Der Fall Humbert-Humbert. Klaus Beier spricht mit Camilo Jiménez über Humbert Humbert, 26.01.08

Vladimir Nabokovs Roman Lolita wurde oft als eine Verharmlosung der Pädophilie angesehen. Aber handelt es sich bei der Geschichte der 12-jährigen Dolores Haze und des 37-jährigen Humbert Humbert tatsächlich um einen Fall von Pädophilie? Professor Klaus Beier antwortet.

Der Leser des Romans hat manchmal den Eindruck, dass Lolita kein durchschnittliches Kind ist. Mehr noch nimmt man wahr, dass sie den Protagonisten, Humbert Humbert, der mit ihrer Mutter verheiratet ist, verführt. In manchen Kulturen hätten beide heiraten und eine Ehe führen können, ohne dass jemand Anstoß daran genommen hätte. Warum würden wir heute Humbert Humbert dermaßen strikt beurteilen?

Bei Lolita ist eine wichtige Überlegung anzuführen: Eine Jugendliche kann nicht mit einem Kind verglichen werden; die Pubertät beginnt bei Mädchen durchschnittlich mit elfeinhalb und bei Jungen etwa mit zwölf Jahren. Zu dieser Zeit stehen die Gehirne massiv unter dem Einfluss von Hormonen. Der Jugendliche befindet sich zunehmend auch auf sexueller Reizsuche – das Kind nicht. Diesem geht es um emotionale Bindungspartner.

Wie kann man sich das vorstellen?

Stellen Sie sich eine Antenne vor, durch die Kinder ihre Kontaktgestaltung organisieren. Die Antenne empfängt beim Kind folgende Informationen: Wer ist für mich eine emotional bedeutsame Bezugsperson? Wo fühle ich mich sicher und geborgen?

Und Lolita ist offenbar kein Kind.

Sie ist in die Pubertät gekommen und damit beginnt das Jugendalter – auch wenn sie erst zwölf Jahre alt sein mag. Im Übrigen besteht ein besonderes Verhältnis zu ihrer Mutter und familienstrukturelle Aspekte können bei der jugendlichen Entwicklung nicht außer Acht gelassen werden. Lolita konkurriert mit der Mutter, was eine zusätzliche Motivation für sie sein dürfte, Humbert Humbert für sich einzunehmen.

Zu verurteilen wäre also, dass Humbert Humbert diese kritischen Aspekte verkannt und sie sogar ausgenutzt hat.

Als Erwachsener sollte man mit fürsorglicher Distanz auf Entwicklungsaspekte von Jugendlichen reagieren – und sich keinesfalls von eigenen Interessen leiten lassen. Es gibt gute Gründe, warum Jugendliche zunehmend versuchen, erotische Attraktivität auszustrahlen. Erwachsene dürfen das nicht auf sich beziehen. Dass erotische Signale gesendet werden, muss man dem Jugendlichen zugestehen – was bei Kindern übrigens komplett wegfällt.

Humbert Humbert ist dann kein Pädophiler?

Er ist zunächst mal eine Romanfigur, die ich nicht explorieren kann. Aus sexualmedizinischer Sicht muss man aber auf folgendes hinweisen: Es gibt Männer, die auf Kinder orientiert sind, und andere, die ausschließlich auf Jugendliche orientiert sind. Diese letzteren haben in der Fachwelt sogar extra Namen: Ephebophile orientieren sich auf männliche Jugendliche und Parthenophile auf weibliche Jugendliche. Für diese Männer sind Kinder uninteressant und erwachsene Frauen auch. Da es bei Lolita genau um die Übergangsphase geht, wäre bei Humbert Humbert also allenfalls eine parthenophile – und keine pädophile – Neigung zu vermuten.

Das Gespräch führten Britta Verlinden und Camilo Jiménez.

Jiménez, Camilo / Verlinden, Britta: Pionierprojekt steht kurz vor dem Aus. Über das Pädophilie-Präventionsprojekt, 26.01.08

Am 30. Mai 2007 veröffentlichten Berliner Sexualmediziner erste viel versprechende Ergebnisse ihres Präventionsprojekts „Kein Täter Werden“. Jedoch droht dem Therapieprogramm das Ende: die Geldgeber fehlen.

Endlich sind die heiß erwarteten ersten Ergebnisse da. Das seit November 2005 laufende, weltweit einmalige Präventionsprojekt für Kindesmissbrauch an der Charité scheint die daran geknüpften hohen Erwartungen zu erfüllen. Von den über 500 Anmeldungen werden derzeit 90 pädophile Männer therapiert, 20 von ihnen haben ihre Behandlung bereits beendet. Die Teilnehmer haben gelernt, ihre Wahrnehmungsstörungen zu erkennen und abzubauen; sie stärkten ihr Verantwortungsbewusstsein, um z.B. sozial unkontrollierte Situationen zu vermeiden; ihnen wurden sowohl Verhaltensstrategien als auch Medikamente an die Hand gegeben, um schwierige Phasen zu bewältigen. Die zentrale Erkenntnis lautet: Sexueller Missbrauch von Kindern lässt sich durch eine gezielte Therapie pädophiler Männer eindämmen.

Jedoch zieht gleichzeitig mit der Verkündung dieser hoffnungsfrohen Nachricht eine dunkle Wolke über die Berliner Sexualmedizin. Die donnernde Tatsache: Das Pionierprojekt steht kurz vor dem Aus. Ihm droht das Ende im kommenden Herbst, wenn die Förderung durch den Hauptsponsor, die Volkswagen-Stiftung, die bisher rund 520 000 Euro zur Verfügung stellte, im November ausläuft. Eine Fortsetzung der Förderung kommt für sie nur in Frage, wenn sich andere Sponsoren beteiligen. Diese gibt es aber bisher nicht. Aus dem Forschungsministerium fließt kein Cent zur Unterstützung dieser bahnbrechenden Präventionsarbeit. Krankenkassen weigern sich, die Behandlungskosten zu übernehmen. Wenn keine Sponsoren gefunden werden, müsste die Studie abgebrochen werden – 45 bereits diagnostizierten pädophilen Männern, die keine Täter werden wollen, bliebe der versprochene Therapieplatz versagt.

Insgesamt schätzt man die Zahl deutscher Männer aller Altersgruppen, die pädophile Neigungen haben, auf 200 000; etwa ein Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung hat eine Ansprechbarkeit auf den Kinderkörper. Weder das Medizinstudium noch die Ärzte-Fortbildung tragen diesen Zahlen Rechnung. Bereits jetzt fehlt es an sexualmedizinischen Ambulanzen, und wo es welche gibt, mangelt es an Ausstattung und Personal. Dass sich der präventive Ansatz flächendeckend durchsetzt, würde nach einem Abbruch des Pilotprojekts nicht gerade wahrscheinlicher.

Pädophile müssen lernen, dass die Auslebung ihrer Fantasien gegen Grundsteine der Gesellschaft ver- stößt und es deshalb nie dazu kommen darf. Dies- bezüglich kann es keine Toleranz geben. Aber andererseits wird es auch für die Gesellschaft Zeit zu lernen, ihre Mitglieder mit dieser Neigung nicht zu diskriminieren, sondern ihnen Hilfe dabei zu bieten, mit der schweren Bürde umzugehen.

Dass in Deutschland genug getan wird, um ein neues Bewusstsein zu schaffen, hofft Professor Klaus Beier, der Leiter des Projekts. Entscheidend sei, den Unterschied zwischen der pädophilen Neigung und dem sexuellen Kindesmissbrauch zu verstehen. Und da habe man bisher große Fortschritte gemacht: „Das war früher alles ein und dasselbe: Wer Pädophiler ist, ist gleich Kindesmissbraucher. Das ist falsch!“

Einem Bericht der American Psychiatric Association zufolge weist nur ein Viertel der begutachteten Kindesmissbraucher tatsächlich eine pädophile Präferenzstörung auf. Daraus lässt sich schließen, dass auch im Dunkelfeld nur ein Viertel der Täter pädophil ist. Während Beier einräumt, dass sein Projekt somit nur einen Teil der potentiellen und realen Dunkelfeldtäter erreicht, stellt er gleichzeitig klar: „Das Dunkelfeld ist eben nicht ausreichend erforscht.“

Um daran etwas zu ändern, leistet sein Projekt nun einen wichtigen Beitrag. Den Forschungsergebnissen zufolge tritt ein erstes Problembewusstsein bei Pädophilen im Schnitt mit 22 Jahren auf. Zwei Drittel der Hilfesuchenden sind Single. Die Teilnehmer kommen aus allen Bildungsschichten und aus allen Teilen der Republik, rund die Hälfte der Pädophilen nahm mehr als 100 Kilometer Reiseweg nach Berlin auf sich.

Noch ist der Beobachtungszeitraum natürlich zu kurz, um sagen zu können, ob die Therapien und Medikamente es den Pädophilen tatsächlich ermöglichen, ihre Neigungen dauerhaft zu kontrollieren. Aber bereits in den vergangenen anderthalb Jahren wurden aufgrund dieser Intervention Kinder vor sexuellem Missbrauch geschützt. Und dies muss bei den jährlich rund 15 000 zur Anzeige gebrachten Missbrauchsfällen – und einer noch viel höheren Dunkelziffer – doch das grundlegende Ziel von jeglicher Präventionsarbeit sein.

„Wir gehen den umgekehrten Weg.“ Klaus Beier spricht mit Jiménez/Verlinden über sein Pädophilie-Präventionsprojekt, 02.06.07

Klaus Beier, Leiter des Präventionsprojekts der Berliner Charité, spricht über pädophile Menschen, den Tabubruch in Deutschland und die Ziele seines Pionierplans zur Behandlung der Pädophilie.

Professor Beier, viele Menschen setzen Pädophilie mit sexuellem Kindermissbrauch gleich. Ist das richtig?

Das ist falsch. Die sexuelle Ansprechbarkeit auf den kindlichen Körper muss keinesfalls zu sexuellen Handlungen mit Kindern führen. Von Interesse für die Prävention sexueller Übergriffe auf Kinder sind aus sexualmedizinischer Sicht daher vor allem die Bedingungen, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass von dem Betroffenen eine pädophile Neigung ausgelebt wird. Das ist dann der Fall, wenn die Betroffenen keine adäquaten Verhaltensstrategien aufgebaut haben, um ihre pädophile Neigung zu kontrollieren. Hierfür gibt es gut geeignete Hilfsmöglichkeiten, welche die Betroffenen aber kaum in Anspruch nehmen, wenn sie für die Neigung selbst verurteilt werden.

Was ist Pädophilie und was ist Kindermissbrauch?

Hintergrund eines sexuellen Kindesmissbrauchs kann einerseits eine pädophile Neigung sein: Es handelt sich dann um eine Abweichung der sexuellen Präferenzstruktur, die ab der Jugend festgelegt ist und bis zum Lebensende bestehen bleibt – ob man das nun will oder nicht. Nun gibt es aber andererseits auch Täter, die sind sexuell auf Erwachsene orientiert, begehen jedoch aus verschiedenen Gründen sexuelle Übergriffe auf Kinder, welche dann als Ersatzhandlungen für die eigentlich erwünschten sexuellen Interaktionen mit erwachsenen Partnern aufzufassen sind. Für die Prävention erreichbar sind nach unserer Erfahrung Männer mit einer pädophilen Neigung, die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen und problembewusst sind.

In der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá herrscht zurzeit eine scharfe Kontroverse: Im Namen der Kinderrechte werden auf den Straßen Riesenplakate errichtet, die Namen und Fotos von Kindesmissbrauchern zeigen sowie eine Kurzbeschreibung der von ihnen jeweils begangenen Straftat. In großen Buchstaben ist zu lesen: „Bogotá bittet seine Opfer um Verzeihung“. Tragen solche Maßnahmen zur Eindämmung sexueller Verbrechen bei?

Sokann man praktisch keine Prävention betreiben: Diejenigen, die diese Neigung haben, verstecken sich. Sie befürchten, dass sie, wenn bekannt würde, dass sie Pädophile sind, gleichgesetzt werden mit denen, die schon Straftaten begangen haben. Ein weiteres Problem ist, dass die Gefahr erhöht wird, dass in einer Missbrauchssituation der Täter einen Verdeckungsmord begeht, damit das Risiko einer Überführung sinkt. Was daraus resultiert, ist eine Verringerung des Kinderschutzes.

Was ist der Vorschlag des Projekts „Kein Täter werden“?

Wir gehen den umgekehrten Weg. Wir machen uns zunutze, dass die Gesetzeslage in Deutschland einen Vertrauensschutz für Menschen garantiert, die sich an Therapeuten oder Ärzte wenden. Zentral für unsere Überzeugung ist, dass die pädophile Neigung eine Abweichung in der sexuellen Präferenzstruktur ist, die man weder verurteilen noch bewerten darf: Durch seine sexuelle Präferenz wird der andere nicht zum schlechten Menschen. Keiner kann das beeinflussen. Dass es eine Vielzahl von Erscheinungsformen des sexuellen Erlebens gibt, ist ja kennzeichnend für das große Spektrum menschlicher Sexualität.

Täter müssen aber verurteilt werden.

Ja. Wenn die Phantasien ausgelebt und auf der Verhaltensebene umgesetzt werden – also wenn aus Phantasien Taten werden –, dann muss man das verurteilen. So bekommen pädophile Menschen von uns die Botschaft: Wegen der Neigung wirst Du von uns nicht moralisch bewertet. Vorstellen und phantasieren darfst Du alles. Tun darfst Du nichts. Das ist Deine Aufgabe für das ganze Leben. Menschen hierbei zu unterstützen, ist eine sehr wichtige Form der Prävention.

Was ist ein Kind in der Sexualwissenschaft?

Ein Kind erkennt man am körperlichen Entwicklungsschema, welches mit Eintritt in die Pubertät endet. Bis zum Beginn dieses Entwicklungsabschnittes liegt eine kindliche Entwicklungsform vor. Und ausschließlich auf diese letzte reagieren Männer mit pädophiler Neigung. Wenn ein Mensch erst mit zwanzig Jahren in die Pubertät kommt, kann er mit zwanzig immer noch interessant sein für einen Pädophilen. Anders herum ist ein Kind, das mit zehn bereits in die Pubertät kommt, für ihn völlig uninteressant.

Wesentlich für einen pädophilen Menschen ist es, die Akzeptanz von Kindern zu erlangen – viel wichtiger als die von anderen Erwachsenen. Warum hat ein Pädophiler die Kinderwelt lieber als die Welt der Erwachsenen?

Da jeder Mensch die Sehnsucht nach Annahme und Akzeptanz in zwischenmenschlichen Bindungen in sich trägt, sucht er den Kontakt zu für ihn bedeutsamen Partnern und er tut dies entsprechend seiner sexuellen Präferenzstruktur. Die meisten Menschen können ihre Sehnsucht in partnerschaftlichen Beziehungen mit altersadäquaten Sexualpartnern verwirklichen – und zwar deshalb, weil ihre sexuelle Orientierung das für sie zielführend macht: Sie weisen eine sexuelle Ansprechbarkeit für den erwachsenen Körper auf, am allerhäufigsten für den des Gegengeschlechts. Deshalb verlieben sich die meisten Männer in Frauen und umgekehrt. Menschen mit pädophiler Neigung verlieben sich in Kinder – sie begehren das Gefühl der Akzeptanz von ihnen.

Es geht bei einem pädophilen Menschen also weit über das Sexuelle hinaus. Seine ganzen sozialen Interessen konzentrieren sich auf die Kinderwelt.

Richtig. Das ist im Grunde genommen sogar der Hauptaspekt. Und unter der fehlenden Umsetzbarkeit leiden die Männer mit pädophiler Neigung diesbezüglich am meisten: Es geht nicht nur um Orgasmen.

Gibt es pädophile Frauen?

Ganz, ganz selten. Ich bin jetzt fast zwanzig Jahre in der Sexualmedizin tätig und lernte erst im Rahmen dieses Projektes die erste Frau kennen, bei der wirklich eine pädophile Neigung bestand. Pädophil sind nicht alle Frauen, die ein Kind sexuell missbrauchen. Bei den meisten Frauen, die sexuelle Übergriffe auf Kinder begehen, sind es Ersatzhandlungen – und die Täterinnen stellen sich, wenn sie erregt sind, gerade nicht den Kinderkörper vor.

Pädophile, die zu Ihnen kommen, haben meistens die Hoffnung, dass sie von ihrer besonderen Neigung befreit werden können. Jedoch ist das erste, was Sie den Männern sagen, die zu Ihnen kommen, dass es für sie keine Heilung gibt. Ist ein solches Leben in der Hoffnungslosigkeit ein attraktives Angebot für einen Pädophilen?

In der Medizin ist der Fall eher häufig, dass wir nicht heilen, sondern nur Folgeschäden verhindern können. Und ein verantwortlicher Umgang mit einer chronischen Erkrankung ist eine lebenslange Aufgabe und setzt „eiserne“ Disziplin voraus, für die man aufgebaut und innerlich ausgestattet werden muss. Um diese Problematik zu erfassen ist vielleicht der Vergleich mit dem jugendlichen Diabetes hilfreich: Hier ist die Bauchspeicheldrüse strukturell verändert und die Medizin kann auch nicht heilen, sondern „nur“ Folgeschäden verhindern helfen. Der Betroffene kann nichts dafür, dass seine Produktion an Insulin nicht ausreicht, aber er ist dafür verantwortlich, dass der Schaden für seinen Körper möglichst gering bleibt. Er muss daher sein Verhalten kontrollieren, um Gefahren abzuwenden.

Aber da gibt es einen Unterschied.

Ja, und zwar: Der Diabetiker gefährdet sich selbst – der Pädophile andere, nämlich Kinder. Umso größer müssen dann aber die allseitigen Bemühungen der Prävention sein. Die Unversehrtheit anderer muss immer Vorrang haben. Ein wirklich verantwortlicher Umgang mit der pädophilen Präferenzabweichung trägt dem unbedingt Rechnung. Denn wie beim Diabetes verfügt die Medizin über hervorragende Möglichkeiten, das Verhalten so kontrollierbar zu machen, dass aus Phantasien keine Taten werden. Dies schließt auch die Nutzung von impulsdämpfenden Medikamenten ein, auf die ein verantwortungsbewusster Betroffener zur Gefahrenabwendung gegebenenfalls zurückgreift.

Eine solche Einsicht führt, wie in Berichten Ihrer Patienten zu lesen ist, sehr schnell zu Depressionen. Deckt das Therapieprogramm auch diese Problematik ab?

Es ist ein wichtiger Teil des Programms. Für die Betroffenen ist es schwer, die Einsicht zu erlangen, dass sie sich wirklich dauerhaft und lebenslang mit ihrer sexuellen Grundproblematik auseinandersetzen müssen. Ganz falsch wäre ein Ausweichen oder sich falschen Hoffnungen hinzugeben. Man muss sein Schicksal annehmen. Und es ist ein häufiger Fall in der Medizin, dass eine strukturelle Veränderung dauerhaft und unabänderlich Lebenseinschränkungen verursacht. Dies muss keineswegs dazu führen, dass die Betroffenen sämtliche Lebensqualität einbüßen.

Drogensüchtige Menschen, die sich ihrer Probleme bewusst sind und sich sogar in ärztliche Behandlung begeben haben, werden in vielen Fällen rückfällig. Besteht ein solches Risiko bei Ihren pädophilen Patienten?

Das ist nicht vergleichbar. Entscheidend ist die sexuelle Präferenzstruktur, denn pädophile Männer haben diesbezüglich eine echte Besonderheit im Gehirn. Die Impulse, die sie kontrollieren lernen müssen, sind ganz spezifisch. Sie können noch zusätzlich eine Abhängigkeitserkrankung entwickeln, die sie im Übrigen ja bei Menschen mit allen möglichen sexuellen Ausrichtungen finden können. Für eine Suchtproblematik spielen mutmaßlich eine genetische Disposition, die Persönlichkeitsstruktur, die Droge selbst sowie Einflüsse des sozialen Umfeldes eine Rolle – alles zunächst einmal unabhängig von der sexuellen Präferenzstruktur.

Wird sich das Projekt „Kein Täter werden“ irgendwann bundesweit etablieren?

Ich hoffe sehr, dass es sich ausdehnt. Denn das Problem besteht nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten und auf dem Land. Man wird spezielle Ambulanzen etablieren müssen – eine für die Versorgung ausreichende Ausstattung besteht auch an den sexualmedizinischen Instituten in Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel nicht, wobei übrigens die Situation in Berlin an der Charité besonders ungünstig ist, da dort überhaupt keine Planstellen für die Therapie zur Verfügung stehen, sondern alles aus Forschungsmitteln finanziert wird.

Wie verbreitet ist das Tabu gegenüber der Pädophilie in der Gesellschaft?

Sehr. Denn grundsätzlich gilt ja, dass sexuelle Themen immer eine gewisse tabubesetzte Befangenheit wecken. Und es wird umso schwieriger, wenn problematische Formen sexuellen Erlebens thematisiert werden müssen, die ganz viele Menschen nicht nachvollziehen und die sogar mit Opferschäden verbunden sein können. Es entsteht dann eine emotionale Belastung, mit der viele Leute nichts zu tun haben wollen – und dies begünstigt erfahrungsgemäß einfache Lösungen: Der, der das tut, ist ein Verbrecher und muss weg. Aber die Wirklichkeit sieht eben anders aus und fügt sich diesem Wunsch nach einfachen Lösungen nicht. Wir wissen mittlerweile sehr genau, was für unterschiedliche Menschen sich hinter den Taten verbergen – und vor allem wissen wir, dass es einen Teil gibt, den man so beeinflussen kann, dass keine Übergriffe begangen werden. Diesen Teil erreichen sie über Strafandrohungen und moralische Verurteilung eben nicht. Aber wenn sie ihn erreichen, dient das dem Kinderschutz – das sollte es allemal wert sein.

Wirkt sich das fortbestehende Problem der Diskriminierung pädophiler Menschen nicht bremsend auf Ihr Projekt aus?

Wenn Sie es so genau eingrenzen, dann ja. Wenn die Diskriminierung aufhören würde und man in der Gesellschaft ein Bewusstsein anträfe, wonach man denen, die sich helfen lassen wollen, diese Hilfe zuteil werden lässt, ohne dass man sie verurteilt, dann würden dies vermutlich sehr viel mehr in Anspruch nehmen. Wir können nur darauf hinwirken.

Aber diejenigen, die Taten begehen, müssen diskriminiert werden.

Wer einen sexuellen Übergriff auf ein Kind begeht, gehört bestraft. Das muss man ganz klar unterscheiden. Das Motto muss also lauten: Keine Diskriminierung der Neigung, aber Diskriminierung des Verhaltens.

Viele pädophile Menschen denken, einen Schutz vor der Diskriminierung sowie vor dem weit verbreiteten Mythos der Heilbarkeit der Pädophilie böte die Entwicklung einer pädophilen Identität. Wie sehen Sie das?

Sexuelle Identität heißt, dass man seine Präferenzstruktur auch integriert hat, also, dass ein Mann mit pädophiler Neigung sagen kann: Ich bin so; es gibt diese Phantasie, die bleibt so; ich habe mir das nicht ausgesucht, aber ich werde mein Leben so führen, dass ich keinem Kind einen Schaden zufüge. Dann hat er eine sexuelle Identität, auch wenn er sie nicht leben kann. Aber sie ist bei ihm integriert. Bei den meisten Begutachtungsfällen sieht man, dass ein Mann, der schon fünf Mal vorbestraft wurde und zwanzig Mal einen Jungen missbraucht hat, trotzdem behauptet, er sei eigentlich auf Frauen orientiert – und er glaubt das sogar. Damit vermeidet er eine realitätsbezogene Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Neigung ist dann bei ihm ‚desintegriert‛ und er hat keine sexuelle Identität aufgebaut, sondern folgt dem Wunschdenken dahingehend, dass er gerne eine andere sexuelle Identität hätte. Aber das ist eben Schicksal und nicht Wahl.

Prof. Beier, vielen Dank für das Gespräch.