in ihrer empirischen Existenz eine andre Bedeutung hat, als sich selbst“, da sie „nicht als solche, sondern als mystisches Resultat gefaßt“ wird.[13] Die Hegelsche Spekulation verkehrt das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat: „Die Bedingung wird aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Producirende wird als das Product seines Products gesetzt“. Die „wirklichen Subjekte“, Familie und bürgerliche Gesellschaft, werden in Prädikate der Idee verwandelt, während die Idee, das abstrakte Prädikat, „versubjektivirt“ wird. Wenn aber einerseits die Wirklichkeit, die „gewöhnliche Empirie“, „nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen“ wird, dann hat andererseits die versubjektivierte wirkliche Idee „nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein“[14]. Die von Hegel durchgeführte Verkehrung ist keine der empirischen Wirklichkeit – das wäre dann so etwas wie ein Wunder –, sondern allein ihrer „Betrachtungsweise“ oder „Sprechweise“. Hegel gibt der Wirklichkeit eine bloß „scheinbare Vermittlung“, „die Bedeutung einer Bestimmung“, „eines Resultats, eines Produkts“ der Idee, aber er lässt den Inhalt, die Wirklichkeit selbst völlig unberührt.

Die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie ist, wie bereits erwähnt, stark von Feuerbach beeinflusst worden. Dieser Einfluss wurde jedoch von den Kommentatoren oft falsch verstanden; Marx sollte lediglich die Positionen des Subjekts und des Prädikats mehr methodisch als urteilstheoretisch vertauscht und so Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt haben.[15] Marx privilegiert aber in Wahrheit nicht das methodologische Verfahren eines bloßen Austauschs von Subjekt und Prädikat, sondern er konzentriert sich vielmehr auf die Kritik der (onto-)logischen Voraussetzungen, die diesen Stellentausch provozieren. Er setzt also mit seiner Kritik eine Stufe tiefer an. Was Marx als das „Geheimnis“ der Hegelschen Spekulation denunziert ist, dass bei Hegel die Ontologisierung der Idee mit der Ent-Ontologisierung der empirischen Wirklichkeit Hand in Hand geht: Die Idee wird empirisch-real und die Realität wird zum logischen Setzungsakt eines imaginierten Geistes. Konkret gewendet: Die Idee des Staates ist der Schöpfer einer entsprechend vergeistigten Familie und bürgerlichen Gesellschaft. „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt“.[16] Der urteilstheoretischen Umkehrung des Subjekt-Prädikatsverhältnisses korrespondiert dann die ontologische Umkehrung zwischen den empirisch-realen und den idealen Bestimmtheiten, dem konkreten Inhalt und der abstrakten Idee oder, kurz, dem Sein und dem Denken. Die in ein wirkliches Subjekt verwandelte Idee hat dann konsequenterweise die Macht, aus sich selbst, einer creatio ex nihilo gleich, endliche Bestimmtheiten zu entlassen. Sie „erniedrigt sich nur in die ‚Endlichkeit’ der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre Aufhebung ihre Unendlichkeit zu genießen und hervorzubringen“. Das endliche Sein ist nach dieser im übrigen an den Gottesbeweisen der Scholastik orientierten Auffassung nichts weiter als das objektive Moment der unendlichen Idee, das endliche Prädikat des unendlichen Subjekts. Marx kontrastiert diesem theistischen Konstrukt, und zwar unter dem Einfluss Feuerbachs, ein wissenschaftlich zu erforschendes bestimmtes, reales Sein. Seine Logik soll durch die Arbeit des Gedankens erarbeitet werden. In Feuerbachs Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie liest sich das so: „Der Gedanke ist bei H[egel] das Sein; – der Gedanke das Subjekt, das Sein das Prädikat. (…) Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat.“[17]

Feuerbachs Kritik der Hegelschen Spekulation richtet sich also ebenfalls nicht gegen einen bloß methodologischen Fehler, sondern weist das Falsche innerhalb der ontologischen Bestimmung selbst nach, auf der die Methode beruht. Der Gott der Theologen ist folglich kein Geschöpf der wirklichen Menschen, sondern der Geschaffene wird, umgekehrt, zum Schöpfer stilisiert.[18] Das Abhängigkeitsverhältnis wird passenderweise nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch verkehrt. Die theoretische Akkommodation zeitigt unmittelbar, ganz im Sinne des Erfinders, praktische Folgen. Die logische Frage nach dem „Subjekt“ konzentriert sich dann auf die grundsätzliche ontologische Frage: „wer ist das Sein“, bzw. „das Wirkliche“. Die Antwort Feuerbachs auf dieses künstliche Dilemma lautet kurz und bündig: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche.“[19]

Auch Marx setzt sich, genau genommen, nicht nur mit Hegels Logik auseinander, sondern auch er konzentriert sich auf die dieser Gedankenwelt zugrundeliegenden realen Bestimmungen. Marx nimmt nicht vorrangig Anstoß an einer falschen Verwendung der Logik, und an einer Berichtigung derselben ist ihm allenfalls mitlaufend gelegen. Gerade weil sich bei Hegel die Logik letztlich gegen ihre realen Gründe verselbständigt hat, ist es nur konsequent, wenn sie, ein beliebig zu verwendendes Instrument des Gedankens, ein von den zu erkennenden Objekten getrenntes Eigenleben führt; sie weiß etwas, ohne sich auf die Gegenstände ihres Wissens eingelassen zu haben, eben weil es bloß diejenigen ihres Wissens sind. Freilich kann eine derartige formale Logik korrekt funktionieren, ja, sie muß es sogar, sofern man sich bei den jeweils vollzogenen Urteils- und Schlussformen regelkonform verhalten hat. Mit dem gedanklich zu erschließenden „spezifischen Wesen“ der empirischen Realität haben diese am Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs orientierten Formalismen allerdings überhaupt nichts zu tun. Eine Übereinstimmung zwischen den Formen des Gedankens und denen der Wirklichkeit ist hier purer Zufall und ein lediglich mögliches Resultat vorausgegangener Willkür. Ihr fehlt eben die Einsicht in die in der Sache begründete „Notwendigkeit“, weil sie nur, gemäß den Kriterien einer ausgewachsenen Vorurteilskunde, die Notwendigkeit des verselbständigten und anschließend objektivierten Gedankens reflektiert: „Hegel begnügt sich damit. Auf der einen Seite: Kategorie ‚Subsumtion’ des Besondern etc. Die muß verwirklicht werden. Nun nimmt er irgendeine der empirischen Existenzen des preußischen oder modernen Staats (wie sie ist mit Haut und Haar), welche unter anderm auch diese Kategorie verwirklicht, obgleich mit derselben nicht ihr spezifisches Wesen ausgedrückt ist. Die angewandte Mathematik ist auch Subsumtion etc. Hegel fragt nicht, ist dies die vernünftige, die adäquate Weise der Subsumtion? Er hält nur die eine Kategorie fest und begnügt sich damit, eine entsprechende Existenz für sie zu finden. Hegel gibt seiner Logik einen politischen Körper; er gibt nicht die Logik des politischen Körpers.“[20]

Was Hegel also fehlt, ist nicht eine wie auch immer brauchbare Logik nach dem Vorbild der Mathematik etwa, sondern die Einsicht in eine „vernünftige“, d.h. „adäquate Weise“ der „Subsumption“. Ihm ist ironischerweise beim Denken das Kriterium jeder logischen Kategorie abhanden gekommen: nichts weiter als ein Vehikel des theoretischen Einblicks in die wie auch immer geartete ontologische „Notwendigkeit“ zu sein. Folglich produziert sein sich selbst denkendes Denken immer bloß Denksetzungen oder kurz: Tautologien. Marx hingegen interessiert sich für gewisse Bereiche der von ihrer spekulativen Reduzierung auf ein bloßes Erscheinen der logischen Idee befreiten empirischen Realität, also in der Folgezeit beispielsweise für die Verwertungsformen des Kapitals.

In dieser, wenn man so will, neuerlichen kopernikanischen Revolution wird das Gravitationszentrum der Logik neu bestimmt. Der Gedanke der Sache hat einer der Sache und ihrer Bestimmungen zu sein.

IV

Der zweite Aspekt der Marxschen Kritik kreist um das Thema der politischen Entfremdung. Der politische Staat und seine Verfassung ist laut Marx der verselbständigte „Gattungswille“ des tatsächlichen Souveräns. Das Volk ist der „wirkliche Staat“, die Grundlage der Verfassung, weil es die konstituierende Gewalt ist; die Verfassung ist entsprechend nichts weiter als die konstituierte Gewalt. Die politische Entfremdung besteht folglich darin, dass sich das Volk seinem eigenen Werk unterwirft, bzw. ihm durch das Macht- und Gewaltmonopol des Staates unterworfen wird. Was das „Ganze“ war, wird jetzt zum bloßen funktionalen Anhängsel, und vice versa. Das Volk, das vorher der „wirkliche Staat“ war, wird seines Gattungsinhalts beraubt, der nunmehr auf der politischen Ebene hypostasiert wird. Das Ergebnis ist der Gegensatz des Staates und seiner Verfassung von der bürgerlichen Gesellschaft oder von politischem und unpolitischem Staat.

Dieser für den modernen Staat typische Gegensatz ist hinter dem Hegelschen Schleier der Spekulation nicht mehr wahrnehmbar. Der Staat ist für ihn die Verwirklichung des freien, vernünftigen Willens. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts verwirklicht sich der Staat dadurch, daß er die abstrakten Stufen der Familie und bürgerlichen Gesellschaft aufhebt und seine Einheit als konkrete Allgemeinheit realisiert. Der Staat ist der selbstbewusst gewordene freie Wille: „der freie Wille, der den freien Willen will“,[21] und der vernünftige Zweck des Menschen ist das restlose Aufgehen im Staat. In den drei Gewalten der Verfassung ist die Idee des Staates als eine Einheit von Gegensätzen begriffsadäquat verwirklicht.

Nach Marx jedoch ist die Verfassung „nichts als eine Akkommodation zwischen dem politischen und unpolitischen Staat”, ein „Traktat wesentlich heterogener Gewalten“. Sie ist ein Gegensatz von “wirklichen Extremen”, ein “mixtum compositum”.[22] Dieser Dualismus liegt Hegels Konstrukt der konstitutionellen Monarchie zugrunde: Die in der Person des Monarchen Gestalt gewordene fürstliche Gewalt, die der personifizierte Staat ist, abstrahiert von der Pluralität der „Personen“ – den vielen „Einzelheiten“, die das Volk bilden – (§§ 275-286). Die für die Regierungsgewalt tätige Bürokratie der Privilegierten bildet eine Korporation gegen die bürgerliche Gesellschaft (§§ 287-297). In der gesetzgebenden Gewalt schließlich tritt der Gegensatz zwischen der empirischen Einzelheit des Fürsten und der empirischen Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft offen hervor. Er setzt sich fort in der Differenz zwischen der Regierung und den Ständen, um schließlich in der leicht absurden Form der von den Majoratsherren gebildeten zweiten Kammer in Erscheinung zu treten (vgl. die §§ 298-313).

Die Verfassung ist laut Hegel, der hierin Montesquieu folgt, nicht etwa ein Kodex positiver Gesetze, sondern das Produkt des Volksgeistes, in den sich die hauptsächlichen Bestimmungen des vernünftigen Willens zusammenfassen. Um konsequent zu sein, sollte eine solche Auffassung Marx zufolge den Menschen zum „Prinzip der Verfassung“ machen, die „in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip hat, mit dem Bewußtsein fortzuschreiten“.[23] Als etwas Besonderes muss die Verfassung ein „Teil des Ganzen“, also ein Moment des „Gattungswillens“ sein. Insofern er das wahrhaft Allgemeine ist, muss er auch das Ganze sein. In der Hegelschen Spekulation jedoch werden diese zwei Bedeutungen durcheinandergebracht: obgleich Hegel die Verfassung als etwas Allgemeines zu behandeln vorgibt, entwickelt er sie vielmehr als etwas Besonderes. Genau deswegen hat das in einen subordinierten Teil der Verfassung verwandelte Volk kein Recht, „die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[24] Das entpolitisierte Volk ist, bar seines Gattungswesens, zu einer atomistischen Menge, einer gestaltlosen Masse pervertiert worden, die vom verselbständigten Staat eine seinem jeweiligen Kalkül gemäße politische Form verpaßt bekommt. Das Volk tritt entsprechend nicht als es selbst, als der „ganze Demos“ auf, sondern als die auf das ständische Moment reduzierte bürgerliche Gesellschaft. Das ist nach Marx die erste „ungelöste Kollision“ innerhalb des Verfassungsbegriffs: Die Kollision „zwischen der ganzen Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt“[25].

Die zweite Kollision, als direkte Folge der ersten, ist „die zwischen der gesetzgebenden und der Regierungsgewalt, zwischen dem Gesetz und der Exekution“. Durch sie verliert die gesetzgebende Gewalt ihre unterstellte Allgemeinheit und wird ein bloßer „Teil“ des Ganzen, eine besondere Gewalt neben anderen Gewalten: es ist „also dem Gesetz unmöglich, auszusprechen, daß eine dieser Gewalten, ein Teil der Verfassung, das Recht haben solle, die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[26] Der Konflikt zwischen dem Volk und dem politischen Staat stellt sich auf diese Weise als der Konflikt des „Volkes en miniature“ – der gesetzgebenden Gewalt – mit der Regierungsgewalt dar.

Die Marxsche Kritik an der politischen Entfremdung ist zu diesem Zeitpunkt im übrigen unauflöslich mit dem Denken Rousseaus verknüpft. Beide bemängeln, dass die Regierungsgewalt nicht mehr ein dem allgemeinen Willen unterworfener „Teil“ sei. Sie tritt diesem Willen als selbständige Gewalt entgegen, so dass der allgemeine Wille umgekehrt nichts weiter ist als die abhängige Variable der besonderen Gewalt des Staates. Mit der theoretischen Lösung dieses Problems ringt auch der Aufklärer Rousseau. Marx gibt ihm allerdings eine praktische Wendung: „Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist.“[27]

Folglich macht sich Marx in ZKhR für die Entwicklung einer Idee von Demokratie stark, die im Widerspruch steht zur Hegelschen Verteidigung der lediglich abgemilderten Souveränität des Monarchen. In der Monarchie, sowie in allen von der Demokratie abweichenden Staatsformen „hat dies Besondre, die politische Verfassung, die Bedeutung des alles Besondere beherrschenden und bestimmenden Allgemeinen“[28] In der Demokratie hingegen „ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er politische Verfassung ist“.[29] In der Demokratie ist die Macht des allgemeinen Willens nicht von derjenigen des politischen Staates entfremdet. Er verwandelt sich in ihr nicht in einen besonderen, vom Staat getrennten Inhalt: „In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt“.[30] Die Demokratie ist daher die „Wahrheit“, die „Gattung“, „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“.

Es ist allerdings zu beachten, dass in Marx‘ Gedankengang zwei Aspekte der „Demokratie“ unterschieden werden müssen: sie ist zum einen, als „Gattung“, die „wahre Demokratie“ und als „Spezies“ die „politische Republik“. Die „wahre Demokratie“ ist ein politisches Prinzip und nicht etwa ein real existierender Staat. Sie bedeutet die vollständige Verwirklichung des Staates als konkrete Allgemeinheit, die wahre Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. In der wahren Demokratie „geht der politische Staat” genauso „unter“ wie der unpolitische Staat, d.h. die bürgerliche Gesellschaft.[31] Mit dem Begriff „politische Republik“ dagegen charakterisiert Marx die Demokratie innerhalb des „abstrakten Staats“, also die bestehende, noch nicht völlig verwirklichte Demokratie. In diesem Staat, obwohl hier die Verfassung letztlich noch eine politische ist, hört sie doch auf, „nur politische Verfassung zu sein“, und das bedeutet, dass die unpolitischen Ebenen schon von dem politischen „Gattungsinhalt“ durchdrungen sind.

Innerhalb des abstrakten Staates tritt die Frage der politischen Entfremdung in der Form des Gegensatzes zwischen repräsentativer und ständischer Verfassung in Erscheinung. Gegen die bloße Repräsentation der Stände verteidigt Marx „die Ausdehnung und möglichste Verallgemeinerung der Wahl, sowohl des aktiven, als des passiven Wahlrechts“.[32] Hier trifft sich das Marxsche Denken wieder mit demjenigen Rousseaus. Der von der Besonderheit der Interessen geprägt Wille aller (volonté de tous) verwandelt sich in den allgemeinen Willen (volonté générale) vermittelst der „Differenzsumme“ dieser Interessen. Das Volk „will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht“.[33] Ein Quidproquo stellt sich in dem Augenblick ein, wenn sich Gesellschaften (Parteien, Vereinigungen) innerhalb des Volkes zu konsolidieren beginnen: „so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner“ und „die Differenzen werden weniger zahlreich und führen zu einem weniger allgemeinen Ergebnis“. Am Ende dieses Prozesses „gibt es keinen allgemeinen Willen mehr, und die Ansicht, die den Sieg davonträgt, ist trotzdem nur eine Privatansicht“. Gegen diese Fehlentwicklung gibt es, laut Rousseau, nur das eine Mittel, dass „es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll“.[34]

Bei Marx sollten entsprechend die Einzelnen nicht unter die politisch-ständische Form der gesetzgebenden Gewalt subsumiert werden, sondern als Einzelne (als der „ganze Demos“) an dem jeweiligen Staat vermittelst der nach Möglichkeit allgemeinen Wahl teilnehmen. Damit werde die „bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben“, also – mit Rousseau gesprochen – nicht mehr zu einem Konglomerat gegensätzlicher Privatinteressen, sondern zu einer „Differenzsumme“, die zur Bildung des allgemeinen Willens führe. Die Vollendung dieses Prozesses der Verallgemeinerung der bürgerlichen Gesellschaft sei die „Aufhebung“ der Abstraktion selbst: „Indem die bürgerliche Gesellschaft ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Andres, sein Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staats die Forderung seiner Auflösung, aber ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft.“[35]

Hegels Verteidigung der ständischen Verfassung hingegen beruht auf der Auffassung des Volkes als „einer formlosen Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich“ ist. Volk und Staat sind bei Hegel die zwei Extreme eines Syllogismus‘, dessen Vermittlung durch die Stände geschieht. Laut Marx sind die Stände jedoch keine Auflösung, sondern vielmehr die Verwirklichung des Gegensatzes innerhalb des politischen Staates.

Bei Gelegenheit der Kommentierung der §§ 302-304 denunziert Marx die Unzulänglichkeiten des Hegelschen Systems der Vermittlungen.[36] Erstens begeht Hegel Marx zufolge einen Paralogismus, da er die Bedeutung der Stände innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit jener Bedeutung identifiziert, die die Stände auf der politischen Ebene haben. Hegel begreift als reflexives Verhältnis, was laut Marx ein bloßes Abstraktionsverhältnis ist. Die politischen Stände sind für Marx kein Reflex der privaten Stände, also eines vermeintlich Anderen, sondern sie sind nichts weiter als die Abstraktion dieser Stände: Die bürgerliche Gesellschaft wird als „nicht vorhanden”[37] gesetzt. Das politisch-ständische Element bedeutet daher nicht die Aufhebung der Unterschiede innerhalb der gesellschaftlichen Stände – eine wirkliche Vermittlung des Widerspruchs –, sondern das Zudecken dieser nach wie vor bestehenden Unterschiede vermittelst ihrer Eingliederung in eine anachronistische mittelalterliche, politische Form.

Zweitens kaschiere das Hegelsche System der Vermittlungen eine tatsächliche, unversöhnliche Opposition zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Sie sind, Marx zufolge, wirkliche Extreme, die „nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind“. Zwischen ihnen kann es kein reflexives Verhältnis geben, da sie „nichts miteinander gemein“ haben; „sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einander nicht“.[38] Unter dem Einfluss Feuerbachs stellt Marx hier zwar dem Begriff „Reflexion“ einen anderen Begriff der Hegelschen Logik gegenüber: den Begriff der „Selbstbestimmung des Subjekts“.[39] Als wirklicher Staat muss die bürgerliche Gesellschaft die Selbst- bzw. Gattungsbestimmung in sich selbst verwirklichen, weil ansonsten der Staat zu einer „allegorischen, untergeschobenen Bestimmung” wird. Durch die demokratisierte gesetzgebende Macht ist die politische Qualität des Menschen – jeder Einzelne als Moment des Gattungswesens – nicht mehr ein von seiner gesellschaftlichen Qualität getrenntes Wesen. Umgekehrt formuliert: Die gesellschaftliche Qualität des Menschen beweist in der demokratischen Repräsentation ihre politische Eigenart, ihr Gattungswesen. Im Unterschied zu anderen Staatsformen schafft die wahre Demokratie kein politisches Fundament für eine rein private Existenz des Menschen, sondern gibt ihm sein eigenes politisches Wesen bzw. sein „Gattungsdasein“ zurück. Denkt man Rousseau und Feuerbach zusammen, dann kommt es zu einer Synthese der politischen mit der Gattungsrepräsentation. Jeder Mensch repräsentiert den jeweils anderen, weil „jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eignen Wesens repräsentiert“. Er ist Repräsentant nicht mehr im Sinne der dualistischen, politisch-abstrakten Repräsentation, oder kurz, er ist „nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut“.[40]

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Der vorliegende Text ist die überarbeitete deutsche Version der „Einleitung“ der brasilianischen Ausgabe von Marx’ Zur Kritik des hegelschen Rechtsphilosophie, die vom Autor übersetzt wurde. Herr Dr. Frank-Peter Hansen war mir dankenswerter Weise bei der Übertragung ins Deutsche behilflich.
  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1820.
  3. Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA², I/1, 1975, S. 67.
  4. Karl Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, MEGA², I/1, 1975, S. 191-193. Vgl. auch Rubens Enderle, „O jovem Marx e o manifesto filosófico da Escola Histórica do Direito”, in: Crítica Marxista, n. 20, São Paulo 2005.
  5. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA², I/1, S. 100-101.
  6. Karl Marx, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA², I/2, S. 488.
  7. Karl Marx, Karl Marx an Arnold Ruge, 5. März 1842, MEGA², III/1, S. 22.
  8. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, MEGA², II/2, S. 99-100.
  9. Karl Marx, Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, MEGA². I/1, 1975, S. 209.
  10. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, a.a.O., S. 100.
  11. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher wurden erstmals im Februar 1804 in Paris veröffentlicht.
  12. Von dem originalen Text, der angeblich mit dem § 257 des Hegelschen Werkes anfing, sind die vier ersten Seiten verschollen. Deswegen fängt das uns heute bekannte Manuskript der ZKHS mit der Wiedergabe und dem Kommentar des § 261 an und dehnt sich bis auf den § 313 aus, übrigens viele §§ vor dem Ende des Dritten Abschnitts (§ 360). Außerdem fehlen der Pappdeckel und das vordere Deckblatt, was zu Spekulationen darüber führte, welchen Titel Marx diesem Werk geben wollte. Bei seiner ersten Veröffentlichung durch Rjazanov (MEGA¹) 1927 erschien der Text unter dem Titel „Karl Marx: Aus der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261-313)“. Seit der 1982 erschienenen Ausgabe der MEGA² wird er „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ genannt. Dies ist laut dem Verleger der wahrscheinlichste Titel des Werkes, da Marx einige Monate später in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern den Text „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ veröffentlichte. Vgl. MEGA², I/2, S. 584.
  13. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 9.
  14. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 8.
  15. Ein gutes Beispiel für diese metodologisch orientierte Interpretation ist Schlomo Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, Cambridge, Cambridge University Press, 1971, S. 10-17. Vgl. auch Miguel Abensour, La Démocratie cont re l’État. Marx et le moment machiavélien, Collège International de Philosophie Janvier 1997, P.U.F, S. 50 ff.
  16. Karl Marx, ZKhR, a.a.O, S. 16.
  17. Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“. Ludwig Feuerbach – Gesammelte Werke: Kleinere Schriften II. 1839-1846. (Bd. 9), Akademie Verlag, Bd. 9, Berlin 1970, S. 257.
  18. „Die spekulative Philosophie hat sich desselben Fehlers schuldig gemacht als die Theologie – die Bestimmungen der Wirklichkeit oder Endlichkeit nur durch die Negation der Bestimmtheit, in welcher sie sind, was sie sind, zu Bestimmungen, Prädikaten des Unendlichen gemacht.“ Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, a.a.O., S. 250-251.
  19. Ludwig Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“, a.a.O.., S. 316.
  20. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 52.
  21. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 27.
  22. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 61.
  23. A. o. O., S. 20.
  24. A. o. O., S. 61.
  25. Ebd.
  26. Ebd.
  27. Ebd.
  28. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 32.
  29. Ebd.
  30. Ebd.
  31. Ebd.
  32. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 130-131.
  33. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, übers. von Hermann Denhardt, Frankfurt am Main 2005, S. 64.
  34. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, a.a.O., S. 64-65.
  35. Karl Marx, ZKhr, a.a.O., S. 131.
  36. Zu einer detaillierten Analyse der Marxschen Kritik des Hegelschen Systems der Vermittlungen, vgl. Solange Mercier-Josa, Entre Hegel et Marx, Paris, L’Harmattan, 1999, S. 27-73.
  37. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 87.
  38. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 98.
  39. Vgl. dazu Solange Mercier-Josa, a.a.O., S. 38.
  40. Karl Marx, ZKhR, a.a.O.

Clarke, Simon: A Basic Income for Russia?, 28.05.08

Introduction

The idea of a basic or citizens’ income rests on the principle that everyone is entitled to the resources which make possible at least a minimum standard of subsistence. This principle is well-established in those countries, particularly in Europe, with a developed welfare state tradition, although its implementation, even in those countries, is surrounded by qualifications centered on the obligation of able-bodied citizens to work and the restriction of public assistance to those who can prove their need for support, which are monitored by an enormous inhuman and incompetent bureaucratic apparatus of inspection, regulation and control. Moreover, the solidaristic welfare tradition is being eroded by individualistic approaches to welfare provision based on compulsory or voluntary, state or private insurance principles.

Discussion of proposals for a basic income has tended to concentrate on the richer countries with a developed welfare state, but in many respects such proposals are most relevant for countries which have undergone structural adjustment under the impact of their subordination to the competitive pressures of the capitalist world market. Structural adjustment has provided new opportunities for some, but has created massive inequality as it has deprived large sections of the population of their basic sources of subsistence, while pressure on government finances has eroded such systems of welfare provision as previously existed. Nowhere has this impact been more dramatic than in the countries of the Former Soviet Union, which previously enjoyed more or less full employment and a comprehensive system of social welfare, but where GDP, employment, wages and welfare benefits have declined precipitately.

Proposals for a basic income are frequently condemned as being impractical on grounds of cost. But a basic income is only an extension of the basic welfare principle of providing benefits which guarantee a minimum level of subsistence for those not able to achieve such a level by their own efforts. The provision of such categorical benefits has come under increasing pressure over recent decades on the grounds of their excessive cost and the fact that universal provision means that benefits are provided to those who do not need them. In this paper I provide a simulation of the cost and impact of the provision of a range of universal benefits in the Russian Federation. While these do not in themselves constitute a basic income, their cumulative impact approaches that of a basic income system.

The Pauperisation of Russia

In common with the other state socialist countries, Soviet Russia had an official ‘minimum consumer budget’ which defined the socially acceptable minimum standard of living and was used initially for the assessment of need-related child benefit payments and later as a guide in defining the minimum wage and minimum pension. This amounted to 50 roubles per head per month when it was introduced in 1975, increasing to 75 roubles in 1985. This was about half the average income per head, and so corresponded to the commonly accepted standard for a relative poverty line. According to this standard, between 16% and 25% of the population fell below this poverty line on the eve of reform, with poverty rates about twice as high in the countryside as they were in the towns. Poverty was already on the increase by 1989, with some research indicating that standard wage-earning families were beginning to fall into poverty, where before poverty had largely been confined to the ‘traditionally poor’: large and single-parent families, the disabled, single pensioners.[1] It was already apparent in 1992 that a new poverty line was required as a basis for the development of a realistic policy of social protection. The new subsistence minimum was drawn up, with international assistance, as the level of monetary income which was sufficient for physiological survival in crisis conditions, which was a reduction of about a third of the previous minimum. Different minima were defined for young and older children, male and female adults and male and female pensioners. The subsistence minimum income was sufficient for food and everyday necessities (subsidized housing, fuel, energy and communal services), but not sufficient for the repair or replacement of any durable items, including clothing, furniture, household equipment and so on.[2] For this reason, and because of the structure of prices at the time, food takes up a substantial proportion of the subsistence minimum. Although devised as an emergency measure, in the expectation that it would be revised in future, this has become the standard Russian poverty measure and child, adult and pensioner subsistence minima are now calculated separately for each Russian region according to a common methodology defined in 1999 on the basis of the Federal Law No 134 ‘On the Subsistence Minimum in the Russian Federation’ of 24 October 1997.

According to official data, between 1990 and 1999 GDP in Russia fell by half and average real wages by two-thirds.[3] Not only did average wages fall precipitously, but wage inequality increased dramatically, with the Gini coefficient for wages increasing from an estimated 24 in the soviet period to 45, so that by 1999 42% of employees earned a wage that fell below that required to provide for the basic subsistence of one working adult, to say nothing of contributing to the subsistence of any dependents. Moreover, many of these employees were paid nothing at all – in February 1999 21 million employees were recorded as being owed a total of 76 billion roubles (US$14 billion at PPP) in unpaid wages, while RLMS reported that in November 1998 two-thirds of working age adults was owed wages, with 40% suffering delays of more than three months.[4]

By the mid 1990s the share of money income of the lowest income quintile had fallen to 6% from 10% before the crisis, while the share of the top quintile had increased from 33% in 1990 to 48% in 1999. According to (generous) official data, 29% of the population had a money income below the official subsistence minimum in 1999, while RLMS estimated that in November 1998, 38% of households had incomes (including a generous estimate for the value of home-grown foodstuffs) below the poverty line.

At the same time as household incomes collapsed, the real value of social guarantees and welfare benefits was rapidly eroded by inflation. By 1999, the minimum wage and the social pension had fallen to 10% of the relevant subsistence minima, while child benefit had fallen to 7% of the subsistence minimum for a child. The stipend for students in higher education amounted to 19%, and for students in technical schools to only 7% of the subsistence minimum.

Russia on the Road to Prosperity?

Following the devastation wrought by the 1998 financial crisis, the Russian economy has begun to grow at an average of 6.7% a year in real terms over the period 1999-2003. However, the benefits of growth have not been shared equally among the population. There has been no significant change in the degree of inequality. According to official data, in April 2002 more than a third of employees still earned less than the adult subsistence minimum. In May-June 2003 the NOBUS survey found that 42.5% of wage-earners earned less than the subsistence minimum, but at least the problem of non-payment of wages had declined to half the level reported in 1999, with Goskomstat reporting that 6 million employees were owed a total of 24 billion roubles on 1 January 2004 (about US$2.4 billion at PPP). According to the NOBUS data, 16% of wage earners still experienced wage delays in the middle of 2003 but, although some people reported long delays, for half of those in arrears the delay was only one month. RLMS reported that in October 2003 20% of working-age adults were owed wages, but for 71% the delay was two months or less.

According to the official data, 20.6% of the population had a money income less than the subsistence minimum of around 2.33 USD a day (around 7.07 USD at PPP exchange rate) in the last quarter of 2003, while the more generous RLMS found only 13.1% of households living below the poverty line at the same time. However, our calculations from the NOBUS survey data find 45% of households reporting money incomes below the subsistence minimum in May-June 2003, with 12% living on less than half the money required for basic subsistence. In their subjective assessments, 11% of household heads said that they did not have enough to buy food, while a further 55.3% said that they had enough to buy food but it was difficult to buy clothing and shoes.

The Russian government has not taken advantage of GDP growth and the huge windfall from rising oil prices to raise social guarantees and welfare benefits substantially. According to the new Labour Code adopted in 2001, the minimum wage should be increased in stages to the level of the subsistence minimum, but by the end of 2003 it still amounted to only a quarter of the subsistence minimum. The minimum pension had reached a third of the subsistence minimum, while child benefit had collapsed further, amounting to 70 roubles a month, only 3.3% of the child subsistence minimum. Not surprisingly, the incidence of poverty among children is far higher than among the general population, with three-quarters of all children living below the poverty line in 2003, according to the NOBUS data.

The cost and impact of a basic income for Russia

In this section I will simulate the cost and impact of a series of policies which together approximate to the introduction of a basic income.

Data

This simulation is based on data from the 2003 NOBUS survey, which was financed by the World Bank and conducted in May and June 2003 by the Russian State Statistics Committee. The survey was administered to a representative sample of almost 45,000 households drawn from all the regions of the Russian Federation, apart from the Chechen Republic.[5] The survey included detailed questions on income sources for individual household members and for the head of the household. The reported response rate to questions on individual incomes was very high, less than 1% being recorded as not knowing or refusing to answer in the case of each individual item, although no wage was recorded for 2.6% of wage earners. However, those not working for a wage, who amount to about 6% of those working, were not asked to estimate their employment or entrepreneurial income. In 2.4% of households no members reported any sources of income at all, despite any recorded refusals to answer.

For this reason data on income components has been estimated from the responses of individual household members, while total household income is based on the higher of the sum of the incomes reported by all individual household members and the total household income reported by the head of household. In 28% of cases the head of household was unable to report the total income, but he or she was asked to estimate which of 14 income categories it fell into (not surprisingly, larger households, particularly those with more working members, were slightly but significantly less likely to report the household income). In this case the household income has been estimated as equal to the median income of those respondents who reported their household income in each income group .[6] This procedure gives a household income for 99.9% of households, with only 0.1% reporting zero income. No estimate has been made of the monetary value of food grown for home consumption, partly because the data is insufficient to do this, but also because previous research has shown that the value of the produce of domestic plots barely covers the monetary outlays for their cultivation and that urban households who grow their own food spend no less on food than do households who do not do so.[7]

No account has been taken in these estimates of the non-payment of wages and benefits, which are a much less acute problem than during the late 1990s. Calculation of the impact and cost of the various policies has been based on the assumption that wages and benefits due have actually been paid. As noted above, 16% of wage earners in this data set experienced wage delays but for half of those in arrears the delay was only one month. One third of the very small number of people eligible for unemployment benefits suffered delays in their payment, but fewer than 10% of those on maternity leave suffered delays in payment and only 7% of the miserly child benefits were paid with a delay, the payment of the majority of both of these benefits being delayed by two or three months. It is not possible from the data to make reliable estimates of the amount of wages and benefits due.

The poverty lines for each household are defined by the adult, pensioner and child subsistence minima for each region for the last quarter of 2003 (this is on average 0.3% higher than at the time of the NOBUS survey), with the child subsistence minimum applied to children under 16, the adult subsistence minimum applied to working adults between the ages of 16 and the normal pension age (55 for women and 60 for men), and the pensioner subsistence minimum applied to non-working adults and to those over the pension age, whether or not they are working.

Simulation

For this simulation we estimate the cost and impact on poverty of the following benefits:

– A regional minimum wage sufficient to provide the regional adult subsistence minimum for a normal 40-hour week (170 hours a month). This is an average rate of 13.77 roubles (about US$1.40 at PPP) an hour.

– A minimum pension for all those over retirement age equal to the regional pensioner subsistence minimum (an average of US$ 165 a month at PPP). In 2003 the minimum pension was 522 roubles (US$53 at PPP) a month. In the NOBUS data just under half the existing pensioners receive less than the pensioner subsistence minimum.

– Benefit paid to all of those working-age adults not working for whatever reason, equal to the regional pensioner subsistence minimum. This replaces all existing benefits paid to adults of working age: unemployment benefit, student stipends, child-care benefits (but not one-off maternity benefit), invalidity benefit and pensions paid to those below the normal pension age as well as social assistance. If this benefit were paid at the rate of the adult (working) subsistence minimum the cost would increase to 5.1% of GDP without a proportionate impact on poverty. Note that social assistance, which is supposed to be rigorously means tested, is so poorly targeted that it has no impact on the poverty distribution. Almost half the meagre social assistance is paid to households who are not in poverty.

– Child benefit paid for all children under 16 at the level of the regional child subsistence minimum. Child benefit in 2003 was 70 roubles a month (double for single parents).

– A top-up benefit to guarantee the adult subsistence minimum for all those working. The hourly minimum wage only guarantees that wage-earners who work 170 hours a month will reach the minimum wage. The top-up benefit ensures that those who work shorter hours, or those who are in self-employment, will also enjoy the minimum income. This benefit is calculated as the adult subsistence minimum, less the earnings declared in all forms of employment, or that would be earned at the minimum wage. The cost of this benefit is exaggerated to the extent that earnings were undeclared in the survey (this particularly relates to entrepreneurial income). It would also be administratively unwieldy, but is included because it indicates the cost of moving to a full basic income.

Table 1 shows the impact on poverty and the estimated cost, as a proportion of GDP, of these benefits taken separately and cumulatively. As can be seen from the table, the cost of each of the benefits is directly related to their impact on poverty, as might be expected. More striking is the fact that, contrary to the arguments put forward endlessly by the opponents of categorical benefits, the impact of all of the benefits is strongly weighted to the bottom of the income scale. None of the benefits increases the proportion of households with a comfortable income, more than twice the subsistence minimum, by more than one percentage point. All the benefits taken together constitute the equivalent of a basic income and eliminate poverty completely, while only raising 6% of the population into the comfortable category.

The cost of the proposed reforms is by no means excessive, amounting in total to 9.5% of GDP, roughly equivalent to some estimates of the annual capital flight from Russia. Most of the cost would fall on the government budget, since a large proportion of those paid less than the minimum wage are government employees, and would imply a substantial increase in government spending. Government expenditure at all levels in Russia in 2003 amounted to only 29.8% of GDP, whereas government spending in the European Union amounts to 48.5% of GDP, in Poland it amounts to around 45% and even in Ukraine it amounts to around 36% of GDP. However, the Russian government has serious difficulty in raising revenue to cover its meagre spending, and the cost of these benefits could certainly not be funded from a tax on personal incomes, which are so low that the tax would have to be set at a rate of about 2/3 of household income above the subsistence minimum.[8] Alternatively, the cost of the proposed reforms amounts to less than two years’ GDP increase at current rates of growth. The Russian government is committed in principle to raising the minimum wage and welfare benefits gradually to combat poverty, but in practice the necessary increases have regularly been postponed.

Of course there are other claims on the government budget. In particular, health and education have suffered from chronic under-funding, with Russia spending less on them than any other country in Europe, and are in deep crisis. However, the introduction of the measures outlined here, leading to a basic income, would also help alleviate the crisis in health and education, since more than half their employees earn less than the proposed minimum wage, and they constitute a quarter of all those whose earnings would be increased by the introduction of such a minimum wage.

In conclusion, this simulation allows us to say with some confidence that it is perfectly realistic to envisage the introduction of a basic income to Russia, perhaps through the transitional procedure of progressively raising the minimum wage and welfare benefits, including benefits for non-working adults, towards the subsistence minimum over a period of a few years. All that is required is the political will to do so.

Table 1: Cost and Impact of Minimum Wage and Welfare Benefits on Incidence of Poverty
Percentage distributions Existing income With minimum wage With minimum pension With non-working benefit With child benefit Short time working benefit
Cost (% of GDP) 3.0 1.2 3.1 4.1 0.2
Acute Poverty 12 6 11 5 6 11
Poor 33 32 23 31 32 33
Surviving 42 48 52 50 49 43
Comfortable 13 15 14 14 14 13
100 100 100 100 100 100
Cumulative Impact of Benefits Minimum wage + Pension + non-working benefit + child benefit + Short time benefit
Cost (% of GDP) 32.8 3.0 4.2 5.3 9.2 9.4
Acute Poverty 5 1 0 0
Poor 21 14 2 0
Surviving 58 67 79 81
Comfortable 16 17 19 19
100 100 100 100

– Poverty groups are defined by the household money income in relation to the regional poverty line (subsistence minimum).

– Household money income below half the regional poverty line

– Household money income above half but below the regional poverty line

– Household money income between the subsistence minimum and twice the regional poverty line

– Household money income more than twice the regional poverty line

 

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Clarke, Simon: “Poverty in Russia”, in: Problems of Economic Transition, no. 42, 5, M.E. Sharpe, Armonk, NY, September 1999, pp. 5-55.
  2. According to Mroz and Popkin, ‘this new line was set 5-10% higher than would have been the case if Western dietary guidelines had been adopted’ (see: Mroz, T./Popkin, B.M.: “Poverty and the economic transition in the Russian Federation“, in: Economic Development and Cultural Change, no. 44, pp. 1-31).
  3. All data is from Goskomstat Rossii unless otherwise specified.
  4. Mroz, T.A./Henderson, L./ Bontch-Osmolovski, M.A./Popkin, B.M.: “Monitoring Economic Conditions in the Russian Federation: The Russia Longitudinal Monitoring Survey 1992-2003”, Report submitted to the U.S. Agency for International Development, Carolina Population Center, University of North Carolina at Chapel Hill, North Carolina, April 2004.
  5. Technically the NOBUS survey is probably inferior to that conducted by RLMS, but it has a much larger and an All-Russian sample and in principle provides more comprehensive relevant information. It is far from perfect, but it is probably the best data that is available. A simulation based on the RLMS data on a comparable basis does not produce radically different results.
  6. In two-thirds of cases the household income reported by the head of the household is within 20% of the sum of incomes reported by individual household members, although the latter tends to be a little higher, partly because the individual data used relates to the amount of wages and benefits due, while the household data relates to money received. In households with members who are entrepreneurs or self-employed, who were not asked to report their individual incomes, the income reported by the household head is much higher than the sum of individual reported incomes, and the more so the more such members there are in the household.
  7. Clarke, Simon/Varshavskaya, Lena/Alasheev, Sergei/Karelina, Marina: ‘The Myth of the Urban Peasant’, in: Work, Employment and Society, no. 14, 3, September, 2000, pp. 481-99; Clarke, Simon: Making Ends Meet in Contemporary Russia: Secondary Employment, Subsidiary Agriculture and Social Networks. Cheltenham: Edward Elgar 2002.
  8. According to Goskomstat data, wages constitute around 46% of GDP, but this includes an estimate for ‘hidden wages’ amounting to a total of 11% of GDP. There is no evidence that concealed wages are so large and this item is best regarded as an error term introduced to reconcile the national accounts, which are inflated on the expenditure side by a massive estimate for savings.

Gliech, Oliver: Die Sklavenrevolution von Saint-Domingue/ Haiti und ihre internationalen Auswirkungen (1789/91 – 1804/25), 28.05.08

Nicht nur der erste unabhängige Staat Lateinamerikas, sondern auch die erste Revolution, die maßgeblich von versklavten Bevölkerungsschichten getragen wurde – Oliver Gliech liefert mit seinem Artikel eine ausführliche Erläuterung der Geschehnisse, die in den Folgejahren der Französischen Revolution zur Abschaffung der Sklaverei im heutigen Haiti führten.

In der Geschichte der lateinamerikanischen Staatenwelt stellt Haiti einen Sonderfall dar, der in vieler Hinsicht bemerkenswert ist. Im späten 18. Jahrhundert wurde das Land zum Schauplatz der einzigen erfolgreichen Sklavenrevolution der Weltgeschichte, und es waren ehemalige Sklaven, die dort 1804 den ersten unabhängigen Staat des Subkontinents ins Leben riefen. Heute zählt diese karibische Republik zu den ärmsten Staaten der westlichen Hemisphäre – vor ihrer Unabhängigkeit hingegen galt sie, damals noch „Saint-Domingue“ genannt und zum französischen Überseeimperium gehörend, als wertvollste Plantagenwirtschaft ihrer Zeit. Gestützt auf die Arbeit von etwa einer halben Million Sklaven entwickelte sich diese Plantagenökonomie zum Hauptlieferanten von Zucker und Kaffee – tropische Handelsgüter, die in Europa und Nordamerika auf eine rege Nachfrage stießen und die im Laufe des 18. Jahrhunderts zum festen Bestandteil der westlichen Konsumkultur wurden. Auf einer Fläche, die kleiner war als das heutige Belgien, lebten um 1789 etwa ebenso viele afrikanische Zwangsarbeiter wie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Als die Französische Revolution ausbrach, erfassten ihre Ausläufer bald die tropischen Kolonien Frankreichs. In Saint-Domingue begann eine eigene karibische Revolution, in deren Folge die Kolonie schließlich außer Kontrolle geriet. Zunächst wurde diese koloniale Revolution von den ortsansässigen weißen Pflanzern getragen, bald jedoch fiel die Initiative an die schwarzen Sklaven. Ihr Aufstand führte zur Abschaffung der Sklaverei, zur Unabhängigkeit der Kolonie, zur Zerstörung der Plantagenwirtschaft und zur Entmachtung der alten kolonialen Eliten. Dieser dramatische Prozess soll im folgenden genauer untersucht werden.

I. Die französische Kolonie Saint-Domingue vor 1789

Bereits kurze Zeit nach der Entdeckung Amerikas stellte der französische König Franz I. die vom Papst 1493 sanktionierte Weltordnung in Frage, die die neu entdeckten außereuropäischen Territorien zwischen Spanien und Portugal aufteilte. „Man zeige mir das Testament Adams, das mich von der Teilung der Welt ausschließt“ – mit diesem Ausspruch wies der Monarch die exklusiven Herrschaftsansprüche der iberischen Mächte zurück.[1] Bis das Königreich den Worten Taten folgen ließ, vergingen freilich mehr als hundert Jahre. Während bretonische und normannische Schmuggler und Korsaren schon sehr früh in der Karibik präsent waren, trat Frankreich jenseits des Atlantiks erst seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Kolonialmacht auf den Plan. Obwohl in den 1630er Jahren unter der Ägide von Kardinal Richelieu eine eigene Kolonialpolitik einsetzte, dauerte es geraume Zeit, bis diese ernstzunehmende Resultate zeigte. In den folgenden hundert Jahren hatte diese in Amerika drei Stoßrichtungen: Zum einen gelang es Frankreich, in der karibischen Inselwelt Fuß zu fassen, zum anderen erzielte es beträchtliche Geländegewinne in Kanada und westlich des Mississippi. Alle drei Regionen hatten eines gemeinsam: Angesichts der Ausdehnung des amerikanischen Kontinents hatten die Spanier den Anspruch aufgegeben, das gesamte von ihnen in Übersee beanspruchte Territorium in Besitz zu nehmen. Es gab in diesen Regionen entweder keine spanischen Siedler und Stützpunkte oder sie waren zu schwach, um das Vordringen europäischer Konkurrenzmächte zu verhindern. Wenn nun nach und nach die meisten karibischen Inseln mit Ausnahme von Cuba und Puerto Rico von den Feinden Spaniens besetzt wurden, so waren diese Mächte (die Niederlande, England und Frankreich) zunächst nicht primär daran interessiert, dort Plantagen zu errichten. Diese Inseln wurden vielmehr als Stützpunkte für Kaperfahrten gegen die spanischen Silberflotten und reichen amerikanischen Hafenstädte genutzt und sollten im Kriegsfall als Sprungbrett für die Eroberung von Teilen des amerikanischen Festlands dienen. Erst als sich diese Expansionsabsichten als illusorisch erwiesen, wurde die wirtschaftliche Erschließung der karibischen Besitzungen mit Nachdruck betrieben.

Die Kolonie Saint-Domingue ging aus einstmals unabhängigen Siedlungen französischer Freibeuter hervor, die sich auf der Westhälfte der spanischen Insel Santo Domingo strategisch günstige Rückzugsgebiete geschaffen hatten, von denen aus sie die aus Havanna absegelnden Silberflotten abfangen konnten. Santo Domingo war kurz nach der Entdeckung Amerikas zeitweilig in den Rang der wichtigsten spanischen Kolonie aufgestiegen und hatte als Experimentierfeld für die spätere Inbesitznahme des amerikanischen Festlands gedient – mit verheerenden Folgen für die indigenen Ureinwohner. Durch Zwangsarbeit, Seuchen und Misshandlung wurden die einheimischen Arawaken innerhalb weniger Jahrzehnte ausgerottet. Als die vorhandenen Goldvorkommen zur Neige gingen, verloren die spanischen Siedler das Interesse an Santo Domingo; ein beträchtlicher Teil von ihnen wanderte in das jüngst eroberte Mexiko ab. Die relativ früh etablierte Zuckerwirtschaft der Insel verfiel im Laufe des 17. Jahrhunderts. Santo Domingo hatte für die Spanier seine strategische und ökonomische Bedeutung eingebüßt; nur der Ostteil der Insel blieb in spanischer Hand.[2]

Dieser Umstand begünstigte eine Ansiedlung französischer Freibeuter im Nordwesten Santo Domingos. Von den konkurrierenden Hegemonialmächten bedrängt, sahen diese sich nach wenigen Jahrzehnten autonomer Existenz genötigt, ihr Mutterland um militärische Unterstützung zu bitten. Die französische Krone kam diesem Ansinnen nach, unterwarf aber die Freibeuterrepublik ihrer Herrschaft und verleibte sich den Westen der Insel ein. In Anlehnung an die ursprüngliche spanische Bezeichnung erhielt die Kolonie den Namen Saint-Domingue. Zunächst wurden monopolartig organisierte Handelskompanien mit der Erschließung und Besiedlung betraut, doch erwiesen sich diese als unfähig, die ihnen angetragene Aufgabe zu erfüllen. Weder gelang es ihnen, eine ausreichende Zahl von Kolonisten anzuwerben, noch erkannten sie die überragende ökonomische Bedeutung des Rohrzuckers.[3] Erst seit 1697, als Spanien im Vertrag von Rijswick das französische Eigentum an der Kolonie akzeptierte, war sie vor spanischen Überraschungsangriffen sicher. Der Aufstieg Saint-Domingues zur bedeutendsten Plantagenwirtschaft vollzog sich in der Zeitspanne zwischen 1700 und 1789. Zunächst wurden Tabak und Indigo, dann Zucker und ab den 1720er Jahren auch Kaffee angebaut. Während sich der Tabak aufgrund der übermächtigen Konkurrenz Virginias nicht halten konnte, wurde die Produktpalette der Kolonie um Baumwolle ergänzt. Bei diesen vier tropischen cash crops blieb es bis zum Ende der Kolonialzeit – denn über andere bedeutende Rohstoffe, die für die Metropole von Interesse gewesen wären, verfügte Saint-Domingue nicht.

Alle Exportgüter der Kolonie mit Ausnahme des Kaffees konkurrierten in Europa mit Produkten, die ganz ähnliche Eigenschaften hatten und für die bereits eine breite Nachfrage bestand. Als preisgünstiger Ersatz konnten sie deshalb schnell bedeutende Marktanteile erobern: Der Rohrzucker vermochte klassische Süßstoffe wie Honig zu ersetzen und fand Verwendung als Arzneimittel und Luxussymbol an den Tafeln der Reichen.[4] Die Baumwollfasern entwickelten sich aufgrund ihrer besonderen Verarbeitungsqualitäten schnell zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für Wolle, Flachs und Hanf; Indigo, ein aus Schmetterlingsblütlern gewonnener blauer Farbstoff, erbrachte weit höhere Hektarerträge als der in Europa gebräuchliche Färberwaid. Während die beiden für die Textilindustrie benötigten Rohstoffe auch von einer Vielzahl anderer Produzenten angeboten wurden, erlangten die französischen Karibikinseln auf dem europäischen Zucker- und Kaffeemarkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und namentlich nach dem Siebenjährigen Krieg ein geradezu erdrückendes Übergewicht. Zahlreiche andere Regionen verfügten über ähnliche Anbaubedingungen – warum gelang es also den Franzosen, eine solche marktbeherrschende Stellung zu erlangen? Dieser Erfolg hatte viele Ursachen. Zum einen existierten natürlich auch in Brasilien und im spanischen Amerika Zuckerpflanzungen. Diese Kolonien waren freilich weit stärker besiedelt und verfügten, im Gegensatz zur karibischen Inselwelt, über größere Binnenmärkte – der Zucker wurde überwiegend vor Ort konsumiert. Auch das Produktionsniveau in den englischen Zuckerkolonien war hoch, doch gelangte der jamaikanische Zucker nur auf englische Märkte, denn der dort früh einsetzende Massenkonsum trieb den Eigenverbrauch in die Höhe. Zudem stutzte der Verlust Kanadas und Louisianas das französische Kolonialreich jenseits des Atlantiks auf die karibischen Inseln zurück. Das französische Kapital konzentrierte sich folglich hier, während sich für andere Kolonialmächte weit mehr Anlagemöglichkeiten boten. Neben Vorsprüngen im Know-How und dem bedenkenlosen Verschleiß hunderttausender afrikanischer Sklaven trug das französische Konzessionsrecht zum ökonomischen Aufschwung bei: Es sah für die Kolonien kein Eigentum an Grund und Boden vor, sondern band die Vergabe von Landrechten an den Plantagenbetrieb. Zeigten sich Kolonisten unfähig, die Produktion aufrechtzuerhalten, fielen ihre Ländereien an die Krondomäne zurück. All diese Faktoren trugen zum Erfolg der karibischen Plantagenwirtschaft bei, der seinerseits die Ökonomie des Mutterlandes nachhaltig beeinflusste. Blieb in Frankreich eine industrielle Revolution aus, so erlebte das Land doch in den Jahrzehnten vor der Revolution eine regelrechte „Handelsrevolution“, die ihre Dynamik weitgehend den Kolonialwaren verdankte.[5] Insbesondere die am Atlantik und der Kanalküste gelegenen Hafenstädte profitierten von diesem karibischen Boom. Bordeaux, La Rochelle, Bayonne und Le Havre waren in hohem Maße am Kolonialhandel beteiligt, während sich Nantes weitgehend auf den Sklavenhandel spezialisiert hatte. Neben Paris stellten diese Städte und ihr Umland den größten Teil der karibischen Plantagenbesitzer und gerieten nach Ausbruch der Revolution in den Brennpunkt der kolonialen Agitation.

Durch ihre enge Anbindung an die europäischen Märkte wurden die karibischen Kolonien zu einem integralen Bestandteil des europäischen Wirtschaftslebens. Vor allem die zunehmende Verbreitung des Kaffeekonsums, die durch die französischen Exporte ermöglicht wurde, hatte tiefgreifende Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten und die Kultur West- und Mitteleuropas. Der Kaffee nahm im Osmanischen Reich aufgrund des islamischen Alkoholverbots jenen Platz ein, den in den christlichen Reichen berauschende Getränke innehatten. Von Anfang an hatte sein Konsum gemeinschaftsstiftende Funktionen – nicht nur der Kaffee, sondern auch die Kaffeehäuser wurden von den Europäern aus dem „Morgenland“ übernommen. Die historische Bedeutung dieser Institution steht außer Frage: Die Kaffeehauskultur hatte im 18. Jahrhundert maßgeblichen Anteil an der Entstehung einer aufgeklärten Öffentlichkeit. Als Ort nüchterner Geselligkeit stieg das Café zum bürgerlichen Gegenmodell der volkstümlichen Taverne und des adligen Salons auf – es fungierte zugleich als Nachrichtenbörse und Debattierklub. Zugleich begann der Kaffee im Privaten, den Alkohol zurückzudrängen. Der Frühstückskaffee ersetzte beispielsweise die im deutschen Sprachraum weit verbreitete morgendliche Biersuppe. Gleichzeitig etablierte sich das weibliche Kaffeekränzchen als Konkurrenz zum männlichen Kaffeehaus, was wiederum die Nachfrage nach dem koffeinhaltigen Wachmacher in die Höhe schnellen ließ.[6]

Der Kolonialwarenboom führte in den zwei Jahrzehnten vor Ausbruch der Revolution zu einer massiven Expansion der sklavengestützten Plantagenwirtschaft Saint-Domingues. Doch trotz ihrer Prosperität war diese Kolonie ein Koloss auf tönernen Füßen. Denn es gab viele Faktoren, die ihre Stabilität bedrohten.[7] Das quantitative Verhältnis von Sklaven zu freien Europäern fiel fast überall in der Karibik zuungunsten der weißen Herrenschicht aus. In Saint-Domingue lag es etwa bei 1:10. 40.000 Weiße und etwa ebenso viele freie Farbige standen 500.000 Sklaven gegenüber, der größte Teil von ihnen waren bossales – in Afrika geborene Schwarze, die ein Leben in Freiheit noch gekannt hatten und die sich schwerer beherrschen ließen als in der Sklaverei Geborene. Je geringer die Chancen, der Sklaverei auf legalem oder illegalem Wege zu entkommen, desto größer war die Revoltebereitschaft der Betroffenen. Eine Aussicht auf Freilassung bestand nur für wenige Sklaven in Vertrauenspositionen, die ihren Herren jahrelang gedient hatten. Als Insel bot Saint-Domingue zudem im Gegensatz zum amerikanischen Festland nur wenige Rückzugsmöglichkeiten für geflohene Sklaven (Maroons). Die Arbeit auf den Zuckerplantagen verschliss die Schwarzen in wenigen Jahren, und man bemühte sich kaum, ihr Los ein wenig zu erleichtern. Das Recht, eine Familie zu gründen, blieb ein seltenes Privileg. Kleidung, Wohnraum und Ernährung waren oftmals erbärmlich[8]. Während das Créole, eine Mischung aus Französisch und diversen afrikanischen Sprachen, eine Verständigung ermöglichte, waren es vor allem zwei Dinge, die die Zwangsarbeiter zusammenschweißten: die Praxis der täglichen Arbeit und die Religion. Der von vielen Sklaven praktizierte Vaudou/Voodoo-Kult bot ihnen einen spirituellen Raum, der der Kontrolle der Weißen entzogen blieb. Synkretistische Glaubenskomplexe dieser Art, in denen sich die spirituellen Traditionen der Herkunftsländer der Sklaven vermischten, entstanden in allen karibischen Kolonien. Im Voodoo fehlten übergeordnete Hierarchien – Priester, die zugleich Sklaven waren, bildeten die oberste geistliche Instanz. Damit konnte sich diese Religion gut an die Gegebenheiten der Plantagenwirtschaften anpassen. Ihre Rolle als gemeinschaftsstiftende Instanz ist gar nicht zu überschätzen. Initiierte des Kultes gerieten während einer Zeremonie in Trance und verwandelten sich, für alle Gläubigen sichtbar, in einen Gott des Voodoo-Pantheons, der als solcher weissagte und Befehle erteilte. Selbst wenn die „Besessenen“ sich später nicht daran erinnern konnten, wuchs ihnen doch etwas vom Prestige der gespielten Rolle zu. Ein einfacher Feldarbeiter konnte sich in den Kriegsgott Ogou oder gar in Baron Samedi – den Tod – verwandeln, und dies konnte für die soziale Kontrolle in einer Plantage fatale Konsequenzen haben. Im einfachen Leben weit unterhalb der Weißen stehend und von diesen verachtet, konnte ein einfacher Zuckerschneider über Nacht auf spirituellem Wege weit über diese hinaus geschleudert werden. Voodoo war nicht, wie oft behauptet wird, ein Element des Widerstands gegen die koloniale Ordnung, doch besaß er das Potential, sich in ein solches zu verwandeln. Hatten die weißen Herren auf den Plantagen die Macht, so fehlte ihnen die kulturelle Hegemonie, die Herrschaft über die Köpfe ihrer Sklaven.

In der kolonialen Ordnung, die zugleich auf einer Hierarchie der „Rassen“ beruhte, nahmen die freien Farbigen eine Zwischenposition ein. Sie, und nicht etwa die Weißen, bildeten das Gros der Kreolen. Zwar standen die Europäer an der Spitze der Gesellschaftspyramide, aber damit endeten bereits ihre Gemeinsamkeiten. Die zeitgenössische Schematik unterteilte sie in „große“ und „kleine“ Weiße, wobei die erste Gruppe von reichen Plantagenbesitzern, Kaufleuten sowie der Elite der Zivilverwaltung und der Kolonialarmee gebildet wurde. Als örtliche Notablen beherrschten die Zuckerbarone das soziale Leben ihrer Gemeinden. Doch wurden die Eliten durch den kolonialen Absentismus spürbar geschwächt. Viele Plantagenbesitzer zogen Frankreich der Karibik vor und sahen in den Pflanzungen nur eine willkommene Einnahmequelle, die es ihnen erlaubte, in Europa ein luxuriöses Leben zu führen. Die Verwaltung ihrer Plantagen überließen sie Mittelsmännern vor Ort. Am anderen Ende der weißen Gesellschaft standen landarme oder landlose Siedler, Handwerker, Verwalter, Küstenschiffer und Kleinhändler. Diese Untergliederung zeichnet freilich ein unscharfes Bild von der weißen Gesellschaft. Zwischen den genannten Gruppen gab es eine Mittelschicht kapitalschwacher Pflanzer, die sich materiell nicht wesentlich von vielen freien Farbigen unterschieden. Neben den ortsansässigen „kleinen Weißen“, deren Existenz halbwegs abgesichert war, zog die Kolonie eine große Zahl von Menschen ohne soziale Bindungen an, die mit den zuvor Genannten wenig gemein hatten. Die urbanen Zentren Saint-Domingues waren überwiegend Hafenstädte. Viele ihrer Bewohner gehörten zur „amphibischen“ Bevölkerung, so genannt, weil sie regelmäßig vom Meer aufs Land und umgekehrt wechselte.[9] Die einlaufenden Schiffe tauschten regelmäßig einen Teil ihrer Mannschaften aus. Erkrankte oder rebellische Matrosen wurden von Bord gewiesen, viele desertierten. Sie zogen auf der Suche nach Arbeit übers Land, oder ließen sich erneut als Matrosen anwerben. Diese „amphibischen“ Unterschichten, wegen der Gefahren auf dem Meer im Umgang mit Waffen, meist sogar mit Kanonen geübt, bildeten in Krisenzeiten ein schwer kalkulierbares Unruhepotential.

II. Die Revolution von Saint-Domingue

Die große Zeitenwende von 1789 hatte sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Karibik bereits geraume Zeit zuvor angekündigt. Zwei politische Grundsatzdebatten drohten, die Grundfesten der kolonialen Ordnung zu erschüttern. Die erste stellte die Legitimität der unfreien Arbeit in Frage, die zweite drehte sich um das Maß an politischer Partizipation, das den karibischen Inseln zugestanden werden sollte. Die Philosophen der Aufklärung hatten zwar nicht einheitlich Stellung gegen die Sklaverei bezogen, eine Reihe prominenter Autoren verdammte sie jedoch grundsätzlich.[10] Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ argumentierte dabei naturrechtlich, Raynals „Geschichte beider Indien“, ein Bestseller seiner Zeit, gipfelte in der Ankündigung, dereinst werde das Unrecht der Sklaverei zum Umsturz der Verhältnisse in den Kolonien führen, ein schwarzer Spartacus werde die unterdrückten Afrikaner in die Freiheit führen. Diese publizistischen Attacken, formuliert von Raynals Co-Autoren Diderot und Pechmeja, erreichten ein breites Publikum und gelangten auch nach Saint-Domingue, wo sie unter anderem in die Hand belesener Haussklaven fielen. 1788 wurde in Paris mit der „Gesellschaft der Freunde der Schwarzen“ eine abolitionistische Vereinigung nach englischem Vorbild geschaffen, die zunächst den Kampf gegen den Sklavenhandel auf ihre Fahnen schrieb. Obwohl diese Entwicklung die Kolonisten beunruhigte, schätzten sie die Gefahr für ihr Eigentum nicht sonderlich hoch ein. Auch die nordamerikanische Revolution wurde von pathetischer Freiheitsrhetorik begleitet, doch am Ende ließ man die Sklaverei bestehen. Die kolonialen Lobbyisten, die sich ihrerseits organisierten, gaben sich angesichts der ökonomischen Bedeutung der Plantagenwirtschaften siegessicher. Ihr Ziel bestand nicht nur darin, die Sklaverei zu bewahren, sondern die gesamte Kolonialpolitik der Kontrollgewalt der Metropole zu entziehen, die bislang der Marineminister innehatte, bald darauf aber von der 1789 ins Leben gerufenen Pariser Nationalversammlung übernommen wurde. Früh offenbarten sich allerdings unüberbrückbare Interessengegensätze innerhalb der kolonialen Eliten. Auf der einen Seite standen die in Frankreich ansässigen reichen Absentisten, die vom „Club Massiac“ vertreten wurden.[11] Diese wollten die Herrschaft über Saint-Domingue an sich ziehen und sie aus der Ferne ausüben. Die in der Kolonie ansässigen Notablen forderten ihrerseits eine Vertretung in den französischen Generalständen, deren Einberufung 1789 den Beginn der Revolution markierte und die sich später gegen den Willen des Königs zur verfassungsgebenden Versammlung erhoben. Als entsprechende Wahlen für Saint-Domingue verboten wurden, gründeten örtliche Notable in jeder der drei Provinzen der Kolonie ein geheimes Komitee, um eigene Abgeordnete zu benennen. Damit begann die erste Phase der Revolution von Saint-Domingue.

Es waren zunächst einzelne Fraktionen der örtlichen Eliten, die sich gegen die absolutistische Kolonialregierung erhoben. Ihr Unmut richtete sich zum einen gegen die bestehenden Handelsbeschränkungen: Mit Ausnahme weniger Freihäfen durften die Kolonisten ihre Waren nur an französische Händler verkaufen, was ihnen trotz des weit verbreiteten Schmuggels empfindliche Einnahmeeinbußen bescherte. Einen weiteren Konfliktherd bildete die bestehende Militärverfassung. Da die Kolonie über eine Küstenlinie von über 1000 km Länge verfügte, war sie ohne Hilfe der Kolonisten nicht zu verteidigen. Dieser Umstand hatte die Kolonialregierung früh veranlasst, die Siedler zu Milizdiensten zu verpflichten. Die Kommandanten dieser Milizen stiegen neben den Zuckerbaronen zu den heimlichen Herrschern auf lokaler Ebene auf. Sie hatten nicht nur die Befehlsgewalt über die Kolonisten, sie wachten auch über die Durchführung der Gesetze und prüften die Steuererklärungen ihrer Mitbürger. Die Militärverfassung wurde folglich von vielen Pflanzern als Zumutung empfunden, doch zugleich hatte sie dazu geführt, dass die Masse der Kolonisten über Waffen verfügte. Die sich nun anbahnende Revolte der Weißen richtete sich auch gegen die Modernisierungsbestrebungen der Zivilverwaltung ihrer Kolonie. Seit 1785 trug François de Barbé-Marbois als Intendant für diese die Verantwortung. Er trat mit einem ambitionierten Reformprojekt an, das vor allem darauf zielte, die Infrastruktur der Insel zu verbessern und die Einnahmen des Fiskus zu erhöhen. Zum Bau von Straßen und Brücken griff er rigoros auf die corvée zurück, einen Frondienst, der die Kolonisten zwang, Sklaven unentgeltlich für öffentliche Arbeiten zur Verfügung zu stellen. Die öffentlichen Unternehmer, die im Auftrag des Intendanten die Straßen bauten, pflegten die ihnen anvertrauten Sklaven zu ruinieren, auch verloren gerade kleinere Pflanzer durch die corvée wichtige Arbeitskräfte. Zugleich erlaubte sich der Intendant mit seiner Finanzreform einen schweren Tabubruch. Bis zu seinem Amtsantritt bestanden die öffentlichen Finanzen aus einem anarchisch anmutenden Gewirr verschiedener Abgaben und Kassen. Augenscheinlich machten sich Staatsfunktionäre ebenso wie Kolonisten die Vorteile dieser Undurchschaubarkeit zunutze. Funktionäre, die öffentliche Mittel veruntreuten, gestatteten vielen Kolonisten, einen Teil ihrer Steuerlast als Schulden anschreiben zu lassen, die dann nicht eingefordert wurden – im Gegenzug wurde die Entwendung von Steuermitteln nicht kritisiert. Barbé-Marbois versuchte, ein übersichtliches Finanzsystem zu etablieren, reklamierte mit Entschiedenheit die ausstehenden Schulden und drohte damit, das Netz der Korruption zu zerschneiden. All dies trieb schließlich Notable und „kleine Weiße“ auf die Barrikaden. Ihr gemeinsamer Kampf gegen einen als „despotisch“ empfundenen Staat war zunächst erfolgreich. Die Nationalversammlung in Paris erkannte die Abgeordneten der Kolonisten an. Saint-Domingue erhielt das Recht, ein Kolonialparlament zu wählen. Der verhasste Modernisierer Barbé-Marbois verließ die Kolonie, nachdem man ihm offen mit Gewalt gedroht hatte.

Der Triumph der kolonialen Eliten über den Staat war freilich nur von kurzer Dauer. Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind hatte ihnen für kurze Zeit inneren Zusammenhalt verliehen; dieser ging verloren, als die Kolonialregierung am Boden lag. In der weißen Gesellschaft Saint-Domingues brachen nun alte Gegensätze auf, die bald bürgerkriegsähnliche Züge annahmen. Mächtige Interessengruppen versuchten, das entstandene Machtvakuum zu nutzen, um selbst die Herrschaft in der Kolonie an sich zu reißen – und sie zeigten keinerlei Bereitschaft, die anderen Kolonisten daran zu beteiligen. Hatte der Staat bislang als Schiedsrichter gewirkt, so erwiesen sich die konkurrierenden Notablen als unfähig, an die Stelle der alten Legalität eine neue zu setzen. Saint-Domingue war zudem durch einen ausgeprägten Regionalismus gekennzeichnet, der sich nun konfliktverschärfend auswirkte. Die Kolonie bestand aus zwei langgestreckten Halbinseln, die jeweils die Nord- und die Südprovinz bildeten und die durch die Westprovinz als Landbrücke verbunden wurden. Drei in West-Ost-Richtung verlaufende Höhenzüge der karibischen Cordilleren durchzogen diese Provinzen und bildeten natürliche Barrieren. Während sich die gesamte Infrastruktur der Kolonie zum Meer hin ausrichtete, wurde ihre innere Erschließung durch diese Gebirgszüge verhindert. Die einzelnen Provinzen standen infolgedessen kaum miteinander in Verbindung. Eine die ganze Kolonie überspannende Eliteformation mit unanfechtbarem Führungsanspruch konnte unter diesen Bedingungen nicht entstehen, und so erhielten die Unruhen der Jahre 1789 und ’90 zusätzlich eine regionalistische Note. Die Wahlen zum Kolonial- und zu den Provinzversammlungen standen unter diesem Vorzeichen. Das Zentralparlament Saint-Domingues, das in Saint-Marc (Westprovinz) tagte (April-August 1790), manifestierte bald autonomistische Tendenzen. Die Eliten der den Norden beherrschenden Hafenstadt Cap Français traten diesen Bestrebungen als Verteidiger des status quo entgegen und bezichtigten die Autonomisten des Verrats an Frankreich. Freilich fehlte den Autonomisten die Macht, sich in eine echte Unabhängigkeitsbewegung zu verwandeln. Drei Viertel aller weißen Kolonisten waren gebürtige Franzosen, mithin repräsentierten die Kreolen – üblicherweise die natürlichen Träger des Separatismus – nur eine Minderheit. Im August 1790 kam es zum offenen Eklat zwischen der Nordprovinz und der Versammlung von Saint-Marc. Der Gouverneur warf der Kolonialversammlung vor, sich vom Mutterland lösen zu wollen, und zerschlug sie militärisch. Er löste damit landesweite Unruhen aus. Handelte es sich zunächst um einen Machtkampf innerhalb der kolonialen Eliten, so ermutigte das allgemeine Chaos die „kleinen Weißen“, sich in den Konflikt einzumischen. Aus Armut weit mehr an persönlicher Bereicherung als an politischen Programmen interessiert, trieb ihr Eingreifen die allgemeine Destabilisierung voran.

Seit der Mitte des Jahres 1789 wurde die koloniale Revolution von einer weiteren Ebene überlagert, die schließlich die zweite Phase des Konflikts beherrschen sollte. Entgegen dem geltenden Recht waren die freien Farbigen Saint-Domingues von allen Wahlen ausgeschlossen worden. Der 1685 erlassene Code Noir, der die Prinzipien des Kolonialrechts festgelegt hatte, stellte Freie afrikanischen Ursprungs den Weißen weitgehend gleich. Die Erklärung der Menschenrechte vom August 1789 stärkte diese Position. Das Zensuswahlrecht bezog im Prinzip wohlhabende Farbige mit ein, die Weißen von Saint-Domingue hingegen hatten sie stillschweigend übergangen. Nach der Einberufung der Versammlung von Saint-Marc gingen die weißen Eliten einen Schritt weiter: Sie beanspruchten die Gesetzgebung in Kolonial- und damit auch in „Rasse“-Fragen für sich allein. Dies wäre auf eine Festschreibung der Sklaverei und der bestehenden „rassischen“ Hierarchien hinausgelaufen, und dagegen liefen die farbigen Plantagenbesitzer nunmehr Sturm. Ihre Lobby, geführt von Julien Raymond, versuchte die Pariser Nationalversammlung auf ihre Seite zu ziehen. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, beschloss eine kleine Zahl von Farbigen unter Führung von Ogé und Chavannes im Jahr 1790, in Saint-Domingue zu den Waffen zu greifen. Da ihre Schicksalsgenossen passiv blieben, brach der Aufstand rasch zusammen. Die Führer der Revolte wurden gefangen genommen und Anfang 1791 zum Tode verurteilt. Ihre Richter ließen sie in Cap rädern – eine besonders schmerzhafte Hinrichtungsart, die in Europa längst verschwunden war. Die Leichen wurden zur Abschreckung auf Pfählen ausgestellt, in vielen Städten folgten pogromartige Ausschreitungen gegen die Farbigen.[12] Erneut hatten die weißen Eliten Saint-Domingue einen höchst zweifelhaften Sieg errungen. Als gute Taktiker und schlechte Strategen gelang es ihnen, kurzfristig ihre Vorherrschaft abzusichern, doch hatten sie die farbigen Pflanzer auf üble Weise erniedrigt. Langfristig entfremdeten sie sich aus „rassischem“ Hochmut eine wichtige Fraktion ihrer Besitzklasse und machten sich damit auf Dauer einen potentiellen Verbündeten zum Feind. Als schließlich der Sklavenkrieg ausbrach, sollte ihnen dieses politische Fehlkalkül das Genick brechen.

In den Jahren 1789-91 veränderte sich die politische Landschaft Frankreichs und damit auch die Voraussetzungen der Kolonialpolitik maßgeblich. Kritiker wie Verteidiger der Sklaverei waren gleichermaßen in der Nationalversammlung vertreten. Der mächtige Club Massiac und die Kaufmannschaft der Atlantikstädte übten massiven Druck aus, um die Eigentumsrechte der Pflanzer und damit die Sklaverei zu bewahren. Sie erreichten, dass die Kolonialgesetzgebung einem von ihnen dominierten Komitee übertragen wurde, und setzten zugleich alles daran, jede öffentliche Erörterung des Themas zu unterbinden. Sklavereifeindliche Theaterstücke wie etwa jenes der Feministin Olympe de Gouges wurden abgesetzt, Abolitionisten von Schlägerbanden bedroht. Die sozialen Konflikte zwischen Eliten und städtischen Unterschichten konnten gerade in Paris schnell eskalieren, und in einer Zeit, in der revolutionärer Freiheitspathos immer stärker um sich griff, konnte ein offener Einsatz der Koloniallobby für die Sklaverei fatale Folgen für diese haben. Eine Übertragung der Gesetzgebung an im Geheimen tagende Zirkel und eine semantische Verschleierung der Sklaverei, die von den Verantwortlichen immer seltener offen beim Namen genannt wurde, schienen einen Ausweg aus diesem Dilemma zu bieten. Zugleich griff die Koloniallobby zunehmend auf nationalistische Diskurse und Appelle an die „Rassensolidarität“ zurück, um ihre Positionen unangreifbar zu machen. Die afrikanischen Sklaven seien zu primitiv, um die gleichen Rechte wie Europäer zu erhalten. Frankreich verdanke seine Prosperität vorrangig den Kolonien, und angeblich hingen bis zu 4 Millionen Arbeitskräfte im Mutterland unmittelbar von der Sklavenwirtschaft ab. Entsprechend brandmarkte man die Gegner des kolonialen Systems als Feinde Frankreichs – ihr Erfolg würde den ökonomischen Triumph des Erzfeindes England herbeiführen. Obwohl die meisten Behauptungen der Koloniallobby frei erfunden waren, hinterließen sie ihren Eindruck in der Öffentlichkeit.

Die erste Phase der Französischen Revolution endete in der kolonialen Frage mit einem Patt. Die Interessen der Besitzklassen setzten sich bis 1791 weitgehend durch. Selbst in der Frage der rechtlichen Gleichstellung der freien Farbigen schwankte die Nationalversammlung. Das Gesetz, das sie am 15. Mai 1791 zu ihren Gunsten erließ und das in Saint-Domingue die Solidarität der Besitzenden über die „Rassengrenzen“ hinweg erzwingen sollte, wurde vor Ort von den Weißen strikt zurückgewiesen. Dies nun führte zu einem Aufstand farbiger Plantageneigentümer im Norden und Westen der Kolonie. Eine weitere mächtige Konfliktpartei trat in die politische Arena. Die Nationalversammlung entschloss sich schließlich zur Intervention. Eine Zivilkommission wurde entsandt, um die Verantwortlichen der Unruhen dingfest zu machen und der französischen Justiz zu überantworten. Gleichzeitig wurden in Saint-Domingue Wahlen zu einem neuen Kolonialparlament ausgeschrieben. Doch führten diese Maßnahmen nicht zu einer Stabilisierung der Lage. Denn inzwischen hatten sich in Frankreich Dinge ereignet, die die Revolution in völlig neue Bahnen lenken sollte. Mitte Juni 1791 beschloss König Ludwig XVI., ins Ausland zu fliehen und von dort aus eine gewaltsame Gegenrevolution anzuführen. Die Revolution hatte dem Absolutismus ein jähes Ende bereitet und den Grundstein für eine konstitutionelle Monarchie gelegt. Der König unterwarf sich dieser Entwicklung nur zum Schein und suchte nach einer passenden Gelegenheit, den revolutionären Spuk zu beenden und seine alte Machtposition zurückzugewinnen. Seine Flucht zu Verbündeten am Rhein diente diesem Ziel. Doch der Monarch wurde vor der Grenze gefasst und nach Paris zurückgebracht. Dies stürzte zunächst das Königtum, bald auch das sie tragende Besitzbürgertum in eine Systemkrise, die schließlich 1792 in die Revolutionskriege, die Abschaffung der Monarchie und die Machtübernahme der Jakobiner mündete. Viele der reichen karibischen Absentisten hatten sich eng an die Krone gebunden und gingen gemeinsam mit ihr unter. Die Konsequenzen, die diese Radikalisierung der Revolution für die Kolonien hatte, ließen nicht lange auf sich warten.

Die Nachricht von der gescheiterten Flucht des Königs erreichte Saint-Domingue Mitte August 1791. Die ganze Kolonie schien zu diesem Zeitpunkt in Bewegung. Die Kämpfe mit den aufständischen Farbigen waren im vollen Gange, viele weiße Kolonisten verließen ihre Plantagen, um die Rebellen niederzuwerfen oder um an politischen Versammlungen teilzunehmen. Hunderte von ihnen waren unterwegs, um der Eröffnung der zweiten Kolonialversammlung beizuwohnen. Diese massenhafte Abwesenheit lockerte die soziale Kontrolle auf vielen Plantagen. Die Sklaven der Nordprovinz erreichte die Nachricht von der Gefangennahme Ludwigs XVI. zugleich als spektakuläres Gerücht: Der König habe die Abschaffung der Sklaverei beschlossen und sei von den Weißen mit Gewalt daran gehindert worden, dies in die Tat umzusetzen. Ihre Herren hatten über zwei Jahre hinweg ihre Differenzen vor den Augen ihrer Sklaven gewaltsam ausgetragen und einen Teil der Afrikaner sogar bewaffnet. Langsam und unmerklich hatte sich auf vielen Plantagen der Schutzwall aufgelöst, der die Herren in Form der privilegierten Haussklaven umgab. Letztere waren es, die über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügten und gelegentlich auch die Plantagen verlassen durften. Diese Gelegenheit nutzten Haussklaven der Nordprovinz, um sich heimlich zu treffen und einen Aufstand vorzubereiten. Mitte August 1791 war der Zeitpunkt zum Losschlagen aus den genannten Gründen besonders günstig.

Die Ereignisse des ersten Tages des großen Sklavenaufstands von Saint-Domingue sind mythenumrankt. Ihr historischer Kern lässt sich nur mit Mühe freilegen.[13] Lange Zeit galt eine nächtliche Voodoo-Zeremonie im Bois Caïman in der Nordprovinz als Startschuss der Revolte. Die Authentizität späterer Beschreibungen ist jedoch ebenso umstritten wie das Datum, an dem es stattfand. Um den 14. August 1791 trafen sich die Organisatoren des Aufstands – Haussklaven und Aufseher –, um ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren. An anderem Orte scheint unter Leitung des Voodoo-Priesters Boukman ein Blutbund zwischen Aufständischen geschlossen worden zu sein. Beide Ereignisse werden oftmals verwechselt. Eine Woche später (22. August) erhoben sich die Sklaven in den Gemeinden Acul und Limbé. In den darauffolgenden Tagen griff der Aufstand auf die Plantagen der reichen Ebene um Cap Français über, den Tagungsort des neuen Kolonialparlaments. Die Weißen wurden von der Insurrektion völlig überrascht. In kurzer Zeit lagen weite Teile der Nordprovinz in der Hand der Aufständischen. Zahlreiche Weiße wurden in diesem ersten Ansturm getötet, doch gingen die Aufständischen überwiegend gegen Kolonisten und Verwalter vor, die sie schlecht behandelt hatten. Viele Europäer flohen in die nahegelegenen Städte. Kolonisten, die vormals Offiziere gewesen waren, befestigten ihre Plantagen und organisierten den Widerstand. Der Sklavenkrieg verschärfte sich zusehends und die in Bedrängnis geratenen Pflanzer kannten bei der Aufstandsbekämpfung kein Erbarmen. Feldherren wie der Kaffeepflanzer und falsche Marquis de Rouvray drangen mit Stoßtrupps in das Aufstandsgebiet vor und massakrierten alle Schwarzen, die ihnen in die Hände fielen. Boukman, der zu den Aufstandsorganisatoren gehört hatte, geriet bald in Gefangenschaft der Weißen. Sein Kopf wurde neben dem eines Pfarrers aufgespießt, der sich den Schwarzen angeschlossen hatte. Kolonialarmee und Kolonisten gingen in die Gegenoffensive über und warfen das Gros der Aufständischen nieder. Die Führer der Revolte suchten um Verhandlungen nach, doch forderte das Kolonialparlament von ihnen eine bedingungslose Unterwerfung. Da die offene Konfrontation mit den gut ausgerüsteten Kolonialtruppen zu gefährlich wurde, griffen die Aufständischen mehr und mehr auf Praktiken des Guerillakriegs zurück. Sie konnten sich solange im Bergland halten, bis im Frühjahr 1792 in Europa die Revolutionskriege ausbrachen und Spanien in den Krieg eintrat. Ab diesem Zeitpunkt verbündeten sich die revoltierenden Sklaven, die offiziell für den König kämpften, mit den Spaniern und wurden von diesen mit Waffen versorgt. In der Westprovinz Saint-Domingues flammten unterdessen die Kämpfe zwischen Weißen und freien Farbigen von neuem auf. Die aus Frankreich entsandten Zivilkommissare versuchten vergeblich, die Kampfparteien zu versöhnen und mussten schließlich das Scheitern ihrer Mission eingestehen. Der Zerfall der Kolonie schien unmittelbar bevorzustehen.

In Paris war unterdessen ein neues Gesetz zur rechtlichen Gleichstellung der freien Farbigen erlassen worden. Die neue Nationalversammlung (Législative) beauftragte eine zweite Kommission mit seiner Umsetzung. Diesmal wurden ihnen mehrere Tausend Soldaten zur Verfügung gestellt. Die drei Kommissare Sonthonax, Polverel und Ailhaud begaben sich in den Hexenkessel eines kolonialen Kriegs, der zunehmend unübersichtlicher wurde und in eine Vielzahl von Teilkonflikten zerfiel – Ailhaud ergriff sehr bald die Flucht, die beiden anderen blieben. Die Fehden zwischen den weißen Kolonisten hörten mit dem Sklavenkrieg keineswegs auf, sondern verschärften sich sogar noch. Einzelne Zuckerbarone wie der Chevalier de Borel hielten sich Privatarmeen und fielen in Raubrittermanier in Nachbargemeinden ein. Nachdem die freien Farbigen der West- und Südprovinz sich erst einmal militärisch organisiert hatten, ließen sie sich nicht mehr demobilisieren. Sie blieben bis zur Unabhängigkeit ein politischer Faktor von Gewicht. Zugleich setzte eine Fluchtwelle ein, die viele weiße Kolonisten in die umliegenden Kolonien führte.

Die Kommissare Sonthonax und Polverel gehörten zum Jakobinerklub, dessen egalitäre Grundhaltung bekannt war. Die Kolonisten ahnten, dass hier zwei Feinde der Sklaverei mit quasi diktatorischen Vollmachten in Saint-Domingue gelandet waren. Der Jurist Sonthonax stieg bald zur prägenden Kraft der Kommission auf. Offiziell gehörte es zu seinen Aufgaben, die Unruhen einerseits, den Sklavenaufstand andererseits notfalls mit Gewalt zu beenden. Er nutzte seine Vollmachten, um die ihm feindlich gesinnte Kolonialversammlung aufzulösen, und begann, Farbige systematisch in militärische Kommandoposten zu bringen. Manifestierte sich offener Widerstand von Seiten der Weißen, ließ Sonthonax die Verantwortlichen verhaften und nach Frankreich verschiffen. Nachdem sich der ihm unterstellte Gouverneur Galbaud weigerte, mit ihm zusammenzuarbeiten, eskalierte der Konflikt in der Nordprovinz. Nur mit Hilfe aufständischer Sklaven gelang es Sonthonax, die in Cap verschanzten Anhänger des Gouverneurs niederzuwerfen. Koalitionsunfähig und nicht bereit, ihren Rassedünkel zu überwinden, hatten sich die weißen Eliten mehrheitlich gegen Frankreich erhoben und damit selbst ins Abseits manövriert. Sonthonax dekretierte im August 1793 die Abschaffung der Sklaverei, in der Hoffnung, damit einen Teil der inzwischen mit den Spaniern verbündeten Schwarzen auf seine Seite zu ziehen. Tatsächlich gelang es ihm, die meisten der ihm feindlich gesinnten Kolonisten aus Saint-Domingue zu vertreiben. Wenig später landeten im Süden und Norden englische Truppen, um die Kolonie zu erobern. Viele französische Pflanzer verbanden mit der englischen Invasion die Hoffnung, die alten Verhältnisse wiederherstellen zu können, und schlossen sich deshalb den Feinden Frankreichs an. Im Februar 1794 bestätigte der französische Konvent die Abschaffung der Sklaverei und dehnte sie auf alle kolonialen Besitzungen aus. Einer kleinen Gruppe intriganter Kolonisten war es inzwischen gelungen, die Abberufung der beiden Zivilkommissare zu erwirken, denen Verrat an der Revolution vorgeworfen wurde. Allein die Kolonialarmee und ihr Gouverneur Laveaux hielten nach der Verhaftung von Sonthonax und Polverel im Chaos des tropischen Mehrfrontenkriegs die Stellung.[14] Mit der Flucht vieler weißer Kolonisten waren die freien Farbigen auf republikanischer Seite zur prägenden Kraft aufgestiegen, als ein bis dahin kaum bekannter Offizier der schwarzen Revolte auf die Bühne trat, der schließlich zum Revolutionsführer aufsteigen sollte.

Toussaint Louverture, um den es hier geht, war 1743 als kreolischer Sklave auf der Plantage des Grafen Noé geboren worden. Er stammte direkt vom König der Arada (Dahomey), Gaou-Guinou ab, und er wusste um seine fürstliche Herkunft. Freigelassen, hatte er bis zur Revolution ein bescheidenes Dasein als Grundbesitzer mit eigenen Sklaven geführt und sich zu einem unbekannten Zeitpunkt der Sklavenrevolte angeschlossen.[15] Die Aufstandsführer Biassou und Jean-François verstanden sich nicht als Revolutionäre mit weitreichenden Visionen. Spanien hatte sie zu Verbündeten und Offizieren gemacht, und dies genügte ihnen. Toussaint Louverture befehligte in ihrem Auftrag die strategisch wichtige Ebene von Gonaives. Als er 1794 beschloss, die Seiten zu wechseln, befand sich die Republik gerade in einer wenig beneidenswerten Lage. Über seine Motive, die Seiten zu wechseln, ist viel gerätselt worden. Strebte er als Sprössling aus Fürstengeschlecht nach der Macht und nutzte dabei die Freiheitssehnsucht der Schwarzen nur als Vehikel, oder hatte er die Eroberung der Kolonie als Heimstatt ehemaliger Sklaven zu seinem Lebenswerk erkoren? Mit letzter Sicherheit lässt sich diese Frage nicht beantworten, beide Intentionen schließen sich keineswegs aus. Im Gegensatz zu den anderen schwarzen Aufstandsführern hatte er eine Vision, erwies sich als brillanter Feldherr und Politiker. Nachdem er sich der Republik angeschlossen hatte, begann er, die Mächte gegeneinander auszuspielen. Die Invasoren Spanien und England führten in Saint-Domingue einen Abnutzungskrieg gegen die französische Armee, ohne einen entscheidenden Sieg zu erringen. Währenddessen schonte Louverture seine Kräfte und stieg mit ihrer Hilfe nach dem Rückzug Spaniens 1795 zur beherrschenden Kraft der Kolonie auf. Seit 1797 Gouverneur der Kolonie, drängte er alle Vertreter Frankreichs nach und nach ins Abseits. Großbritannien musste einsehen, dass eine Eroberung der Insel nicht zu bewerkstelligen war, und zog sich 1798 zurück. Der Weg zur Macht stand Louverture nunmehr offen.[16]

Das Projekt des schwarzen Machthabers lässt sich mit wenigen Punkten charakterisieren. Unmissverständlich strebte er nach einem Autonomiestatus, wenn nicht gar nach der Unabhängigkeit von Frankreich. Es war nicht sicher, ob dies seinem Machtinteresse oder der realistischen Einschätzung zuzuschreiben war, dass die Abschaffung der Sklaverei nicht von Dauer sein würde. Das zweite Ziel bestand in der Wiederherstellung der Plantagenwirtschaft, allerdings ohne Sklaverei. Ein schwarzes Autonomieprojekt war ohne eine solide finanzielle Basis nicht zu realisieren, und Alternativen zur Zucker- und Kaffeewirtschaft gab es nicht. So führte Louverture neue Formen des Arbeitszwangs ein und rief weiße Kolonisten als Investoren ins Land.[17] Bis 1802 gelang ihm auf diese Weise ein beachtlicher Aufschwung, das Produktionsniveau blieb freilich weit unter dem der vorrevolutionären Zeit, was angesichts der kriegsbedingten Zerstörungen auch nicht weiter verwunderlich war. Doch die Masse der ehemaligen Feldsklaven hatte es satt, auf den Zuckerplantagen zu arbeiten. Sie strebten ein Dasein als Kleinbauern mit eigener Parzelle an, die allein der Selbstversorgung diente. Toussaint Louverture blieb zwar ihr Held, seinen politischen Visionen hingegen verweigerten sie sich. Als Napoleon 1802 kurzfristig Frieden mit Großbritannien schloss, entsandte er eine militärische Expedition nach Saint-Domingue, um dem schon weit fortgeschrittenen Autonomieprojekt Louvertures ein gewaltsames Ende zu bereiten. Zunächst kapitulierten die Schwarzen vor der Übermacht der französischen Streitkräfte, und der schwarze Gouverneur wurde gefangen genommen. Er starb bald darauf in französischer Festungshaft. Als die Sklaverei wieder eingeführt wurde, erhoben sich die Schwarzen. Ein verheerender, mit großer Grausamkeit geführter Guerillakrieg folgte, der 1803 mit der Niederlage der Franzosen endete. Die Kolonie erklärte am 1.1.1804 ihre Unabhängigkeit und nahm den Namen Haiti an. Der erste Staat Lateinamerikas lebte zwei Jahrzehnte mit der Gefahr einer gewaltsamen Rückeroberung durch Frankreich. Erst 1825 erkannten die einstigen Kolonialherren die Unabhängigkeit Haitis an, zwangen es aber im Gegenzug zur Zahlung einer hohen Entschädigungssumme an die ehemaligen Plantagenbesitzer.

Die siegreiche Sklavenrevolution hinterließ nicht nur in der Karibik und den USA, sondern auch in Europa einen tiefen Eindruck. Viele weiße Kolonisten aus Saint-Domingue waren nach Jamaica, Cuba, Venezuela und in die USA geflüchtet. Sie übten erheblichen Einfluß auf die öffentliche Meinung ihrer Gastländer aus. Unfähig, die eigene Verantwortung für den Sklavenaufstand zu erkennen, machten die karibischen Vertriebenen die „Philanthropen“, d.h. die Gegner der Sklaverei, für das hereingebrochene Unheil verantwortlich. Ihre Agitation hatte schwerwiegende Konsequenzen. Namentlich in Cuba und dem Süden der USA – Louisiana gehörte zu Siedlungsschwerpunkten der Flüchtlinge – hat sie die friedliche Beseitigung der Sklaverei um Jahrzehnte verzögert, galt doch eine Kritik an dieser Institution fortan als krimineller Akt. Zugleich hatten die Emigranten erheblichen Anteil am Aufbau der Plantagenwirtschaften ihrer Gastländer.

Doch die Revolution von Saint-Domingue kam auch den Gegnern der Sklaverei zugute. In einer Reihe von Ländern löste sie kleinere Aufstände der Zwangsarbeiter aus, die freilich ausnahmslos gescheitert sind. 1795 beispielsweise führte José Leonardo Chirino im venezolanischen Bergland von Coro eine schwarze Insurrektion an, die sich auf das Vorbild Saint-Domingues berief. Auch in Louisiana wurde die Lage bedrohlich. Die von den französischen Flüchtlingen mitgebrachten Sklaven standen im Ruf, mit revolutionärem Gedankengut infiziert zu sein.[18] In den spanischen Kolonien des nördlichen Südamerika verhalf der haitianische Einfluss den afrikanischen Zwangsarbeitern sogar zur Freiheit. Als die südamerikanische Unabhängigkeitsbewegung in die Defensive geraten war, erhielt Simón Bolívar, einer ihrer Führer, von dem damals bereits unabhängigen Haiti materielle Unterstützung. Im Gegenzug verpflichtete er sich, im Falle seines Sieges die Sklaverei zu beseitigen. Bolívar hat sein Versprechen gehalten.[19] Daneben prägt die haitianische Revolution das politische Bewusstsein vieler Afroamerikaner bis in unsere Tage. Der Triumph ehemaliger Sklaven über drei europäische Großmächte, ihre Machtübernahme und die Vertreibung der weißen Herren – all dies stand in einem so deutlichen Kontrast zur Lebenswirklichkeit amerikanischer Schwarzer, die wegen ihrer Hautfarbe von Geburt an schwerwiegende Nachteile erleiden mussten und die am Boden einer neuen, unangreifbar wirkenden „Rassen“-Hierarchie lebten: Die Sklavenrevolution lieferte den Beweis, dass solche Machtverhältnisse nicht ewig währen. Entsprechend interpretierten viele Afroamerikaner dieses historische Ereignis als Beweis ihrer eigenen Stärke.[20] Die Vergangenheit wird hier nicht akademisch angegangen – als tote Materie – sondern politisch – als Hoffnungsspender und Teil einer eigenen afroamerikanischen Erfolgsgeschichte, deren Abschluss noch in ferner Zukunft liegt.
Auch im deutschsprachigen Raum stieß das epische Ereignis des Sklavenkriegs auf breites Interesse.[21] Alle wichtigeren Bücher zum Sklavenkrieg wurden ins Deutsche übersetzt, so etwa Bryan Edwards‘: „Geschichte des Revolutionskrieges in Sankt Domingo“ (1798). Heinrich von Kleist, in der gleichen Festung wie der Aufstandsführer Toussaint Louverture inhaftiert, widmete dem Umsturz eine Novelle: „Die Verlobung in St. Domingo“. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass im frühen 19. Jahrhundert auf dem deutschsprachigen Buchmarkt weit mehr Titel über Haiti zu kaufen waren als in unseren Tagen. Über die Gründe für dieses Interesse lässt sich nur spekulieren. Die Revolution als welthistorisches Ereignis weckte Sehnsüchte gerade in jenen Ländern, in denen ein ähnliches Ereignis ausblieb. Als exotisches Thema profitierte es von der hohen Nachfrage nach Reiseliteratur. Zudem hatten die Schwarzen von Saint-Domingue mit Napoleon den gleichen Feind wie die deutschsprachigen Staaten Mitteleuropas, und in der Karibik wurde der Korse weit früher besiegt als in Europa.

Wie eingangs bereits erwähnt, gehört Haiti heute zu den ärmsten Ländern des Westens, und in vieler Hinsicht ist diese Armut eine späte Last des kolonialen Erbes. Die Sklaverei war ein überaus gewaltsames System, das die ihm Unterworfenen entzweite, moralisch korrumpierte und von jeglicher Bildung fernhielt. Die Sklaven hatten als Zwangsgemeinschaften keine gemeinsamen Traditionen und Normen. Nahezu mittellos wurden sie in die Freiheit entlassen. Die langjährigen Kriege bis zur Unabhängigkeit zerstörten die Infrastruktur der Kolonie und militarisierten die schwarze Gesellschaft. Die Nachbarländer behandelten die Schwarzenrepublik wie einen Paria. Zur Wiederbelebung seiner Plantagen fehlte das nötige Kapital. All dies waren denkbar schlechte Ausgangsbedingungen für die Gründung einer Nation. Die Freiheit bedeutete deshalb für das haitianische Volk einen Aufbruch in neue Abhängigkeiten. Den Preis für das Interesse unserer europäischen Vorfahren an Zucker und Kaffee zahlen die Nachfahren der Sklaven noch heute.

Quellen

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  1. Pluchon 1991: 40
  2. Bernecker 1996: 11-21
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  6. Heise 1996, Teuteberg 1980
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  20. James 1984
  21. Schüller 1992

Frankman, Myron J: A Planet-Wide Citizen’s Income: An Espousal, 27.04.08

If the authors who are my companions in this volume have done a convincing job, there should be no need for me to restate the principles on which the case for a citizen’s income rests. While there are probably no instances of universal national citizen’s incomes, it was common during the heyday of the welfare state to find a range of separate programs that, taken together, approached to varying extents the underlying tenets advanced by citizen’s income advocates. While these programs may have fallen short with respect to the income goal, they represented a clear recognition that egalitarian principles of income and opportunity must be incorporated in the institutional arrangements of a society. Harmonious social reproduction depends in part on the adequacy of one’s financial resources and entitlements.

The past several decades have witnessed major cutbacks in the extent of government-provided entitlements as tax bases have been eroded by the growth of offshore competition for production and placement of funds. While the opportunities for minimizing costs by moving to lower wage and lower tax jurisdictions are a very real threat to the tax base required for the preservation of equitable institutions, globalization has been used as a battering ram to dismantle safety nets and to suppress sentiments of solidarity. Indeed, there has been a relentless campaign to shed social support which is summed up in one shorthand word and an associated phrase: ‘neoliberalism’ and a ‘race to the bottom’. Robert Gilpin characterized this as the plight of national welfare capitalism in a “non-welfare international capitalist world”.[1]

Responding to the Race to the Bottom

James Meade, one of the early Nobel Prize winning economists (1977) and an early subscriber to life membership in BIEN, the Basic Income European Network, had the following to say about John Maynard Keynes: “His great appeal was that we should treat the whole economic problem as a unity and be prepared to present to the public a total solution which really did present a prospect of a radical solution of the problems of unemployment and of raising standards of living”.[2]

In the spirit of Keynes and Meade, I believe that we must treat the economic-social-political-environmental problems of our time as a unity and that unity must be planet-wide, not one that is circumscribed by national boundaries.

I believe our current predicament requires a scale shift in our thinking: it is urgent that we consider building a system of world federalism in which democracy characterizes governing structures from the local to the global. This is the radical solution for our time. I believe that a single world currency and a system of world public finance, including expenditures to provide a citizen’s income to every child, woman and man on this planet are essential if we take seriously poverty-elimination, preservation of peace and the realization of environmental sustainability.

This clearly requires a most ambitious task of discourse change, but I believe it to be essential. Systematic conditioning shaped our loyalties to imagined national communities and the associated solidarity and sharing with our fellow nationals. Today’s world requires imagining one or more higher level, broader-based communities as additions to our set of loyalties. Europeans are leading the way in having already embraced an additional identity. The realities of our evolving global society and physical environment require that we see ourselves as inextricably bound with the rest of humanity and the health of the planet itself.

This imperative to include the global dimension in our considerations in approaching an expanding set of issues, has been summed up by James Rosenau in what he terms a “Declaration of Interdependence”. He insists, in view of the ubiquity and diversity of boundary-spanning activities, that it is essential for us to go beyond both disciplinary boundaries and state-centric worldviews in our thought and action.[3]

Global Poverty, Global Riches and Global Redistribution

World income distribution commonly refers to a ranking of countries by per capita income. Comparison is often made between the richest countries containing 20% of the world’s population and a set of the poorest countries also having 20% of the world’s population. From these data ratios which are said to be of the income of the top 20 % to the bottom 20% of the world’s income, distribution are compiled. This ratio is estimated to have gone from 3:1 in 1820, to 7:1 in 1870, to 11:1 in 1913, to 30:1 in 1960, to 61:1 in 1991, and to 74:1 by 1997.[4]

A new perspective has been added to our discussion of world income distribution by the research at the World Bank by Branko Milanovic. He describes his work as the first to estimate world income distribution exclusively through use of household surveys (for 91 countries), thus ranking the world’s people, rather than the income of the world’s countries. His Gini coefficients of income inequality for 1988 and 1993 adjusted for differences in purchasing power parity are 0.63 and 0.66. In sharp contrast, if the purchasing power adjustment is not made the World Ginis are 0.78 for 1988 and 0.80 for 1993.[5]

Data on income distribution is still highly flawed and for many countries it is available only at infrequent intervals, if at all. Efforts to improve the quality of data have understandably focused primarily on the bottom of the income distribution, ostensibly reflecting a concern with the extent of poverty and whether progress is being made in its reduction. Efforts to improve the quality of the data at the upper end or even publicizing the extent to which concentration has increased has not been privileged to the same degree, especially by international organizations. Moreover, and this is the most significant point, there has been a clear methodological convergence on the use of household surveys for purposes of international comparisons. These surveys are recognized by most authors as being inadequate – indeed notoriously so – in capturing the concentration of income (and wealth) at the top of a distribution and in particular in the top 1%, 0.5% and 0.1%. This point is clearly demonstrated by Edward Wolff, one of the leading authorities on wealth in the United States who offers contrasting wealth Ginis for the United States of 0.69 (for 1988) and 0.84 (for 1989), with the latter figure based on data that over-samples at the upper end of the distribution.[6] Based on Wolff’s work, it is clear that 1) as sample size of the upper wealth groups approaches the entire set as a limit, the higher will be the Gini coefficient for both income and wealth and 2) the true figures for concentration of income and wealth will be even higher given the diverse ways of hiding income and assets.

It is also clear from the observations of Wolff and Anthony Atkinson[7] that Milanovic’s results, which indicate that the top 10% of the world’s income recipients received in 1993 50% of the world income and that the top 1% received 9.5% of world income, seriously understate the concentration of world income. Nonetheless, it is instructive to use Milanovic’s figures on income distribution as a basis for very rough calculations of the upper limit of tax burden that might be required to finance a Planet-Wide Citizen’s Income. Based on an estimated household world income of $30 trillion in 2000, a Planet-Wide Citizen’s Income of $1,000 per year for all the Earth’s inhabitants, which is equivalent to 1/5 of the average purchasing power parity world per capita income for 2000, could be financed by net supplementary taxes on personal income ranging from 35% to 43% on the top 10 percent of the world’s income receivers, whether resident in the global North or the global South.[8] The income guarantee would come to $2.74 per person per day, which would leave no one on the planet with an income less than $2 per day. Unlike the Millennium Development Goals (MDGs) which promise relief, essentially still through trickle down, to only one-half of the 1.2 billion people living on $1 per day and that only by the year 2015,[9] a Planet-Wide Citizen’s Income would put money in everyone’s hands once the commitment is made and mechanisms are in place to implement it.

It is imagined that the MDGs can be attained through a combination of the domestic efforts of poor countries supplemented by the long awaited realization of the Official Development Assistance (ODA) target of 0.7% of the gross national product of donor countries. Meeting the ODA target would provide less than US$200 billion per year, while, in contrast, the cost of a Planet-Wide Citizen’s Income, which would be a central element in a system of global public finance, would be at least 30 times larger. The International Monetary Fund’s Annual Report bears the motto “Making the Global Economy Work for All”. If the global economy is truly to work for all, we must begin to think of the mobilization of trillions of dollars of financial resources and no longer merely billions. And as has proven to be the case with the largely unmet 0.7% ODA target first enunciated in 1969, voluntarism must be replaced by enforceable obligations to pay taxes for global public purposes. As Dudley Seers observed in 1964, “internationally, we are still in the age of charity – with all it implies, in particular the power of the donor over the receiver”.[10]

The façade of global solidarity is maintained by proclaiming that ending poverty is the goal to which we are all committed. However, even a cursory examination of the rhetoric and reality of programs of poverty elimination, quickly reveals that income poor people and countries are expected to essentially pull themselves up by their own bootstraps, in a way that was not expected in post Second World War Europe, Japan, Korea and Taiwan which were all beneficiaries of massive financial grants for their reconstruction during either the Marshall Plan years or the 1950s.

Income and wealth is so concentrated within countries and world-wide in the hands of individuals and corporations, that one doesn’t have to search far for a suitable tax base for a Citizen’s Income, either on a national or world scale. The solution is the tried and true one of progressive income and profit taxation, possibly supplemented by wealth taxes. The challenge is to change the societal discourse to privilege once again the centrality of the public good and to embark on a multi-faceted campaign to restore taxes to levels that prevailed a few decades ago in the global North, to secure global agreement to abandon tax competition and to end the special regime of tax havens.

Returning income and profit taxes to marginal rates that existed in several countries (including the United States) in the 1960s could help finance an expansion of expenditures for public purposes at home and abroad (including a Planet-Wide Citizen’s Income). When Keynesian economics held sway during the first post-World War II decades, there was commitment to policy frameworks which were broadly supportive of mitigating social exclusion and the narrowing of gaps between the haves and have-nots within major industrial societies. The shift in recent years has been extreme. Blaming the victim is again in fashion and some, in apparent paraphrase of Proudhon, insist “taxation is theft”. In consequence, income may be sheltered, legally or illegally, thanks to the able advice of specialists.[11]

Kevin Phillips reminds us, for example, that the United States during the 1950s had six different tax brackets for people in the top 2% of the income distribution.[12] At that time the maximum marginal rate in the US was 91%. A reduction to 70% was reversed during the Vietnam War in the 1960s, the maximum marginal rate reaching 77%. Today the maximum is 38.6% for any taxable income above $307,050. Substantial tax rate reductions have been common throughout the OECD during the past quarter century.[13]

A similar picture of concentration emerges when we consider wealth and corporate profits. Matching Forbes Magazine’s 2002 list of billionaires with the UNDP’s figures for GDP of the world’s 64 low-income countries for 2002, we find that the wealth of the richest 191 individuals was just slightly greater than the total income of the low-income countries, which according to the UNDP’s figures accounted for 40% of the world’s population.[14] A combination of coordinated national wealth taxes and a system of world public finance in which the role of havens as a refuge from taxation is brought under control[15] also offers the prospect of tapping some of the world’s extreme wealth to support a Planet-Wide Citizen’s Income. To continue with a comparison using the cohort of low-income countries: in the Fortune magazine 2004 ranking of the world largest corporations, the combined annual revenues of the top 6 exceed the combined GDP of the low-income group of 64 countries. More to the point is that the profits of the companies on this list also represent a potential tax base for financing a Planet-Wide Citizen’s Income, were we to have a system of world public finance. The combined profits of the Global 500 companies easily exceed the roughly $1.1 trillion GDP of the cohort of low-income countries.

Once again official figures are likely to understate the total profits, especially of firms which operate globally and can take full advantage of inconsistencies in the tax treatment of diverse jurisdictions as well as resorting to the use of tax havens. Profit levels are only in part a reflection of the market successes of corporations; they also reflect the revenue-raising idiosyncrasies of multiple jurisdictions, including the complex interrelations between the corporate profit tax and the personal income tax, and decisions by corporate executives and/or boards as to how revenues are to be allocated. Suffice it say, that the profits of global corporations in particular should not be overlooked as one of the potential sources for funding a part of a Planet-Wide Citizen’s Income.

A Pilot Project

Is there anything that can be done immediately while we are engaged in the arduous work of changing societal perception? Is there an initiative that might convince doubters and reinforce our own spirits? Perhaps. In the 1970s a number of income guarantee experiments were conducted in the United States and Canada.[16] Available research on the outcome of these studies is limited as most were brought to a premature end as hostility to the very idea of an income guarantee grew. The present moment could well be a remarkably opportune time to launch a new pilot study, this time a country-wide project that would target one of the world’s poorest countries. As the Millennium Development Goals, which are largely being stage-managed by the World Bank and the International Monetary Fund, are scheduled to run to 2015, there is time to gather support to conduct a 5 year pilot, the results of which can be compared to MDG results.

The wedge in the door is the fact that – one-third of the way into the time horizon for the achievement of the MDGs key goals – these are not being met for the improvement of the conditions of the poorest countries. A joint press release on 12th April, 2005 of the World Bank and the IMF called for “bold and urgent action” to reduce extreme poverty, observing that progress toward the achievement of the MDGs “has been slower and more uneven across the regions than originally envisaged, with Sub-Saharan Africa falling far short”.[17]

For the World Bank and the IMF bolder action is that of bootstrapping by the poor countries and meeting the 0.7% ODA target by the rich countries. To this near placebo “control” I would propose an evidence-based comparison using a pilot targeting one of the world’s poorest countries as a recipient and forming a “coalition of the committed” to fund a Country-Wide Citizen’s Income of $1 per day for all. One possible candidate is Mali, which is at almost the very bottom of the UNDP Human Development Index ranking. At last published report (possibly for 1992) over 70% of the population was living on less than $1 per day. A citizen’s income for all at $1 per day, for a population of around 15 million, would cost $5.5 billion, which is more than double its 2001 GNP. This trial calculation compares to 2001 net ODA per capita received by Mali of $29 or 8¢ per person per day.

Can it be done? Is it feasible? An ILO report provides details of a $1 per day universal senior’s pension in place in Namibia, with each pensioner having an electronic identification card and mobile banks making the rounds once a month to make the payments.[18] One of my mentors, Benjamin Higgins noted “the reallocation of resources involved was much greater in the fighting of a major war than is required for economic development”.[19] The annual sum proposed for a citizen’s income guarantee in Mali is a fraction of that spent in waging a war in Iraq, a country whose population exceeds that of Mali by only 60%. We have a good idea of what wars can do; why not try to see what an income guarantee can do? Overcoming poverty by ‘waging’ social justice may well be the moral equivalent to war for which William James was searching one century ago.[20]

Conclusion

A Planet-Wide Citizen’s Income could eliminate in one stroke income poverty in the global South. An income guarantee giving people the real freedom to meet their needs in their home countries, could eventually create a world in which border controls could be eliminated. In contrast, our present system is one of global apartheid, where the opportunity of even cross-border travel is increasingly denied to many. In countries where ethnic tension prevails, a citizen’s income for all could well be a peace-preserver, which is less costly in every sense than post-conflict reconstruction. For the world as a whole, if the fruits of human inventiveness and ingenuity are shared widely, then the national quests for economic competitiveness may be dethroned as a central influence on public policy.

To the question “What can I do?” Susan George offered the following counsel, which still rings true, almost 30 years later: “study the rich and powerful, not the poor and powerless”.[21] There is undoubtedly ample room at the top for financing a program that could contribute to global security by instituting a Global Citizen’s Income through increases in income taxes on the world’s richest and supplementary taxes on corporate profits. These are the days when the slogan “another world is possible” is commonly spoken of. One possible world might include poverty alleviation and “real freedom for all” world-wide through a Planet-Wide Citizen’s Income embedded in a system of world democratic federalism. This requires a major rethinking of how we see the world. Anything less is likely to maintain us on our collision course with planetary disaster.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Gilpin, Robert: The Political Economy of International Relations. Princeton: Princeton University Press, 1987, pp. 60-64.
  2. Moggridge, D.E.: Maynard Keynes: Maynard Keynes: An Economists‘ Biography. London/New York: Routledge, 1992, p. 726.
  3. Rosenau, James: “Pieces on Our Craft: Declaration of Interdependence,” in: International Studies Perspectives, no. 6, Feb. 2005 (inside back cover).
  4. Human Development Report 1999, United Nations Development Programme, p. 3.
  5. Milanovic, Branko: “True World Income Distribution, 1988 and 1993: First Calculations Based on Household Surveys Alone”, in: The Economic Journal, no. 112, 2002, p. 72.
  6. Wolff, Edward N.: Top Heavy: The Increasing Inequality of Wealth in America and What Can Be Done About It. New York: The New Press, 2002, p. 88.
  7. Atkinson, Anthony: “Top Incomes in the United Kingdom over the Twentieth Century”, Dec. 2003, p. 38.
  8. Frankman, Myron J.: World Democratic Federalism: Peace and Justice Indivisible (International Political Economy). New York/Houndmills: Palgrave Macmillan 2004, p. 155.
  9. MDGs can be found here.
  10. Seers, Dudley: “International Aid: The Next Steps”, in: Journal of Modern African Studies, no. 2, Dec. 1964, p. 475.
  11. For examples to this see the reports of the OECD’s Financial Action Task Force on Money Laundering.
  12. Phillips, Kevin: “Too Much Wealth, Too Little Democracy”, in; Challenge, no. 45, Sept-Oct 2002, pp. 17-18.
  13. Kato, Junko: Regressive Taxation and the Welfare State: Path Dependence and Policy Diffusion (Cambridge Studies in Comparative Politics). Cambridge: Cambridge University Press, 2003.
  14. “The World’s Richest People”, in: Forbes (online), Feb 26, 2004.
  15. One estimate places the wealth held in tax havens at $6 trillion, well over 10% of the varying figures of the no doubt underestimated world gross product. See: Hampton, Mark P./Cristensen, John: “Offshore Pariahs? Small Island Economies, Tax Havens, and the Reconfiguration of Global Finance”, in: World Development, no. 30, 2002, pp. 1657-73.
  16. Hum, Derek/Simpson, Wayne: “Economic Response to a Guaranteed Annual Income: Experience from Canada and the United States”, in: Journal of Labor Economics, vol. 11, Jan. 1993, pp. S263-S296.
  17. World Bank Press Release no. 2005/424/S.
  18. Schleberger, Eckhard: “Namibia’s Universal Pension Scheme: Trends and Challenges”, in: ESS Paper No. 6, 2002, ILO Social Security and Development Branch.
  19. Higgins, Benjamin: Economic Development: Principles, Problems and Policies. (rev. ed.), New York: W.W. Norton & Co. 1968, p. 492.
  20. William James: “The Moral Equivalent to War” (1906).
  21. George, Susan: Racism, Health, and Post-Industrialism: A Theory of African-American Health. Harmondsworth: Penguin Books, 1976, p. 289.

Karsch, Margret: Die Spaltung der wissenschaftlichen Zunft, 31.01.08

Schon jetzt zeichnet sich in Deutschland eine Kluft ab zwischen einer akademischen Elite, deren Forschung überaus großzügig gefördert wird, und WissensarbeiterInnen, die ihre Projekte neben der Lehre mit geringen finanziellen Mitteln und viel Idealismus betreiben.

Die zweite Runde der Exzellinitiative läuft. Endlich steht fest, welche acht deutschen Universitäten beim Wettstreit um den Titel „Eliteuniversität“ an diesem Finale teilnehmen werden. Im Oktober wird dann die Entscheidung fallen. Schon jetzt zeichnet sich in Deutschland eine Kluft ab zwischen einer akademischen Elite, deren Forschung überaus großzügig gefördert wird, und WissensarbeiterInnen, die ihre Projekte neben der Lehre mit geringen finanziellen Mitteln und viel Idealismus betreiben.

Wer mehr Zeit und Arbeit in die Vorbereitung von Lehrveranstaltungen steckt, dem bleibt weniger Zeit für andere Forschungsarbeiten. An staatlichen Universitäten lässt sich ein Phänomen beobachten: Engagierten ProfessorInnen stehen einige schwarze Schafe gegenüber, die sich aus der Lehre in exklusive Forschungsfelder zurückziehen. Die Studierenden sehen diese oft hochkarätigen WissenschaftlerInnen nur selten in den Seminaren – zumindest in den Anfängerkursen. ForscherInnen, die sich nur nachrangig auch als Lehrende verstehen, kommen ihrer vertraglich festgelegten Lehrverpflichtung bevorzugt in Form von Veranstaltungen für fortgeschrittene Studierende nach und delegieren die Lehre oft an ihre AssistentInnen. Dies bringt zwar nicht automatisch einen Qualitätsverlust von den Vorlesungen und Seminaren mit sich, entspricht aber sicherlich nicht den Erwartungen der Politik, der Universitäten oder der Studierenden.

Wer in der Wissenschaft Karriere machen will, muss vor allem relevante Forschungsergebnisse liefern und Kontakte knüpfen.

Das Engagement in der Lehre ist demgegenüber weniger wichtig – dies suggeriert die Entwicklung der Hochschulpolitik. Diese Bewertung hat fatale Folgen: Es kommt zur Spaltung von Forschung und Lehre, während deren Verbindung doch bisher ein Kennzeichen der deutschen Wissenschaftslandschaft bildete. Die Lehrdeputate der immer weniger werdenden hoch bezahlten ProfessorInnen verringern sich insgesamt. Gleichzeitig steigen vielerorts die Lehrverpflichtungen für den Einzelnen, und für den laufenden Betrieb der Studierendenausbildung werden zunehmend Lehrbeauftragte eingestellt.

Deren Bezahlung liegt trotz Vollzeittätigkeit oft auf Hartz-IV-Niveau: An niedersächsischen Universitäten erhalten promovierte Lehrbeauftragte einen Stundensatz von 28,22 Euro. Bezahlt werden aber nur die gehaltenen Stunden. Bei 28 Stunden pro Semester beläuft sich die Vergütung auf 790,16 Euro brutto für sechs Monate, das sind rund 131 Euro pro Monat. Acht Lehraufträge wären also nötig, um den Lebensunterhalt zu bestreiten und wenigstens die wichtigsten Versicherungen zu bezahlen – für die Altersvorsorge reicht es schon nicht mehr. Der Arbeits- und Zeitaufwand für Vorbereitung, Sprechstunden, Hausarbeitenkorrektur, Prüfungen sowie An- und Abreise bleibt unbezahlt, füllt bei acht Lehraufträgen aber leicht mehr als eine 40-Stunden Woche.

Es werden auch feste Stellen nur für die Lehre ausgeschrieben, um das Angebot zu erweitern: Von einer „Lehrkraft für besondere Aufgaben“ werden durchaus auch schon mal 18 Semesterwochenstunden gefordert. Die Vorteile einer festen Anstellung liegen auf der Hand, aber im Unterschied zu wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, die dasselbe Gehalt beziehen, bestehen kaum Möglichkeiten zur Weiterqualifikation oder zur Vernetzung innerhalb der Universitätsstrukturen, abgesehen von Tätigkeiten im Bereich von Verwaltung und Organisation. Für Forschung bleibt keine Zeit. Zudem sind die Stellen von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen in der Regel befristet. Selbst die Habilitation bringt keine Planungssicherheit: PrivatdozentInnen sind sogar dazu verpflichtet, zu unterrichten, um ihre Lehrberechtigung nicht zu verlieren. Viele reisen deshalb täglich quer durch das Land von Uni zu Uni, um unbezahlt Veranstaltungen abzuhalten.

Das akademische Prekariat in Deutschland wächst. Auch wenn die Arbeitslosigkeit von HochschulabsolventInnen mit fünf Prozent sehr viel niedriger ist als im Bevölkerungsdurchschnitt, so garantiert ein Universitätsabschluss längst kein höheres Einkommen mehr. Dies gilt zumindest für GeisteswissenschaftlerInnen: Wie Lehrbeauftragte sind beispielsweise auch viele LektorInnen und ÜbersetzerInnen von einem Mindestlohn von 7,50 Euro für Geringverdienende, wie er von den Gewerkschaften gefordert wird, weit entfernt.

Der Bologna-Prozess befördert eine Entwicklung, in der die Lehre an Reputation verliert – auch bei Studierenden, wie eine Anekdote aus dem Universitätsalltag zeigt: Per E-Mail meldete eine Studentin sich bei Ihrer Dozentin: Sie wolle gerne einen Schein erwerben, könne leider wegen eines Praktikums bei einer Fernsehanstalt aber nur an der letzten Sitzung des Semesters teilnehmen. In dieser Anfrage offenbart sich der Wert, den die Studentin dem Studium im Allgemeinen und der Lehre im Besonderen gegenüber dem Praktikum zumisst. Und die Realität scheint sie zu bestätigen: Vitamin B ist ein wichtiger Faktor beim Berufseinstieg.

Der Ansehensverlust der Lehre erscheint paradox angesichts der staatlichen Bildungsinitiativen, die die Politik seit dem Schock der PISA-Studien propagiert. In der Schule wie in der Universität geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um das Üben von kritischer Distanz, Reflexions- und Urteilsvermögen. Doch das Bildungsideal von Wilhelm von Humboldt, das eine Ausbildung der Persönlichkeit umfasst, rückt an den Universitäten gegenüber dem ökonomischen Zweck der Ausbildung immer weiter in den Hintergrund, während es in der Schule gestärkt werden soll. Es erscheint als überflüssiger Luxus.

Von Nachhaltigkeit lässt sich angesichts dieser Entwicklung kaum sprechen. Studierende, die für ihre akademische Ausbildung bezahlen, werden Qualität in der Lehre einfordern. Die aktuelle Entwicklung gibt jedoch Anlass zu der Befürchtung, dass die Qualität wegen der mangelnden gesellschaftlichen Wertschätzung, die sich auch ökonomisch äußert, sinken wird. Darunter werden auch innovative wissenschaftliche Felder leiden, die wie die Gender Studies noch nicht als Kernkompetenzen fest an den Universitäten verankert sind.

Die Attraktivität des Berufsfelds „Wissenschaft“ beschränkt sich immer mehr auf ein elitäres Segment. Ob dieses System kollabiert, ist dennoch fraglich. Denkbar ist vielmehr, dass sich die Kluft zwischen sogenannter „Elite“ und Prekariat verbreitert – in der Wissenschaft wie in der Gesellschaft insgesamt.

Dieser Beitrag erschien zum ersten Mal im Magazin Cultura 21.

Heinrich, Caroline: In Search of the Child’s Innocence, 28.01.08

(translated from the German by Alan N. Shapiro)

Die Schaffung von Werten befindet sich im Spielplatz der Kinder”, schreibt Caroline Heinrich in diesem zum ersten Mal auf Englisch und exklusiv im AVINUS Magazin publizierten Essay. Die ausgewiesene Baudrillard-Expertin erklärt, warum die Unwissenheit der Kinder die ursprüngliche Quelle westlicher Wertvorstellungen ist.

Introit: Denial and Affirmation of Life

I begin with a quotation. „The child is innocence and forgetfulness, a new beginning, a sport, a self-propelling wheel, a first motion, a sacred Yes,“[1] writes Nietzsche in Zarathustra. The child is innocent because she starts all over again from scratch. She starts from the space of emptiness that the lion has carved out. The space of emptiness is the space that has been emptied of the values of Western thought—values that the lion has corrupted. Exposed during the process of the radical destruction of these values is the fact that they signify „nothing.“ They are based on a will to nothing, a denial of life. The metamorphosis of the lion into the child thus takes place at the moment of an „implosion into No.“ This is the moment when the will that only denies must, in the final reckoning, deny itself.

The crucial point to be grasped here is this: for the invention of radically new values to occur, it is first absolutely necessary to achieve the void of values.

I want to investigate the question of why the creation of values—based as it is on the fundamental rule of the saying-yes to life—is to be found more than anywhere else on the playing field of the child. I will divide my inquiry into six parts. First, I will underscore a critical opposition: what is the difference between the premises of Western value-production and the childish creation of values? Second, I will say something about the problem of singularities. Third, I will consider whether one can detect a Nietzschean trace of the „child’s innocence“ in Jean Baudrillard’s thought. Fourth, I will demonstrate that the playing field of the child is shaped by her perception of the pataphysical refinement of the world. Fifth, I will establish why the destructive desire towards the object is unknown to the child. Finally—enlightened by this last insight—I will briefly reflect once more upon the topic of singularity.

I
Western Value-Production and
Childish Value-Creation

According to Nietzsche, metaphysical Western thought is based on measuring the correlation between the value of an ethical principle and the degree of its reality.[2] The assumption is that the highest ethical value would have the greatest reality. Within this worldview, „good“ is connected with truth, reality, reason, being, order, unity, causality, and so on. „Evil“ is associated with untruth, illusion, sensuality, nothingness, disorder, multiplicity, chaos, etc.

Western morality says: the good is the true, the true is the real, and the real is substantial. The Nietzschean child replies: your truth doesn’t interest me, I know nothing of substance, and I am stumped by what you call reality. Western morality says: the good is a principle on which you should act. The Nietzschean child replies: I know no principle, I know only exceptions, and my sporting game is different every time. Morality says: this is good, do this, this is good, do this. The child objects: well, that depends (es kommt darauf an).

II
The Singularity

„That depends“ means: a singular constellation exists at a certain moment. At that moment, the Nietzschean child makes her judgment about „good“ and „evil.“ An example: in the old order of values, pity for the suffering of others is a value in itself. In addition to limitless hypocrisy, this leads to the condemnation of those who do not suffer, those who do not wish to suffer, and those who do not place any special value on having sympathy for their inherited environment. Against this, the pity of the Nietzschean child is expressed in the following remark by Nietzsche: „I frequently feel ‚pity‘ where there is no suffering, but rather (…) a lagging behind contrasted to what might have been.“[3] The pity of the Nietzschean child grounds the perception of the denial of becoming. It recognizes that active forces get severed from the property of affirmation by reactive forces. The pity of the Nietzschean child is not necessarily related to the real suffering or not-suffering of others. It is not a „good“ value in itself, no more than an instance of destruction would be a non-value in itself.

III
The ‚Child’s Innocence‘ chez Baudrillard

I come now to the question of the trace of the „child’s innocence“ in Baudrillard’s thought. It shows through in his concept of the „insurrection of singularities“ against the system of generalized exchange.

In 1976, Baudrillard wrote about the architecture of the World Trade Center—the twinness of the Towers, their binary character, their doubling of monopoly capitalism. He explained that we survive in a system where there is no longer difference and where all social spheres have become interchangeable. Marx had already grasped that „the movement of capital is without measure.“[4] Baudrillard has made it clear just how without measure the movement of capital has become — so measureless that it has abolished all referentiality. Today pay and work are completely decoupled from each other. Work and leisure time are melded together in „lifestyle design.“ We will take trade unions seriously again when they start to demand the doubling of salaries and „the right to be lazy“ for anyone who wants it.

Work no longer serves production. It serves the reproduction of designed women and designed men. We are all designed not designing. And so we shall remain—until the day comes when we finally say aloud what we all have secretly been thinking for a long time: we don’t believe in productive work, nor in growth, nor in progress, nor in the state bureaucracy of Big Brother.

Politics is dead. Edmund Stoiber [Governor of Bavaria and 2002 Chancellor candidate of the German Christian Democratic Union] said it very well recently: „Our decision-making processes are no longer competitive,“[5] he complained.

Baudrillard has shown that our society is a pornographic film studio. As in porno, it shows everything. Truer than true, realer than real, hyperreal. It produces only indifference and appearance, while at the same time hating appearance and – above all – seduction.

Baudrillard has explained why this logic of indifference—in the labor force, in the operational structures, in the networks—leads to the total surveillance of individuals and to the „impounding“ of their lives.[6] He has made us see the sadness of this society—where we are no longer allowed to flip the „off“ switch; where we are no longer asked but tested; where we are not permitted to be silent (even when we have nothing to say); where we are not allowed to break the chain of communication; where we are required to know everything about ourselves; and where we are only permitted to fall in love with someone matching our „personal description.“

Baudrillard has uncovered the negative passion and self-hatred of this society. He has exposed the suffering of a society that ensures the adventure vacation while doing away with all real adventure. Declaring every catastrophe to be a security problem, we do not feel our suffering. Substituting for real feelings, our secret admiration for the counter-violence of terrorism enters the game.

Baudrillard has shown that forces truly oppositional to the system would have to strike not on the level of political difference (a demolished arena which still exists only in the images of the system’s advertisements for itself), but on the level of the system’s indifference. Like the „I Love You“ virus, which brought entire networks to their knees, and reduced this oh so perfect system to total ridiculousness. This little coquettish love virus showed how prone to breakdown systems that aspire to perfection become.

What resists a system of generalized exchange is not those forces which assert themselves in dialectical, differential, or oppositional relation to the global system, but rather those forces which cannot be integrated or liquidated by the system: singularities. Differences that participate in the global „advertising campaign“ for the universal values of freedom, democracy and human rights are granted inclusion by the system of power. Singular radical otherness does not seek inclusion.

Here I have a doubt about Baudrillard’s position. On one side, Baudrillard writes that singularities are neither positive nor negative. They do not represent an alternative. They belong to another order. They obey no value judgment. They submit to no reality principle. But on the other side, Baudrillard sees in our cultural forms of self-hatred and bad conscience a „negative passion.“ It is a form of reacting that he calls „degraded.“[7] In an article about the strike of so-called „cultural creators,“ Baudrillard speaks of a „justified revenge against the spectacle by the spectacle-people themselves.“[8] This begs the question: what would be an „unjustified revenge“? Or: in what does the justice of the justified revenge consist?

I do not take issue with Baudrillard’s statement that singularities submit to no value judgments. The problem for me is that – and as a great fan of Baudrillard’s philosophy I hesitate to say this – he stops short of connecting the insurrection of singularities to the gathering emergence of the „child’s innocence“ as prophesied by Nietzsche. Baudrillard preserves in something of a fog this real breakout possibility for radical otherness.

A very delicate question, for example, is whether, in contrast to the „negative passion“ of our cultural self-hatred, one can comprehend terrorism as a „positive passion.“ Baudrillard’s commentary on the singular Event of September 11, 2001 suggests that viewpoint. In other words, one can infer—or make the supposition—that Baudrillard links the term „degraded“ to passivity and „not degraded“ to activity. In its open violence, 9/11 would be „activity.“ In its destructive abreaction to the system, 9/11 would nonetheless be a „positive passion.“ To a system that requires one to accept everything, to which one cannot give anything back, to which one cannot talk back, 9/11 would not be a degraded reply. It would not be a „degraded form of the impossible counter-gift,“ but on the contrary would have to be understood as a „successful symbolic exception.“

Why successful? Because to confront a system that excludes death with the dead victim means in fact to humiliate that system. The system, for its part, has no effective answer to this death. Only the Twin Towers themselves knew the appropriate and commensurate symbolic response. Successful? Because the terrorist singularity revenges „all those singular cultures that have paid for the inauguration of the world’s only superpower with their own disappearance.“[9]

I doubt, however, that the Native Americans Big Foot [tribal chief of the more than 200 Miniconjou Lakota Sioux who were massacred in 1890 by the U.S. Seventh Cavalry] and Buddy Lamont [an Oglala Lakota killed by U.S. government forces during the 1973 siege at Wounded Knee] would have agreed to this form of revenge. „Agreed or not,“ Baudrillard would perhaps now think, „what is at stake here is a fundamental rule.“ „Of course!“ I think back. But that is precisely the problem. Baudrillard writes that, at a certain point, „the fundamental rule always wins.“ A unidirectional gift can only be answered with a „violent abreaction“ (strike, terrorism, etc.).[10] But is it not the case that Baudrillard wants, above all, to show that revenge – as a symbolic form of reversibility—confirms this fundamental rule? That he wants to make clear that neither society nor the world can bear a principle of unity?

I do not believe that the only important thing to decide is if something is a singular exception. It is not sufficient to say that singularities are decisive regardless of whether they embody our best or our worst. It is not enough to correlate the valuation of a „degraded“ or „not degraded“ form of reacting with the criterion of passive or active. I think that the valuation of singularities must take as its point of departure the meaning of the illusionary act of a Nietzschean child.

Of course, from the standpoint of the „good system,“ singularities are „evil.“ They are so radically other that they do not allow themselves be integrated into the „system of good.“ The system tries nonetheless every time to do exactly that: to integrate them, to assimilate them. „Recognition of difference“ is perhaps the most hypocritical way of achieving the elimination of the radical other. The other is „understood,“ even when she does not at all want to be understood. As far as the system is concerned, her story should be narrated as a digestible romance of identity and difference, rendered useful as an advertisement for cultural difference. Baudrillard writes about this „risibility of our altruistic ‚understanding‘.“ „For ‚We respect the fact that you are different‘ read: ‚You people who are underdeveloped would do well to hang on to this distinction because it is all you have left‘. The signs of folklore and poverty are excellent markers of difference.“[11] And futher: „nothing could be more contemptuous—or contemptible.“ The radical other is allowed to be our difference, but not to give us anything. Above all, she must not irritate us by being a non-understandable other. Consider the category of „misappropriated development aid,“ which designates the circumstance of the specified purpose of the aid getting lost. In a Mexican slum, a development aid worker broke out in tears because donated plastic container toilets, intended for the improvement of hygiene, were used by the inhabitants for chicken breeding.

The observation that, from the standpoint of the „good system,“ singularities are „evil,“ can be reverse-formulated. The „evil“ singularities are an illusionary „good,“ an obscene „good.“ They oppose themselves to a completely degenerated system. A multiplicity of singularities defends itself against the principle of unity. One can cheer the chicken breeding of the slum residents as a re-enchanting tear in the system.

But there are also less enchanting tears. Baudrillard writes: „It is intolerable for the ‚free‘ world that in a certain territory [Afghanistan], ‚democratic‘ freedoms—music, television, or even the face of wome—can be forbidden. That a country can do the exact opposite of what normally goes by the name of civilization.“[12] But is it only intolerable for those who still believe in the decaying delusional idea of universal values?

I find it intolerable that music is forbidden to be heard. I find it intolerable that the face must veil itself. But the taboo in a certain territory [France] on wearing a head scarf exemplifies the vanishing into neutrality of every value in the West, the dissolving of all the West’s values into nonpartisan nothingness. The argument for the French law is that the Muslim head scarf is a „political sign.“ Translation: the unpolitical and the neutral are the „good signs.“

Baudrillard would cite them both as insurrectional singularities against the global system. But for me there is a critical difference between the „détournement“ [diverting] of the plastic container toilets for chicken breeding practiced by the Mexican slum residents and the Taliban’s prohibition of music and faces. In the Mexican chicken breeding, I see a singularity that defends singularity in itself. In the other kind of „exception“ to global capitalist-consumerist culture, this is not the case. And it is the Nietzschean child who is at play here. Zarathustra’s First Discourse. Metamorphosis of the Third Kind. The Lion into the Child. First Contact with the Foundational Property of the Will to Power. It is the nurturing of this will that legitimates the judgment that is – at last and for the first time – able to discriminate between the denial of life and the affirmation of life. „Yes, a sacred Yes is needed, my brothers, for the sport of creation.“[13]

Why does Nietzsche choose the figure of the child? The child takes up her ground against the Old Man of Hegel who has reconciled himself with the dried-up „concrete“ of life. Hegel’s Old Man – for whom all is already said and done – À l’Ouest rien de nouveau? – is content [man muss zufrieden sein] with „this here“ reality that he has dubbed to be good and reasonable. From which he has excluded everything „unreasonable“: chance, sensuality, possibilities. Hegel writes: „In ordinary life one calls even the most dwarfed and ephemeral existence by accident a reality. But even our most common feelings confirm that a contingent existence does not merit the emphatic name of the real. Contingency is an existence that has no greater value than something that is merely possible, that might as well not be as be.“[14] The accidental— because it is merely something possible—has, for Hegel, no value. It has no „reality“ value and thus no „moral“ value. And so it goes!

For the child—in her „first motion,“ in her impossibility of being hard-wired to experiences—accident and possibility have value. Her world is the aleatory world of objects. Her reality is saturated through and through by that which—according to what Hegel thinks—does not deserve the name of the real. The world of Hegel’s Old Man is a metaphysical reality. The child’s world is post-metaphysical or pataphysical.

IV
Pataphysics: Photography and the Child

The world in photography is the world of the child. Baudrillard writes: „The joy of taking photographs is an objective delight. Whoever has not experienced the objective rapture of the image one morning in town or desert will never in any way understand the pataphysical refinement of the world.“[15] The child understands this pataphysical refinement. Pataphysics is the condition for what Nietzsche calls the beginning of the creation of new values—the brave new world where saying yes to life will really count for the first time.

Baudrillard has reflected brilliantly on photography. How is it, he asks, that the photo—which does not exist in advance—is able to document anything? The photo is illusionary. The objects thereby illuminated at the same time announce their own disappearance. What is depicted exists no longer in this way. The photo is illusionary in its „discreet charm of a previous life.“[16] It is artificial because it seizes in interruptions the uninterrupted course of events. It freeze-frames an unrepeatable moment. It is a clipping, the snapshot of a clipping. It is unique, singular, incomparable. About its meaning it remains silent. It has no meaning. It has no reference. It has no measure. Like the world, the photo lacks nothing. Like the world, it gets along fine without us. It is what it is. Or, in reverse, the world—back-transmitting through technology and photography—is everything that metaphysical Western thought does not want to think. The world is „evil“: illusionary, unreal, meaningless, disordered, singular…

Baudrillard’s reflections on photography are themselves „evil.“ „Against the philosophy of the subject and the contemplating gaze,“ they are an „anti-philosophy of the object.“[17] In the photographic act, the subject disappears. She instead occupies the „unseen site of representation.“[18] The subject must mentally empty herself like a film negative. In her body posture, the photographer must snuggle up to the „posture of objects.“ In relation to the judgment of metaphysical philosophy—for which it is the subject who thinks the world—the relative values of subject and object get reversed. Baudrillard grasps that photography only has „sense“ at all when the „fundamental rule“ is observed: „It is the object which sees us, the object which dreams us.“[19]

„Every press on the shutter-release,“ writes Baudrillard, „which puts an end to the real presence of the object, also causes me to disappear as subject, and it’s in this reciprocal disappearance that a transfusion between the two occurs.“[20] Every press on the shutter-release sends one tumbling through the looking-glass into the „inverse“ world of the child. The child’s world is an „evil“ world. For the child, there is, in any case, no „real presence of objects.“ She knows no reality principle—“for illusion isn’t the opposite of reality.“ She is always absent from herself as subject. In the „reciprocal disappearance“[21] of „real“ object and „real“ subject, it is the child who stands fundamentally in this relationship of transfusion.

The child possesses no concept of time, duration, interval, or continuity. She lives first of all in „space.“ The world shows itself to the child in the same way that it presents itself in the photo: „discontinuous and punctual.“[22] Without orientation in time, the child lives in a transfusioning space. It is a „space“ like that which opens for the photographer in the moment of pressing the shutter-release. Continuous time—along with the subject—disappears.

The child lives in a space of the in-between, a space between sender and receiver—outside of spoken language and its sense. She is agile in her way of living the transfusion-relation to the world. She is in contact with the „objects“ of the world—which she does not read as signs, but rather perceives as symptoms. Intuition is her umbilical cord to the world.

The child gets on well with those objects that are „strange to themselves,“ in the region of their blurredness and trembling. She enjoys the excitement of „watching the grass grow“ and can feel what „is in the air.“ She is in touch with the pataphysical refinement of the world.

Baudrillard tells the story of the African artist [Michael Richards] who was commissioned to make a sculpture for the front plaza of the World Trade Center. The finished sculpture portrayed the artist himself drilled through by planes. He was killed in his studio on September 11, 2001 along with his sculpture.

Baudrillard speaks of an „amazing intuitive presentiment“—and understands this to be an especially delicate area of intuition.[23] The French thinker was taken to task in the U.S. media for having dared to open such a line of inquiry during the February 19, 2002 roundtable discussion at New York University [broadcast on France Culture on February 23, 2002].[24]

Commentators in the American press were so irritated by Baudrillard’s remarks linking the sculpture and the Event of which it was a precognition because they adjudicate the truthfulness or falsehood of a philosopher’s statements utilizing the measuring rod of metaphysical truth. For them, precognition can only be thought as something that „has to happen.“ Any „precog“ claim is automatically suspect because it implies stopping the future dead in its tracks, putting an end to the future’s openness, and transforming life into destiny.

But precognition can be thought in another—post-metaphysical—way. In the moment in which something analogous to the pressing of the shutter-release or the „punctum of photography“[25] brings about the graduation from the playing level of the intentional subject, the continuity of time is also halted. The reversibility of intentionality is accompanied by a reversibility of time. The player who has reached the game-level of intuition now faces the challenge of objectively backwards-running time. This mode of time, however, does not concern the future reality of the subject. On the contrary, it allows a notifying object to appear to one of its possible pasts. Intuitive inspiration or the sudden coming-to-me of a thought evidence the fact that, as Baudrillard writes, „decisions and thoughts secretly come from elsewhere.“[26] It is not about foresight, but rather about what I propose to call back-sight.

The term „foresight“ correlates with the chronological time of the intentional subject. This temporality, however (precisely at the moment of the coming-to-me of the thought from elsewhere), is absent from itself. The term „backsight“ indicates that in a singular instant the possible past of an object is grasped in a certain constellation. Whether or not an Event then transpires remains dependent upon an equally singular uncertain constellation.

The hypothesis is the following: there is backwards-running temporality—but its existence documents, explains, proves, and determines nothing. „Backsight“—because it makes known a possible having-become of things—is therefore not a presentiment that, once it comes true, can be explained as a metaphysical truth. It is much more a pataphysical truth, a truth with which „nothing“ is to be gotten.

Figure of the future creation of new values, the (Nietzschean) child dispenses with the concept of continuous time. She lives in a space of the notifying object, and in intimate contact with objects. She is permanently active in a world of backsight. It is an intuitive and delicate Existenz. Living entirely in space, the child is confronted with backwards-running time. She comes face-to-face with the potentiality of a second future, or a multiple promise of things. Back to the Future. Minority Report.

Through the photo, the world shows itself as back-transmitting, as nothing. Nothing—from the standpoint of the metaphysical reality principle, that is. It is a fascinating nothing: the „disorder of a null world,“[27] the „emptiness of a null value“ possessing a „magical self-evidence,“[28] as Baudrillard writes. The magical enchantment of seduction.

V
The Child Knows No Destructive
Desire Towards the Object

For the child there are no null worlds—because she knows nothing of metaphysics. Fascination through nothingness becomes fascination pure and simple. It is a small yet decisive difference. The world in the photo is an empty enchantress. For the child, the world is an overflowing enchantress. Whereas the world in the photo is a puzzling nothing, the child actually touches and feels this nothing. Whereas the world in the photo is silent, the world for the child is eloquently silent. Whereas the world in the photo is absent from itself, the child lives in the real effects of this absence (or the appearance of the „new real“). Whereas the defiance of the world in the photo resides in the world’s seductive energy, the defiance of the pact of lucidity between world and child resides in the world’s promise.

Baudrillard says that the „only profound desire“ is the desire for the (sexual) object, for that which does not need me, which can quite happily exist without me. The desire „for this alien perfection“ is at the same time the desire „to smash this alien perfection or to undress it.“[29] The child, however, lives in freedom with respect to this desire — because she is herself alien, a strange attractor. She knows no desire for radical otherness because it lives within her. For the child in the space of the notifying object, what lives in things is above all a promise. She knows no fundamental desire to destroy creatures and things which for her are swarming with possibilities. Stated in a different terminology, the child is a hostage-taker who does not kill her hostages before they have revealed the location of the buried treasure.

Whereas the world in the photo is absent, for the child the world is absently present. The „yes“ of the child—the „yes to the sport of creation“—is a response to the challenge issued by the world. It is the possibility of making something absent present. The child in all of her actions is this small picnoleptic for whom the world and the gaze do not take place. If the photograph, through the pressing on the shutter-release, takes leave of the world and detaches itself from itself, then it succeeds, as Baudrillard writes, „to capture something of this dissimilarity and this singularity“ so that „something changes insofar as the ‚real‘ world and, indeed, the reality principle itself, are concerned.“[30] And it is exactly this that the child at play „thinks.“ In her sport, the child gives something singular back. Each act of the child is a tear (ein Riss) in the reality principle.

Picture the following: a running child knocks over the hat that a beggar has laid out on the street asking for money. The day before, this same child had pressed a franc into the hand of a schoolmate’s rich father.

Considered from the viewpoint of the reality principle, the child is living „in the false.“ Only in reverse order would her actions have had any sense, would they have been reasonable. From the viewpoint of the reality principle, she is living an illusion. The child’s games have no place in the Western classification of ethical realities. For Western metaphysics, „illusionary acts“ are useless. They are „nothing.“ But from the viewpoint of the child, things are different. There is a tear in the reality principle. Maybe the child pressed a franc into the hand of the rich father because she liked his hands. Maybe, for the child, the rich father was in need of receiving a gift from someone. Maybe the child sensed that the beggar had cut himself off from doing something that he could better do. Maybe the child was reacting to some symptom of the father’s perchance impending bankruptcy. The possibilities are endless.

It is not important to determine which of these possibilities is true. It is not about seeing in the child’s games a principle that one can apply (like making the rich richer and the poor poorer!). What matters is to grasp that the child—who is without principles—“believes“ in her game. She believes in her illusionary act—an act answerable to nothing. Her sport takes off from a perception of the world that is answerable to nothing. The child always exists in a singular instant and in relation to a punctual (Roland Barthes) order of things. It is to this arrangement that she playfully—and just as instantaneously—responds. Like the world „in its ability to defy all resemblance,“[31] she acknowledges the notifying object. The child, in her illusionary act, brings to realization a possibility of absence (like the African artist working on his sculpture). Immersed in her world of „back-sighting,“ the „belief“ of the child at play consists of altering an absent constellation.

On the basis of and through the illusion, the child creatively and inventively decrees her own order of things. The Nietzschean fundamental rule of the saying-yes to life as creative will is no longer about „the secret exigency to be seen, desired and thought by the object and the world,“[32] but rather to metamorphose, defer and reverse object and world. The child’s mode of existence—seismograph of the pataphysical refinement of the world—does not allow her momentary, singular act(s) to be recuperated by the general order. Creative power based on an „illusionary act“ (paradoxically) wants no recognition as power.

VI
Conclusion: Singularity Redux

Let me return to what I said at the beginning. Morality says: this is good, do this, this is good, do this. The Nietzschean child objects: that all depends. The creation of new values of the saying-yes to life does not always mean preservation and never destruction.[33] The component of destructive energy in the illusionary act of the Nietzschean child directs itself against those powers which persist in so punctiliously abiding by the reality principle. The negative passion will raise itself against the ruling power that one-sidedly only gives, and that knows how to receive only through its expert co-opting of the singularity of creative power.

And what about Mexican chicken breeding in plastic container toilets? The slum residents revenge the contemptuous gift insofar as they divert the gift away from its purpose. They metamorphose and reinvent it. They „make their own deal“ and reverse the gastronomical sequence: first the chickens, then the shit. Like the Nietzschean child, the Mexican slum residents are a singularity defending itself.

Those who forbid music and faces are not a self-defending singularity. They interdict the languages that are the most cryptic for them. They associate the visible with forbidden truth. They ban the „faces of seduction“ into invisibility. The Taliban are like the priest classes about whose „extreme fear of sensuality“ Nietzsche wrote, crediting them with the „[conditional] insight that it is in that domain of experience where the dominant order in its totality is threatened in the worst way.“[34] Those who prohibit music and faces inhibit the appearance of the child—whose connection with the world is based on sensual contact.

If one endeavors, with Baudrillard, to confront a thought that tries to reverse the total social order with the singular Event of September 11, 2001, one must recognize that the attackers not only destroyed the symbol of the indifference and unidirectional giving of „the world’s only superpower,“ but that they also destroyed two „unique,“ „singular,“ very beautiful skyscrapers. One must at the same time see—in this „insurrection of singularity,“ in the most apparent form of revenge, in the symbolic gift of death—the attempt to make an example of the „power over death.“ An act of statuary intimidation of those who cannot exchange their death (and who are therefore despised), of those whose death was not allowed, and of those about whose singularity was never asked.

The Nietzschean child knows no principle. Yet her fundamental rule shows through. I think that a „post-Baudrillardian“ valuation of the forms of symbolic reversibility—as in revenge or the „return match“—must be sustained by this possibility of showing through.

————————————–

Translator’s Note
On pp.70-75 of the Verso Press edition of The Spirit of Terrorism and Other Essays (translated from the French by Chris Turner), Jean Baudrillard engages with the theses on the Event of September 11, 2001 of the young and extremely promising German philosopher Caroline Heinrich. Heinrich has thus far published two books in German, one of them being the major work Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte—“Philosophy of History from the Standpoint of the Victims“ (Vienna: Passagen Verlag, 2004). The German online-magazine AVINUS Magazin now begins the publication in English of Dr. Heinrich’s works. We start with the paper that Heinrich gave at the July 2004 conference on „Baudrillard and the Arts“ held at Peter Weibel’s „Center for Art and Media Technology“ in Karlsruhe, Germany.

This essay was published in German as „Auf der Suche nach der ‚Unschuld des Kindes’“, in: Philosophie und Kunst Jean Baudrillard: Eine Hommage zu seinem 75. Geburtstag (edited by Gente, Peter, Könches, Barbara and Weibel, Peter), Berlin: Merve Verlag, 2005.

Zum Autor

Caroline Heinrich, geboren 1972, hat Philosophie studiert und lebt in Mainz. Sie hat sich in ihren Studien intensiv mit den Theorien Baudrillards auseinandergesetzt. Ihre Monographie Grundriss zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte (Wien 2004) gilt als Standardwerk der Philosophie der Opfer.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Nietzsche, Friedrich: Thus Spoke Zarathustra: A Book for Everyone and No One (translated with an Introduction by R.J. Hollingdale, originally published in German in 1883-5), London: Penguin Books, 1969; p.55.
  2. Nietzsche, Friedrich: “Nachgelassene Fragmente 1887-9”, in: Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA) (edited by Giorgio Colli and Mazzino Montinari), 13:281.
  3. Nietzsche, Friedrich: “Nachgelassene Fragmente 1884-5”, in: KSA, 11:17. translation Alan N. Shapiro.
  4. Marx, Karl: Das Kapital 1. Berlin: Dietz, 1966; p.159. translation ANS.
  5. ARD: “Tagesschau” [German Channel One Evening News]; July 8, 2004.
  6. Baudrillard, Jean: L’Échange symbolique et la mort (”Symbolic Exchange and Death”). Paris: Gallimard, 1976.
  7. Baudrillard, Jean: “Der Terror und die Gegengabe” (”Terror and the Counter-Gift”), in: Le Monde diplomatique, supplement to TAZ (German leftist daily newspaper); November 15, 2002; p.56.
  8. Baudrillard, Jean: “Kultur ist überflüssig” (”Culture is Superfluous”), in: Frankfurter Rundschau (German liberal daily newspaper); July 26, 2003.
  9. Baudrillard, Jean: “Der Terror und die Gegengabe.”
  10. Baudrillard, Jean: “Der Terror und die Gegengabe.”
  11. Baudrillard, Jean: The Transparency of Evil: Essays on Extreme Phenomena (translated by James Benedict, originally published in French in 1990), London: Verso, 1993; p.132.
  12. Baudrillard, Jean: “Der Terror und die Gegengabe.”
  13. Nietzsche, Friedrich: Thus Spoke Zarathustra; p.55.
  14. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1. Werke. Volume 8 (edited by Eva Moldenhauer and Karl Markus Michel), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986; p.48. translation ANS.
  15. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”, in: Fotografien, Photographies, Photographs, 1985-1998 (edited by Peter Weibel, translation from the French uncredited), Graz: Hatje Cantz Publishers, 1999; p.129.
  16. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.134.
  17. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.132.
  18. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.133.
  19. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.142.
  20. Baudrillard, Jean: “It is the Object Which Thinks Us…”, in: Fotografien, Photographies, Photographs, 1985-1998 (edited by Peter Weibel, translation from the French uncredited), Graz: Hatje Cantz Publishers, 1999; pp.147-8.
  21. Baudrillard, Jean: “It is the Object Which Thinks Us…”; p.147.
  22. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.133 (translation from the French modified by ANS).
  23. Baudrillard, Jean: “Requiem für die Twin Towers”, in: Gente, Peter, Paris, Heidi and Weinmann, Martin (eds.): Short Cuts: Jean Baudrillard. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003; p.108.
  24. Chris Turner’s Verso Press English translation of “Requiem for the Twin Towers” (in: The Spirit of Terrorism and Other Essays) does not include Baudrillard’s recounting and analysis of the African artist sculpture story. The published English text was translated from a typescript version that Jean Baudrillard faxed directly from Paris to his superb English translator. The version of “Requiem pour les Twin Towers” that includes the African artist sculpture story was a rewritten text that appeared later in French in the book Power Inferno (Paris: Galilée: 2002). Thanks to Chris Turner for explaining this to me. The German Suhrkamp-published text to which Caroline Heinrich refers was translated from the French Power Inferno version. The passage was also discussed at the February 19, 2003 debate at the “Maison des cultures du monde” in Paris entitled “Pourquoi la guerre?” at which Jean Baudrillard, Jacques Derrida, and the journalist Alain Gresh were the principal participants. Baudrillard comments further on Michael Richards’ sculpture on p.117 of The Intelligence of Evil or the Lucidity Pact (translated by Chris Turner, originally published in French in 2004), New York: Berg, 2005, where the towering thinker also discusses a second artwork that bit the dust under the collapsed towers: the bronze technocrat by J. Seward Johnson.
  25. Barthes, Roland: Camera Lucida: Reflections on Photography (translated by Richard Howard, originally published in French in 1980), New York: Hill and Wang, 1981.
  26. Baudrillard, Jean: “It is the Object Which Thinks Us…”; (I am at present unable to find the page number of this quotation — ANS).
  27. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.135 (translation from the French modified by ANS).
  28. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.136.
  29. Baudrillard, Jean: “For Illusion Isn’t The Opposite of Reality”; p.132 (translation from the French modified by ANS).
  30. Baudrillard, Jean: “It is the Object Which Thinks Us…”; p.133.
  31. Baudrillard, Jean: “It is the Object Which Thinks Us…”; p.138.
  32. Baudrillard, Jean: “It is the Object Which Thinks Us…”; p.145.
  33. Therefore a principle of absolute nonviolence would be rejected.
  34. Nietzsche, Friedrich: “Nachgelassene Fragmente 1887-9”, in: KSA, 13:384. translation ANS.

Brocchi, Davide: Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit, 26.01.08

Viele Menschen wissen nicht einmal, was Nachhaltigkeit ist. Wie will man denn Letztere unter diesen Umständen durchsetzen? In diesem Essay präsentiert Nachhaltigkeits-Experte Davide Brocchi Hintergründe und Strategien eines durchführbaren Projekts: die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit.

Das zentrale Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ist die friedliche, gerechte Überwindung einer globalen Krise. Sozioökonomische Polarisierung, Terrorismus, Migrationsströme, Energie- und Wasserknappheit, Zunahme der Weltbevölkerung, Abnahme der biologischen Vielfalt sowie Klimawandel sind Aspekte dieser Krise. Die Nachhaltigkeit ist heute keine Option mehr, sondern eine existenzielle Frage, die jeden betrifft.

Nach den großen Hoffnungen, die mit dem Ende des Kalten Krieges und mit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992 in Rio de Janeiro verbunden waren, ist die Nachhaltigkeitsdebatte mehr und mehr ins Stocken gekommen. Die internationale Gemeinschaft entfernt sich immer mehr von den UN-Millenniumszielen, zu denen unter anderem eine Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 gehört. Sogar in Deutschland werden 13 Prozent der Bevölkerung als arm eingestuft. Die größten Klimasünder USA und China haben das Kyoto-Protokoll noch nicht unterschrieben. In Deutschland kann nicht einmal ein Tempolimit auf den Autobahnen durchgesetzt werden. Viele lokale Agenden 21 sind mitten auf dem Weg stehen geblieben oder vom Kurs abgekommen.

Die verfügbaren Ansätze der Nachhaltigkeit reichen scheinbar nicht aus, um die globale Krise zu stoppen. Wir brauchen deshalb neue Ansätze.

In den letzten Jahren wurde verstärkt auf die Bedeutung der kulturellen Dimension für das Leitbild „nachhaltige Entwicklung“ hingewiesen. Diese Diskussion reicht bereits in das Jahr 1994 zurück. In seinem Umweltgutachten bezog der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) nachhaltige Entwicklung nicht allein auf einen Prozess technologischer Innovation, sondern auf eine kulturelle Umorientierung, bei der auch Produktions- und Konsumverzicht eine Rolle spielen sollten.[1] Der Rat befürwortete ein Vier-Säulen-Modell, das nachhaltige Entwicklung als einen diskursiven Prozess in dem Viereck Ökologie, Ökonomie, Soziales und Kultur versteht.[2]

Zu den charakteristischen Merkmalen einer Kultur der Nachhaltigkeit gehört für Hildegard Kurt und Bernd Wagner ein „Verständnis von Nachhaltigkeit, das gleichberechtigt zu den drei Säulen Ökonomie, Ökologie, Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension umfasst“.[3]

Die Bedeutung der kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit kann durch drei zusammenhängende Fragen erklärt werden:

  • die Frage der Kultur der Nachhaltigkeit – oder besser von Kulturen der Nachhaltigkeit,
  • die Frage der kulturellen Strategien der Nachhaltigkeit,
  • die Frage nach den Faktoren, die die kulturelle Evolution der Gesellschaft hemmen oder fördern.

Bevor diese drei Fragen beantwortet werden, sind einige Anmerkungen zu den Begriffen Kultur, Umwelt und Nachhaltigkeit nötig.

I. Drei Begriffe

Die begriffliche Unschärfe von „Kultur“, „Umwelt“ und „Nachhaltigkeit“ wurde immer wieder beklagt. Ob ihre Verbindung das Problem lösen kann, ist sicher eine berechtigte Frage. Aber Unschärfe ist oft der Preis, den Begriffe zahlen müssen, wenn sie sich auf eine Komplexität beziehen. Weder Kultur noch gesellschaftliche Entwicklung können rein deterministisch oder rein quantitativ erfasst werden. Wir brauchen heute mehr denn je komplexe Begriffe, denn es geht darum, Komplexität zu verstehen und Komplexität mit Komplexität zu regieren.

I.i Kultur

Der heute dominante Kulturbegriff reduziert Kultur auf einen gesellschaftlichen Teilbereich und oft nur auf die Künste. Diese Kultur wird heute ständig funktionalisiert und kann die existenzielle Bedeutung der „kulturellen Vielfalt“ nicht ausdrücken. Deshalb bedarf der Diskurs der Nachhaltigkeit eher eines anthropologischen, semiotischen und soziologischen Kulturbegriffs. Nur ein in diesem Sinne umfassender Kulturbegriff kann die integrative Wirkung von Kultur bewusster machen, zum Beispiel jene zwischen Sozialem, Ökologie und Ökonomie.

Das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen kann mit einem Begriff des Soziologen Pierre Bourdieu beschrieben werden: In beiden Fällen handelt es sich um „strukturierte strukturierende Strukturen“ [Hervorh. v. D. B.].[4] Winston Churchill hat es 1943 in einer Rede vor dem House of Commons etwas einfacher ausgedrückt: „First we shape our buildings, then they shape us.“ Das heißt: Wir schaffen die Kultur, die uns prägt. Wir werden von jener Gesellschaft geformt, die wir gestalten.

Zwischen Kultur und Gesellschaft findet eine ständige Wechselwirkung statt. Kulturen definieren Gesellschaften und Subkulturen bezeichnen Gruppen – und umgekehrt. Der Soziologe Antony Giddens schreibt: „No culture could exist without a society. But, equally, no society could exist without culture.“[5]

Die Kultur zieht Grenzen, die physisch noch nicht existieren, nicht fassbar und nicht sichtbar sind. Es sind die Grenzen zwischen Integration und Ausgrenzung, dem Eigenen und dem Fremden, Ordnung und Unordnung, nützlich und unnützlich, Gut und Böse und schließlich auch zwischen System und Umwelt. Kulturen sorgen für die Kohäsion eines sozialen Systems und regulieren seinen Austausch mit der Umwelt.

In einem sozialen System übt die Kultur zwei Aufgaben aus:

  1. Eine kognitiv-kommunikative Funktion in dem Verhältnis Mensch-Wirklichkeit: Die Kultur dient der Wahrnehmung und der Interpretation der Wirklichkeit; ermöglicht eine Kommunikation und eine Verständigung über die Wirklichkeit (s. Sprache, Weltbild, cognitive maps);
  2. Eine verhaltens- und projektorientierte Funktion in dem Verhältnis Mensch-Umwelt: Die Kultur leitet unser Verhalten. Durch eine gemeinsame Kultur können Menschen ihre Handlungen koordinieren und abstimmen. Kultur ist eine Art „Bauplan der Gesellschaft“. Auf der Basis von Kultur bauen wir eine kontrollierbare künstliche Welt auf, die die natürliche Umwelt immer weiter ersetzt. Die Grenzen, die nur in unserem Kopf existieren, bekommen dadurch eine physische Gestalt und werden zu richtigen Mauern. Rohstoffe werden zu Produkte umgebaut, Felder zu Städten. Am Ende ist die künstliche Welt selbst so ausgedehnt und komplex, dass wir die Peripherien – und nicht die Natur – als „Um-Welt“ erleben.

Zwischen Kultur und Umwelt findet ein Prozess statt, der in der Industrialisierung seinen Höhepunkt hat: Die Konstruktion der Wirklichkeit (Aufgabe A) wird hier zu einer Konstruktion der (Um-)Welt (Aufgabe B). Die Unstimmigkeiten zwischen konstruierten Weltbildern und Umweltwahrnehmung nehmen ab. Die künstliche Welt spiegelt unsere Begriffe wider – und wird erst dadurch ganz begreifbar und kontrollierbar. Alles andere wird in die nicht-kontrollierbare Umwelt externalisiert. Die Technologien spielen in der Möglichkeit dieser Umwandlung eine zentrale Rolle.

In diesem selbstreferenziellen Prozess steckt eine Erklärung für die Umweltkrise als Krise der Modernisierung und der Globalisierung. Derartige Entwicklungsmodelle sind kulturelle Programme – und sollten als solche betrachtet werden.

I.ii Umwelt

Der dominante Umweltbegriff bezieht sich oft nur auf die ökologische Umwelt. Die Um-Welt ist das, was außerhalb von oder neben dem wahrnehmenden Subjekt ist. In der Tat hat die Trennung zwischen Mensch und Natur, Gesellschaft und Natur oder Kultur und Natur eine lange Tradition, zumindest in jener Kultur, die heute globalisiert wird: die westliche.[6] In diesem Punkt führten weder die Renaissance noch die sogenannte wissenschaftliche Revolution zu einem Bruch mit der Vergangenheit. Mit der Separation von res cogitans und res extensa, das heißt von Geist und Körper und von Subjekt und Objekt der Beobachtung, legte René Descartes die Basis für die Gründung der mechanistischen Wissenschaften.[7]

Die ökologische Krise zeigt uns, zu welchen dramatischen Konsequenzen diese kulturbedingte Trennung geführt hat. Sie hatte in der Kultur der Indianer Amerikas keinen Bestand, deshalb wurden die indianischen Kulturen als unzivilisiert betrachtet und bekämpft.

Der Mensch ist ein Teil der Natur, und die Natur ist ein Teil des Menschen. Diese Erkenntnis ist immer noch eine Herausforderung für die Kultur- und die Sozialwissenschaften,[8] aber auch für die ganze Moderne. Ein kultureller Wandel in Richtung Nachhaltigkeit bedeutet auch ein Paradigmenwechsel. Dazu haben unter anderem die Systemtheorien, die wichtige Gemeinsamkeiten mit der Ökologie haben, einen wichtigen Beitrag geliefert.

Der deutsche Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich hat vorgeschlagen, den Umweltbegriff mit dem Begriff „Mitwelt“ zu ersetzen.[9] Der systemtheoretische Umweltbegriff könnte aber weiterhin hilfreich sein, um multidimensionale Prozesse und Zusammenhänge zu verstehen.

In der Systemtheorie sind „soziales System“ und „Umwelt“ nur relative und keine absolute Bezeichnungen: Was wir als System oder als Umwelt erleben, hängt vom kulturellen und kognitiven Standpunkt ab. Zum Beispiel ist der Tropenwald für die Indios ein System – und für uns Umwelt. Die Relativität der Standpunkte wird jedoch verdeckt, wenn Strukturen der sozialen Ungleichheit ins Spiel kommen, etwa Machtverhältnisse. So wird etwa das Recht der Indios auf eine eigene Kultur im eigenen Land nicht anerkannt. Die Globalisierung universalisiert leider nur die Sichtweise der gesellschaftlichen Zentren: Entsprechend gehen wir mit dem Tropenwald und seinen Bewohnern um.

Nach dieser systemtheoretischen Definition ist ein soziales System das, was wir als eigen, vertraut, kontrollierbar, sicher und geordnet erleben – oder als ein solches gestalten. Die Umwelt ist hingegen das, was wir als fremd, unkontrollierbar, unsicher, unnützlich oder chaotisch erleben.

Wenn wir die „Umwelt“ so verstehen, dann gibt es nicht nur eine ökologische, sondern auch eine emotionale Umwelt (z.B. das „Unbewusste“, in seiner tiefenpsychologischen Bedeutung), eine soziale Umwelt (z.B. die Menschen, die wir ausgrenzen; unsere Peripherien) sowie eine multikulturelle Umwelt (die vielen Kulturen, die wir als fremd erleben). Die „Umwelt“ ist die Einheit dieser Umwelten vor einem gesellschaftlichen System und vor einer Kultur.

Unsere dominante Kultur verhält sich zu diesen Umwelten ähnlich. Adorno und Horkheimer schreiben in der Dialektik der Aufklärung, dass im Zuge der Rationalisierung der Gesellschaft durch Technik nicht nur die äußere Natur des Menschen beherrscht wird, sondern auch seine innere.[10] In der Herrschaft über die Natur ist die Herrschaft über den Menschen inbegriffen. Um die äußere Natur zu beherrschen, die menschliche und die nicht-menschliche, muss das Subjekt mit anderen Subjekten zusammenarbeiten und dabei seine eigene innere Natur bezwingen.[11] Die Menschlichkeit teilt ihr Schicksal mit dem Rest der Natur. Dies ist ein wichtiger Grund, um zu erklären, warum soziale und ökologische Bewegung zusammenfinden sollten: Sie kämpfen gegen dieselben Strukturen und im Grunde genommen für dieselben Ziele.

Drei weitere Anmerkungen zum Umweltbegriff sind wichtig:

  • Die Abhängigkeit des Systems von der Umwelt ist immer stärker als umgekehrt. So ist die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Gesellschaft oder die der Gesellschaft von der Natur immer stärker als umgekehrt. Wer gegen dieses Prinzip handelt, lebt gefährlich.
  • Geschlossene Systeme sterben, offene Systeme gibt es nicht bzw. fließen in andere Systeme ein. Das heißt, für die Existenz jedes Systems sind (a) Grenzen und (b) Kommunikation und Austausch mit der Umwelt notwendig. In einer nachhaltigen Entwicklung oder in einer Kultur der Nachhaltigkeit geht es nicht um eine Auflösung der Grenzen und der Unterschiede zwischen System und Umwelt oder zwischen Kultur und Natur, sondern um die Kommunikation über die Grenzen, trotz der Unterschiede.
  • Die Abgrenzung des Menschen von seiner Umwelt ist auch das Resultat der physischen, biologischen, kognitiven und psychischen Grenzen seines Wesens. Weil er begrenzt ist, fühlt er sich in kleinen überschaubaren Systemen sicherer als in offenen, breiten und komplexen Räumen. Der einzelne Mensch kann sich viel mehr mit einem bestimmten Ort und mit einer kleinen Gruppe von Menschen identifizieren als mit der ganzen Welt und der ganzen Menschheit. Die negativen Auswirkungen der Globalisierung zeigen, wie schwierig es für Menschen ist, nach dem Prinzip der globalen Verantwortung zu handeln. Soll sich die Nachhaltigkeit wirklich darauf berufen? Oder kommt eine Regionalisierung eher der Gesellschaft entgegen?

I.iii Nachhaltigkeit

1987 stellte die Sonderkommission World Commission on Environment and Development der UNO unter Vorsitz der Norwegerin Gro Harlem Brundtland ihren Bericht „Our Common Future“ vor,[12] in dem erstmals die Untrennbarkeit von Umwelt und Entwicklung aufgezeigt wird. In dem so genannten Brundtlandbericht ist auch die heute gängige Definition von nachhaltiger Entwicklung enthalten: Nachhaltig ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.

Es wird oft vergessen, dass die sozialen und ökologischen Forderungen, die mit dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung verbunden sind, viel älter als der Brundtlandbericht sind. Die Frage der Gerechtigkeit stellte bereits die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert. Die Umweltdebatte begann 1962 in den USA, mit der Veröffentlichung von „Silent Spring“ durch die Meeresbiologin Rachel Carson. 1975 stellte die schwedische Stiftung Dag Hammarskjöld das Dokument „What now? Another Development“ vor der UN-Vollversammlung vor.[13] Darin waren die Ziele eines alternativen Entwicklungsmodells enthalten: (a) Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen; (b) Self-reliance, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Menschen und der Völker; (c) Eco-Development. Die Zivilgesellschaft kämpft heute für diese Ziele weiter, mit oder ohne Nachhaltigkeitsdebatte. Warum brauchen wir also unbedingt eine solche Debatte? Wem nutzt ein solch schwieriges, ungeliebtes Wort wie „Nachhaltigkeit“? Warum so viele Ressourcen verschwenden, nur um einen neuen diffusen Begriff zu „vermarkten“? Hat diese Debatte die sozialen und ökologischen Forderungen eher gestärkt oder geschwächt?

Wie wir wissen, sind die Meinungen in diesen Fragen geteilt, manchmal zu Recht. Die Debatte über nachhaltige Entwicklung bringt aber auch einige wichtige Neuigkeiten mit sich. Soziale und ökologische Forderungen finden in diesem Begriff zum ersten Mal eine Einheit. Zumindest in der Theorie wird anerkannt, dass die Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens, der Demokratie, der Selbstbestimmung, der Ökologie und letztendlich der Lebensqualität eng miteinander verbunden sind.[14] Die Multidimensionalität der Nachhaltigkeit sowie die systemische Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist eine zentrale Stärke der Nachhaltigkeitsdebatte.

Die Ziele des nachhaltigen Entwicklungsmodells können wie folgt zusammengefasst werden:

  • Überwindung der globalen ökosozialen Krise
  • Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen
  • Intra- und intergenerationale Gerechtigkeit
  • Gleichgewicht zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem.

Die internationale Gemeinschaft hat diese Ziele anerkannt und sie gleichzeitig „gesellschaftsfähig“ gemacht. Internationale Organisationen, Regierungen, Kommunen und sogar Unternehmen haben sich zur Nachhaltigkeit bekannt – zumindest ideell. Die Diskussion über die Alternativen zu der dominanten nicht-nachhaltigen Entwicklung fließt immer mehr in die Nachhaltigkeitsdebatte ein. Diese Debatte wird sehr breit geführt. Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung bildet eine doppelte Brücke: einerseits zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft; andererseits zwischen Süden und Norden der Welt.

Die Nachhaltigkeitsdebatte hat aber nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen. Die konsequente Umsetzung der vier oben genannten Nachhaltigkeitsziele käme einer Revolution gleich. Doch viele Regierungen, Unternehmen und Menschen wünschen sich eine oberflächliche nachhaltige Entwicklung, ohne radikale Veränderungen. Konkrete Maßnahmen, die dem Ernst der Lage entsprächen, blieben bisher aus. Die Schere zwischen den Nachhaltigkeitszielen und der realen gesellschaftlichen Entwicklung öffnet sich immer mehr. Sowohl Weltbevölkerung als auch CO2-Emissionen nehmen weiter zu. Es fehlt nicht mehr an Konferenzen, Studien und Aufrufen, sondern an konkreter Umsetzung der sozialen und ökologischen Ziele sowie an praktischer Erfahrung. Es gibt kaum Nachhaltigkeitslabore, in denen alternative Lebensweisen möglich sind und weiterentwickelt werden.

Die Nachhaltigkeitsdebatte ist sehr auf die Zukunft konzentriert, obwohl einige Probleme wie Armut schon eine lange Geschichte haben. Es entsteht der Eindruck, dass wir noch genügend Zeit haben, um radikale Veränderungen umzusetzen, um Verzicht zu üben.

Ein Teil der Forschung und der Diskussion konzentriert sich auf technologische Lösungen. Dabei wird oft insbesondere ein Weg verfolgt: weiter so wie bisher, ohne bestimmte Strukturen verändern zu müssen. Technologische Lösungen betreffen oft die Symptome und nicht die Ursachen der Probleme.

Aber wir kennen bereits viele bewährte Lösungen. Nicht alle kommen aus dem Westen, nicht alle sind ein Ergebnis des „technologischen Fortschritts“. Es gibt „Traditionen der Nachhaltigkeit“, die schonsehr alt sind. Viele wurden durch die Kolonialisierung ausgelöscht, andere werden heute durch die Globalisierung bedroht. Bewährte Lösungen müssen nicht mehr erfunden werden. Was aber hemmt ihre breite Umsetzung? Diese Frage wird zu selten gestellt.

Eine kritische Analyse der Machtstrukturen, die manchmal die Umsetzung bewährter Lösungen hemmen oder gar verhindern, findet in der Nachhaltigkeitsdebatte selten statt.[15] Das Thema „sozio-ökonomische Ungleichheit“ wird oft auf die Armut in „anderen“ entfernten Ländern reduziert. Im eigenen Land wird zwar die Verbraucherkultur des „Geiz ist geil“ kritisiert – nicht aber die Strukturen, die Armut, Konsum und Ignoranz fördern. Es wird leider nicht ausreichend erkannt, dass die Strukturen der sozialen Ungleichheit zu den zentralen Ursachen der ökologischen Krise gehören.

Mit „Strukturen der sozialen Ungleichheit“ wird hier nicht die selbstbestimmte, sondern die fremdbestimmte Form der Ungleichheit bezeichnet, das heißt die ungerechte Verteilung von Reichtum und sozial-ökologischen Kosten der Entwicklung sowie die ungerechte Verteilung von politischem Einfluss, von Bildung und Information. Die dominante neoliberale Wirtschaftspolitik ist mit einer nachhaltigen Entwicklung unvereinbar, nicht nur weil sie unökologisch ist, sondern auch weil sie zu einer wachsenden fremdbestimmten sozialen Ungleichheit führt. Diese Unvereinbarkeit wird oft in dem Glauben verschwiegen, dass eine nachhaltige Entwicklung neben einer neoliberalen Wirtschaftspolitik möglich sei.

Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung ist in den internationalen politischen Institutionen entstanden. Manche Institutionen und Unternehmen reduzieren ihn auf eine PR-Maßnahme. Die inflationäre Verwendung und gar der Missbrauch des Nachhaltigkeitsbegriffes haben zu seiner Entleerung geführt. Aus diesen Gründen wird der Nachhaltigkeitsbegriff in der Zivilgesellschaft immer noch von Skepsis begleitet. Experten bevorzugen immer wieder andere Begriffe wie „Zukunftsfähigkeit“, „sozial-ökologische Entwicklung“ oder gar die englischen Bezeichnungen „Sustainable Development“ oder „Sustainability“, die schärfer und radikaler erscheinen. Kulturschaffende betrachten das Wort „Nachhaltigkeit“ oft als konservativ. Viele Menschen kennen den Begriff nicht einmal: „Nachhaltigkeit“ betrifft für sie nur Fachexperten, nur eine Elite.

Fazit: Sowohl die Stärken als auch die Schwächen des Nachhaltigkeitsbegriffs sprechen für den Bedarf nach einem neuen Ansatz der Nachhaltigkeit.

II. Die Kulturen der Nachhaltigkeit

„Nachhaltigkeit“ leidet immer noch an einem Geburtsfehler: Der Begriff entstand in den Zentren der globalen Gesellschaft und soll sich nun in den Peripherien durchsetzen. Eine solche Genese birgt eine Gefahr: die Gefahr eines neuen Entwicklungsmodells, das sich als neuverpackte Modernisierung entblößt oder als „politische PR-Maßnahme“ endet. In beiden Fällen würden wir entscheidende Zeit verlieren. Um eine solche Gefahr zu vermeiden, sollten in der Frage der Kulturen der Nachhaltigkeit zuerst zwei Ebenen unterschieden werden: jene der eigenen Kultur (in unserem Fall die westliche) und die multikulturelle Ebene.

II.i Die westliche Kultur

Es ist insbesondere die westliche Kultur, die heute globalisiert wird. Weil diese Kultur eine große Verantwortung bei der Entstehung und bei der Verschärfung der globalen Krise hat, müssen hier ein Paradigmenwechsel und ein Wertewandel stattfinden. Wir brauchen ein radikales sozial-ökologisches Umdenken. Welche Merkmale können eine zukunftsfähige Kultur kennzeichnen? Hildegard Kurt und Bernd Wagner beantworten diese Frage wie folgt:

„Ein Verständnis von Nachhaltigkeit, das gleichberechtigt mit den ‚drei Säulen‛ Ökonomie, Ökologie und Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension umfasst; das die auf Vielfalt, Offenheit und wechselseitigem Austausch basierende Gestaltung der Bereiche Ökonomie, Ökologie und Soziales als kulturell-ästhetische Ausformung von Nachhaltigkeit versteht und verwirklicht.

„Ein Kulturbegriff, der von der Naturzugehörigkeit des Menschen ausgeht und grundsätzlich den Mensch und Natur gleichermaßen umfassenden Lebenszusammenhang mitdenkt.

„Eine Verständigung auf Grundwerte, von denen Gesellschaften zusammengehalten werden. Hierzu zählen: Gerechtigkeit zwischen den jetzt weltweit lebenden Menschen, im Blick auf die künftigen Generationen und im Blick auf die Natur; das Prinzip Verantwortung; Toleranz; der Schutz der Schwachen sowie die Wahrung kultureller und biologischer Vielfalt.

„Ein hohes Maß an Partizipation in allen gesellschaftspolitischen Entscheidungs- und Gestaltungsfragen einschließlich der Demokratisierung aller Aspekte des fortschreitenden Globalisierungsprozesses.

„Ein hoher politischer und philosophischer Stellenwert der Frage nach dem guten Leben und die Pflege einer zukunftsfähigen Lebenskunst.

„Eine Rückführung der Kunst aus ihrer Randposition in die Lebenswelt.

„Interkulturelle Kompetenz im Dialog der Kulturen, da in einer eng verflochtenen Welt eine Zukunftsperspektive nur gemeinsam gesichert werden kann.“[16]

Die Grundsätze einer zukunftsfähigen Kultur liegen nicht nur in der Zukunft und in dem Neuen. Das 20. Jahrhundert war bisher der höchste Punkt der Entwicklung der westlichen Gesellschaft – und gleichzeitig ihr tiefster: zwei Weltkriege, Auschwitz, Hiroshima, Tschernobyl. Wurden diese Erfahrungen genügend und bis zur letzten Konsequenz kulturell verarbeitet? Vieles wird sehr schnell „vergessen“, mit der Folge, dass unser angeblicher Fortschritt heute immer noch stark überschätztwird. Die westliche Gesellschaft sieht sich immer noch als Zentrum der Welt und als Spitze der globalen Entwicklung. „Unterentwickelt“ sind nur die anderen.

Eine Kultur der Nachhaltigkeit kennt die eigenen Grenzen und ist deshalb bescheidener, offener und lernfähiger. Sie begegnet dem Mythos des technologischen Fortschritts mit Skepsis. Dogmen wie „Wachstum“ und „Wettbewerb“, Ideologien und Universalisierungen genauso. Um sich davon zu befreien, braucht der Westen heute eine zweite Aufklärung – und vielleicht auch eine neue wissenschaftliche Revolution. Für diese Revolution haben die Ökologie, die Systemtheorie und die Relativitätstheorie bereits eine gute Basis vorgelegt. Die Erkenntnisse von Charles Darwin, Albert Einstein, Werner Heisenberg, Ilya Prigogine, Herman Daly oder Sigmund Freud wurden aber noch nicht bis zur letzten Konsequenz in die dominante Kultur aufgenommen. Das Ergebnis: Der Entwicklungsgrad wird immer noch auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes reduziert, während die amerikanische Gesellschaft als vorbildhaftes Modell für die ganze Welt durchgekämpft wird.

Die ständige Spezialisierung der Wissenschaften hat nicht unbedingt zu einem stärkeren Bewusstsein für das Ganze beigetragen: Eher das Gegenteil ist wahr. Die Quantifizierung und die Monetarisierung der gesellschaftlichen Prozesse dient zwar ihrer Kontrolle, geht aber oft auf Kosten der qualitativen Dimensionen, die sich nicht auf Zahlen und Geldbeträge reduzieren lassen.

In einer Kultur der Nachhaltigkeit stellt die Wirtschaft die Handlungsmittel – und legt nicht die Handlungsziele fest. Der Markt wird als Teil der Gesellschaft betrachtet – und nicht umgekehrt.

II.ii Die kulturelle Vielfalt

Der Mensch ist kognitiv begrenzt. Die Menschen sind unterschiedlich und leben in unterschiedlichen Lebensräumen. Es gibt nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten. Was sich in einer Situation bewährt, kann für eine andere falsch sein. Alle diese Argumente sprechen gegen die Dominanz einer einzigen Kultur und für eine kulturelle Vielfalt. Eine globalisierte Kultur der Nachhaltigkeit wäre ein Widerspruch in sich: Es kann nur Kulturen der Nachhaltigkeit geben.

In der Kolonialisierung wurden Kulturen zerstört, von denen wir sehr viel lernen können. Dasselbe gilt für die Globalisierung. Die Nachhaltigkeit sollte diesen Fehler nicht wiederholen. Dafür hat sich auch die UNESCO in den letzten Jahren stark gemacht. In dem „Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdruckformen“ (Paris, 2005) wurde die Bedeutung einer kulturellen Vielfalt für das Leitbild der Nachhaltigkeit betont: „Der Schutz, die Förderung und der Erhalt der kulturellen Vielfalt sind eine entscheidende Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung zu Gunsten gegenwärtiger und künftiger Generationen.“

Bei den Menschen wurde die biologische Evolution durch eine kulturelle Evolution ersetzt. Während die Evolutionsfähigkeit natürlicher Systeme auf der biologischen Vielfalt basiert, setzt die Evolutionsfähigkeit gesellschaftlicher Systeme eine kulturelle Vielfalt voraus. Nur so konnte sich der Mensch an die Umweltbedingungen des Tropenwaldes, der Wüste oder des Eises anpassen. Kulturelle Prozesse können das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem System und sozial-ökologischer Umwelt auch negativ beeinflussen. Wenn die kulturelle Vielfalt abnimmt, sinkt auch die gesamte Umweltwahrnehmung der Gesellschaft. Kolonialisierung, Modernisierung und Globalisierung haben einerseits die Vermischung verschiedener Kulturen ermöglicht. Andererseits zeigt das Ergebnis dieser „Vermischung“, wie entscheidend eine Gleichberechtigung der Kulturen und ein Respekt füreinander sind. Die einheimischen Traditionen der „unterentwickelten“ Länder wurden oft bekämpft, als Hindernis für eine Modernisierung nach westlichem Muster. Die Sprache der englischen Kolonialmacht hat sich als Weltsprache durchgesetzt – nicht das Esperanto.

Die Standardisierung der globalen Ernährungsproduktion oder die architektonische Uniformierung der Metropolen der Welt sind Ursache und gleichzeitig Ergebnis dieser kulturellen Verarmung. Sie ist nicht nur auf internationaler Ebene sichtbar, sondern auch innerhalb der westlichen Gesellschaft, die auf ihre wirtschaftliche Dimension zentriert ist. Subkulturen und alternative Lebensweisen haben große Schwierigkeiten, sich in diesem Umfeld zu entwickeln oder auch nur zu bestehen, wenn die ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung nicht stimmt. Die Privatisierung der öffentlichen Räume bedeutet weniger Raum für kulturelle Vielfalt. Die Abnahme der kulturellen Vielfalt hat zu einer Reduktion der Evolutionsfähigkeit und Krisenfähigkeit des gesellschaftlichen Systems geführt. Die Auswahl der Antworten und der Lösungen, die für neue soziale und ökologische Probleme benötigt werden, ist kleiner geworden. Der wissenschaftliche und der technologische Fortschritt werden die existenzielle Bedeutung der kulturellen Vielfalt nie ersetzen können. Eine Natur ohne biologische Vielfalt, sondern aus genmanipulierten Wesen ist nur eine grauenhafte Vorstellung. In diese Richtung fließen aber immer mehr Finanzmittel.

Diese kurze Analyse zeigt, wie eng der Zusammenhang zwischen Kultur und Nachhaltigkeit ist, das heißt auch zwischen kultureller Vielfalt und Nachhaltigkeit. Die Staaten bestimmen sowohl die internationale als auch die innere „Entwicklungspolitik“, das heißt die Rahmenbedingungen, die zu dem Schutz oder der Abnahme der kulturellen Vielfalt führen. Das „Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdruckformen“ ist sicher ein positiver Schritt, der nun umgesetzt werden muss. Schade nur, dass es keine Unterstützung von USA und Israel fand.

III. Die kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit

Wie kommen wir von der heutigen gesellschaftlichen Ordnung, die offensichtlich nicht nachhaltig, aber noch sehr mächtig und zäh ist, zu einer nachhaltigen Ordnung? Wie kommen wir von der wirtschaftszentrierten Kultur der Globalisierung zu einer sozial-ökologischen Kultur der Nachhaltigkeit? Welche Organisations- und Kommunikationsformen fördern die kulturelle Vielfalt – anstatt sie zu zerstören?

Um diese Frage zu beantworten, muss zuerst berücksichtigt werden, dass sich Kulturen vermischen, weil die Menschen miteinander kommunizieren. Wir leben selten in einer einzigen Kultur oder in einem einzigen System. Die Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen verlaufen oft innerhalb von Parteien, Institutionen, Unternehmen, Gruppen oder sogar von Menschen selbst – und nicht zwischen ihnen. Auch in alternativen Organisationen wie Attac befinden sich Merkmale, die eher der dominanten Kultur zugeschrieben werden können. Auch innerhalb nicht-nachhaltiger Unternehmen können kritische Stimmen gefunden werden. Diese Vermischung der Kulturen macht es schwieriger und einfacher zugleich, einen kulturellen Wandel zu fördern.

Wir selbst sind Teil des Systems. Die echte Herausforderung besteht darin, die dominante Kultur von innen zu ändern – und das gilt insbesondere in Zeiten der Globalisierung. Wer sein Verhalten konsequent an sozial-ökologischen Werten ausrichtet, riskiert heute die Ausgrenzung. Wer die Integration, die Karriere oder die soziale Sicherheit in Vordergrund stellt, riskiert oft die reine Anpassung an den gegebenen Strukturen. In beiden Fällen kann man zur Nachhaltigkeit nicht wirklich beitragen. Wie kann man diesem Dilemma entkommen?

Die Strategiedebatte wird von zwei Positionen beherrscht: Konsens oder Konflikt, Realismus oder Fundamentalismus. Dabei geht es eigentlich nur um eines: um den Umgang mit Macht- und Interessenstrukturen, die unsere Gesellschaft beherrschen. Wenn gesellschaftliche Akteure nicht gleichberechtigt sind, dann werden die Ergebnisse der Kommunikation eher vom Stärkeren bestimmt – und nicht unbedingt vom Besseren. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen den drei Nachhaltigkeitssäulen Wirtschaft, Soziales und Ökologie: Es gibt eine starke Säule und zwei schwache.

Einige Befürworter der „Nachhaltigkeit“ vertreten eine pragmatische und manchmal opportunistische Position: Sie sind sich der entscheidenden Bedeutung der Strukturen sozialer Ungleichheit zwar bewusst, vermeiden aber jede Kritik an Regierung und Konzernen. Sie denken nämlich, dass man nur mit Macht und Geldern etwas ändern kann – und nicht gegen sie. Eine kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit akzeptiert diese Logik nicht und handelt auf der Metaebene der gesellschaftlichen Kommunikation. Die Rolle der sozialen Ungleichheit wird analysiert und öffentlich thematisiert. Es wird bewusst gemacht, dass Organisationsformen wie Demokratie oder Technologien wie Massenmedien Ungerechtigkeit legitimieren, aber auch bekämpfen können. Psychosoziale Faktoren werden ebenso berücksichtigt. Nicht nur rationale, sondern auch emotionale Faktoren wie Gruppendynamik, Persönlichkeit, Bedürfnisse oder Gewohnheiten hemmen oder beeinflussen den sozialen Wandel stark.

Schließlich hat die Bildung Bedeutung. Nicht nur der Bildungsgrad, sondern auch die Qualität der Bildung sind für eine nachhaltige Entwicklung wichtig. Neben anderen gesellschaftlichen Institutionen bilden Schulen und Hochschulen auch die Denkweisen und Lebenseinstellungen von Menschen aus. Nur wer in breiten Horizonten denken kann und Zusammenhänge versteht, kann die Ursachen von komplexen Problemen begreifen und nachhaltige Lösungen vorschlagen. Dies spricht für eine trans- und interdisziplinäre Ausbildung. Eine autoritäre Pädagogik hemmt die kreative Partizipation an der Mitgestaltung der Gesellschaft. Nur wer keine Angst hat, Hierarchien zu widersprechen und die eigenen Bedürfnisse vor einer Gruppe klar auszudrücken, kann sich politisch effektiv betätigen und Nachhaltigkeit fördern.

Wenn sich bestimmte Institutionen nur als Ordnungshüter verstehen und verhalten – oft unabhängig davon, ob diese Ordnung nachhaltig ist oder nicht, dann müssen andere gesellschaftliche Akteure den sozial-ökologischen Wandel vorantreiben. In einer nicht-nachhaltigen Ordnung reicht es einer Botschaft nicht, besser und nachhaltig zu sein, um sich durchzusetzen. Eine neue Kultur braucht soziale Träger, um sozial wirksam zu werden.

Die Zivilgesellschaft hat dieses Potenzial. Nachhaltigkeit braucht aber keine gewöhnlichen politischen Bewegungen, sondern politische Kulturbewegungen, die von Geisteswissenschaftlern, Journalisten, Psychologen, Künstlern, Migranten (u.a.) mitgestaltet werden. Durch netzwerkartige Strukturen sollten diese Bewegungen integrierend und offen wirken statt elitär. Im internen Prozess sollten sich Dynamik und Vielfalt gegen Starrheit und Uniformierung durchsetzen – nicht umgekehrt.

Zivilgesellschaftliche (Basis-)Initiativen können eine wichtige Rolle bei der Umorientierung zu nachhaltigkeitsorientierten Lebensstilen einnehmen.[17] Sie können die Funktion von kulturellen „Nachhaltigkeitslabors“ (oder „Nachhaltigkeitspionieren“) erfüllen, in denen beispielhaft neue Lebens-, Konsum- und Arbeitsmodelle erprobt und gelebt werden, von denen gesamtgesellschaftliche Lernprozesse ausgehen.[18]

Auch die Künste bieten ein besonderes Potenzial für die Nachhaltigkeitsziele, nicht nur als alternatives oder als außergewöhnliches Medium. Zu den Künsten gehören u.a. die bildenden und die darstellenden Künste, der Film, die Literatur, die Musik, die Fotografie und die Architektur. Der niederländische Soziologe Hans Dieleman nennt sieben Gründe, warum Künstler „change agents in sustainability“ sein können[19]

  • Einige Künstler interessieren sich für die Nachhaltigkeitsziele und machen sie zum Thema der eigenen Kunst;
  • Nachhaltigkeit bedeutet systemisches, vernetztes Denken.[20] Bei einer ganzheitlichen, integrativen Betrachtung der Wirklichkeit haben die Künstler weniger Probleme als die Wissenschafter. Die Künste fördern den Perspektivwechsel.
  • Nachhaltigkeit bedeutet Wandel. Gesellschaftliche Transformationsprozesse sind nicht nur rationale Prozesse, sondern auch emotionale. Sie betreffen zum Beispiel Gewohnheiten. Die Künste haben die Fähigkeit, rationale Botschaften zu emotionalisieren und emotionale Bedürfnisse zu politisieren.
  • Nachhaltigkeit bedeutet, etwas Neues zu schaffen. Die Künste bergen eine höhere innovative und visionäre Kraft als zum Beispiel Politik und Wissenschaft.
  • Unsere Gesellschaft braucht eine reflexive Modernisierung, um ihre Krise zu überwinden – so der Soziologe Ulrich Beck.[21] Diese Art „psychoanalytische Therapie der Gesellschaft“ darf sich aber nicht auf eine ästhetische Reflexion reduzieren, sondern muss auch eine innere Reflexion beinhalten. Die Künste können diese Reflexion besser fördern. Die meisten Menschen denken nicht wie „Fachexperten“. Ihre Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und mit sich selbst braucht andere Wege.
  • Die Künste können den Lernprozess fördern, der in der Integration von Theorie und Praxis benötigt wird. Dabei geht es um ein „reflective management“. Normalerweise vergleichen wir unsere praktischen Erfahrungen mit den vorhandenen kognitiven Mustern. In der Nachhaltigkeit geht es jedoch auch um den umgekehrten Prozess, bei dem vorhandene kognitive Muster der Wirklichkeit angepasst bzw. neue kognitive Muster entwickelt werden.

Zum siebten Grund, den Dieleman nennt, komme ich später, denn er betrifft die Kultur als Ganze und nicht nur die Künste. Durch die Künste kann man der Tendenz zur Selbstreferentialität von gesellschaftlichen Diskursen entgegenwirken. Eine Nachhaltigkeit, die zur „Expertenlyrik verkommt“,[22] kann nämlich wenig bewegen.

IV. Die kulturelle Evolution

Es gibt einen Prozess, in dem Ordnung und Dynamik von Systemen eine Synthese finden: die Evolution. In der Evolution passt sich das System den veränderten Umweltbedingungen an, um die eigene Existenz zu sichern. Evolution ist oft mit einer Umorganisation des Systems verbunden (organisationale Transformation).[23] Voraussetzungen dieser dynamischen Ordnung oder geordneten Dynamik des Systems sind die Wahrnehmung der Umwelt, die Kommunikation mit der Umwelt, die Offenheit und die Flexibilität der Strukturen innerhalb des Systems sowie die Fähigkeit zur Selbstorganisation.

Das, was in der Natur die biologische Evolution ist, stellt in der Gesellschaft die kulturelle Evolution dar. Die biologische Evolution wurde bei den Menschen durch eine kulturelle Evolution ersetzt.

Wenn wir heute die globale Krise überwinden möchten, müssen wir uns folgende Fragen stellen:

  • Was hemmt die kulturelle Evolution des gesellschaftlichen Systems?
  • Was fördert sie?

Der größte Hemmfaktor der kulturellen Evolution ist die Verbindung von:

  • Strukturen der sozialen Ungleichheit mit
  • selbstreferentiellen Kulturprozessen (Dogmen wie Markt, Wachstum und Wettbewerb; Mythos des Fortschrittes; Intoleranz gegenüber Alternativen; Spezialisierung; usw.) und
  • bestimmten Technologien, wie zum Beispiel Waffen, Geld, Technologien der sozialen Kontrolle und Massenmedien.

Zu den Förderfaktoren der kulturellen Evolution zählt vor allem die Umweltwahrnehmung, das heißt die Auseinandersetzung mit dem Fremden. Das Experimentieren, die Erfahrung, die Recherche, die Kritik, die Reflexion, die Kreativität, das Lernen, die politische Partizipation sowie die intra- und interkulturelle Kommunikation sind Möglichkeiten, um sich der Umwelt anzunähern. Emotionen und Sexualität sind weitere Faktoren, die die gesellschaftliche Dynamik fördern. Diese Dynamik kann viele verunsichern und überfordern – und ist nicht immer erwünscht. Nicht jeder kann mit jedem etwas teilen. Die Offenheit gegenüber dem Fremden setzt vor allem ein Vertrauen in sich selbst voraus sowie einen günstigen gesellschaftlichen Kontext, der freie Räume und Autonomie zulässt und respektiert. Kommunikation in der Vielfalt soll dabei von jedem gefördert werden.

Fazit: Wer sich für eine nachhaltige Gesellschaft einsetzen möchte, sollte die Förderfaktoren der kulturellen Evolution leben – und deren Hemmfaktoren bekämpfen.

V. Schlusswort

Die Umwelt war in den sechziger Jahren eine juristische Frage, in den siebziger eine politische und ab den neunziger eine Frage des Managements und des Marktes. Heute wird sie immer mehr zu einer kulturellen Frage. Dies ist für den Soziologen Hans Dieleman der siebte Grund, um zu erklären, warum gerade heute Künstler wichtige „change agents in sustainability“ werden können. Doch seine Aussage hat eine weiter reichende Bedeutung.

Wenn die Kultur das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem System und Umwelt reguliert, dann ist die heutige Umweltkrise eine kulturelle Krise. Sie braucht deshalb kulturelle Lösungen und eine kulturelle Strategie. Die globalisierte Kultur soll dabei durch eine Vielfalt von Kulturen der Nachhaltigkeit ersetzt werden. Welche sozialen Träger, welche Bildungsinstitutionen, welche Kunst- und Kommunikationsformen diesen Prozess unterstützen können, ist dabei keine zweitrangige Frage. Marshall und Herbert McLuhan lehren uns, dass auch das Medium die Botschaft ist.[24] Es ist ganz anders, ob man Natur über den Fernsehbildschirm oder durch direkte Erfahrung erlebt; ob man Menschen trifft oder mit ihnen mailt. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Begriff von oben durchgesetzt wird – oder eine Gesellschaft von unten mitgestaltet werden darf.

In der Nachhaltigkeit ist der Weg das Ziel und das Ziel der Weg. Der systemische Ansatz lehrt uns, dass man zwischen Prozess und Ergebnis der Entwicklung nicht allzu sehr unterscheiden sollte. Für eine Kultur der Nachhaltigkeit bedeutet dies etwas sehr Wichtiges: Wenn nicht nur die Inhalte, sondern auch die Typologie des Mediums, die Organisationsform oder der künstlerische Prozess eine Kultur bestimmen, dann braucht die Nachhaltigkeit nicht nur neue Paradigmen, Weltbilder oder Werte (Kultur der Nachhaltigkeit), sondern auch neue Kommunikationsformen (kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit), die eine kulturelle Evolution ständig fördern und die Durchsetzung von selbstreferentiellen Weltbildern (Ideologien) hemmen.

Der kulturelle Wandel ist heute viel langsamer, als es die globale Krise erfordert. Andererseits nehmen wir gerade diese Gesellschaft als hochdynamisch wahr: Jede Woche werden neue Produkte auf dem Markt präsentiert. Informationen werden im Sekundentakt veröffentlicht. Noch nie wurde soviel über Zeitknappheit im Alltag geklagt, weil die Menschen „soviel zu tun haben“. Diese ist aber eine selbstreferentielle Dynamik, die in einem krassen Gegensatz zu der evolutionären Starrheit des Systems steht. Der extrem schleppende Verlauf des Kyoto-Prozesses belegt es.

Weil das System zu starr ist, um sich zu ändern, versucht man, mit Technologien die Umwelt dem System anzupassen – oder zumindest die Reaktionen der Umwelt zu kontrollieren. Diese Logik zeichnet die Industrialisierung, die Modernisierung und die Globalisierung aus – und „Entwicklung“ wird oft mit diesen drei Begriffen gleichgesetzt. Deshalb kann eines hier besonders empfohlen werden: Um die globale Krise zu überwinden, brauchen wir heute nicht mehr Entwicklung, sondern mehr kulturelle Evolution.

Zum Autor

Davide Brocchi

Dipl.-Sozialwissenschaftler und Kulturmanager, wurde 1969 in Rimini (Italien) geboren und ist 1992 nach Deutschland eingewandert. Heute lebt er in Köln und leitet das Institut Cultura21 e.V., das das Verhältnis zwischen Kultur und Nachhaltigkeit erforscht und eine kulturelle Evolution der Gesellschaft fördert (www.cultura21.de).

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Vgl. SRU (Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhafte umweltgerechte Entwicklung.Stuttgart: SRU, 1994.
  2. Gerhard Voss: Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung – Darstellung und Kritik. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, 4/1997. Köln: Deutscher Instituts-Verlag, 1997. S. 32.
  3. Hildegard Kurt; Bernd Wagner (Hrsg.): Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit. Essen: Klartext Verlag, 2002. S. 13.
  4. Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974.
  5. Vgl. Anthony Giddens: Sociology. Cambridge, 1989.
  6. Ansgar und Vera Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: J. B. Metzler, 2003. S. 19.
  7. Vittorio Hösle: Philosophie der ökologischen Krise. München: C. H. Beck, 1991. S. 54.
  8. Vgl. Karl-Werner Brand: Nachhaltige Entwicklung: Eine Herausforderung für die Soziologie. Opladen: Leske + Budrich, 1997.
  9. Vgl. Klaus Michael Meyer-Abich: Aufstand für die Natur: Von der Umwelt zur Mitwelt. München: Hanser, 1990.
  10. Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1966.
  11. Max Horkheimer: Eclisse della ragione. Turin: Einaudi, 1969. S. 84-85 (erschienen in Deutschland unter dem Titel „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1967).
  12. Völker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp Verlag, 1987.
  13. Alberto Tarozzi: Visioni di uno sviluppo diverso. Torino: Gruppo Abele, 1990. S. 43.
  14. Vgl. die Leitidee von Cultura21, 25.11.2006.
  15. Vgl. Helga Eblinghaus, Armin Stikler: Nachhaltigkeit und Macht: Zur Kritik von Sustainable Development. Frankfurt: IKO- Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1996.
  16. Hildegard Kurt, Bernd Wagner: Ibid. 2002, S. 14.
  17. Michael Wehrspaun, Christian Löwe, Martina Eick: Die Bedeutung von Basisinitiativen für die Verankerung einer Kultur der Nachhaltigkeit. Berlin: Umweltbundesamt, FG I 2.2/III 1.3, Januar 2004.
  18. Lucia Reisch, Gerhard Scherhorn: Wie könnten nachhaltige Lebensstile aussehen? Auf der Suche nach dem ethischen Konsum, in: Der Bürger im Staat: Nachhaltige Entwicklung. Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung, Heft 2/1998.
  19. Hans Dieleman: Artists as change agents in sustainability. Vortrag vom 22.11.2006 in der Lüneburger Universität.
  20. Vgl. Frederic Vester: Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. München: dtv, 2002.
  21. Ulrich Beck, Wolfgang Bonß: Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001.
  22. Werner Schenkel: Kultur, Kunst und Nachhaltigkeit?, in: Hildegard Kurt, Bernd Wagner: Ibid. 2002, S. 33.
  23. Vgl. David J. Krieger: Einführung in die allgemeine Systemtheorie. München: W. Fink Verlag, 1998. S. 39-42.
  24. Vgl. Marshall und Herbert M. McLuhan: Das Medium ist die Botschaft. The Medium is the Message. Gespräche und Interviews. Hamburg: Philo Verlag, 2005.

Der Fall Humbert-Humbert. Klaus Beier spricht mit Camilo Jiménez über Humbert Humbert, 26.01.08

Vladimir Nabokovs Roman Lolita wurde oft als eine Verharmlosung der Pädophilie angesehen. Aber handelt es sich bei der Geschichte der 12-jährigen Dolores Haze und des 37-jährigen Humbert Humbert tatsächlich um einen Fall von Pädophilie? Professor Klaus Beier antwortet.

Der Leser des Romans hat manchmal den Eindruck, dass Lolita kein durchschnittliches Kind ist. Mehr noch nimmt man wahr, dass sie den Protagonisten, Humbert Humbert, der mit ihrer Mutter verheiratet ist, verführt. In manchen Kulturen hätten beide heiraten und eine Ehe führen können, ohne dass jemand Anstoß daran genommen hätte. Warum würden wir heute Humbert Humbert dermaßen strikt beurteilen?

Bei Lolita ist eine wichtige Überlegung anzuführen: Eine Jugendliche kann nicht mit einem Kind verglichen werden; die Pubertät beginnt bei Mädchen durchschnittlich mit elfeinhalb und bei Jungen etwa mit zwölf Jahren. Zu dieser Zeit stehen die Gehirne massiv unter dem Einfluss von Hormonen. Der Jugendliche befindet sich zunehmend auch auf sexueller Reizsuche – das Kind nicht. Diesem geht es um emotionale Bindungspartner.

Wie kann man sich das vorstellen?

Stellen Sie sich eine Antenne vor, durch die Kinder ihre Kontaktgestaltung organisieren. Die Antenne empfängt beim Kind folgende Informationen: Wer ist für mich eine emotional bedeutsame Bezugsperson? Wo fühle ich mich sicher und geborgen?

Und Lolita ist offenbar kein Kind.

Sie ist in die Pubertät gekommen und damit beginnt das Jugendalter – auch wenn sie erst zwölf Jahre alt sein mag. Im Übrigen besteht ein besonderes Verhältnis zu ihrer Mutter und familienstrukturelle Aspekte können bei der jugendlichen Entwicklung nicht außer Acht gelassen werden. Lolita konkurriert mit der Mutter, was eine zusätzliche Motivation für sie sein dürfte, Humbert Humbert für sich einzunehmen.

Zu verurteilen wäre also, dass Humbert Humbert diese kritischen Aspekte verkannt und sie sogar ausgenutzt hat.

Als Erwachsener sollte man mit fürsorglicher Distanz auf Entwicklungsaspekte von Jugendlichen reagieren – und sich keinesfalls von eigenen Interessen leiten lassen. Es gibt gute Gründe, warum Jugendliche zunehmend versuchen, erotische Attraktivität auszustrahlen. Erwachsene dürfen das nicht auf sich beziehen. Dass erotische Signale gesendet werden, muss man dem Jugendlichen zugestehen – was bei Kindern übrigens komplett wegfällt.

Humbert Humbert ist dann kein Pädophiler?

Er ist zunächst mal eine Romanfigur, die ich nicht explorieren kann. Aus sexualmedizinischer Sicht muss man aber auf folgendes hinweisen: Es gibt Männer, die auf Kinder orientiert sind, und andere, die ausschließlich auf Jugendliche orientiert sind. Diese letzteren haben in der Fachwelt sogar extra Namen: Ephebophile orientieren sich auf männliche Jugendliche und Parthenophile auf weibliche Jugendliche. Für diese Männer sind Kinder uninteressant und erwachsene Frauen auch. Da es bei Lolita genau um die Übergangsphase geht, wäre bei Humbert Humbert also allenfalls eine parthenophile – und keine pädophile – Neigung zu vermuten.

Das Gespräch führten Britta Verlinden und Camilo Jiménez.

Jiménez, Camilo / Verlinden, Britta: Pionierprojekt steht kurz vor dem Aus. Über das Pädophilie-Präventionsprojekt, 26.01.08

Am 30. Mai 2007 veröffentlichten Berliner Sexualmediziner erste viel versprechende Ergebnisse ihres Präventionsprojekts „Kein Täter Werden“. Jedoch droht dem Therapieprogramm das Ende: die Geldgeber fehlen.

Endlich sind die heiß erwarteten ersten Ergebnisse da. Das seit November 2005 laufende, weltweit einmalige Präventionsprojekt für Kindesmissbrauch an der Charité scheint die daran geknüpften hohen Erwartungen zu erfüllen. Von den über 500 Anmeldungen werden derzeit 90 pädophile Männer therapiert, 20 von ihnen haben ihre Behandlung bereits beendet. Die Teilnehmer haben gelernt, ihre Wahrnehmungsstörungen zu erkennen und abzubauen; sie stärkten ihr Verantwortungsbewusstsein, um z.B. sozial unkontrollierte Situationen zu vermeiden; ihnen wurden sowohl Verhaltensstrategien als auch Medikamente an die Hand gegeben, um schwierige Phasen zu bewältigen. Die zentrale Erkenntnis lautet: Sexueller Missbrauch von Kindern lässt sich durch eine gezielte Therapie pädophiler Männer eindämmen.

Jedoch zieht gleichzeitig mit der Verkündung dieser hoffnungsfrohen Nachricht eine dunkle Wolke über die Berliner Sexualmedizin. Die donnernde Tatsache: Das Pionierprojekt steht kurz vor dem Aus. Ihm droht das Ende im kommenden Herbst, wenn die Förderung durch den Hauptsponsor, die Volkswagen-Stiftung, die bisher rund 520 000 Euro zur Verfügung stellte, im November ausläuft. Eine Fortsetzung der Förderung kommt für sie nur in Frage, wenn sich andere Sponsoren beteiligen. Diese gibt es aber bisher nicht. Aus dem Forschungsministerium fließt kein Cent zur Unterstützung dieser bahnbrechenden Präventionsarbeit. Krankenkassen weigern sich, die Behandlungskosten zu übernehmen. Wenn keine Sponsoren gefunden werden, müsste die Studie abgebrochen werden – 45 bereits diagnostizierten pädophilen Männern, die keine Täter werden wollen, bliebe der versprochene Therapieplatz versagt.

Insgesamt schätzt man die Zahl deutscher Männer aller Altersgruppen, die pädophile Neigungen haben, auf 200 000; etwa ein Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung hat eine Ansprechbarkeit auf den Kinderkörper. Weder das Medizinstudium noch die Ärzte-Fortbildung tragen diesen Zahlen Rechnung. Bereits jetzt fehlt es an sexualmedizinischen Ambulanzen, und wo es welche gibt, mangelt es an Ausstattung und Personal. Dass sich der präventive Ansatz flächendeckend durchsetzt, würde nach einem Abbruch des Pilotprojekts nicht gerade wahrscheinlicher.

Pädophile müssen lernen, dass die Auslebung ihrer Fantasien gegen Grundsteine der Gesellschaft ver- stößt und es deshalb nie dazu kommen darf. Dies- bezüglich kann es keine Toleranz geben. Aber andererseits wird es auch für die Gesellschaft Zeit zu lernen, ihre Mitglieder mit dieser Neigung nicht zu diskriminieren, sondern ihnen Hilfe dabei zu bieten, mit der schweren Bürde umzugehen.

Dass in Deutschland genug getan wird, um ein neues Bewusstsein zu schaffen, hofft Professor Klaus Beier, der Leiter des Projekts. Entscheidend sei, den Unterschied zwischen der pädophilen Neigung und dem sexuellen Kindesmissbrauch zu verstehen. Und da habe man bisher große Fortschritte gemacht: „Das war früher alles ein und dasselbe: Wer Pädophiler ist, ist gleich Kindesmissbraucher. Das ist falsch!“

Einem Bericht der American Psychiatric Association zufolge weist nur ein Viertel der begutachteten Kindesmissbraucher tatsächlich eine pädophile Präferenzstörung auf. Daraus lässt sich schließen, dass auch im Dunkelfeld nur ein Viertel der Täter pädophil ist. Während Beier einräumt, dass sein Projekt somit nur einen Teil der potentiellen und realen Dunkelfeldtäter erreicht, stellt er gleichzeitig klar: „Das Dunkelfeld ist eben nicht ausreichend erforscht.“

Um daran etwas zu ändern, leistet sein Projekt nun einen wichtigen Beitrag. Den Forschungsergebnissen zufolge tritt ein erstes Problembewusstsein bei Pädophilen im Schnitt mit 22 Jahren auf. Zwei Drittel der Hilfesuchenden sind Single. Die Teilnehmer kommen aus allen Bildungsschichten und aus allen Teilen der Republik, rund die Hälfte der Pädophilen nahm mehr als 100 Kilometer Reiseweg nach Berlin auf sich.

Noch ist der Beobachtungszeitraum natürlich zu kurz, um sagen zu können, ob die Therapien und Medikamente es den Pädophilen tatsächlich ermöglichen, ihre Neigungen dauerhaft zu kontrollieren. Aber bereits in den vergangenen anderthalb Jahren wurden aufgrund dieser Intervention Kinder vor sexuellem Missbrauch geschützt. Und dies muss bei den jährlich rund 15 000 zur Anzeige gebrachten Missbrauchsfällen – und einer noch viel höheren Dunkelziffer – doch das grundlegende Ziel von jeglicher Präventionsarbeit sein.

Weber, Thomas: Über neuere Ansätze zum Grundeinkommen, 11.01.08

Der Vorschlag eines allgemeinen, bedingungslosen Grundeinkommens, das jedem Bürger zustehen und ihm eine Grundversorgung ermöglichen soll, wird von Kritikern gern als unfinanzierbar und unrealistisch verworfen.

Doch gerade in einer Zeit, in der die Nationalstaaten durch supranationale politische Organisationen und global organisierte Kapitalmärkte in ihrer Wirkungsmächtigkeit marginalisiert werden und angesichts eines drohenden (und auf Grund demographischer Faktoren, von Globalisierung und Rationalisierung schon seit Jahrzehnten abzusehenden) Kollapses der Sozialsysteme in Deutschland fragt es sich, ob man es sich heute überhaupt noch leisten kann, auf die Diskussion hierüber zu verzichten.

Die Ausgaben für die Rentenversicherung und die Arbeitsförderung haben sich seit 1991 fast verdoppelt, die Ausgaben für die Krankenversicherungen sowie die Sozial- und Jugendhilfe sind seither um rund 50 % gestiegen. Inzwischen ist weit über die Hälfte des Bundeshaushalts durch die verschiedenen Etatposten für Sozialausgaben festgelegt – Tendenz: dramatisch steigend.

Wurde nicht längst durch die Hintertür eine Art von kompliziert konditioniertem Grundeinkommen eingeführt, kontrolliert und verwaltet durch eine Sozialbürokratie wie z.B. der Bundesagentur für Arbeit, die– wie in den letzten Jahren bekannt wurde – nur 10% ihres Potentials überhaupt ihrer eigentlichen Aufgabe, der Vermittlung von Arbeit, widmet, und die nicht erst seit der Einführung von Hartz IV die Bürger mit z. T. aberwitzigen und ebenso ineffizienten Kontroll- und Bearbeitungsmaßnahmen traktiert? Die Effizienz des Systems darf bezweifelt werden. (So beklagt etwa der Bund der Steuerzahler Jahr für Jahr – alle Haushaltsposten zusammengenommen – rund 30 Mrd. EUR an Verschwendungen.)

Auch die Behauptung, dass der nächste Aufschwung schon Geld in die öffentlichen Kassen spülen werde und die Arbeitslosigkeit drastisch sinke, erscheint nach einem Blick auf die Statistik als Rechtfertigung ungeeignet (woran nunmehr drei Bundeskanzler – Schmidt, Kohl und Schröder – letzthin scheiterten): Zwar geht die Arbeitslosigkeit in Phasen des Aufschwungs kurzfristig etwas zurück, nimmt jedoch in der Tendenz mittel- und langfristig seit Jahrzehnten immer weiter zu.

Einer der Gründe hierfür ist sicher, dass der Faktor Arbeit (und vor allem der Faktor Arbeit) mit viel zu hohen Abgaben belastet wird, die kaum mehr erwirtschaftet werden können, schon gar nicht mit schlecht- oder unqualifizierten Jobs, deren Produktivität unterhalb der Rentablitätsschwelle liegt. Dies führt de facto zu einer fortschreitenden Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, die nicht mehr oder zumindest immer schlechter vertraglich abgesichert werden, um reguläre, sozialversicherungspflichtige (und damit teure) Arbeitsverträge zu vermeiden (auch Formen der Schwarzarbeit müssen hier genannt werden) – eine Entwicklung, an der der Staat sich trotz gegenteiliger Beteuerungen teilweise sogar selbst beteiligt.

Ordnungspolitische Vorstellungen, die eine Rückkehr zu traditionellen sozialversicherungspflichtigen Festanstellungen erzwingen wollen, blenden die Dynamik eines Systems aus, das einen „Rückwärtsgang“ nicht kennt.
Auch ein garantiertes Grundeinkommen stellt keine einfache Lösung der aktuellen Finanzierungsprobleme dar, da es kaum darum gehen kann, einfach nur mehr Geld zu fordern, das längst nicht mehr vorhanden ist. Wohl aber könnte es um Verteilungsgerechtigkeit und eine größere Effizienz des Systems gehen, die zugleich auch eine wirtschaftliche Dynamik entfaltet, die diesem Land seit Jahren abgeht.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen, gekoppelt mit einem einfacheren, auch für den Bürger überschaubaren Steuersystem und einem Ab- und Umbau der Bürokratie, wäre nicht nur ein Beitrag zu einer größeren sozialen Gerechtigkeit und einer angemessenen sozialen Absicherung, sondern auch zu einem effizienteren Wirtschaften, von dem gerade auch kleine und mittlere Unternehmen (in denen die meisten Arbeitsplätze entstehen) besonders profitieren würden.

Über die konkreten Wege und Umsetzungsmöglichkeiten eines Grundeinkommen kann und wird sicher im Einzelnen zu streiten sein.

Vorschläge reichen vom Bürgergeld über eine negative Einkommenssteuer bis hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen und werden inzwischen von zahlreichen, z. T. völlig unterschiedlichen Akteuren gefordert wie etwa von dem Kulturwissenschaftler und Direktor der Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin, Wolfgang Engler (www.aufbauverlag.de/index.php4?page=28&show=4901), oder dem Chef der Drogeriemarkt-Kette DM Götz Werner (www.unternimm-die-zukunft.de).

Weitere Hinweise zu dieser breit angelegten Debatte finden sich beispielsweise unter www.archiv-grundeinkommen.de, einer Website, die Links zu wichtigen Artikeln zum Themenfeld zusammengestellt hat und auch Kritiker eines Grundeinkommens nicht unerwähnt lässt. Spannend ist auch das Netzwerk Grundeinkommen (www.netzwerk-grundeinkommen.de), das vor allem politische Bündnisse zur Bekanntmachung und Durchsetzung eines Grundeinkommens voranbringen möchte und zuletzt im Oktober 2005 zusammen mit dem Österreichischen Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenarbeit (www.grundeinkommen.at) und zahlreichen anderen Organisationen die Konferenz „Grundeinkommen – In Freiheit tätig sein“ (www.grundeinkommen2005.org) in Wien organisierte.

Die Debatte über ein Grundeinkommen wird nicht nur in nationalen Kontexten, sondern weltweit geführt (siehe dazu auch: http://www.etes.ucl.ac.be/BIEN/Index.html).

Hier im AVINUS Magazin stellen wir daher nicht nur das Vorwort (www.avinus.de/html/vorwort2.html) des 2002 erschienenen Bandes des Wiener Sozialwissenschaftlers Manfred Füllsack: Leben ohne zu arbeiten? Zur Sozialtheorie des Grundeinkommen vor, sondern die gleichfalls von Manfred Füllsack herausgegebene Sammlung von englischsprachigen Aufsätzen von international renommierten Experten zum Thema. Eine um einige Aufsätze erweiterte deutsche Version der Texte ist bereits unter dem Titel Globale soziale Sicherheit? Grundeinkommen weltweit beim Avinus-Verlag erschienen.