Mithu Sanyal : Vulva Renaissance

Besprochen von Bastian Buchtaleck

Es waren verschiedene Gründe, die Mithu Sanyal dazu bewogen haben, das Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ zu schreiben. Zum Ersten hatte sie als junge Frau im Gegensatz zu ihrem Partner keine Vorstellung vom Aussehen ihrer Vulva. Dann fehlten ihr, nachdem sie sich ein Bild gemacht hatte, die Worte, um ihre Vulva zu beschreiben. Drittens fand sie auf der Suche nach Worten die Vulva nur im Kontext von Krankheit oder Kinderkriegen. Aus diesem dreifachen Anlass versucht Sanyal auf 240 Seiten sichtbar zu machen, was bislang unsichtbar blieb: der äußerlich sichtbare Teil des weiblichen Geschlechtes. Selbstredend geht es ihr dabei auch um die Definitionsgewalt über das eigene Geschlecht.

Im Gegensatz zu Vulva sind Vagina und Scheide weitaus gebräuchlichere Begriffe für das weibliche Geschlechtsorgan. Während die Vulva den sichtbaren Teil beschreibt, reduziert sich Vagina „ausschließlich auf die Körperöffnung“. Sie „ist nur ein Loch, in das der Mann sein Genitale stecken kann, oder, um im Bild zu bleiben: eine Scheide für sein Schwert.“ Schon das erste etymologisch angelegte Kapitel spricht sehr deutlich die Politik, die das weitere Buch verfolgt: In kämpferischer Manier führt Sanyal vor, wie die Vulva kulturell und sprachlich abgewertet und aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeklammert wurde. Im Folgenden extrahiert Sanyal Mechanismen der Unterdrückung für die ganz alten Mythen, das Christentum und für die Kunst.

Immer ist die Frau die abgewertete Folie, von der sich der Mann absetzt. „Er war vermeintlich ‚rational‘, weil sie ‚irrational‘ war. Und ‚Kultur‘ benötigte ‚Natur‘, um sie sich untertan zu machen.“ Der Mann ist der Kopf, die Frau der Körper. Mit dem Christentum nahm die Unterdrückung Fahrt auf. „Der abstrakte monotheistische Gott benötigte keine sakrale Weiblichkeit mehr, da er zumindest theoretisch alle ihre Funktionen selbst erfüllte“, begründet die Autorin. Das Buch ist geprägt durch einen locker-reflexiven Schreibstil, der zumindest für den geübten Leser eingängig sein dürfte. Damit gelingt Sanyal überzeugend und lesenswert der kulturhistorische Nachweis, wie die Mechanismen der Unterdrückung gewirkt haben (und teilweise noch wirken).

Andererseits ist das Buch weder in seiner Haltung noch in der eröffneten Perspektive zeitgemäß. Wenn Sanyal die Frau als Abziehfolie des Mannes, als unvollständiger Mann ohne Penis, mit wandernder Gebärmutter, als Kastrierte beschreibt, muss sie gerade darin kritisiert werden. Sie bewegt sich dafür in den Diskursen der 70er und schreibt über die Gesellschaft der 50er Jahre. Viel zu oft liest sich „Vulva“ wie ein Pamphlet mit dem kämpferischen Ziel der Deutungshoheit, wobei Vulva dann zu einem Kampfbegriff wird, der einzig auf die Unterdrückung durch die Männer verweist. Sanyals Ziel, einen eigens definierten, positiven Begriff von Vulva zu erschaffen, einen, auf den frau stolz sein kann, verfehlt sie jedoch. Noch immer kann sie die Schönheit der Vulva nicht in Worte fassen. Vielleicht besteht der Wert des Buchs zunächst also einfach darin, das Schweigen gebrochen zu haben. Selten haben die, die zuerst gesprochen haben, auch als erste gleich die richtigen Worte gefunden.

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Weber, Thomas: The Hybridization of German Documentary Formats since the 1990s, 25.11.09

AVINUS Magazin Sonderedition Nr.7, Berlin 2009.

Kompletter Aufsatz als PDF-Version: The Hybridization of German Documentary Formats since the 1990s

Abstract:

The diverse documentary formats – with their “relatively random thematic content” (Mühl-Benninghaus) – now seem to have nearly no common denominator. Not considering affirmative formats (travel, instructional, industrial films and the like), it is remarkable how – regardless of individual filmmakers’ ambitions (and the quality of their films) – each documentary format attempts to underwrite its promise of authenticity through calculated interruptions and flaws, i.e. by refuting the traditional logic of conventional depiction. 

This tendency, also called hybridization, is demonstrated not only in the aesthetics of new formats, but also on every level of production, technology, economy and reception, as Paul Soriano recently noted. It is not only mixing genres, or styles of depiction, but also using analogue and digital technologies, and a production rationale geared towards simultaneously employment in various media and the pluralization of communities.

Examining representative examples from German television, essential aspects of hybridization shall be determined by focusing on “Reality Television” (for example “Die Auswanderer”, “Frauentausch”, as well as pseudo documentaries like “Lenßen & Partner”, “ Abschlussklasse 05” etc.). Here we are dealing with typical aesthetic patterns characteristic of hybridization, and with new technical and economic challenges resulting from the Internet. From the perspective of the “ambitious documentaries” of the 1970s, these are often associated with a degradation and, moreover, a deterioration of television culture (Feil, Bertram et al.). Ultimately, it a question of analysing the functional transformation of documentary principles and the related changes in values and the criteria of plausibility, on which new documentary formats are oriented.

Sadjed, Ariane: Die Konsumgesellschaft im Iran, 19.11.09

Abseits gängiger Klischees über die gesellschaftlichen Verhältnisse im Iran beschreibt AVINUS-Autorin Ariane Sadjed die Rolle der islamischen Religion. Diese ist nämlich nicht zwangsläufig ein Mittel, um die Bevölkerung in Unmündigkeit zu halten. Vielmehr kann die Religion als Gegenpol zur Politik fungieren und damit Freiräume schaffen.


Religion und Moderne

Über den Iran zu sprechen bedeutet oft, erst die schreienden Bilder zu widerlegen, die mit dem Land assoziiert werden. Darstellungen in den Medien beschränken sich meistens auf zwei Extreme: es sind entweder Bilder fanatisch-religiöser Anhänger eines glühenden Anti-Amerikanismus oder topmodisch gekleidete Frauen mit auffallendem Make-up, die dem iranischen Regime vermeintlich subversiv gegenüber stehen. Wieso sind gerade diese zwei Bilder in der westlichen Medienöffentlichkeit so dominant? Kann darin eine Vorstellung von Widerstand erkannt werden, die nur eine bestimmte Art der Subversivität kenntlich macht, nämlich jene, die statt den Regeln des Gottesstaates jenen der globalen Konsumkultur – mit westlichen Waren – folgt? Die Islamische Republik hat sich seit ihrer Gründungsphase darauf berufen, sich von der westlichen Warenwirtschaft unabhängig zu machen. Doch spätestens seit der Präsidentschaft Rafsanjanis 1989-1997 wurde der freien Marktwirtschaft extensiv Raum gegeben[1]. Die neuen gesellschaftlichen Eliten, ausführende und kontrollierende Organe eines institutionell verordneten islamischen Habitus, sind mittlerweile in die wohlhabendsten Schichten aufgestiegen. Sie führen damit einerseits das Credo der Revolution von der Abkehr von materialistischen Ausschweifungen ad absurdum, lassen aber auch erstaunte Beobachter aus dem Westen zurück, die nicht verstehen, wieso unter den schwarzen Schleiern mancher Frauen teure Designerschuhe hervorblitzen. Die Vorstellung, dass Religiosität eher in armen und ungebildeten Bevölkerungsschichten verwurzelt ist[2] und die Teilnahme an der globalen Warenwirtschaft und ihren weltlichen Gütern ausschließt, trifft zumindest im Iran nicht zu. Religiosität hat so viele Facetten, dass man die, vor allem aus westlichen Kontexten bekannten, Kategorien umdenken oder erweitern muss. Dazu möchte ich zuerst auf Theorien der Säkularisierung eingehen und danach die Rolle der Konsumgesellschaft im Iran besprechen.

Die Hauptthese der Säkularisierungstheorie konstatiert einen Rückgang von Religiosität zugunsten von Rationalität und Vernunft, der sich durch die Trennung von Institutionen wie dem Staat und dem Markt von religiösen Institutionen vollzieht. Hefner (1998) zeigt durch seine Aufarbeitung der Geschichte der Kämpfe zwischen Kirche und Staat jedoch, dass die Befreiung vom Religiösen keine lineare Geschichte der Emanzipation ist, die zu der „sauberen“ Trennung geführt hat, von der in westlichen Gesellschaften heute ausgegangen wird. Die Vereinigten Staaten beispielsweise entschieden sich zwar gegen eine Staatskirche, dies führte aber nicht zu einer Abnahme verschiedener Religiosität, sondern zu einem starken Wettbewerb, der Rivalitäten und die Bildung von Sekten schürte. Durch solche Entwicklungen wurde die Religion pluralistischer. Religiöse Rituale verschwanden deswegen aber nicht aus der Öffentlichkeit. In islamischen Gesellschaften ist eine ähnliche Entwicklung, eine sogenannte Objektifizierung religiösen Wissens, feststellbar[3]. Während islamisches Wissen historisch stets in der Hand einer kleinen Elite war, sind dieses Wissen sowie islamische Praktiken heute einer wachsenden Anzahl von Menschen zugänglich. Der verstärkte Zugang zu höherer Bildung, das Aufkommen eines Marktes für islamische Schriften und Prozesse der Urbanisierung haben demnach in einigen Ländern zu einer Fragmentierung religiöser Autorität geführt, soziale Kräfte pluralisiert und der Demokratisierung Aufwind gegeben. Hefner betont, dass in diesem Wettstreit um Autorität nur in jenen Gesellschaften der “Neofundamentalismus” siegte, die mit Krisen wie Bürgerkrieg, ökonomischem Zusammenbruch, ethnischen Konflikten oder extremer staatlicher Gewalt konfrontiert waren. Das führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass der wahre „clash of civilizations“ nicht zwischen dem Westen und einem homogenen „Anderen“ stattfindet, sondern zwischen rivalisierenden Traditionsträgern innerhalb derselben Nationen und Zivilisationen.

Moaddel (2002) führt weiter aus, wie ein islamischer Diskurs in Opposition zu staatlichen Strukturen geformt wird. Anhand der Muslimbruderschaft in Ägypten beschreibt er, wie diese Bewegung in den 1930er und 40er Jahren für politische Mäßigung und Parlamentarismus eintrat. Extremistische Tendenzen begannen erst Fuß zu fassen, nachdem die Bruderschaft nach dem Umsturz der Regierung 1952 von jeglicher politischer Partizipation ausgeschlossen wurde. Die staatlich verordneten säkularen Ideologien in Ägypten, Syrien oder dem Iran politisierten den öffentlichen Diskurs und bildeten damit einen günstigen Kontext für das Erstarken eines islamischen Fundamentalismus. Der Demokratisierungsprozess hingegen, der von König Hussein in Jordanien Ende der 1980er Jahre initiiert wurde, beförderte die Säkularisierung der islamischen Bewegung Jordaniens[4]. Moaddel sieht seine Theorie durch die Entwicklungen im post-revolutionären Iran bestätigt: wo der monolithische, von oben verordnete Diskurs nun religiös ist, haben Prozesse der Objektifizierung und Fragmentierung religiöser Autorität – weit entfernt davon, Religion zu politisieren – die Entwicklung einer islamischen Bürgerrechtsbewegung und eine Säkularisierung der Religion gefördert.

In Bezug auf die Geschichte der Säkularisierung in Europa zeigt Salvatore (2005), dass eine bestimmte Form religiösen Fanatismus der Mobilisierung eines neuen, modernen Typus staatlicher Gewalt dienlich war. Anhand der Reconquista in Spanien zeigt er, dass die Schaffung eines Nationalstaates mit homogener Bevölkerung, Sprache und Religion nur durch die Verbindung von Kirche und Königshaus möglich wurde. Salvatore macht deutlich, dass diese Homogenisierung eine Vorbedingung für die nächste Stufe der Neutralisierung verschiedener religiöser Einstellungen und ihres Kampfgeistes war und die darauffolgende Säkularität als eine neue Form des Regierens innerhalb der aufkommenden, modernen politischen Strukturen einläutete. Die Vorstellung einer säkularen Öffentlichkeit als eine neutrale Position vis-a-vis der Vielzahl von Religionen, ein institutionelles und kulturelles Regelwerk, das vermeintlich fanatischen Aktivismus in seine sicheren Grenzen verweist, ist demnach nicht haltbar. Salvatore argumentiert in Anlehnung an Talal Asad (2003) dafür, Säkularität auch als einen normativen Diskurs wahrzunehmen, durch den bestimmte Formen moderner Machtpolitik Ausdruck finden. Eine plastischere Methode des Analysierens ist daher sinnvoller als die Analyse einer statischen Opposition von religiös und säkular.

Vielleicht liegt es unter anderem daran, dass die westliche Öffentlichkeit  – genau wie umgekehrt die islamische – mit der Erfassung bestimmter Wechselwirkungen zwischen Staatsmacht und Religion oder Religion und Massenkonsum gewisse Schwierigkeiten haben. In Bezug auf islamische Gesellschaften ist es daher unabdingbar, die Wahrnehmung der (ohne Zweifel vorhandenen) Unterschiede in der Herausbildung dieser Begrifflichkeiten einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen, die der historischen Entwicklung der respektiven Einstellungen und Praktiken genügend Raum gibt. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen im post-revolutionären Iran werden im folgenden genauer beleuchtet.

Konsumgesellschaft

Die iranische Regierung beansprucht die Führungsposition im Kampf um politische und kulturelle Autonomie für sich, indem sie an historische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis anknüpft[5]: schon während der Kajaren-Dynastie wurden nationale Ressourcen leichtfertig der englischen Krone übergeben, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu der konstitutionellen Revolution führte. Auf die Übernahme der zentralen Einkommensquelle, der iranischen Ölgesellschaft, durch die englische Regierung folgten kurz darauf innenpolitische Zwistigkeiten, die – mit Unterstützung der amerikanischen Regierung – den Sturz des demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh im Jahr 1953 nach sich zogen[6]. Die darauf folgende Wiedereinsetzung des Monarchen, Reza Schah Pahlavi, auf dessen Kooperation sich England und die USA stützen konnten, und die rasante Modernisierung nach „westlichem Stil“ hinterließ ein gravierendes ökonomisches Ungleichgewicht und führte zu einer Auflösung der traditionellen sozialen Strukturen. Mit der fortschreitenden Entfremdung der herrschenden Klassen von der großen Mehrheit der Bevölkerung verschärften sich die sozialen und politischen Konflikte, auf die der Schah immer autoritärer reagierte[7]. Die islamische Revolution 1979 sollte der Herrschaft dieser Eliten ein Ende setzen. Mit der Errichtung der Islamischen Republik und der Institutionalisierung revolutionärer Aktivitäten wurden daher in Bezug auf äußeres Auftreten, Körpersprache und Umgangsformen neue Verhaltensmuster, basierend auf „islamischen“ und „traditionellen“ Werten erfunden, die ein kulturelles Gegenmodell zum Westen, aber gleichzeitig auch Modernität und Fortschritt repräsentieren sollten. Die Übernahme dieser neuen Codes wurde unerlässlich für soziale Interaktionen in der postrevolutionären Gesellschaft Irans.[8]) Private Räume, Einkaufszentren, Parks, Restaurants oder Kinos sind aber noch immer Orte, in denen westliches Auftreten mitunter erwünscht ist. Die Repräsentanten dieser unterschiedlichen Einstellungen schaffen durch den Besitz und die Verwendung entsprechender Konsumgüter soziale Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Während die gesellschaftlichen Eliten unter dem Schah vor allem aufgrund der Wahrung westlicher statt iranischer Interessen angegriffen wurden, lassen sich vergleichbare Tendenzen nun bei der neuen islamischen Elite erkennen, die sich zwar in Ablehnung gegenüber westlichen Lebensmodellen übt, die Konsumkultur jedoch fest in ihrem Alltag integriert hat. Die politischen Autoritäten Irans scheinen eine bestimmte Form des Konsumierens zu ermutigen, nämlich jene, die eine islamische Identität und damit Konformität mit dem Staatsmodell der islamischen Republik affirmieren. Dies ist besonders im Iran ein prekäres Feld, wo durch die Revolution eine Neuordnung der Gesellschaft stattgefunden hat und die ehemals herrschende Mittel- und Oberklasse zwar entmachtet wurde, das Versprechen sozialer Gleichheit aber nicht eingelöst wurde. Die Wege, durch die die Oberschicht zu Geld gekommen ist, werden häufig mit Korruption und Vetternwirtschaft in Zusammenhang gebracht[9]. Von den unteren Schichten abgetrennt und kaum akzeptiert, rivalisieren verschiedene Teile dieses neuen Establishments untereinander. Dieser Kampf um Anerkennung wird durch unterschiedliches Konsumverhalten deutlich. Auf der einen Seite finden sich Lebenstile US-amerikanischer Prägung, auf der anderen Seite  „islamische“ Eliten, wo sich die Frauen zwar verschleiern, der Schleier allerdings aus wertvollstem Stoffe aus Dubai sein muss.  Diese Gruppierungen fechten einen „war of status competition” aus, „in which goods serve chiefly in status-marking and status-claiming capacities“[10].

Konsumverhalten kann also der Ausfechtung sozio-politischer Konflikte dienen. Die Darstellung des Konsumverhaltens als Ergebnis individueller, oft rein emotional geleiteter oder irrationaler Entscheidungen ohne strukturellen Hintergrund entpolitisiert den Konsum jedoch und verschleiert damit seine Funktion als sozialer Ordnungsmechanismus[11]. Wie Mary Douglas (1979) betont dient die Konstruktion von Konsum als einer Freizeitaktivität, die von der Sphäre der Produktion und des Politischen getrennt ist, der Aufrechterhaltung bestimmter Machtverhältnisse: „Irrational explanations of consumer behaviour get currency only because economists believe that they should have a theory that is morally neutral and empty of judgement, whereas no serious consumption theory can avoid the responsibility of social criticism. Ultimately, consumption is about power, but power is held and exercised in many different ways“[12].

Neben Mechanismen der sozialen Inklusion und Exklusion sieht Baudrillard (1998) durch die Wahlmöglichkeiten des Konsums jedoch auch emanzipatorisches Potential für das Subjekt. Die Konsumkultur geht mit der Entwicklung eines “wählenden Selbstes” einher[13], in der sich die von Geburt und sozialen Zuschreibungen festgelegte Identität zu einem reflexiven, offenen Projekt wandelt, das vom individuellen Auftreten bestimmt ist. Die Wurzeln dieser Entwicklung sehen Zukin und Maguire in Prozessen der Urbanisierung und Industrialisierung, die den Zugang zu einer Bandbreite neuer Waren und Erfahrung geöffnet haben, während dadurch gleichzeitig Familienstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse verändert wurden. „The individual is then free to choose his or her path toward self-realization, taking on an opportunity and obligation once reserved for the elite. This freedom, however, comes at the cost of security; without fixed rules, the individual is constantly at risk of getting it wrong“[14]. Diese Fragilität ist bezeichnend für den Iran, wo das teilweise gewaltsame Eindringen der Moderne zu verschiedenen Brüchen innerhalb der Gesellschaft geführt hat. Nichtsdestotrotz gehen Marketing-Manager in transnationalen Firmen davon aus, dass alle Konsumenten der Welt nach einem „amerikanischen“ Modell einer Konsumgesellschaft als Basis ihrer Bedürfnisse und Begehren streben[15]. Die Manager sehen in diesem Modell ein universelles Ziel von Modernisierung, Demokratie und Fortschritt, und ihre Marketingstrategien zielen darauf ab, nationale, kulturelle und ethnische Differenzen im Streben nach dieser universellen Konsumkultur zu eliminieren. Dadurch entstehen Widersprüchlichkeiten, in denen globale Einflüsse sowie partikular-lokale und die vom Regime vorgegebenen, vereinheitlichenden Praktiken nebeneinander existieren oder mit einander konkurrieren[16]. So haben sich in Teilen der Bevölkerung lokal spezifische Formen des Konsums herausgebildet, unabhängig von Religiösität, aber in irgendeiner Form auf die herrschende Meinung regieren.

Der vorliegende Text möchte daher der Frage nachgehen, wie gläubige Iraner und offizielle Repräsentanten des Islam das Verhältnis ihrer Religion zu modernen Formen der Massenkultur definieren und ob sie sich als Vertreter einer islamischen Lebensweise sehen, die gegen dieses Eindringen „von außen“ ankämpft, oder ob sie der Ansicht sind, so gut wie alle Gesellschaften müssten sich heute mit der Entwicklung des internationalen Konsummarktes auseinandersetzen.

Befreiung oder Disziplinierung?

In seiner Vorlesung über Governmentalität legt Foucault (1991) einschneidende Veränderungen in der Geschichte gesellschaftlicher Machtbeziehungen dar, aus denen die modernen Techniken des Regierens hervorgegangen sind. Nach Foucault ist die zunehmende Zentralität des politischen Apparates im Westen des beginnenden 18. Jahrhunderts nicht auf eine zentrale Macht zurück zu führen, die ihren Einfluss auf die Gesellschaft durch die Ausdehnung der Staatsmacht erweitert hat. Vielmehr haben Staaten es bewerkstelligt, „to connect themselves to a diversity of forces and groups that in different ways had long tried to shape and administer the lives of individuals in pursuit of various goals“[17]. Mit der Stärkung des Konzepts vom Individuum in der Gesellschaft werden diese Strategien der Disziplinierung mehr und mehr internalisiert und damit diffuser, wodurch die regulierende Macht subtiler wird. Foucault’s Schriften über Governmentalität zeigen auch, wie wichtig  der Prozess der Individualisierung für den Aufstieg des Konsumenten als frei wählendes Individuum war. Die Schaffung der Subjektivität war im Kapitalismus essentiell, weil er die Produktion von Subjekten benötigte, die sich selbst als autonome, selbstbestimmte und aktive Individuen wahrnahmen. Foucault greift damit auf Althussers Argument zurück, das besagt, der Schlüsselmechanismus der Ideologie sei, Individuen zu konstituieren, die sich als autonome Subjekte wahrnehmen und ihre Unterwerfung selbst ausüben, als wäre es ihr eigener freier Wille[18]. Diese Erkenntnis ist wichtig für eine Analyse der Konsumgesellschaft im Iran, weil sie die Gleichsetzung von Konsum und Freiheit hinterfragt, die sowohl im Blick von außen auf den Iran, als auch innerhalb des Irans selbst immer wieder zur Debatte steht. Massenkultur und Konsum haben, neben anderen Faktoren, zweifellos zu Prozessen der Demokratisierung, Rationalisierung und Individualisierung im Iran geführt[19]. Gleichzeitig findet jedoch auch eine Idealisierung und Privatisierung des Konsums statt, durch die Aspekte wie die Maximierung von Profit um jeden Preis oder die Verschärfung sozialen Ungleichgewichts verdeckt werden.

Es mag verlockend sein, die modebewussten, auffällig geschminkten jungen Frauen zu Kämpferinnen gegen das iranische Regime zu stilisieren. Viele Iraner wünschen sich durchaus eine Demokratie. Die Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft jedoch als ein monolithisches Verhältnis zwischen religiösen Unterdrückern und freiheitsliebenden Unterdrückten darzustellen, wird der Komplexität der Situation nicht gerecht. Das  Konzept einer zugrunde liegenden (religiösen) Logik, die überwunden werden muss, damit Strukturen sich verändern, entspricht nicht der Vielseitigkeit, über die sich die Ordnung in der Gesellschaft manifestiert. Einerseits herrscht nämlich innerhalb des Iran eine vielfältige Auseinandersetzung darüber, wie die iranische oder islamische Identität repräsentiert gehört. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass durch Massenkonsum und die globale Zirkulation von Waren religiöse Symbole und Praktiken immer mehr in die Alltagskultur eindringen[20]. Die spezifisch iranische Situation ist, dass hier bereits seit über hundert Jahren ein Kampf gegen Fremdeinfluss und Fremdherrschaft stattfindet, der die eigenen Herrscher mal Tür und Tor geöffnet haben, dann wieder bekämpft haben. Welche Aspekte der globalen Konsumkultur zu einer Demokratisierung der iranischen Gesellschaft geführt haben, und welche Konflikte dadurch entstanden, denen sich auch andere – westliche – Gesellschaften gegenüber sehen, gilt es zu untersuchen.

Literatur

  • Ervand Abrahamian (1982). Iran Between Two Revolutions. Princeton Studies on the Near East.
  • Ali M. Ansari (2000). Iran, Islam, and Democracy: the politics of managing change. London: Royal Institute of International Affairs, Middle East Programme.
  • Talal Asad (2003). Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity. Cultural memory in the present. Stanford: Stanford University Press.
  • Jean Baudrillard (1998). The Consumer Society: Myths and structures. London: Sage.
  • Graham Burchell, Colin Gordon, Peter Miller (Hg) (1991). The Foucault Effect: Studies in Gouvermentality. Chicago: Univ. of Chicago Press.
  • Ann Cvetkovich (1992). Mixed feelings: feminism, mass culture, and Victorian sensationalism. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press
  • Mary Douglas & Baron Isherwood (1979). The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption. London: Allen Lane.
  • Shmuel Eisenstadt (2006). Die großen Revolutionen und die Kulturen der Moderne. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Mike Featherstone (1991). Consumer Culture and Postmodernism. London: SAGE Publ.
  • Michel Foucault. Governmentality. In: Graham Burchell, Colin Gordon and Peter Miller (Hg) (1991). The Foucault Effect: Studies in Governmentality, S. 87–104. Chicago: University of Chicago Press.
  • Grant McCracken (1988). Culture and consumption: New approaches to the symbolic character of consumer goods and activities. Bloomington: Indiana University Press.

Artikel

  • Thaddeus Coreno, Fundamentalism as Class Culture. Sociology of Religion, vol. 63, nr.3, (Autumn 2002), S. 335-260.
  • Robert Hefner. Multiple Modernities: Christianity, Islam, and Hinduism in a Globalizing Age. Annual Review of Anthropology 27, 1998, S. 83-104.
  • Mansoor Moaddel, The Study of Islamic Culture and Politics: An Overview and Assessment. Annual Review of Sociology 2002, 28: S. 359-86.
  • Armando Salvatore, The Euro-Islamic Roots of Secularity: A Difficult Equation. Asian Journal of Social Science, Vol. 33, nr.3, 2005: S. 412-437 (26).
  • Nikolas Rose, Pat O’Malley, and Mariana Valverde, GOVERNMENTALITY. Annual Review Law Soc. Sci. 2006. 2: S. 83–104.
  • Sharon Zukin and Jennifer Smith Maguire, Consumers and Consumption. Annual Review of Sociology, 2004, 30: S. 173-197.

 

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. vgl. Ansari, 2000.
  2. Coreno, 2002.
  3. Hefner, S.38.
  4. Moaddel, S. 374.
  5. Eisenstadt, 2006.
  6. Ansari, 2000.
  7. Abrahmian, 1982.
  8. vgl. Masserat Amir Ebrahimi, Public Spaces in Enclosure: www.pagesmagazine.net/masserat.html (22.8.2009
  9. Ansari, 2000.
  10. McCracken 1988, S. 6.
  11. Cvetkovic, 1992.
  12. Douglas, S. 89.
  13. Zukin & Maguire 2004, S. 59.
  14. Zukin & Maguire, S. 64.
  15. Zukin & Maguire, S. 66.
  16. Featherstone, 1991.
  17. Rose, S. 87.
  18. Rose, S. 90.
  19. Adelkhah, 1992.
  20. Böhme 2006.

Kunczik, Michael: Medien und Gesellschaft. Der Einfluss des Nationenimages auf internationale Kapitalflüsse, 17.11.09

AVINUS Magazin Sonderedition Nr.6, Berlin 2009.

Kompletter Artikel als PDF-Version: Medien und Gesellschaft. Der Einfluss des Nationenimages auf internationale Kapitalflüsse

Abstract:

Charakteristisch für die sozial- und kommunikations-wissenschaftliche Theoriediskussion ist das allgemeine Klagen über den Mangel an Theorie bzw. die Unzulänglichkeiten der bisherigen Theoriebildung. Problematisch ist eine Abgrenzung des Problemfeldes Medien und Gesellschaft, wenn Kommunikation als Grundphänomen jedweder Gesellschaft verstanden wird, als der soziale Basisprozess, der alle Bereiche menschlichen Lebens durchdringt und nicht nur alle Formen und Medien menschlicher Kommunikation in der Gesellschaft beinhaltet, sondern auch den gesamten Prozess der Kommunikation von der Aussageentstehung über die Inhalte und das Publikum bis zur Wirkung. Eine große Gefahr bei der Theoriebildung besteht darin, zu umfassende Aussagen machen zu wollen. Im Anti-Dühring schreibt Friedrich Engels: „Wer … auf endgültige Wahrheiten letzter Instanz, auf echte, überhaupt nicht wandelbare Wahrheiten Jagd macht, wird wenig heim tragen, es sei denn Plattheiten und Gemeinplätze der ärgsten Art.“

Dass Theorien bzw. Paradigmen Wahrnehmungen bestimmen können und nicht umgekehrt die Tatsachen darüber entscheiden, was wir wahrnehmen und welche Theorien wir konstruieren, stellte Albert Einstein in einem Brief an Heisenberg im Jahre 1926 heraus: „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“ Damit ist nichts anderes ausgesagt, als dass die Art und Weise etwas zu betrachten zugleich impliziert, etwas anderes bzw. andere Aspekte eines Phänomens nicht zu betrachten. Im Folgenden werden in Anlehnung an Hans Albert Theorien als umfassende Systeme von Hypothesen verstanden, „die die Erklärung größerer Komplexe sozialer Tatbestände ermöglichen.“

Studie zu Frauenrechten im Iran

Besprochen von Ariane Sadjed

  • OSANLOO, Arzoo: The Politics of Women’s Rights in Iran. Princeton University Press, Princeton, N.J. 2009. ISBN: 978-0691135472.

Nach mehrjähriger Feldforschung publiziert die amerikanische Anthropologin Arzoo Osanloo ihre Ergebnisse und argumentiert subtil aber beharrlich dafür, dass die Wahrnehmungen, die der Westen vom Iran hat, überdacht werden müssen. Dafür liefert sie sowohl theoretisches als auch konkretes ethnographisches Material.

Bevor Arzoo Osanloo ihre akademische Karriere begann, war sie als Anwältin tätig, spezialisiert auf Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund hat die Anthropologin an der University of Washington nun ein Buch über die Entwicklung des Rechtssystems im Iran seit der Gründung der islamischen Republik 1979 vorgelegt. Die Argumentation, auf der ihr Buch basiert, widerlegt die sowohl im Iran wie auch international verbreitete Ansicht, die islamische Republik sei eine Rückkehr zu ursprünglichen, vorzeitlichen Traditionen. Osanloo betont, dass der Iran nach der Revolution auf modernen Strukturen wie einer republikanischen Staatsform und einer Verfassung beruht, und zeigt, wie die Verbindung von republikanischer Politik und islamischen Prinzipien neue Räume und Diskurse eröffnet hat, innerhalb derer sich die Staatsbürger zunehmend als tätige Subjekte bewusst werden.

Überdies hat Osanloo ihre Analyse in Abgrenzung zu jenem Kulturrelativismus entwickelt, der behauptet, kulturübergreifende Vergleiche seien nicht möglich, da jede Kultur für sich selbst steht und die Praktiken im jeweiligen Kontext unangreifbar sind. Die Autorin arbeitet im Unterschied dazu durchaus mit der Methode des »Kontextualisierens«: Dies meint die Behandlung von »distant«, also uns fremden Praktiken, in Anbetracht ihrer Entstehungsgeschichte und ihres gesellschaftlichen Hintergrundes. Durch diese Art der analytischen Untersuchung sei eine unmittelbare Überprüfung und fundierte Kritik der jeweiligen Praktiken möglich. Im Fall des Rechtssystems im Iran wäre dies zum Beispiel die Umsetzung rechtlicher Vorgaben in der Praxis.

Das Buch beginnt mit der Feststellung, dass das Recht nicht neutral sei, sondern ein Produkt seiner Rahmenbedingungen. Die Entwicklung und Anwendung von Recht ist vielmehr ein lebendiges und sich ständig veränderndes Feld. Die Formulierung von Menschenrechten in einem ausschließlich säkularen Rahmen ist demnach ebenso kulturspezifisch und in der Geschichte Westeuropas verortet, wie Frauenrechte aus der Perspektive eines säkular-liberalen Feminismus zu denken sind. Eine strenge Unterscheidung zwischen einer unpolitischen Kultur und vermeintlich kulturneutralen – aus einer übergeordneten Rationalität heraus formulierten – Menschenrechten ist damit nicht haltbar. In Bezug auf Frauenrechte ist das gängige Konzept im Islam, dass die »Natur« von Männer und Frauen unterschiedlich ist. Dies wird deutlich, wenn Osanloo z.B. erklärt, dass die Regelung, dass eine Frau bei einem Todesfall in der Familie weniger erbt als ein Mann, so begründet ist, dass der „verbleibende“ Mann damit für die Familie sorgen muss, also für seine Mutter, Schwestern etc. finanziell die Verantwortung trägt. Aufgrund dessen ergeben sich unterschiedliche Rollen, Aufgaben und Rechte der Geschlechter. Männer und Frauen gleichen sich nicht, aber daraus wird noch keine gesellschaftliche Unter- oder Überlegenheit abgeleitet. In ihrer Unterschiedlichkeit sind beide Geschlechter gleichberechtigt, darauf basiert in großen Teilen auch das islamische Recht. Die Umsetzung dieses Prinzips hängt allerdings von den Interpretationen ab, die die jeweiligen Machthaber daraus ableiten. Die Autorin zeichnet anhand einer klaren und theoretisch fundierten Analyse, die auf mehrmonatigen Aufenthalten im Iran, Interviews und dem Verfolgen von Gerichtsverfahren beruht, die Veränderungen im Verhältnis zwischen Staat und seinen Subjekten nach und konzentriert sich dabei vor allem auf die Rolle von Frauen. Immer wieder wird deutlich, dass den Frauen das Wissen darüber, wie sie sich in der Gesellschaft mehr Rechte verschaffen können, weitgehend fehlt – Osanloo geht hier vor allem auf Scheidungsprozesse ein. Aber innerhalb der relativ jungen staatlichen Strukturen finden verschiedene Formen der Wissensweitergabe statt, in formellen Räumen durch Anwältinnen, oder informell in Koran-Lesekreisen für Frauen, den so genannten »Jalezeh«. Zu den letztgenannten Treffen werden oft Referentinnen eingeladen, die die Frauen über Themen informieren, über die sie mehr zu erfahren wünschen. So berichtet Osanloo von einem Treffen:

»Hajinouri, eine ehemalige Parlamentarierin, hatte kurz nach der Revolution eine bekannte, nicht-staatliche Organisation für Frauen und Familie gegründet. Sie war auch Co-Autorin mehrerer wichtiger Teile der Gesetzgebung in Bezug auf Frauenrechte. Durch die Bank waren die Frauen von Hajinouri und ihrem Vortrag gefesselt. Sie zeigte Wege auf, wie Frauen unter Berufung auf den Islam eine rechtliche Besserstellung einfordern können. Doch sie ging sogar noch weiter: Offenbar war es ihre Absicht, den Frauen zu sagen, dass sie mehr Verantwortung dafür übernehmen müssten, zu lernen, welche Wege es gäbe und wie man diese zugänglich machen könnte, um in Ehestreitigkeiten ihre Interessen zu wahren.«

Das Rechtssystem hält zwar verschiedene Möglichkeiten bereit, das heißt aber leider noch lange nicht, dass sie in der Praxis auch umgesetzt werden. Eine andere Anwältin für Frauenrechte, die Osanloo in ihrer Arbeit über mehrere Jahre begleitet hat, problematisiert die steigende Anzahl von Männern und Frauen, die in Scheidungsprozessen mittlerweile auf juristischem Weg Entschädigungen suchten:

»Sie wunderte sich über die damit einhergehende juristische Rationalisierung und Trennung zwischen dem Recht und den althergebrachten sozialen Prinzipien. Frauen wären jetzt nachlässig gegenüber der Tatsache, dass mit den positiven juristischen Rechten auch Verpflichtungen verbunden seien, die in der Scharia und dem Koran formuliert sind. Die Beharrlichkeit, mit der Frauen juristisch ihre Ansprüche einforderten, erzeugte sogar für diese Anwältin eine zu große Diskrepanz zu der Moral und ethischen Prinzipien der Gesellschaft.«

Es scheint also, dass der rationalistische Rechtsdiskurs die gemeinschaftliche Tradition des islamischen Rechtssystems immer mehr verdrängt. Dies ist angesichts der Tatsache, dass der iranische Staat alles für die Implementierung islamischer Werte einsetzt, verwunderlich.

Das reichhaltige ethnographische Material gibt die vielen unterschiedlichen Positionen wider, die im Iran in Bezug auf die richtige Definition von Recht existieren. In westlichen Medien beliebte Streitpunkte – wie das etwa Kopftuch – werden nicht eigens thematisiert, allenfalls in den Gesprächen erwähnt. Das macht die Darstellung authentisch und zeigt, welche Dinge im Alltagsleben der Frauen eine Rolle spielen. Die Autorin nimmt auch davon Abstand, das Geschehen, das sie untersucht, moralisch zu bewerten oder Empfehlungen abzugeben. Sie zeichnet sorgfältig und exakt nach, wie ein bestimmter Mechanismus in der Gesellschaft funktioniert und beschreibt damit letztlich einen dynamischen und dialogischen Prozess, den sie in Hinblick auf internationale Diskurse und Politiken so charakterisiert: Bei allem stetigen Bemühen, sich vom Westen abzugrenzen, werden im Iran dennoch einige von der westlichen Ideengeschichte geprägte Elemente und Begrifflichkeiten in die Staatsform, das Rechtssystem und damit die soziale Struktur eingebracht. Diese in Einklang mit islamischen Prinzipien zu bringen ist ein Ziel, das durch verschiedene Interessengruppen auf unterschiedliche Art und Weise vorangetrieben wird. „Islamische“ Prinzipien können für Rechtsexperten etwas anderes bedeuten als für politische Autoritäten. Was letztere als „islamisch“ propagieren, unterscheidet sich von jenem Islam, den Aktivistinnen wie Hajinouri sich als einen Weg vorstellen, um der Gesellschaft eine ethische Grundlage zu bieten. Es gibt im Iran also auch innerhalb des religiösen Lagers unterschiedliche Auffassungen über die Verbindung von Islam und Politik.

Eine Übersetzung des Buches ins Deutsche ist leider nicht geplant – was bedauerlich ist. Schließlich behandelt die Autorin das Thema Frauenrechte weder vom Standpunkt aus, dass Frauen im Iran pauschal unterdrückt werden, noch glorifiziert sie die »neue islamische Frau«. Es ist ein gelungener Versuch, die Rolle des Staates im Iran zu analysieren und das Land damit ein Stück weit zu entmystifizieren. Die Islamische Republik hat ein ganz eigenes Rechtssystem und die Scharia ist nicht (nur) ein irrationales »Schreckens-System«, wie es oft dargestellt wird. Auch sie entspringt und korrespondiert mit einem sozialen Kontext.

Erstmals erschienen in Das Argument

Über „Webwissenschaft – Eine Einführung“ von Konrad Scherfer (Hg.)

Besprochen von Thomas Weber

Ist das World Wide Web (WWW) überhaupt ein Medium? Die Frage wird vor allem dort relevant, wo es um disziplinäre Zuständigkeiten geht. Wenn das Web ein Medium wäre, dann würde es dem Bereich der Medienwissenschaft zugerechnet. Doch wie genau soll man ein Medium definieren – fragt Herausgeber Konrad Scherfer -, das sich anders als Fotografie, Film oder Malerei nicht über eine Kunstform definiert? Muss für das Web also eine eigene Wissenschaft, eine Webwissenschaft geschaffen werden, die das in den letzten Jahren sich rasant entwickelnde WWW zum Gegenstand hat?

Die Beiträge, die Konrad Scherfer in dem Band „Webwissenschaft – Eine Einführung“ versammelt, geben auf diese Fragen keine eindeutige Antwort, zeigen vielmehr ein heterogenes Feld von methodischen Ansätzen und Themen, die in der Summe einen guten Überblick bieten über zentrale Problemfelder, die derzeit die Diskussion über das Web 2.0 prägen und es damit als einen neuen Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Forschung empfehlen: Beiträge zu anwendungsorien­tierten Aspekten wie Medienrecht fürs Internet, wirtschaftlichen Aktivi­täten im Netz, Ratgebern (z. B. Medizin) im Web oder Webgestaltung finden sich ebenso wie Reflexionen über Forschungsmethoden etwa zur Suchmaschinenforschung oder zum Webjourna­lismus und mithin eine Reihe von z. T. hervorragenden Aufsätzen zu Einzelaspekten wie z. B. die übersichtliche Darstellung von unterschiedlichen Qualitätskriterien zur Beurteilung von Websites von David Kratz oder Rainer Leschkes entlarvende Analyse von Netzliteratur und ihres Mythos‘ der grenzenlosen Kombinationsmöglichkeiten.

Gerade die Heterogenität der verschiedenen Aufsätze scheint dabei das programmatisch angelegte Vorhaben von Scherfer zu rechtfertigen: Muss nicht tatsächlich gefragt werden, ob man die unterschiedlichen Beobachtungsstandpunkte bei der Analyse des WWW nicht in einer neuen Wissenschaft vereinen könnte?

Besonders markant nehmen hierzu die beiden Aufsätze von Konrad Scherfer und Helmut Volpers Stellung, können sich aber zunächst nur – wie sie selbst eindringlich begründen – nur in Abgrenzung zu etablierten Disziplinen positionieren. Konrad Scherfer skizziert in seinem einleitenden Beitrag grundlegende Positionen des Diskurses über das Web (z. B. Digitalisierung, Hybridisierung, Interaktivität) und versucht sie in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Und Helmut Volpers drängt in seinem konzeptionellen Beitrag „Warum eine Webwissenschaft?“ darauf, theoretische Unschärfen bei der nunmehr zu beobachtenden Verstetigung des WWW nicht länger in Kauf zu nehmen und verweist auf Ansätze – insbesondere der US-amerikanischen Kommunikations­wissenschaft – das Web als eigenen wissenschaftlichen Gegenstands­bereich zu konstitutieren. Doch führt seine Konklusion letzthin zu der paradoxalen Feststellung, dass nur trans­disziplinäre Ansätze hier weiterführend sein können, also Ansätze, die verschiedene Disziplinen im Hinblick auf eine übergreifende Fragestellung koordinieren. Dass dies „die Herausbildung einer eigen­ständigen Webwissenschaft kontraindiziert“, wird von ihm selbst eingeräumt, nicht ohne jedoch aus „forschungsprak­tischen Erwägungen für eine Webwissenschaft“ zu plädieren, um eine grundlegende „Phänomenologie“ des Webs zu erarbeiten.

Vielleicht ließe sich das Paradoxon in zukünftigen Arbeiten zum Web leichter auflösen, wenn man sich von der Logik der institutionellen Ausdifferenzierung des universitären Wissenschafts­betriebs und dem Profilierungsdruck von Einzeldisziplinen zumindest für die forschungsleitende Diskussion befreien und stärker auf die – ja bereits existierenden – transd­isziplinären Ansätze einlassen würde.

Fürs erste ist Konrad Scherfern und seinen Mit-Autoren mit dem Band „Webwissenschaft – Ein Einführung“ ein erhel­lender Fragenkatalog gelungen, der Grenzen bisheriger disziplinärer Methoden und Zuordnungen aufzeigt, eine erste Bestandsaufnahme von aktuellen Diskussionsansätzen über das Web bietet und damit eine wichtige Orientierungshilfe in einem neuen Forschungsfeld leistet.

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Rezension erstmals erschienen in: „Webwissenschaft?“, Rezension zu Scherfer, Konrad (Hrsg.): „Webwissenschaft – Eine Einführung“, Münster 2008, „Medien und Kommunikation“ 1/2009, S. 94-95.

Coulter, Gerry: Ecology And Two Deaths, 06.10.09

Consider the story of the soldier who meets Death at a crossing of the marketplace, and he believes he saw him make a menacing gesture in his direction. He rushes to the king’s palace and asks the king for his best horse in order that he might flee during the night far from Death, as far as Samarkand. Upon which the king summons Death to the palace and reproaches him for having frightened one of his best servants. „I didn’t mean to frighten him. It was just that I was surprised to see this soldier here, when we had a rendez-vous tomorrow in Samarkand.“[1]

Discussions of political ecology today are often shrouded in an apocalyptic tone. I think this is a good thing given our history as a species which has evolved along a technological trajectory. What makes us human, perhaps more than anything else, is our elaborate tool making ability. Technology has long been crucial to what humans are and today it is not only a force we use to  adapt, but one to which we must adapt.  From the first pieces of flint, to parchment scrolls, the characters of languages, libraries, atomic devices, computers, all the way down to the digitalization of genetic codes, technology has been vital to our destiny as a species. After the first piece of flint was secured to a piece of wood to make an axe (for hunting and for murder), there was no turning back. We are neither innately good nor evil and we partake generously of both. The axe and the hammer contain as much evidence of who we are as does any “Holy Book”. As we look toward the future of life on earth we can depend upon humans to do both good and evil but we cannot necessarily be depended upon to act wisely and in our long term best interest. We can however, given our history, be depended upon to attempt technological solutions to any problem. One of our destinies is to eventually merge with technology and we have been ambivalent about this for the better part of six decades. Such are some of the most basic considerations informing the background against which discussions of political ecology should take place today.

Until the middle of the twentieth century humans managed to keep the upper hand over technology (although there were troubling signs during WWI as we watched almost an entire European generation literally fed to the machineries of the first advanced technological war). Hitler was there as a mere message boy but no doubt the first experiences of industrialized death left a mark on him. By 1945, and the end of his war, we had learned how to set off a chain of nuclear events from which we could only hope to hide deep underground. We have lived now for over half a century with the knowledge that the very technology which helps make us what we are has the ability to end what we are. We could somehow manage to imagine a few ragged survivors of a nuclear catastrophe but a genetic catastrophe would, no doubt, be thoroughly devastating. The atomic bomb and artificial intelligence seem rather tame now in a time of the likelihood of genetic terrorism, and the nanotechnologies with which we will profoundly redesign every species on the planet, including our own. The most important story of the 21st century will almost certainly be our encounter, at the level of a species, with death. It will probably arrive in one of two ways.

In one of our possible futures, the one that is of great concern to contemporary political ecologists, our current path will lead us to a dreadful ecological disaster that will wipe out most life on earth. There are many scenarios which describe this possible future and it is now a widely understood possibility. Fear of such ecological collapse is probably the primary motivating force behind efforts to devise a basic ecological survival strategy for humanity given the potential harm that our economics and technologies do to our natural environment. Most ecologists considering these issues rightly understand that what is at stake is the very survival of not only human life but the technologically engaged nature of that life. No one seriously thinks that we have a future that is a non-technological one any more than we have ever had a non-technological past. What most ecologists do agree upon is that our current political, economic and technological trajectories are heading us toward an ecological crisis that will lead to a total system failure. What most ecologists do not consider, in these urgent times of ecological distress, is the disturbing irony is that such a failure may actually be our last chance from something much worse – the success of the current system.

Another future scenario, also well understood, sees us able to avoid ecological collapse by making our human and technological systems sustainable. In the most glowing of these scenarios we will wipe out most (if not all) human ‘deformities’ and the possibility of an inherited disease will become a thing of the past (were these not also the dreams of Nazi science and eugenics?). In such a future we will also enjoy the birth of children whose characteristics have been carefully selected from a menu. The socialization of such expensive progeny will be carefully planned and parenting will almost certainly become a matter of dire responsibility in a world where, it is believed, little should be left to chance. Genetic cloning would almost certainly play a smaller role here than something we already know all too well – social cloning via various agencies of socialization (parents, schooling, mainstream media). Surely, in such a world, everyone would require a wearable mini-computer complete with retinal interface to the brain (the technology is already more than a decade old). Perhaps the ‘wear-comp’ could even correct our thoughts the way word processors today correct our typing.

The person walking along a street today engaged in conversation with a minute ear piece and microphone is one technological degree from being permanently networked when all of our  gadgets are available in the wear-comp. The “I-phone” and “Blackberry” are the bridging technology to the wear-comp and the early post human years of the tribulations of the experiment that will be the Networked People. From this world only mere humans will remain among the unplugged and the last humans (as we known humans today) will be found among the poorest – the ‘unconnected’. Of course there is a lot of criticism of this unfolding future but we know well that this criticism runs just behind the pace of the technologies which are making this future part of our present. Today we occupy a planet upon which a schizophrenic ecological discourse rages – a deepening of efforts to implement sustainable ecological measures running behind the simultaneous proliferation of enterprises of ecological annihilation.

But what if all the nay-sayers are wrong? What if our current system succeeds and we do build a genuinely brave new ecologically sustainable world glittering with advanced technologies? We could then live out our lives in total security. If we can avoid an ecological catastrophe we might enter into a utopian world of protection and security even greater than that of the present inhabitants of ‘gated’ communities. Computers would then generate the models of lives which will become as predictable as the weather – a world in which evil, all negative events, disease, and uncertainty are removed. This future is only as far away as the ability of the current system to adapt itself to ecological sustainability. But even here, among the most glowing scenarios, a problem becomes apparent: Can we imagine, really, a world more full of refined and measured death for a creative and thoughtful species than a predictable, networked, techno-future? Is this what proponents of sustainable market economies and advanced technology dream of? Whether or not it is, an artificial and technologically programmable future is almost a certainty if our current system succeeds.

Like the soldier riding through the night attempting to avoid his destiny, yet racing toward it in Samarkand, our way of life seems to have a rendez-vous with death which is probably unavoidable. What remains to be seen is which one. Will we as a species succumb to a probable technologically driven ecological catastrophe? Or, does an even worse fate await us – one in which the current system succeeds? These are deeply disturbing questions and the current discourse concerning political ecology will be better for not avoiding them.

I do not seek to defuse concern or to encourage pessimism but to encourage those concerned with political ecology, in a time of great enthusiasm for sustainability, to ask themselves just what kind of future we are trying to sustain? If political ecology is to be guided, as many would like it to be, by a concern to make the present system sustainable, it must also face the dire problems our continued systemic course will place on human freedoms and creativity. Are we really willing to accept systemic preservation at any cost? If the best we can do is sustain our current systemic trajectory, then perhaps we are far better off facing the kind of system failure which depends on a devastating ecological crisis.

Until someone can devise a scenario under which we can  both change our systemic path toward being utterly domesticated by technology while, and, at the same time avoiding ecological disintegration – I will remain on the side hoping for the lesser evil – ecological collapse. In a practical sense I hope that by advocating an apocalyptic stance, and encouraging others to do so, I can play a small role at least in flushing out the deeper implications of where political ecologies are headed today. Until political ecology can come to terms with the two deaths which we as a species currently face, I cannot help but feel that we are all a little closer to Benjamin’s Angel than we like to imagine we are:

The Angel of History does not move dialectically into the future, but has his face turned towards the past.  Where a chain of events appears to us, he sees one single catastrophe which keeps piling wreckage upon wreckage and hurls it at this feet. The Angel would like to stay, awaken the dead, and join together that which has been smashed to pieces, but a storm is blowing from paradise and irresistibly propels him into the future toward which his back is turned, while the pile of ruins before him grows skyward. What we call progress is that storm.[2]

Works cited

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Baudrillard 1990, p. 72
  2. Benjamin 1969, p. 119

Grampp, Sven: Das Medium des neuzeitlichen Lichts – Gutenberg und die Lichtsymbolik, 06.08.09

1798, rund zweihundert Jahre vor der Verabschiedung der Gutenberg-Galaxis durch den Medientheoretiker Marshall McLuhan, beantragte der Direktor der Berliner Sternwarte, Johann E. Bode, bei einem Fachtreffen von Astronomen, ein Sternbild nach Johannes Gutenbergs Erfindung zu benennen. Damit sollte der Buchdrucker in den illustren Kreis antiker Götter und Fabelwesen aufgenommen werden, deren Sternenbilder den Himmel bevölkern und die Nacht erhellen.[1]

Sternenbild in Alexander Jamieson Sternenatlas von 1822

Abb. 1: Der Buchdruck samt Setzkasten als Sternenbild in Alexander Jamieson Sternenatlas von 1822

Johannes Gutenberg war und ist – selbst noch im Akt seiner Verabschiedung – eine äußerst populäre Figur gesellschaftlicher Selbstverortung. Kaum eine erfinderische Leistung ist in der Neuzeit über einen so langen Zeitraum mit gleicher Regelmäßigkeit und Begeisterung gefeiert worden wie die Gutenberg zugeschriebene Erfindung der Druckerpresse mit beweglichen Lettern. Davon legen nicht zuletzt die Feiern beredtes Zeugnis ab, die zum Gedenken an Gutenberg und seine Erfindung in Jahrhundertintervallen abgehalten wurden.[2] Das Symbol Gutenberg ist also langfristig kommunikativ anschlussfähig, wird aber – wie zu zeigen sein wird – sehr unterschiedlich besetzt. Es trägt epochale Zäsurbestimmungen ebenso wie technische Fortschrittseuphorie oder reformatorische und nationale Integrationsangebote.

Die symbolische Besetzung Gutenbergs bezieht sich dabei auffallend häufig auf die Idee des Lichts. Immer wieder und in unterschiedlichsten Kontexten tritt Gutenberg als Lichtbringer und -bote in Erscheinung, wobei mit vollen Händen aus den Traditionsbeständen christlicher und aufklärerischer Symbolik geschöpft wird. Schon wenige Beispiele zeigen dies: „Gutenbergs typographische Fackel hat die ganze Erde erleuchtet […].“[3] „Es wurde ein Mann von Gott gesandt, der hieß Johannes. Derselbe kam und zeugt vom Licht.“[4] „Mit Gutenberg […] trat das Verborgene ans Licht […] verschwand die Nacht, brach an der Tag.“[5] Bei dieser Verschränkung der Symbole Licht und Gutenberg ergibt sich eine immense Bandbreite semantischer und funktionaler Besetzungen. Einerseits soll im Folgenden diese Bandbreite genutzt werden, um am Beispiel Gutenbergs die variable Einsatzmöglichkeit von Lichtgestalten und deren Funktionslogik aufzuzeigen, andererseits soll aber auch das Spezifische der Lichtgestalt Gutenberg dargestellt werden. Im Laufe der Jahrhunderte bildete sich nämlich eine bestimmte Sichtweise auf Gutenberg aus, die zunehmende Dominanz gewann: Mit Gutenberg und der ihm zugesprochenen Erfindung wird eine irreversible kulturgeschichtliche Zäsur bezeichnet. Dabei wird zumeist eine klare Trennung behauptet zwischen „der düstren Nacht des Mittelalters“[6] und der Neuzeit, die durch den ‚Lichtboten‘ Gutenberg geradezu initiiert worden sei und durch Gutenbergs Erfindung, wie es in einer Beschreibung aus dem 19. Jahrhundert heißt, „einen unübersteiglichen Damm gegen jeden Rückfall in die vorige Barbarei“[7] erhalten habe. Der Erfinder Gutenberg figuriert somit als Mittler bzw. Medium des neuzeitlichen Lichts, seine Erfindung, das technische Verbreitungsmedium Buchdruck, als Gründungsakt und als herausragendes Signum der Neuzeit. Erfinder und Erfindung werden dabei im Symbol Gutenberg verschmolzen.

Um diese Behauptungen schrittweise nachvollziehbar zu machen, ist der Text folgendermaßen aufgebaut: Nach einleitenden Bemerkungen zum hier zu Grunde gelegten Symbolbegriff folgen Ausführungen zur Funktion und Tradition von Lichtsymbolik und Lichtgestalten. Danach sollen die symbolischen Verschränkungen der Figur Gutenberg und der Idee des Lichts nachgezeichnet werden. Dafür wurden primär literale und visuelle Quellen aus dem 19. Jahrhundert herangezogen, die im Umfeld der Gutenbergjahrhundertfeiern situiert sind. Anhand dieses Quellenkorpus lässt sich exemplarisch die Vielfalt und vor allem die Funktionslogik der symbolischen Inszenierungen Gutenbergs nachzeichnen, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet haben.

I. Zum Begriff des Symbols

In der wissenschaftlichen Diskussion ist sehr umstritten, was als Symbol verstanden werden kann und soll.[8] In diese Debatte wird hier nicht eingestiegen. Stattdessen sollen pragmatisch einige Aspekte des Symbolbegriffs skizziert werden, um eine heuristische Basis zu schaffen, mit der die Verschränkung der Symbole Gutenberg und Licht ausreichend konturiert werden kann.

Symbole sind zunächst einmal ganz einfach Zeichen: Sie repräsentieren etwas, und zwar etwas, das sie selbst nicht sind. „Zeichen affizieren in uns das von ihnen Repräsentierte. Sie sind Erinnerungsmuster für die von ihnen repräsentierten Bilder, Erfahrungen und Empfindungen. Sie ‚appräsentieren‘, schaffen etwas (wieder) herbei, was sie nicht selbst sind.“[9] Da Zeichen aufeinander verweisen und so Zeichensysteme bilden, ermöglichen sie überdies, die Welt sinnvoll zu ordnen und zu deuten. Die Außenwelt wird so zu einer kommunizierbaren Wirklichkeit. Gleichsam wird durch den Austausch von Zeichen gemeinschaftliches Handeln ermöglicht.[10] Zeichen haben also mindestens vier Charakteristika: Sie repräsentieren etwas (verweisen auf Abwesendes); sie appräsentieren etwas (vergegenwärtigen das Abwesende); sie ermöglichen es, die Welt sinnvoll zu ordnen, und sie sind Instrumente intersubjektiver Handlungskoordination.

Symbole sind jedoch ein spezifischer Zeichentypus, dem die genannten Charakteristika in spezifischer Weise zu eigen sind. Durch die Sprachgemeinschaft wird eine symbolische Bezeichnung konventionalisiert, was bedeutet, dass man diese Konvention kennen muss, um ein Symbol verstehen zu können.[11] Trotz dieser konventionellen Verbindung von Symbol und symbolisiertem Gegenstand wird beim Symbol der Aspekt der Vergegenwärtigung hervorgehoben. Die Konventionalität und Mittelbarkeit der Bedeutungszuweisung wird dabei möglichst verdeckt; es wird eine unmittelbare Präsentation des Bezeichneten suggeriert: „Symbolische Repräsentation ist […] ein Spezialfall der Appräsentation: Sie ist die in Wahrnehmung und Darstellung aktiv zu leistende unmittelbare Präsentation vermittelter Erfahrung. Sie zielt auf die direkte Erfahrung des Indirekten, auf die Unmittelbarkeit des Vermittelten.“[12] Um es pointiert zu formulieren: Symbole bedeuten nicht, sondern lassen etwas sichtbar werden. Durch diese Leistung erhalten Symbole eine herausragende Evidenz – sie vermögen ‚unmittelbar‘ zu überzeugen.

Symbole finden sich auf Ebene der Alltagskommunikation, etwa in Form eines Straßenschildes; sie können aber auch auf einen transzendenten Sinnzusammenhang abzielen. Ausschließlich um diesen Zusammenhang soll es hier gehen. Symbole formen, formulieren und aktualisieren einen „Kosmos der Weltbilder und der in sie eingelagerten Traditionen.“[13] Sie sind zuständig für letzte Sinnfragen, für logisch-diskursiv nicht einholbare (oder zumindest nicht eingeholte) Orientierungsprobleme. Symbolische Repräsentation kann also als Reaktion auf und Konturierung von Ambivalenzen und Grenzerfahrungen, ganz allgemein als Reaktion auf und Konturierung von (existenziellen) Problemsituationen verstanden werden. Ihre Funktion besteht darin, transzendente Sinnorientierung bereitzustellen und so intersubjektive Handlungen zu koordinieren. Diese Funktion erfüllt die symbolische Repräsentation nicht mittels logisch-diskursiver Argumentation, sondern durch den Rückgriff auf Elemente aus den weltbildkonstituierenden Traditionsbeständen und deren Aktualisierung und Inszenierung als unmittelbare Vergegenwärtigung von Transzendentem.

II. Lichtsymbolik und Lichtgestalten

Zur Inszenierung unmittelbarer Vergegenwärtigung von Transzendentem scheint Licht besonders gut geeignet zu sein. In einem Symbollexikon heißt es etwa: „Licht, allgegenwärtige Erscheinung, die uns in ihren Wirkungen vertraut, in ihrem Wesen weitgehend unfaßbar ist. Von daher bevorzugtes Symbol für Immaterialität, Geist, Gott […].“[14] Ungeachtet der naturwissenschaftlichen Fragestellung, ob und wie das ‚Wesen‘ des Lichts physikalisch fassbar gemacht werden kann, ist es hinsichtlich seiner ‚flüchtigen‘ Materialität als elektromagnetisches Phänomen für die menschlichen Sinne auf jeden Fall weit weniger gut zu erfassen und zu erkennen als etwa die evidente Materialität eines Stuhles. Zugespitzt formuliert: Die Materialität des Lichtes mutet immateriell an und scheint sich geradezu zur ‚sinnbildhaften‘ Darstellung von Immateriellem bzw. Transzendentem anzubieten. Der jüdisch-christliche Gott wird demgemäß auch im ersten Brief des Johannes als reines, jenseitiges Licht beschrieben: Gott sei Licht und keine Finsternis sei in ihm. Hier wird ein immaterielles und jenseitiges Wesen beschrieben, das nur qua Lichtsymbolik sinnbildlich anschaulich werden kann.

Das Licht zeichnet sich aber nicht nur aus durch seine Symbolisierung des Immateriellen bzw. Jenseitigen, sondern gerade durch seine Fähigkeit, das Immaterielle und das Materielle in sich zu vereinigen. So spielt das Symbol des Lichts in Schöpfungsmythen eine zentrale Rolle – also in Geschichten von handfester Materialisierung: „[…] in nahezu allen Schöpfungsmythen [wird] die Entstehung der Welt(en) mit dem Werden des Lichtes und damit des Sichtbar-Werdens der Erscheinungen in Verbindung gebracht.“[15] Der Schöpfungsmythos der Genesis etwa operiert zentral mit der Lichtsymbolik: Gott scheidet das Licht von der Finsternis und setzt somit eine erste Ordnung „als Figuration des Werdens“ (Kirchmann 2000, 15) ein. Damit ist aber eine zumindest ambivalente Situation geschaffen: Licht ist nämlich dann sowohl Sinnbild des Werdens, des Einsetzens von Zeitlichkeit und somit der Geschiedenheit von Gott als auch Sinnbild des Dauernden, Zeitlosen und Ungeschiedenen, eben Sinnbild Gottes selbst. Die ambivalente Besetzung des Lichts beschreibt eine Problemlage: „Wie ist unter der Annahme der Abspaltung des Hiesigen, Zeitlichen aus dem Reich des Einen, Zeitlosen noch eine Teilhabe am Göttlichen möglich?“[16] – Welchen Zugang hat man noch, mit anderen Worten, zum göttlichen, reinen Licht, wenn doch gerade durch die Lichtwerdung der Zugang zu diesem verwehrt wird? Im mythischen und religiösen Kontext wird dieses Problem mit folgender Figur angegangen: „Da das Ungeschiedene nicht endlich sein kann, ohne selbst zum Geschiedenen zu werden, muß es auch nach dem Anfang aller Zeiten weiterhin bestehen. Das Geschiedene wiederum kann nicht vollständig abgetrennt vom Ungeschiedenen sein, hätte ersteres doch ansonsten aus sich selbst heraus sein vollständiges Gegenteil kreiert […]. Insofern ist auch das Licht Objekt und Medium der Schöpfung zugleich.[17] In mythischem Denken wird diese Figur in ein zyklisches Weltbild überführt: Lichtwerdung (Einmaliges) und Dauerndes (fortwährende Existenz des Lichts) werden „als grundsätzliche Vereinbarkeit von Zeit und Ewigkeit, Schöpfung und Existenz befriedet […].“[18] Jüdisch-christliches Denken etabliert dagegen ein lineares Zeitmodell, das durch die Problemlösungsstrategie der Eschatologie befriedet wird: „Indem das Leben nach dem Muster der christlichen Heilsbotschaft auf eine versprochene Zukunft hin – nämlich die Wiederkehr des Heilands und damit die Aufhebung der Zeiten schlechthin – ausgerichtet wird, entwickelt sich jene lineare Vorstellung von zeitlichen Abläufen, die als vorgegebene und sinnvolle Bewegung zwischen einem Anfangs- und einem Endpunkt figurieren.“[19] Der Endpunkt der Entwicklung, der Jüngste Tag, wird in der Bibel denn auch folgerichtig als (erneute) Lichtwerdung beschrieben – als Aufhebung des Geschiedenen im göttlich Ungeschiedenen (siehe bspw. Apostelgeschichte 13, 47; 26, 18; 23; Offenbarung 22, 5).

Trotz der eschatologischen Lösung bleibt in der jüdisch-christlichen Tradition das Problembewusstsein bestehen, dass der menschlichen Existenz immer auch die Möglichkeit der Abkehr – sei es willentlich, als Vorgang des Vergessens oder schlicht aus Unkenntnis – vom Zielpunkt, der (vollständigen) Wiederaufnahme in das ungeschiedene göttliche Licht, eingeschrieben bleibt.[20] Das göttliche Licht braucht Botschafter, Mahner und Vermittler. In der christlichen Tradition sind solche Botschafter und Mittler beispielsweise die Engel. Sie überbringen Botschaften aus der göttlichen Sphäre in die weltliche. Dargestellt werden sie zumeist als Gestalten, „deren transparenter lichterfüllter Leib das himmlische Licht reflektiert“.[21] Auch Propheten, wie beispielsweise Johannes der Täufer, zeugen vom Licht.[22] Mittler und Propheten werden mit Aureole, Heiligenschein oder Fackel ausstaffiert, die sie als Träger und Mittler des göttlichen Lichts auszeichnen. Christus wiederum ist die Verkörperung des göttlichen Lichts schlechthin, sein herausragender Offenbarer, der nicht nur vom göttlichen Licht zeugt, sondern das Licht ist und das eschatologische Heilsversprechen erneuert und einlösen wird. Jesus wird hierbei geradezu als (Neu-)Schöpfer der Welt beschrieben.[23]

Die Taten der Mittler, Propheten und Offenbarer können als Eingriffe Gottes in den steten Ablauf der Welt verstanden werden. Sie initiieren außergewöhnliche Ereignisse, durch die der Verlauf der linearen, profanen Zeit aufgehoben wird und das Göttliche in der Welt aufscheint. Der Eingriff Gottes qua Mittler bedeutet eine Zäsur: Die Ankunft Jesu in der Welt wird als (Neu-)Schöpfung und Zäsur beschrieben. Auch die Tätigkeiten der anderen Mittler werden als Neubeginn und Zäsur beschrieben – eben als Lichtwerdung. Sei diese Neuordnung nun individueller Natur (etwa die Botschaft eines Engels, die zur Veränderung der Lebensweise einer Person führt) oder kollektiver (die Auferstehung Jesu), stets wiederholt sich darin dieselbe formale Struktur des ersten Schöpfungsaktes als Lichtwerdung. Es sind kleinere und größere Wiederholungen des Schöpfungsaktes, durch die das reine göttliche Licht aufscheint, eine Neuordnung initiiert wird und die utopische eschatologische Figur Anwendung findet.

Nicht nur in biblischen Texten lässt sich diese Figuration finden. Auch Martin Luther etwa wird immer wieder als Lichtgestalt dargestellt und beschrieben. Als Reformator hat er eine Zäsur und einen Neubeginn gesetzt. Konsequent der christlich-ikonographischen Tradition folgend, wurde seine Tat als (erneute) Lichtwerdung beschrieben.[24] Auch außerhalb des religiösen Kontextes und bis hinein in die Neuzeit kommt die benannte Lichtkonzeption zur Anwendung: „Weit über den engeren Geltungsbereich des Religiösen hinausgehend, wird in der Neuzeit unter diesen Vorzeichen dem außergewöhnlichen Ereignis, der historischen Zäsur, dem individuellen oder kollektiven Neubeginn weiterhin die Befähigung zugesprochen (…), den profanen Ablauf der linearen Zeit aufzuheben. Immer dort und dann, wenn und wo ein Neubeginn, eine Neuschöpfung, der Eintritt in ein neues Zeitalter gegeben ist bzw. postuliert wird, ist die mythische Besetzung des primordialen Lichtes sofort bei der Hand. […] Auch nach allen Säkularisierungen bleibt das Moment des Anfangs nur als Lichtwerdung denkbar […].“[25]

Gerade die säkularisierte Aufklärung übernimmt die christliche Lichtsymbolik, freilich unter Vorgaben ihrer eigenen Wertmaßstäbe. Schon in der Bezeichnung Aufklärung kommt die Symbolik des Lichtes zum Tragen. Es ist eine metaphorische Übertragung aus dem Metereologischen: das Wetter klart auf. Noch deutlicher wird die Verbindung zum Licht im englischen enlightenment, im französischen lumières oder im italienischen illuminismo. ((Hof 1983, S. 111f.)) Das 18. Jahrhundert beschreibt sich selbst als neues Zeitalter, als Zeitalter der Aufklärung; Johann Gottfried Herder etwa preist sein Jahrhundert als das „lichteste Jahrhundert“. ((Herder, zitiert nach Hof 1983, S. 117.)).Als ‚Licht der Aufklärung‘ steht das Licht nun für die Ratio und für die Neuorganisation der Welt nach Maßgabe eben dieser Ratio. In der christlichen Tradition galt das lumen supranaturalis Gottes als ausschließliches Erkenntnismedium – das Licht Gottes erleuchtet den Menschen und lässt ihn erkennen. ((Historisches Wörterbuch 1980, S. 282f.)) In der Aufklärung wird die Vernunft zum dominanten Erkenntnismedium erkoren und explizit in Gegensatz zum göttlichen Licht gesetzt, was in der Beschreibung der Vernunft als lumen naturalis offensichtlich wird. ((Historisches Wörterbuch 1980, S. 286.)) ‚Natürliches‚ vernünftiges‘ Licht soll ins ‚widernatürliche, unvernünftige‘ Dunkel des Aberglaubens und der Unkenntnis gebracht werden. Trotz der erkenntnistheoretischen Umbesetzung der Gewissheitsinstanz, von Gott zur Ratio, steht dieser Plan von der Abschaffung der Dunkelheit fest in der Tradition christlicher Schöpfungs- und Lichtsymbolik: Eine geistige, politische und kulturelle Neuorganisation wird als Lichtwerdung postuliert (die Durchsetzung der Ratio), unter der Annahme eines teleologischen, utopischen Verlaufs der Welt, der durch die Ratio garantiert ist (was als ‚säkularisierte Heilsgeschichte‘ verstanden werden kann).

Der Revolutionär als Lichtgestalt

Abb. 2: Der Revolutionär als Lichtgestalt

Seit der Reformation – oder doch spätestens seit der Französischen Revolution und der Aufklärung – partizipiert nahezu jede Revolutionsrhetorik an der christlichen Lichtfiguration. Sei es in der Bezugnahme auf das revolutionäre Ereignis selbst, das als Aussetzung der alten Ordnung und Zeit beschrieben wird, sei es in Hinblick auf die Revolutionäre, die als Initiatoren der Revolution gelten und als Lichtgestalten inszeniert und mit der Verheißung eines revolutionären Endpunktes, etwa der Aufhebung aller Klassenunterschiede, verbunden werden (siehe Abb. 2). Auch ganz anders gelagerte politische, nationale Bestrebungen werden formal mit dem christlichen Lichtkonzept besetzt. Adolf Hitler zum Beispiel wird häufig als Lichtgestalt, die das ›Volk heim ins Reich holt‹, von Albert Speer in Szene gesetzt (siehe Abb. 3). Hitler steht hierbei für eine Zäsur, eine Absetzungsbewegung gegenüber dem Vorangegangenen, der profanen Zeit, für eine Neuschöpfung und das Versprechen einer utopischen, heilsgeschichtlichen Rückkehr in die ‚völkische Heimat‘. Pointierter formuliert: Es geht um das Aussetzen der profanen Zeit im ‚Tausendjährigen Reich‘. ((Reichel 1991.))

Die ‚aufsteigende Lichtlinie zu Hitler‘ in einer Lichtdominszenierung Albert Speers

Abb. 3: Die ‚aufsteigende Lichtlinie zu Hitler‘ in einer Lichtdominszenierung Albert Speers

Bis hinein in die Populärkultur hat sich die formale Struktur christlicher Lichtkonzeption fortgesetzt. Wenn etwa Franz Beckenbauer als Lichtgestalt des Fußballs bezeichnet wird, dann geschieht dies streng nach der Logik christlicher Lichtfiguration: Beckenbauer ist der Fußballer, der die „Libero-Position revolutionierte“ (WM-Rekordspieler 2006) und damit einen Bereich eröffnet haben soll jenseits des alltäglichen Fußballspiels. Mit einer eleganten Ballannahme Beckenbauers wird der profane, monotone Verlauf des Fußballspiels unterbrochen von einem außergewöhnlichen Ereignis – ein kurzes Aussetzen der profanen Zeit. Gleichsam ist mit Beckenbauer ein utopischer Zielpunkt formuliert – der ‚ideale‘ Fußball, der durch und bei ihm aufschien, ist die Verheißung, wie das Fußballspiel einst (idealerweise) aussehen könnte, ein ‚säkularisiertes Heilsversprechen‘, wenn man so will. Folgerichtig ist Beckenbauer denn auch Trainer geworden, hat als solcher 1990 die deutsche Nationalmannschaft zur Fußballweltmeisterschaft geführt und wird seither als „Lichtgestalt“ (WM-Rekordspieler 2006) bezeichnet.Inzwischen ist er auch als erfolgreicher Kommentator und Sportfunktionär tätig. Er ist Mittler, Bote und Mahner des reinen (Fußball-)Lichts.

Franz Beckenbauer

Abb. 4: Beckenbauer kurz nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1990 im Flutlicht des Stadion Olimpico in Rom

III. Gutenberg als Medium des Lichts

Auch Johannes Gutenberg lässt sich in die Reihe der Lichtgestalten stellen; auch er ist Mittler, Bote und Mahner des Lichts. Die Bandbreite seiner Mittlerfunktionen ist so facettenreich, dass es sich lohnt, näher darauf einzugehen. Schon im späten 15. Jahrhundert – kurz nach seiner Einführung – wurde der Buchdruck kontrovers diskutiert. ((Giesecke 1998, S. 124ff.)) 1540 war er bereits so populär, dass möglicherweise im reformatorischen Kontext die erste Jahrhundertfeier zum Gedenken an den Buchdruck abgehalten wurde. ((Estermann 1999, S. 21ff.)) Über die historische Gestalt Gutenberg war und ist jedoch wenig bekannt, selbst die näheren Umstände der Erfindung sind weitgehend unklar. Nicht zuletzt dadurch ist die symbolische Besetzung Gutenbergs und seiner Erfindung offen für sehr unterschiedliche Projektionen. ((Estermann 1999, S. 233f.; Füssel 1999, S. 39ff.)) Doch trotz aller Variabilität bleibt die Lichtsymbolik über Jahrhunderte eine Konstante beim Gedenken an Gutenberg respektive an den Buchdruck. Vier zentrale Stränge sollen hier näher beschrieben werden: Gutenberg 1. als erleuchteter Genius, Erfinder und tragischer Held, 2. als nationale Lichtgestalt, 3. als Reformator und Medium des göttlichen Lichts und 4. als Aufklärer und Medium des neuzeitlichen Lichts.

1. Gutenberg als erleuchteter Genius, Erfinder und tragischer Held

Spätestens seit dem 18. Jahrhundert löst sich die Erfinderfigur Gutenberg vollständig aus dem bis dahin vorherrschenden Triumvirat Johann Fust – Peter Schöffer – Johannes Gutenberg, das traditionellerweise für die Erfindung des Buchdrucks stand ((siehe Estermann 1999, S. 112ff.)) Dazu trug die aufkommende Quellenkritik des 18. Jahrhunderts bei. Der Göttinger Professor für Historie, Johann David Köhler, publizierte zur Gutenbergfeier 1740 eine Abhandlung über die Geschichte des Buchdrucks mit dem bezeichnenden Titel: Hochverdiente und aus bewährten Urkunden wohlbeglaubte Ehren-Rettung Johann Gutenbergs. ((Estermann 1999, 110f.)) Dazu hatte er bis dato ungedruckte Quellen und Urkunden herangezogen, darunter erstmals das Helmasperger Notariatsinstrument, in dem sich ein Rechtsstreit zwischen Fust und Gutenberg niedergeschlagen hat. Fust hatte Gutenberg angezeigt, weil dieser mehrere Darlehen, die ihm Fust gewährt hatte, nicht zurückzahlen konnte. Das Gericht verurteilte Gutenberg zur Herausgabe der Druckerwerkzeuge für die 42-zeilige Bibel an Fust. Köhler unterstellte in seiner Interpretation Fust Gewinnsucht und sogar Betrugsabsichten ((Estermann 1999, S. 112f.)) Fust wird also als Negativfigur gegen den betrogenen Erfinder Gutenberg in Position gebracht. Die Geschichte des Buchdrucks wird zur Betrugsgeschichte und zum Kriminalstück. ((Keckeis 2005.))

„Fust wird mit dem Verdikt der Geldgier behaftet, damit nicht genug, es geht auch um den Diebstahl der Erfindung, des ‚ingeniums‘. Die Ausdifferenzierung von Gutenberg und Fust erfolgt durch ein Begriffsfeld, das für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung wurde, dem Genie und seine Nachahmer.“ ((Keckeis 2005, S. 136.)) Die Geniekonzeptionen des 18. Jahrhunderts sprachen dem Einzelnen, dem Außergewöhnlichen einen Zugang zu Wahrnehmungen und Erkenntnissen zu, der den Normalsterblichen verschlossen bleibt. ((Gethmann-Siefert 1995, S. 127ff.)) Dieser Zugang wird im Sinne der christlichen Lichttradition als Aufscheinen des göttlichen Lichtes interpretierbar, das den Einzelnen erleuchtet; dieser kann das Licht analog zur göttlichen Schöpfung ins (künstlerische, intellektuelle oder – im Falle Gutenbergs – technische) Werk setzen. Gutenberg wird noch im 19. Jahrhundert häufig als Genie in der Tradition dieser Lichtsymbolik gepriesen: „Aber dem deutschen Gutenberg blitzte der Silberblick des schöpferischen Genius in die unermüdlich forschende Seele, die todten Typen wurden lebendig.“ ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 29.))

Durch die Kontrastierung mit einer ‚dunklen’ Gestalt kann das Genie Gutenberg noch heller scheinen. Fust bietet sich dazu als idealer Gegenpart an, was vor allem auch in dramatischen Werken vielfach Verwendung fand. ((Keckeis 2005.)) Die sprachliche Nähe des Namens Fust zur mythischen Figur Faust wurde dabei ebenso ausgenützt wie die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ‚schwarze Kunst’ (einerseits als schwarze Magie, Teufelskunst, andererseits als Beschreibung des Buchdrucks in der Ableitung von der Farbe der Druckerschwärze). „In der Überlagerung der Erfindung des Buchdrucks durch den Faust-Mythos und dessen schwarze Magie geht Georg Heinrich Mahncke in seinem 1809 erschienenen Johannes von Guttenberg, Erfinder der Buchdruckkunst, und Doctor Johann Faust oder Die Zeichen der Zeit noch weiter [als andere Dramen; S.G.], indem der Erfinder Gutenberg von seinem negativ besetzten Gegenspieler Faust durch einen Pakt (!) ins Garn gelockt wird, um ihn später seiner Erfindung und Ehre zu berauben, was allerdings letztlich misslingt.“ ((Keckeis 2005, S. 137.))

Zur Denkmalseinweihung 1837 in Mainz wurde das Oratorium Gutenberg mit 400 Sängern der Mainzer Liedertafel aufgeführt. Faust (Fust) erscheint auch hier wieder als Gegenspieler Gutenbergs ((Estermann 1999, S. 131f.)) Fust will die Druckerpresse gegen politisch Feinde einsetzen (Flugschriften) und die Funktionsweise des Drucks geheim halten. Gutenberg dagegen will die Presse zu frommen Zwecken (Druck der Bibel) verwenden und die Erfindung in die Welt tragen. Zu Beginn des Stückes wird Gutenberg verdächtigt, schwarze Magie auszuüben. Am Ende wird er von diesem Vorwurf freigesprochen; Faust erlangt nach ausgiebiger Läuterung Vergebung, und die Presse kann nun ihren frommen Zweck erfüllen. Gutenberg steht hier als Garant für die sakralen und wohltätigen Ziele, und seine schwarze Kunst ist keine schwarze Magie, sondern vielmehr weiße – „diese Kunst ist reine Gotteskraft“, ((zitiert nach Estermann 1999, S.  132.)) heißt es im abschließenden Gesang.

Auch ein Holzschnitt, verfertigt nach einer Zeichnung von Adolf Menzel, zeigt das Gegensatzpaar Fust – Gutenberg im Jahre 1440, dem Jahr der angenommenen Erfindung (Abb. 2). Gutenberg präsentiert Fust eine soeben gedruckte Seite. Von rechts fällt Licht auf Gutenberg, durch eine Öffnung, hinter der ein Kirchturm auszumachen ist. Fust, in dunkle Kleider gehüllt, steht links von Gutenberg, reibt sich die Hände und blickt in die Ferne. Während Gutenberg von dem kirchlich-göttlichen Licht erfasst wird und als begeisterter Erfinder auftritt, denkt Fust womöglich bereits an die ökonomische Verwertbarkeit. Gutenberg wird hier ganz konkret als Lichtgestalt gezeichnet und gegen die dunkle Gestalt Fusts herausgehoben.

Licht und Schatten der Erfindung

Abb. 5: Licht und Schatten der Erfindung

Die Aktivitäten Fusts und Schöffers hätten Gutenberg nicht nur ruiniert, sondern ihn auch um den Ruhm des Erfinders gebracht. Gutenberg wird dabei als tragischer Held und vergessenes Genie inszeniert, das den ihm zustehenden Ruhm zu Lebzeiten nicht erhielt. Genauso wird er bei der Einweihung des Gutenbergdenkmals in Mainz 1837 verstanden. Mit der Aufstellung des ersten Gutenberg-Denkmals sei „eine große Schuld getilgt“, ((Gedenkbuch Mainz 1837, S. 1.)) wie es in einer der Gedenkschriften heißt. Der tragische Held wird hier als zu Unrecht vergessenes Genie inszeniert und als einzigartige Lichtgestalt gefeiert.

2. Gutenberg als nationale Lichtgestalt

Schon im 16. Jahrhundert etablierte sich die Beschreibung des Buchdruckes als Gottesgeschenk. Ebenso früh entbrannte eine heftige Kontroverse darum, welcher Nation nun die Ehre zukomme, den Buchdruck erfunden bzw. zuerst von Gott empfangen zu haben. ((Giesecke 1998, 199ff.)) Vor allem die deutsche Nation hatte großes Interesse daran, die Erfindung für sich reklamieren zu können, weil sie sich damit als Kulturnation gegenüber Italien und Frankreich zu etablieren gedachte ((Giesecke 1998, S. 192ff.)) An einem Kupferstich aus dem Jahre 1740 lässt sich die nationale Bestrebung gut nachvollziehen (Abb. 6).

Der Wettstreit der Nationen

Abb. 6: Der Wettstreit der Nationen

Am Himmel thront eine von Licht umgebene Personifikation der Typographie; rechts daneben Merkur, der Götterbote, und links Minerva, Göttin der Weisheit. Das von oben herabfallende göttliche Licht trifft auf der Erde als erstes auf die links sitzende Germania, die Schilde mit Porträts von Gutenberg und Fust hält. Etwas tiefer sitzen die Personifikationen der anderen Nationen. Die Frage nach dem Herkunftsland des Buchdrucks scheint hier klar entschieden, und Gutenberg und Fust, als die zuerst vom göttlichen Licht Erfassten, sind die zentralen Erfinderfiguren.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird Gutenberg nahezu ausschließlich als alleiniger Erfinder des Buchdrucks gefeiert. Zur 400jährigen Säkularfeier des Buchdrucks wird er in vielen Städten als herausragende deutsch-nationale Lichtgestalt herausgestellt. Auf einem Widmungsblatt für den Deutschen Buchdrucker-Verband etwa ist Gutenberg mit einer Fackel in der erhobenen rechten Hand abgebildet (Abb. 7). Darunter sind vertikal die Buchdruckvertreter in der jeweils zeitgenössischen Tracht und einem Banner mit den Jahreszahlen 1540, 1640, 1740 und 1840 zu erkennen. Gutenberg wird hier klar als Lichtbringer gezeichnet, der mit seiner Erfindung eine Nationalentwicklung in Gang gesetzt hat, die im Laufe der Jahrhunderte die Gestalt einer bürgerlichen Kulturnation annimmt. Hier ist Gutenberg Begründer und Schöpfer eines (bürgerlichen) Nationenideals.

Gutenberg als (nationaler) Schöpfer

Abb. 7: Gutenberg als (nationaler) Schöpfer

In einem Ölgemälde aus demselben Jahrhundert erhält Gutenberg die Rolle eines nationalen Kulturstifters, der die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart ermöglicht (Abb. 8). Von rechts her reitet Kaiser Wilhelm I. auf Gutenberg zu. Die Bildunterschrift bezeichnet Wilhelm I. als „Wiederhersteller Deutscher Einheit und Macht“. ((zitiert nach Estermann 1999, S. 295.)) Gutenberg begrüßt ihn „und führt ihm aus Walhalla kommende Männer aus Deutschlands Vergangenheit vor […]“ ((Estermann 1999, S. 295.)) – darunter Goethe, Schiller, Leibniz. Gutenbergs Erfindung wird hier also verstanden als Bedingung dafür, dass die deutsche Nation als Kulturnation eine Kontinuität ausbilden konnte. Wilhelm I. und Gutenberg sind Repräsentanten der Verbindung von Politik und Kultur, von Gegenwart und Vergangenheit, die zu einer Wiedergeburt der deutschen Nation führen. Es geht also auch hier um eine (Neu-)Schöpfung, und natürlich ist dabei das Licht nicht fern. Zentral im Bild strahlt das Licht vom Horizont her direkt auf Gutenberg, der dem Leuchten zugewandt ist. Kaiser und Gutenberg begegnen sich im hellen Lichtschein – die Wiedervereinigung wird als Lichtspektakel in Szene gesetzt.

Die Wiedergeburt der Kulturnation als Lichtspektakel

Abb. 8: Die Wiedergeburt der Kulturnation als Lichtspektakel

3. Gutenberg als Reformator und Medium des göttlichen Lichts

Der Buchdruck wird, wie bereits angeführt, von Anfang an im reformatorischen Kontext als Gottesgeschenk begriffen. Noch in zahlreichen Säkularfeiern des 19. Jahrhunderts wird der Buchdruck mit dem Topos des Gottesgeschenkes in Verbindung gebracht und als erneute Lichtwerdung verstanden ((Estermann 1999, S. 126.)) Gott sendet nach diesem Verständnis den Buchdruck, damit das Wort Gottes allen zugänglich wird; der Buchdruck ist somit Werkzeug der „Wiedergeburt“ ((Hausrath 1840, S. 6.)) der christlichen Gemeinschaft. Die Idee, dass der Buchdruck das Wort Gottes allen zugänglich machen soll und dass darüber hinaus das Wort Gottes als alleinige Autorität gelten soll, wird vor allem im reformatorischen Kontext unter der theologischen Maxime sola scriptura relevant. ((Estermann 1999, S. 38.)) Luther selbst, der diese Maxime vehement vertrat, beschrieb den Buchdruck wie folgt: „Der Buchdruck ist das letzte und zugleich größte Geschenk [Gottes; S.G.]. Durch den Buchdruck nämlich sollte nach Gottes Willen der ganzen Erde die Sache der wahren Religion im Vergehen der Welt bekannt und in alle Sprachen ausgegossen werden. Es ist gewiß die letzte, unauslöschliche Flamme der Welt.“ ((Luther zitiert nach Giesecke 1998, S. 162.)) Diese Auffassung wurde in der Folge im reformatorischen Kontext ein fester Bestandteil protestantisch geprägter Säkularfeiern. Die Implikationen sind weitreichend: Wenn der Buchdruck die ‚letzte, unauslöschliche Flamme’ ist, dann ist mit dem Buchdruck ein Zustand erreicht, in dem keine weiteren Geschenke nötig sind, um Gottes Willen weiterzutragen. Das göttliche Wort ist durch die unendliche Reproduzierbarkeit gesichert, und in den Worten ist alle göttliche Weisheit aufzufinden, so dass Gott nicht mehr selbst eingreifen muss. Michael Giesecke beschreibt dies in seiner Untersuchung der Etablierung des Buchdrucks pointiert mit den Worten: „Gott hat den Menschen als letztes Geschenk eine typographische Datenverarbeitungsanlage vermacht und sie zugleich mit einer göttlichen Weisheit gespeichert. Alle notwendigen Informationen und Lehren können aus dieser Maschine abgerufen werden.“ ((Giesecke 1998, S. 163.)) Demgemäß ist es nur folgerichtig, den Buchdruck als zäsurales, außergewöhnliches Ereignis und erneute Schöpfung bzw. Lichtwerdung zu beschreiben und zu feiern.

In den Säkularfeiern wird der Buchdruck immer stärker auf Gutenberg als dessen Erfinder bezogen: „Da sprach Gott abermals: ‚Es werde Licht!‘ Und Gott machte ihn [Gutenberg; S.G.] zu seinem Werkzeug.“ ((Gedenkbuch Elberfeld 1840, S. 38.)) Gott schöpft hier also die Welt noch einmal, und Gutenberg ist derjenige, der dabei als Mittler dieser zweiten Schöpfung fungiert, indem er den Buchdruck erfindet. Die Namensgleichheit von Johannes Gutenberg und Johannes dem Täufer wurde bei der Beschreibung des Mittlers und Erfinders weidlich ausgeschöpft: „Johannes Gutenberg war ein Mann von Gott gesandt. [… ] Wie einst die Erscheinung des Täufers Johannes die Nacht aufzuhellen begann […] so ist auch der Anfang des Bücherdrucks die Morgenröthe gewesen, die der allseitigen Erleuchtung und geistigen Kräftigung der ganzen Menschen vorausging.“ ((Elberfeld 1840, S. 38.)) Erfinder und Erfindung werden dabei im Symbol Gutenberg verschmolzen und stehen für eine erneute Lichtwerdung und Schöpfung Gottes: „In dieser Sichtweise erscheint Gutenberg als ein Medium, in dem und durch das sich der göttliche Wille ausdrückt.“ ((Giesecke 1998, S. 159.))

4. Gutenberg als Aufklärer und Medium des neuzeitlichen Lichts

Seit dem 18. Jahrhundert figuriert Gutenberg im Kontext öffentlicher Veranstaltungen häufig als Aufklärer. Dabei wird zumeist der Topos des Gottesgeschenks mit Aufklärungsideen verknüpft; ((Estermann 1999, S. 81.)) so etwa nachzulesen in einem Gedenkbuch der Jahrhundertfeier 1840 in Braunschweig. Buchdruck und Gutenberg werden hier als von Gott gesandt beschrieben. Daneben werden Gutenberg und der Buchdruck verstanden als Initiatoren und Garanten des Sieges der „Aufklärung und des Lichtes über den Irrwahn und die Finsterniß“ ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 22.)) Mit der Erfindung des Buchdrucks „trat an die Stelle des im Ganzen dunklen Gefühlslebens, in dem diese [die Menschheit; S.G.] mehrere Jahrhunderte lang traumähnlich befangen lag, das erwachende Selbstbewußtsein, der zum Denken und klaren Erkennen reifende Verstand […].“ ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 7f.)) Durch den Buchdruck sind nun Ideen und Erkenntnisse jedem zugänglich – nicht nur können (prinzipiell) alle Menschen am Wissen teilhaben, sondern auch die „historische Simultanität allen möglichen Wissens“ ((Scholz 2004, S. 22.)) gilt als durch den Buchdruck gewährleistet. Die Menschheit, so die Implikation, wird durch diese Möglichkeit quasi automatisch zu (Selbst-)Bewusstsein und Verstand geführt. Durch den Buchdruck ist ein Prozess in Gang gesetzt worden – „Aufgang eines neuen großen Tages für die Menschheit“ ((Gedenkbuch 1840b, S. 7.)) –, der den aufklärerischen Zielen unaufhaltsam entgegenstrebt. Der Buchdruck distribuiert also nach solch einem Verständnis das ‚Licht’ der Aufklärungsideen und ist gleichzeitig die Bedingung dafür, dass es überhaupt zu einer flächendeckenden Aufklärung kommen kann. Hierbei wird der Buchdruck ähnlich verstanden wie im Kontext der Reformation: als Distributionsapparat und Möglichkeitsbedingung einer gesellschaftlichen Veränderung.

Mit dem technischen Verbreitungsmedium des aufklärerischen Lichtes korrespondiert die Erfinderfigur: Gutenberg habe mittels seiner Erfindung die „Fackel der Aufklärung“ ((Wagner 1837, S. 12.)) zuallererst entzündet – der Erfinder wird zum Ausgangspunkt der Aufklärung. In den Texten zu den Gedenkfeiern wird immer wieder darüber räsoniert, welchen Stellenwert der Erfinder einer Technik gegenüber Dichtern, Weltweisen, Künstlern oder Wissenschaftlern überhaupt haben kann und ob es gerechtfertigt sei, Gutenberg als einen solchen Ausgangspunkt der Aufklärung zu platzieren. ((Gedenkbuch Mainz 1937, S. 35.)) Die zentrale Frage, die sich dahinter verbirgt, lautet in heutiger Terminologie: Ist es gerechtfertigt, die Hardware höher einzuschätzen als die Software? Eine Antwort, die im Kontext der Mainzer Denkmalsfeier 1837 gegeben wird: „Sein [Gutenbergs; S.G.] Werk ist anderer Natur [als das der Dichter, Politiker und Wissenschaftler; S.G.], dem Anscheine nach minder glänzend, doch in Wahrheit gleich inhaltsschwer, ja von ausgedehnterer Wirkung, durch Raum und Zeit von unendlichen Folgen.“ ((Gedenkbuch 1837, S. 13.)) Gutenbergs Erfindung hat also dieser Auffassung zufolge eine größere Wirkung als andere Werke, seien sie nun künstlerischer, politischer oder wissenschaftlicher Art – die Erfindung hat ‚unendliche Folgen’. Damit wird der Buchdruck als kulturhistorische Zäsur verstanden und als Moment einer irreversiblen und unendlichen Dynamisierung: „Die Erfindung Gutenbergs hat einen unübersteiglichen Damm gegen den Rückfall in die vorige Barbarei aufgeworfen. Keiner menschlichen Kraft wird es noch gelingen, die hohe Stufe der Civilisation, auf die Gott die Menschheit durch diese Erfindung geführt hat, zu zerstören.“ ((Gedenkbuch Mainz 1937, S. 26.)) Und: „Die Entwicklung der Kräfte des Menschen hat seit der Erfindung des Buchdrucks nicht mehr stillgestanden und wer von der Zukunft noch einen Stillstand erhofft, wird sich irren.“ ((Gedenkbuch Mainz 1937, S. 24.))

Gutenbergs Erfindung wird auch gegenüber anderen Erfindungen hervorgehoben. Weder Eisenbahn noch Fotografie etwa seien mit dem Buchdruck zu vergleichen, und zwar, weil diese Erfindungen erst auf Grund der durch den Buchdruck initiierten Dynamik aufkommen konnten. ((Gedenkbuch Elberfeld 1840, S. 40f.)) Demgemäß heißt es denn auch über Gutenberg: „Er ward der Begründer einer neuen und dauernden Civilisation und der Schöpfer eines Lichts, das nie verlöschen wird […].“ ((Wagner 1837, S. 47.))

Michael Giesecke interpretiert Zeugnisse, die im 15. und 16. Jahrhundert den Buchdruck beschreiben, als Indikatoren eines gewandelten erkenntnistheoretischen Selbstverständnisses: „Nicht mehr nur Gott und die menschliche Vernunft gelten als Erkenntnisorgane, ‚lumen supranaturalis’ bzw. ‚lumen naturalis’ als Erkenntnismedien, sondern auch die Druckerei wird zu einem Erkenntnisorgan, welches mit einem eigenen Licht, man könnte sagen, einem ‚lumen artificalis’, der Finsternis Schätze der Erkenntnis entreißt. Es findet also gleichsam eine Technisierung der Erkenntnis, der ‚Illumination’ oder der ‚Aufklärung’ statt.“ ((Giesecke 1998, S. 150.))

Für diverse Selbstbeschreibungen des 19. Jahrhunderts kann man noch einen Schritt weiter gehen: Mit Gutenberg wird eine kulturgeschichtliche Zäsur gesetzt, eine technische moderne Kultur eingeläutet, die nicht nur eine neue Erkenntnisweise neben anderen bereitstellt, sondern einen kulturellen Prozess initiiert, der irreversibel ist und eine genuin neuzeitliche Dynamik in Gang setzt. Als Medium des neuzeitlichen Lichts verbreitet der Buchdruck nicht nur das Wort Gottes oder Ideen der Aufklärung, sondern als technisches Medium revolutioniert er die Wissens- und Gesellschaftsordnung insgesamt. Der Buchdruck wird zunehmend als Ausgangspunkt und Symbol einer technisch fundierten Neuzeit interpretiert. Mit Giesecke gesprochen: Das Licht der Neuzeit ist das lumen artificalis. Gleichsam wird der Erfinder Gutenberg zum Schöpfer und Medium, der dieses neuzeitliche ‚künstliche’ Licht in die Welt gebracht hat.

Gutenberg figuriert demnach, in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlichen funktionalen Zusammenhängen als Lichtgestalt. Als prototypische Lichtgestalt kann Gutenberg gelten, weil er vor allem in den semantischen Feldern Genie, Politik und Reformation ganz ähnlich eingesetzt wurde wie etwa die ‚Lichtgestalten‘ Schiller oder Luther. ((Burkhardt 1988, S. 223f., Noltenius 1988.)) Das Spezifische an der ‚Lichtgestalt’ Gutenberg dürfte dagegen wohl die Bezugnahme auf eine technisch fundierte Neuzeit sein.

Über alle unterschiedlichen Besetzungen und Bezugnahmen hinweg folgt die Verbindung von Gutenberg mit der Lichtsymbolik formal der christlichen Schöpfungstradition. Mit Gutenberg wird eine Lichtwerdung verbunden, die eine Zäsur beschreibt, eine Neuordnung der Welt im Geiste der Nation, Gottes, der Vernunft oder der Technik. Diese Zäsur wird immer auch mit einer Utopie verbunden, sei es die Festigung des Heilsversprechens, die Vereinigung einer Nation, die vollständige Aufklärung des Menschen oder zumindest der unendliche Fortschritt.

Diese Darstellungen und Inszenierungen erhalten also die für Symbole spezifischen Funktionen: Die jeweiligen Inszenierungen Gutenbergs reagieren auf zeitspezifische Probleme – etwa: nationale Identität, Zugang zu Gott, säkularisierte und beschleunigte Welt. Sinnorientierung wird z.B. mit der Utopie einer nationalen Gemeinschaft oder einer aufgeklärten Weltgemeinschaft bereit gestellt. Die Unmittelbarkeit der symbolischen Repräsentation ergibt sich dabei primär durch die Verbindung mit dem Licht: In den zitierten Texten wird der Stellenwert Gutenbergs nicht allein argumentativ untermauert; durch die Verbindung von Licht und Gutenberg wird eine symbolische Ebene eingeführt, die weit darüber hinaus geht. Die Texte inszenieren eine unmittelbare Evidenz der Größe Gutenbergs allein schon durch die Verbindung zur christlichen Lichtsymbolik und deren weitreichenden Konnotationen.

IV. Illumination

Noch deutlicher wird diese symbolische Unmittelbarkeit dann, wenn Gutenberg in Lichtinszenierungen eingepasst wird – wenn sich also die symbolische Verschränkung von Licht und Gutenberg regelrecht ‚materialisiert‘. Bei der Mainzer Feier zur Denkmalsenthüllung 1837 lassen sich hierfür Beispiele finden. Diese Gutenbergfeier hatte Volksfestcharakter. Es gab Bälle, Umzüge, Feuerwerk, Fackelzüge etc. Dabei wurden die typischen Medien bürgerlicher Erinnerungskultur zum Einsatz gebracht (Umzüge, Chöre, Kanonen, Denkmal usf.). ((Estermann 1999, S. 122f.)) Ein Fackelzug zum Denkmal Gutenbergs wurde hochgradig symbolisch inszeniert. Nicht nur wurden die Fackeln getragen zur Erinnerung an die „typographische Fackel“ Gutenbergs , „die“, wie es in einer der Festschriften heißt, „die ganze Erde erleuchtet“, ((zitiert nach Estermann 1999, S. 116.)) darüber hinaus wurden die einzelnen Fackeln am Ende des Zugs zu einer einzigen vereinigt, was die erneute Lichtwerdung durch den Buchdruck und die damit einhergehende Vereinigungsutopie symbolisch repräsentieren sollte. Interessanter ist vielleicht aber ein Spektakel, das am Vorabend der Feier für die bereits angereisten Gäste inszeniert wurde. An einem Schiff wurde „ein beleuchtetes Transparentgemälde, das die ganze Länge des Rheinschiffs einnahm“ ((Wagner 1837, S. 8.)) angebracht. Darauf abgebildet war Gutenberg in Gestalt des Denkmals, das am nächsten Tag enthüllt werden sollte, daneben zwei allegorische Figuren: die eine hielt die Weltkugel, die andere eine Fackel, mit der die Weltkugel erleuchtet wird. Das Schiff fuhr in der Dunkelheit „unter Kanonendonner und den Gesängen und militärischen Märschen der k.k. österreichischen Militärmusik, langsam rheinabwärts“, ((Wagner 1837, S. 8.)) während die Besucher es vom Ufer aus beobachten konnten. Hier wird die Lichtsymbolik in einer Lichtinszenierung materialisiert. Die allegorische Darstellung der Welterleuchtung wird in eine unmittelbare Erfahrung übersetzt: Der ‚erleuchtete’ Gutenberg bringt hier ganz konkret Licht ins Dunkel der Nacht. Dazu singt der unter dem Deck platzierte Militärchor ein Gutenberg gewidmetes Lied mit den Zeilen: „[…] Durch des Weltalls ferne / Glänzen weit die Sterne, / Die sein Geist versprühet, / hell und wolkenlos […].“ ((Wagner 1837, S. 9.))

V. Am Ende der Gutenberg-Galaxis

Lange nachdem Gutenbergs Geist bei der Feier in Mainz Sterne versprüht hatte und lange nachdem für Gutenberg ein eigenes Sternbild beansprucht worden war, postulierte der Medientheoretiker Marshall McLuhan in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts das Ende der Gutenberg-Galaxis, was zu einem eigenen Topos der Medienhistoriographie und -prognostik wurde. ((Höltschl 2005.)) Bei McLuhan erfolgt eine kulturkritisch motivierte Einschätzung Gutenbergs. Gutenberg wird bei McLuhan zu einer Gestalt, die nicht mehr Bote eines neuzeitlichen utopischen Lichtes ist; stattdessen wird Gutenberg zu einer ‚dunklen’ Gestalt, die den Menschen „Diskontinuität“ und „Selbstentfremdung“ brachte. ((McLuhan 1962, S. 300.)) War Gutenberg noch im 19. Jahrhundert, wie oben zitiert, Garant für das „erwachende Selbstbewusstsein“ und für die Befreiung aus einem „traumähnliche(n)“ Zustand, ((Gedenkbuch Braunschweig 1840, S. 7f.)) soll er nun bei McLuhan ganz im Gegenteil verantwortlich sein für den „geistigen Schlaf“. ((McLuhan 1962, S. 305.)) Seine Erfindung, der Buchdruck, mutiert dabei zur „kleine(n) gutenbergsche(n) Folterbank“. ((McLuhan 1962, S. 308.))

McLuhan postuliert, dass durch den Buchdruck eine noch mündlich dominierte Manuskriptkultur in eine typographische umgewandelt wurde, was als „radikaler kultureller und gesellschaftlicher Wandel zur europäischen Neuzeit“ ((Coy 1995, VIII.)) verstanden wird. Die Prinzipien des Buchdrucks – Segmentierung, Mechanisierung und Wiederholung – hätten zu abstrakten, uniformen und mechanischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Denkweisen geführt und dabei zur „Selbstentfremdung“ ((McLuhan 1962, S. 308.)) des Menschen. Diesem ‚entfremdeten’ Zeitalter stellt McLuhan das mit dem Telegraphen im 19. Jahrhundert sukzessive aufkommende Zeitalter der elektronischen Medien gegenüber, durch das ein ‚ganzheitliche(s) Feld simultaner Beziehungen’ ((McLuhan 1964,S.  37.)) global hergestellt werde. Damit soll ein neues „Einfühlungsvermögen“ einhergehen und „ein Glaube, der auf eine schließliche Harmonie aller Kreaturen gerichtet ist.“ ((McLuhan 1964, S. 18.))

Die Lichtsymbolik wandert in McLuhans Beschreibungen von Gutenberg ab und wird auf die neuen, elektronischen Medien übertragen. Mit diesen sieht McLuhan ein „Zeitalter der Illumination“, ((McLuhan 1964, S. 527.)) ein neues „Goldene(s) Zeitalter“ ((McLuhan 1964, S. 100.)) anbrechen. Er postuliert eine Neuschöpfung und verspricht eine Verabschiedung von der Entfremdung. McLuhan befindet sich hier vollständig im Bannkreis christlicher Lichtsymbolik.

Der kurze Verweis auf McLuhan zeigt, dass Lichtgestalten im Wandel der Zeiten durchaus zu dunklen Gestalten mutieren können; dass jedoch die Lichtsymbolik damit nicht einfach verschwindet – sie wird umbesetzt und figuriert weiterhin wirkungsmächtig in der Tradition des Schöpfungsmythos. Die symbolische Besetzung des Lichts im Kontext des Schöpfungsmythos weist weit über die christliche Tradition hinaus und scheint eine außerordentliche Beharrungskraft zu besitzen, auch jenseits altehrwürdiger Lichtgestalten.

Quellen

Nachweise der Bildzitate
Abb. 1: Tafel XXV, aus: Alexander Jamieson: A Celestial Atlas comprising a
sistematic display of the Heaven. London 1922. Zitiert nach: Pfeiffer 2005.

Abb. 2: Cover‐Zeichnung zum Spiegel‐Titelthema „Mythos Ché Guevara“,
in: Der Spiegel, Nr. 38, 16.09.1996.

Abb. 3: Nürnberg – Reichsparteitag der NSdAP, „Reichsparteitag der Ehre“,
Rudolf Heß, Robert Ley und Adolf Hitler auf Tribüne vor „Lichtdom“, 8.‐14.
Sept. 1936. Scherl Bilddienst, Berlin 12.9.1936. Bundesarchiv Bild 183‐
2006‐0329‐502.

Abb. 4: Zitiert nach: Deutscher Fußball‐Bund: Nationaltrainer. Franz Beckenbauer.
Der Unvergleichbare, die Lichtgestalt – Franz Beckenbauer
(1984‐1990), http://www.dfb.de/index.php?id=1234, 23.07.09.

Abb. 5: Adolf Menzel: Gutenberg zeigt Fust eine frische Druckseite. Holzschnitt
nach einer Zeichnung Menzels von Friedrich Unzelmann, gedruckt
bei A. W. Schade, Berlin 1840, 25,5 x 28,5 cm, auf Japanpapier. Gutenberg
Museum Mainz (Inv. Nr. GM 92.749 GS). Zitiert nach: Estermann 1999,
178, 270.

Abb. 6: Prosper Marchand: Histoire de l’origine et des premiers progès de
l’imprimerie. La Haye 1740, S. 152, Kupferstich, Blattgröße 26 x 18 cm.
Stadt‐ und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. (Sign. N. libr. 1172). Zitiert
nach: Estermann 1999, 77, 261f.

Abb. 7: J.C. Gubitz: Gutenbergs 400jährige Säkular‐Feier. Allen Mitgliedern
des Deutschen Buchdrucker‐Verbandes gewidmet, Reproduktion (Autotypie)
des Widmungsblattes, Berlin 1840, 17 x 10,4 cm. Gutenberg Museum
Mainz (Inv. Nr. GM 240). Zitiert nach: Estermann 1999, 173, 268.

Abb. 8: „Gutenberg begrüßt Kaiser Wilhelm I.“ Lichtdruck nach einem Ölgemälde
von Professor Hermann Schaper, Hannover, 1888/89 im großen
Festsaal des geh. Kommerzienrates Georg Jänecke in Hannover, Lichtdruck
20,5 x 24 cm. Deutsches Buch‐ und Schriftmuseum Leipzig (ohne Nr.). Zitiert
nach: Estermann 1999, 295f.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Pfeiffer 2005.
  2. Estermann 1999.
  3. Gedenkbuch Mainz 1837, S. 13.
  4. Wagner 1837, S. 23f.
  5. Gutenbergfest Erfurt 1840, S. 22.
  6. Gedenkbuch Braunschweig 1840.
  7. Gedenkbuch Mainz 1837, S. 26.
  8. Schlögl 2004, S. 13ff.
  9. Soeffner 2000, S. 188.
  10. Soeffner 2000, S. 198.
  11. Eco 1972, S. 197ff.
  12. Soeffner 2000, S. 190f.
  13. Soeffner 2000, S. 188.
  14. Herder Lexikon 1978, S. 101.
  15. Kirchmann 2000, S. 14.
  16. Kirchmann 2000, S. 16.
  17. Kirchmann 2000, S. 16.
  18. Kirchmann 2000, S. 16.
  19. Kirchmann 2000, S. 20.
  20. Lutz 1983.
  21. Christliche Ikonographie 1971, S. 97.
  22. Johannes-Evangelium 5, 35.
  23. bspw. Johannes-Evangelium 1, 9f.
  24. Scribner 1981, 71f.
  25. Kirchmann 2000, S. 26f.

Über „Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven“ von Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hg.)

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • NÜNNING, Ansgar/ NÜNNING, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. J. B. Metzler, Stuttgart u. Weimar 2008. ISBN 978-3-476-02237-0.

Wer diese Einführung liest riskiert, endgültig seinen Verstand zu verlieren. Das klingt hart, begründet sich aber wie folgt. Zum einen werden hier lediglich noch dazu „multiperspektivische Interpretationsmodelle“ mit unglaublich viel Terminologie und Neologismen angeboten. Warum? Weil, zum wievielten Male eigentlich?, die Geisteswissenschaften in eine Krise geraten sind oder sein sollen. Langsam möchte man vorschlagen: Wenn das ganze Unternehmen so krisenanfällig ist, warum in Gottes Namen legt man den ganzen Krempel nicht endlich zu den Akten? Weil man dazu entschlossen ist, mehr oder weniger wie gehabt weiter zu machen. Darum! Dies zumal dann, wenn man des weiteren erfährt, daß keiner so genau weiß, was die Kulturwissenschaft eigentlich genau ist. Also bastelt man weiter an seinem Selbstverständnis, wenn auf annähernd 400 Seiten über etwas verhandelt wird, von dem die mit ihm Beschäftigten nicht zu sagen wissen, was es ist. Soviel nur soll sicher und über jeden Zweifel erhaben sein: Die Kulturwissenschaftler gibt es, sie treiben etwas, aber die „Konturen“ und das „Profil“ ihres Treibens sind „trotz (oder wegen?) der Fülle von Publikationen noch recht unscharf“. Man möchte den in dieses heillose Tun Involvierten zurufen: Setzt euch hin, denkt nach, und wenn ihr dann etwas Gescheites herausgefunden habt, bringt es zu Papier und veröffentlicht es, wenn ihr dafür einen Verlag findet! Daß sie allerdings nie etwas Gescheites herausfinden werden hat mit ihrem Verständnis von Wissenschaft zu tun. Man erfährt, daß Wissenschaft ausnahmslos „selbstreferentiell“ ist. Sie ist, im Verständnis der Beiträger dieses Bandes, ein „diskursives Konstrukt“, „das auf unterschiedlichste Weise problematisiert, erforscht und beschrieben“ werden kann. Ist das nun die oben beschworene Krise? Oder ein Mittel dagegen? Oder beides? Egal und wie auch immer, viel wichtiger ist: Der wissenschaftlichen Befassung würdige Gegenstände existieren nicht etwa, sondern sie werden „nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, theoretischer Vorannahmen und Modelle durch konzeptuelle und terminologische Differenzierungen konstruiert bzw. ‚erfunden‘.“ Diesen Satz muß man sich ganz einfach auf der Zunge zergehen lassen. Denn was steht geschrieben? Kurz und bündig: Wissenschaft ist eine Ansammlung von Vorurteilen, mittels derer man herausfindet, was man herausfinden will, bzw. sich seinen Gegenstand willkürlich konstruiert oder auch ganz einfach erfindet. Wenn das stimmt, bleibt allerdings zu fragen, warum immerzu von diesen Konstruktionsbeflissenen über die Unbestimmtheit und Krisenanfälligkeit dieser Nicht-Disziplin gejammert wird, wo sie doch, ihrer wissenschaftstheoretischen Prämisse gemäß, von ihnen erfindungsreich und selbstreferentiell, tagaus, tagein ins Werk gesetzt wird. Denn: „Eine Wissenschaft spricht nicht über Gegenstände, sondern über Phänomene und Probleme. Und diese gibt es nicht ‚an sich‘, sondern nur für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.“ Stimmt! Also kein Lamento über Krisen, Unbestimmtheit des Gegenstandes, den ihr euch doch, so euer eigenes Selbstverständnis, nur zu geben braucht, um ihn, in welcher Gestalt auch immer, für den jeweiligen Eigenbedarf zu haben. Im Vergleich zu diesem wüsten Treiben sind Spiele von einer geradezu unglaublichen Exaktheit, weil man sich für gewöhnlich beim Spielen an das vorgeschriebene Regelwerk hält. Also noch einmal: Diesem „Begriffsbeben, das die Wissenschaft erregt“ – steht genauso geschrieben, und zwar ohne jede Selbstironie – sollte man sich nicht freiwillig überlassen. Es sei denn, man will seinen Verstand verlieren und/oder in diesen (Nicht-) Disziplinen, warum auch immer, seinen Abschluß machen. Aber das hatten wir bereits.

 

Hansen, Frank-Peter: Was es bei Heidegger zu bemängeln gibt, 15.06.09

Die Existenzphilosophie Martin Heideggers wird von AVINUS-Autor Frank-Peter Hansen einer grundlegenden Kritik unterzogen. Der Vorwurf: Je universeller und allumfassender die Begrifflichkeiten Heideggers sich wähnen, als desto hohler und leerer erweisen sie sich.

„Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“

Auf das Lob der „Vergessenen Bücher“ folgt der Tadel der Mangelerscheinungen des wissenschaftlichen Geistes. Als erstes habe ich mir den Großmeister philosophischer Sinnsucherei, den Seinsbeschwörer aus Meßkirch vorgenommen, wobei einmal nicht auf seine immer wieder als anrüchig empfundene politische Vergangenheit mißbilligend gedeutet, sondern auf seine gedanklichen Fehler die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Das scheint immer noch und vor allem heute wieder geboten, weil intellektfeindliches Orakeln sich auf seine Gedankenlosigkeit etwas zugute und für der Weisheit letzten Schluß hält. Es ist es nicht, wie im folgenden gezeigt werden soll, was natürlich nicht nur eingefleischte Heideggerianer, sondern vermutlich Akademiker jeglicher Couleur gegen das Dargebotene aufbringen wird, sofern sie es überhaupt zur Kenntnis nehmen. Bestenfalls wird man der Befassung mit dem Gebotenen dadurch ausweichen, daß man mir eine undifferenzierte Herangehensweise vorwirft, weil ich den „Denkweg“ dieses großen Philosophen unberücksichtigt gelassen habe. Dem widerspreche ich nicht, möchte aber darauf hinweisen, daß diese Begründung eines prinzipiellen Desinteresses nichts weiter als eine leicht durchschaubare Ausflucht ist, sich mit dem, was Heidegger an hier zur Diskussion gestellten Ansichten tatsächlich und nachgewiesenermaßen wann auch immer vertreten hat nicht befassen zu wollen. Irgendetwas läßt sich allenthalben geltend machen, nicht zur Sprache gekommen zu sein, wenn man es denn geltend machen will, um den Verfasser an dieser Auslassung zu blamieren und deswegen für nicht der Befassung würdig zu befinden. Exempla docent. Überdem ist es ohnehin einer der beliebtesten Abwehrtechniken in gedanklichen Dingen, einer Kritik dadurch auszuweichen, daß man sich auf Formfragen oder Fragen des wissenschaftlichen Benimm kapriziert, um durch derartige Erwägungen den inhaltlichen, sachhaltigen Argumenten auszuweichen. Anders gesagt, ich prätendiere gar nicht, eine umfassende Darstellung seiner geistigen Entwicklung zu geben, sondern will an Hand einiger ausgewählter Beispiele dann aber doch auf das prinzipiell Verfehlte der Argumentationsweise der Fundamentalontologie hinweisen. Und daß diese philosophische Richtung vom Sein in seiner Differenz zum Seienden her argumentiert, werden selbst seine Parteigänger nicht bestreiten können, sie mögen schimpfen und/oder sich in Schweigen hüllen.

Wer im übrigen etwas selbstverständlich auch Kritisches über Heideggers „Denkweg“ von mir lesen will, der konsultiere das erste Kapitel der 2008 erschienenen Arbeit „Nicolai Hartmann – erneut durchdacht“. (S. 9-19) Heldenverehrenden Legendenbildungen wird freilich auch hier nicht Vorschub geleistet. Weder wird von den zukunftsweisenden Taten des jungen Genies Martin berichtet noch von der zerknirschten, selbstkritischen Weisheit des geläuterten Alters, eben weil nichts dergleichen, sondern viel eher, wie man hört, ein durch nichts zu bekehrender „Altersstarrsinn“, wie es beschönigend und verharmlosend von interessierter Seite, also von derjenigen seiner durch nichts zu beirrenden Adepten heißt, überliefert ist. Heidegger ist seinem sei’s existential-, sei’s fundamentalontologischen Seinsgefummel und -geraune inklusive den daran hängenden radikalen politischen Implikationen zeitlebens treu geblieben, Kehre hin, Denkweg her.

Da aber das Irrationale nicht allein bei den Heideggerianern hoch im Kurs steht – und mit Parteigängern dieser Einstellung läßt sich, was zu erwähnen eigentlich überflüssig ist, rational nicht streiten – soll in dieser geplanten Serie auch auf andere Formen dieses Dauerbrenners eingegangen werden, der selbst dort seine Blüten treibt, wo man ihn am wenigsten erwartet: im Bereich des aussagenlogisch gestützten und mathematisch unterlegten logischen Positivismus‘ etwa. Das hat, um dies flüchtig anzureißen, hauptsächlich damit zu tun, daß die Grundposition der Mathematik darin besteht, ganz frei und aus sich heraus auf der Grundlage von selbstgegebenen Axiomen Mannigfaltigkeiten zu schöpfen und zu setzen, weil sie sich nicht an Sachhaltigem zu messen braucht. Logische Positivisten setzen nämlich, in Anlehnung an Wittgensteins Traktat, die empirische Wahrheit oder Falschheit der sogenannten Elementarsätze einfach voraus, und die Wahrheit oder Falschheit der Satzkomplexe wird nach Regeln berechnet, die zuvor durch die Wahrheitstafeln willkürlich festgelegt worden sind. Das empirisch Gegebene, das sich unmittelbar zeigen soll, wird in eine logische Idealsprache gekleidet, aus der dann alles weitere nach den selbstgegebenen Regeln der (Aussagen-) Logik berechnet werden kann. Man hat es also in diesen Gedankengespinsten mit einer Manipulation zweier Größen, der Wahrheit und Falschheit, nach vorab zu bestimmenden Regeln, den sogenannten Wahrheitsfunktionen, zu tun. Das Ganze degeneriert ersichtlich zu einem bloßen Spiel mit nichts bezeichnenden Zeichen, da ja, wie gesagt, die Wahrheit und Falschheit der kombinatorisch zu rangierenden Elementarsätze postuliert beziehungsweise als bekannt vorausgesetzt worden ist. Die Wahrheit und Falschheit der aus ihnen zu ziehenden molekularen Satzkomplexe hängt ausschließlich von diesen Werten ab und kann rein mechanisch, und ohne daß man sich bei ihnen irgend etwas denken kann, oder muß geistlos nach den Festlegungen in den Wahrheitswertetabellen berechnet werden. Auf diese Weise ergibt sich dann die beliebige Definitionsmöglichkeit von komplexen Ausdrücken innerhalb einer so konzipierten Aussagenlogik. Sie wird dadurch zu einer reinen Definitionslehre von komplexen Wahrheits-Falschheits-Ausdrücken. Die Aussagenlogik ist folglich nichts weiter als ein inhaltsleeres und gedankenloses Zeichenspiel.

Darin besteht das irrationelle und unvernünftige und letztlich sogar willkürliche Prinzip der mathematischen Ableitungen, so es denn damit seine Richtigkeit hat. Dass man das alles auch ganz anders sehen kann, ist gleichfalls meinem oben namhaft gemachten Buch über Hartmann zu entnehmen, wo, unter Rückgriff auf den kritischen Ontologen über das ideale Sein mathematischer Gegenstände ausführlich auf den Seiten 49-65 nachgedacht worden ist. – Doch zunächst sollen ein paar der gedanklichen Fehler in Augenschein genommen werden, die dem Existential- und Fundamentalontologen in seinem bemühten Forschen unterlaufen sind. Wenn ich von Existential- und Fundamentalontologie in einem Atemzug spreche, kann ich mich im übrigen auf Heidegger selbst berufen, der in späten Jahren betont hat, daß schon das Interesse von „Sein und Zeit“ letztlich dem Sein und nicht der Existenz gegolten habe.

Den Hintergrund dieser Serie bildet aber, um dies gleich vorweg zu sagen, die Kritik an den diversen Formen einer sich in den meisten Fällen wissenschaftlich gerierenden Wissenschaftsfeindschaft, wie sie besonders schön an Heidegger, der deswegen als erstes inspiziert wird, zu studieren ist.

Ontologie und das Bedürfnis danach ist das Ergebnis eines Überdrusses an erkenntnistheoretischen Fragestellungen. In ihnen ist sozusagen das Wetzen des Messers zum Selbstzweck geworden, wenn ein methodologisch zugerichtetes Denken nur noch auf sein eigenes Vermögen reflektiert, also darauf, wie Gegenstände von Akten des Bewußtseins konstituiert werden. Heutzutage ist es umgekehrt allerdings schon längst wieder angesagt und guter Brauch, Objekte der Wissenschaft wie wissenschaftliche Gegenstände, also nicht als vorgefunden anzusehen, sondern, ein Rückfall in die Zeiten der Bekenntnisse zu den Vorurteilen der Methodologie, nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, theoretischer Vorannahmen und Modelle durch terminologische Differenzierungen, wie es heißt, zu konstruieren bzw. zu erfinden. Wissenschaftler sprechen nicht über Gegenstände, sondern über Probleme, die sie mehr oder weniger willkürlich kreiert haben. Und die gibt es selbstredend nicht an sich, sondern nur für die Konstrukteure aus der Forschergemeinde selbst, für die sich ansonsten entsprechend auch niemand sonst zu interessieren braucht. Dabei ist es ersichtlich ein Fehler bzw. eine Unmöglichkeit, das Erkennen vor dem Erkennen erkennen zu wollen, weil sich das Erkennen nur erkennend durchführen läßt. Man müßte sich schon im Besitz desselben befinden, um sich über sein Funktionieren Rechenschaft ablegen oder es kritisieren zu können. Anders gesagt, Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie kann erst im Anschluß an das konkrete Erkennen der Wissenschaften sinnvollerweise praktiziert werden, etwa in Form einer Onto-Logik, die sich des Allgemeinen des wissenschaftlich tätig gewordenen Gedankens nachträglich vergewissert. Vor dem Erkennen mit dem Erkennen ins reine zu kommen kann nur heißen, sich auf es nicht einlassen zu wollen.

Ontologie als ein „zurück zu den Sachen!“ bei Heidegger, was ihre anfängliche Anziehungskraft auf den akademischen Nachwuchs ausgemacht haben mag, wird aber nolens volens selbst zur Erkenntnistheorie, weil auch sie sich auf die Suche nach dem Ursprung begibt, den sie nun allerdings nicht in methodologischen Vorüberlegungen ausfindig macht, sondern indem sie in Form der Seinsfrage nach etwas Ausschau hält, was den Axiomen und Grundsätzen der Einzelwissenschaften zugrunde liegen soll. Mit dem Sein ist an etwas gedacht, das die Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken konstituieren soll. Die Wissenschaften befassen sich, diesem Verständnis zufolge, mit jeweils wie auch immer bestimmtem Seienden. Die Ontologie hingegen befaßt sich mit dem unbestimmten Sein, das aber ganz ausdrücklich nicht ein Begriff und somit das Ergebnis einer verallgemeinernden Abstraktion sein soll. Es soll überhaupt nichts mit dem Denken zu tun haben, und zwar weder in seiner konkreten noch abstrakten Beschaffenheit. Der Seinsphilosoph ist und begreift sich weder als einen Einzelwissenschaftler noch als einen (Formal-) Logiker oder Wissenschaftstheoretiker.

In diesem Kontext schafft die sogenannte „ontologische Differenz“ klare Verhältnisse. Jedenfalls auf den ersten Blick. Die Wissenschaften und das Bewußtsein des Alltagsverstandes werden der Seinsvergessenheit geziehen, weil sie sich nur und ausschließlich mit bestimmtem Seienden, also irgendwelchen in ihrer jeweiligen Eigenart zu identifizierenden Gegenständen befassen. Hier wird also einerseits an der Bestimmtheit der gedanklichen Arbeit Anstoß genommen. Das Sein soll aber andererseits auch kein Begriff, keine Abstraktionsleistung des denkend sich Rechenschaft ablegenden Intellekts sein, sondern etwas, was jedem denkenden Bestimmen voraus liegt. Und das ist ein Schwindel, weil das Sein das bestimmungslose Allgemeine schlechthin, also Abstraktion pur ist, bei der man sich nichts denken kann, weil es der Gedanke kat exochen ist. Und gerade weil es bei dem gänzlich Unbestimmten nichts zu denken gibt, kann von Heidegger in es etwas hineingeheimnist und mit einem unaussprechbaren Sinn ausgestattet werden, weil es dafür oder dawider ohnehin nichts zu vermelden gibt. Genauer gesagt: Dieses Bestimmungslose ist der allem zugrunde liegende Sinn schlechthin. Und das ist ungemein trickreich, weil sich der Ontologe auf diese Weise unangreifbar gemacht hat. Unaussprechbar ist der allem zugrunde liegen sollende Sinn deswegen, weil Sein im Sinne einer creatio ex nihilo Welt aus sich entspringen lassen soll. Das kann freilich deswegen nicht funktionieren, weil aus einer bestimmungslosen Identität, die Sein ist, nichts Bestimmtes folgen kann. Dem Fundamentalontologen bereitet diese erhabene Leere des Seins aber nicht nur keine Schwierigkeiten, sondern er verbucht dieses Nichts des Seins als den eigentlichen Gewinn seines Abstrahierens. Seine ganze Anstrengung ist darauf gerichtet, jede Spur einer Reminiszenz an Seiendes zu vernichten und zu tilgen, auch auf die Gefahr hin, daß das Ergebnis seiner Reduktion schließlich darin besteht, daß eigentlich nichts mehr übrig bleibt, über das sich etwas anderes aussagen ließe, als die Tautologie, daß es es selbst sei.

Darüber hinaus besteht die Kunst des Hinterfragens alles Bestehenden und Seienden darin, daß gar nichts mehr in Angriff genommen wird. Heidegger fragt derart radikal, kapriziert sich auf eine unbedingte Suche nach dem Ursprünglichen, daß die Realität, in der wir leben im Verhältnis zu jeder möglichen Antwort auf eine solche Frage bedeutungslos und gleichgültig ist. Und diese Differenz wird noch dadurch vergrößert, daß gesagt wird, daß es ohnehin bloß auf das Fragen ankomme, und daß sich jede mögliche Antwort an dem Tiefsinn der Frage und ihrer Aura vergehe. Auf jeden Fall sei es eine unzulässige Verflachung der Frage, wenn sie beantwortet, oder man auch nur versuchen würde, sie zu beantworten. Statt also gedanklich sich über irgend welche Vorkommnisse theoretisch Klarheit zu verschaffen, um sich ihnen gegebenenfalls praktisch stellen zu können, plädiert Heidegger für Unterwerfung pur, wenn er davon spricht, daß man nicht etwa dem Staat, in dem zu leben man gezwungen ist, sondern dem Sein quasi schicksalhaft „hörig“ sein müsse. Und der Sinn des Seins, dem man sich bedingungslos unterzuordnen habe, sei kein anderer als die sinnlose, nämlich geworfene und ins Nichts hinausgehaltene Existenz. Negativität als solche ist das eigentlich Positive und Sinnvolle des Seins.

Absurd ist diese Verselbständigung des Seins zu einem eigenständigen Subjekt aber auch deshalb, weil einerseits unterschlagen worden ist, daß es sich bei ihm um ein gedankliches Konstrukt handelt. Von diesem Konstrukt oder philosophischen Entwurf wird dann andererseits so getan, als ob es unmittelbar das Sein wäre. Und ihm wird dann drittens eine Potenz des Subjekts angeheftet, indem ihm ein aktivisches Vermögen unterstellt wird, dergestalt, daß es sich als eine unmittelbare Einflußnahme auf diejenigen äußere, die es mit ihren Abstraktionsleistungen doch überhaupt erst in Gedanken erschaffen haben. Diese Verselbständigung des Erschaffenen zu einem eigenständigen Subjekt ist aber deswegen vorgenommen worden, um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt umzukehren, das Subjekt zum Produkt seines Produktes zu verfälschen, dem es sich bedingungslos auszuliefern und zu unterwerfen habe: Sein als auf sich zu nehmendes blindes Fatum oder Geschick. Auch so kann ein metaphysisch ausgepinseltes Plädoyer für Abhängigkeit pur aus der Taufe gehoben werden. Und so versteht es sich auch, daß Heidegger vor der Blindheit dieses Seins nur eine einzige Haltung für die angemessene hält: eine blinde Unterwerfung in Form des Existentials der „Hörigkeit“.

Dies bedacht leuchtet es nicht mehr ein, Heideggers sogenannte und damit bereits verharmloste politische Exzentrizitäten wie den Wildwuchs eines orientierungslos gewordenen Denkers kleinzureden, um durch diese verschämte Generalabsolution sich dann umso unbefangener an der puren Weisheit der reinen Lehre zu erbauen. Solche Formulierungen wie diejenige, daß das Sein der Führer sei, sind nichts weiter als Konsequenzen aus dem propagierten Begriff des Seins. Und daß Heidegger nach dem Krieg auch noch auf eine andere Weise als faschistisch adaptiert werden konnte hat damit zu tun, daß dieser Seinsphilosoph Geschichte auf der einen Seite ontologisiert hat, um sie auf der anderen Seite selber wie Natur in ihrem blinden Vollzug zu vergotten. So kann man, je nach Bedarf und politischer Einstellung, das Sein überall dort ausfindig machen, wo es als Geschick einen jeweils gerade hin verschlagen hat. Seinsphilosophie ist, um es auf den Punkt zu bringen, eine Philosophie für geistige Opportunisten.

Zu bedenken ist fernerhin, daß der Fundamentalontologe das der stets etwas Bestimmtes aussagenden Sprache gegenüber Anderen und, wie unterstellt wird, sich im Begriff nicht Erschöpfende nie anders als mittels des Begriffs zu entwickeln vermag. Er kann, allein dadurch, daß er sich zu Wort meldet, nicht den Anspruch durchhalten, sich dem begrifflichen Denken von Anfang an entgegengesetzt und entzogen zu haben, weil er nämlich, wie unbeholfen und verdreht auch immer, stets für sein Sein argumentiert. Und das weiß Heidegger selbst am besten, wenn er zuzugeben gezwungen ist, daß auch das Sein letztlich ein Begriff ist, wodurch alles Reden über das Sein zu einem vermittelten wird. Also bedient sich der derart in die Klemme Geratene des Mittels des Ausweichens, das als eines der Tiefe daher kommt, wenn er sich dieser sich aufdrängenden Frage wie folgt entzieht:

Weil das Ideal der Ursprünglichkeit verloren zu gehen droht, führt er eine andere – sprachphilosophische – Unterstellung ein: Seine Sprache soll unmittelbar eins sein mit dem, was sie ausdrückt. Diese unterstellt Unmittelbarkeit des sprachlichen Zugangs manifestiert sich dann in solchen kabbalistischen Wendungen wie der, daß das Sein sich in der Sprache „lichte“ oder „entberge“. Die Logik dieses Tuns ist es, dem Ausgangsdilemma auszuweichen, das darin besteht, daß Sein weder ein begrifflich Allgemeines noch ein Seiendes sein soll. Und da bietet es sich an, zu unterstellen, daß, da Sein nicht anders als in der Sprache ausgedrückt werden kann, der Sprache selbst ontologische Dignität zuzusprechen ist. Sprache, so wie Heidegger sie versteht, ist dann nichts anderes als die Erscheinung dessen, was in ihr gemeint ist. Es wird also so getan, als koinzidiere sie unmittelbar mit ihrem Anderen, das in ihr zu Sprache komme oder sich in ihr „lichte“. Und das ist deswegen Unfug, weil in jeder Sprache das mit ihr nicht von vornherein Identische gedanklich in die Verfügungsgewalt des Subjekts per vorzunehmender Identifizierung zu bringen versucht wird. Die Dinge reden weder von sich aus, noch geben sie ihre Identität unmittelbar zu erkennen, weil sie nämlich zunächst das dem Intellekt Fremde sind. Und diese jedem Sprechen anzusehende Differenz hebt Heidegger ganz einfach auf, weil es ihm um das unmittelbare Entsprechungsverhältnis seines Redens mit dem Sein geht.

Ohnehin kommen selbstverständlich auch Vertreter der nominalistischen oder positivistischen Philosophie ohne Begriffe nicht aus. Daß sie ohne diese nicht auskommen, verweist darauf, daß die Reduktion des Begriffs auf Seiendes genausowenig möglich ist wie umgekehrt die Reduktion des Seienden auf das Sein. Besteht also der Fehler Heideggers darin, die Verallgemeinerung des Seins von den Vermittlungen durch Seiendes frei zu halten, dann ist es der Fehler des Positivismus, des Seienden als solchen, ohne die Vermittlung durch den Begriff habhaft werden zu wollen. Heidegger hypostasiert das Sein, seine vermeintlichen Antipoden hypostasieren das auf seine begreifende Durchdringung Verzicht leistende Seiende, wenn sie sich gedankenloserweise als gedankenlose Empiriker aufführen.

Darüber hinaus macht sich Heidegger mit seinem Sein einer petitio principii schuldig. Weil er der prinzipiellen Vergänglichkeit des zeitlich Seienden entgehen will, wenn er die Ursprünglichkeit eines nicht zu bestimmenden Seins anvisiert, siedelt er dieses gesollte Sein dort an, wo die Zeit nicht hinreicht und gibt dieses dann für ein Ursprüngliches aus. Damit ist dann aber bereits, ohne daß dafür auch nur ein Argument ins Feld geführt worden wäre, entschieden, daß dem Seienden das Sein ontologisch vorgeordnet sein soll, weil es nur als nicht dem Zeitfluß ausgeliefertes grundlegend sein kann. Eigentlich geht es allenthalben nur darum, die im Sinne eines Vorurteils inthronisierte Position gebetsmühlenartig immer nur zu wiederholen, daß nämlich das Sein dem Seienden gegenüber das Vorgängige sei, ohne daß diese Behauptung argumentativ abgeleitet würde. Sie kann dies aber deswegen nicht, weil im Zuge dieser Begründung das Sein in irgendeiner Weise bestimmt werden müsste, um so seine Vorgängigkeit dem Seienden gegenüber zu begründen. Geschähe dies aber, würde das Sein, der unkritisch gemachten Vorgabe gemäß, selbst zu einem bedingten Seienden, das es, bei Strafe des eigenen Untergangs, auf gar keinen Fall sein darf. Womit man wieder da angelangt wäre, wo sich der Seinsphilosoph von Anfang an befindet. Bei dem supponierten Unmittelbaren der „ontologischen Differenz“. Das Sein soll weder das Abstraktum des Allgemeinbegriffs noch das bestimmte, unter einen Allgemeinbegriff befaßte bestimmte Seiende sein.

Weil also das Sein Heideggers diesen nicht mehr zu überbietenden Grad an Allgemeinheit hat, ist mit ihm weder argumentativ etwas anzufangen noch ist ihm mit Argumenten und kritischen Einwänden zu begegnen, weil nämlich jeder Einwand über es etwas Bestimmtes aussagen müßte. Genau das aber ist prinzipiell und von vornherein ausgeschlossen worden. Man kann also eigentlich nur daran glauben oder auch nicht, je nach Geschmack und Einstellung. Und weil dem so ist, ist damit auch erklärt, warum die Position des Existentialontologen eine intellekt- und wissenschaftsfeindliche sein muß: Gedankenlose Gedanken sind nämlich ansonsten und prinzipiell ein Widerspruch in sich und darüber hinaus unaussprechbar, was aber nicht für, sondern gegen sie spricht. Anders gesagt: Heidegger macht aus Armut pur einen nichts beinhaltenden Reichtum, einen Reichtum aus Armut. Und in dieser Haltung kommt er aufs Schönste überein mit der religiösen Grundeinstellung: Dem Dünkel des Glaubenden, der aus seiner Demut und Nichtswürdigkeit resultiert. Gerade auf seine Verworfenheit bildet sich der Glaubende alles ein.

Der Reichtum aus Armut hat aber darin seinen Grund, daß Heideggers Philosophie eine ganz und gar unkritische ist. Wortgeschichtlich gesehen leitet sich der Begriff Kritik nämlich aus dem Begriff des Scheidens ab. Das griechische „Krinin“ heißt unterscheiden. Gegen das für jedes Denken unverzichtbare Unterscheiden hat sich Heidegger aber der Bestimmungslosigkeit seines Seins zuliebe stets und unmißverständlich ausgesprochen. Die Sünde des Denkens soll das Unterscheiden sein, dasjenige also, ohne das kein Denken auskommt oder auch nur stattfinden kann. Deswegen war oben davon die Rede, daß Heideggers Philosophieren von Grund auf intellektfeindlich und irrational ist. Es muß dies sein, weil es sich nur so in seiner gewollten Reinheit des Seins einrichten kann. Da das Sein aber weder das Seiende noch ein wie auch immer Begriffliches sein soll, bleibt nur übrig, es als ein jedem Unterschied Vorgängiges und damit Archaisches in Szene zu setzen.

Vor diesem Hintergrund begreift man auch, weshalb der späte Heidegger von dem Menschen als dem „Hirten des Seins“ gesprochen hat. Damit und mit den ausgelatschten Schuhen einer Bäuerin soll ein vorrationaler, dabei ganz und gar bornierter metaphysischer Ursachverhalt getroffen werden, der auf primitive, voragrarische Verhältnisse einer Vieh züchtenden Gesellschaft zurückverweist. Die Faszination aber, die von Heideggers Denken bis heute ausgeht, ist, so gesehen, die Unbildung, die zu predigen dieser dem Denken abschwörende Denker sich gefällt. – Sein ist bzw. soll demzufolge dasjenige sein, in dem die Differenz zwischen Seiendem und Sein noch gar nicht besteht. Und dieses Unreflektierte oder Naive eines vorbegrifflichen archaischen Denkens – wenn man es denn so nennen will – wird dem Ursprünglichen und deswegen als höher Bewerteten gleichgesetzt. Diese Begeisterung für die Ununterschiedenheit eines vorrationalen Einfachen macht den immer wieder herausgestrichenen Antiintellektualismus dieser Philosophie aus, der also systematisch motiviert ist. Das heißt, daß diese Philosophie das Scheidende und Unterscheidende deshalb abwehrt, weil es der Unterschiedslosigkeit des Seins in die Parade fährt. Da aber das Scheiden und Unterscheiden eine unverzichtbare Funktion des sich betätigenden Intellekts ist, so muß mit der Abwertung dieses Vermögens auch der Verstand selbst abgewertet und als der rückgängig zu machende Sündenfall hingestellt werden.

Hiermit hat es auch zu tun, daß dieser erhabene Dünkel des Nichtwissens so etwas wie ein Surrogat für Menschen bietet, die in der Realität ihres wirklichen Lebens zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sind. Mit Hilfe der Weiten des Heideggerschen Ungedankens gelingt es ihnen, dasjenige zu leisten und freiwillig auf sich zu nehmen, was ihnen an Notwendigem im täglichen Einerlei aufgebürdet wird. Ja noch mehr, sie werden von Heidegger und den Seinen geradezu dazu ermutigt, das ihnen Auferlegte und scheinbar Unumgängliche in dem Bewußtsein auf sich zu nehmen, daß sie auf eine indirekte Weise durch diese erbärmliche und jämmerliche Verzichtshaltung des Eigentlichen teilhaftig werden, worin sich spätestens der religiöse Hintergrund dieses areligiösen Predigers offenbart.

Der von Heidegger favorisierte Seinsbegriff entzieht sich aber der Frage nach der Wahrheit oder Falschheit der Sätze über Sein deswegen, weil er jede Bestimmung von sich weist. Darüber hinaus wird konsequenterweise das Denken diffamiert, weil nur es diese Unterscheidung durchzuführen vermag. Außerdem und als Folge dieser Diffamierung kommt es dann zu einer vollkommenen Verarmung, weil es das supponierte Absolute ja nur deswegen ist, weil es als das bestimmungs- und unterschiedslose deklariert worden ist, bei dem man sich im prägnanten Sinne nichts mehr denken kann. Und diese Kargheit der eigenen Würde wird dadurch jeglicher Kritik entzogen, daß diese Unbestimmtheit zum Eigentlichen deklariert wird, wenn beispielsweise von dem „Abstieg des Denkens in die Armut seines vorläufigen Wesens“ die Rede ist. Heidegger tut gerade so, als sei die von ihm propagierte Armut die Frucht einer heilsamen Askese, weil nur so das Denken sich einerseits von den oberflächlichen und fassadenhaften Bestimmungen reinigen könne, um dann ausgerechnet in der gedanklichen Ödnis dieser freiwilligen Zurückgezogenheit einer wie auch immer beschaffenen Fülle teilhaftig zu werden. Schade ist freilich, daß dieses Versprechen, gerade in der heilsamen Armut die Fülle zu entdecken ein frommer Wunsch bleiben muß, weil jeder Versuch, dieses Sein zu bestimmen es auf der einen Seite dem Begriff und auf der anderen Seite dem Seienden ausliefern würde. Also wird man mit Begriffen vertröstet, die nicht, wie es einzig sinnvoll wäre, als Begriffe durch ein anderes bestimmt sind, sondern mit begriffslosen Begriffen, die lediglich noch sich selbst bedeuten. Letztlich wird man mit Formeln abgespeist, die monoton hergebetet werden (können).

Überhaupt ist die Haltung verräterisch, mit der das alles vorgetragen wird. Es liegt dem Versprechen, auf den Grund des Seins vorzustoßen, das Prinzip der Vertröstung zugrunde. Wer immer und vor allem auch in der Politik davon redet, daß dasjenige, was versprochen wurde, irgendwann einmal eingelöst werden wird, hat dies entweder nie vorgehabt oder ist dazu, wie im Falle Heideggers, prinzipiell unvermögend. Dieses Versprechen soll also lediglich darüber hinweg täuschen, daß eine Erfüllung auf Grund der gemachten Voraussetzung ganz und gar ausgeschlossen ist. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der sprichwörtlichen Faktenhuberei der empirischen Soziologie, die ja auch stets behauptet, man müsse erst unendlich viel Material mittleren begrifflichen Niveaus und Umfangs zusammenlesen, bevor man dann irgendwann einmal möglicherweise zu der Voraussetzung einer gescheiten Theorie der Gesellschaft sich durchgeläutert habe. Eine Theorie der Gesellschaft ist aber etwas gänzlich anderes als das Aufhäufen unzähliger Einzelbeobachtungen und ihrer anschließenden Klassifikation. Mit diesem Ansatz kann der Begriff der Gesellschaft nicht nur nicht erreicht werden, sondern ist vom Ansatz her ausgeschlossen. Hier steht diesem Versprechen die schiere Unendlichkeit des empirischen Details im Weg. Dort die Armut des Seins, in die sich das Denken zurückbegeben müsse, um ausgerechnet dort der Fülle des Seins zu begegnen. Anders gesagt, diese unterschiedlichen Ausweichmanöver machen stets aus der Not eine Tugend, wenn aus Mängeln der Theorie, aus etwas Negativem eine höhere Form der Positivität verfertigt wird. Also hinsichtlich des Seins des Fundamentalontologen wird so getan, als ob die Abstraktheit, die die unumgehbare Aporie des Seins ausmacht in Wirklichkeit sich in größerer Nähe zu der wirklichen Fülle dessen befinde, was das Eigentliche ist.

Aber auch rein geschichtlich betrachtet geht Heidegger fehl. Denn sein Sein, das er philosophiehistorisch als das vorgedankliche Erste ausgibt, ist bereits das Ergebnis einer Reflexion und eines Abstraktionsvorganges. Genau genommen ist es sogar die Abstraktion schlechthin, eben weil sich bei dem Sein nichts Bestimmtes denken läßt. Die griechischen Denker wie beispielsweise und vor allem Parmenides hatten nicht zunächst die von Heidegger ihnen unterstellte pure Seinserfahrung, sondern das Sein, das sie meinten, war das Ergebnis des Nachdenkens über ein zunächst unverstandenes Seiendes, das sie mit Hilfe ihrer General-Abstraktion einer wie auch immer fragwürdigen Erklärung zuführen wollten. Also ist es genau anders herum, als Heidegger uns glauben machen will: Nicht ein ursprüngliches, intellektfreies Sein stand am Anfang, an dem sich dann seit Plato die verkopfte Philosophie vergangen hat, sondern eine als chaotisch erfahrene Welt sollte mit solchen Prinzipien, die der Intellekt sich hat einfallen lassen, in eine halbwegs plausible Ordnung überführt werden. Heidegger will also, kurz gesagt, eine Verfallsgeschichte konstruieren, und ist auch hierin dem religiösen Geschichtsverständnis kongenial: ein harmonischer, intellektfreier Urzustand wurde von einem durch den Intellekt herbeigeführten Abfall abgelöst, wofür der Mensch qua Mensch immer und in alle Ewigkeit in Sack und Asche zu gehen hat. Oder auch nicht, gesetzt er wird dem Sein hörig oder der Hirt des Seins …

Die Gedankenbestimmung des Seins eines Parmenides jedoch ist deswegen von so besonderes hohem Wert, weil mit ihr erstmals in der Geschichte des abendländischen Geistes ein Abstraktionsniveau erreicht worden ist, mit Hilfe dessen man sich konkrete Vorgänge in der Natur etwa verständlich und begreiflich machen kann. Diese Bestimmung des Gedankens ist das Ergebnis eines Gefühls der Insuffizienz oder der Anstoßnahme daran, daß sich die frühen Naturphilosophen zunächst mit einzelnen, mehr oder weniger willkürlich ausgedachten Prinzipien oder Stoffen auf der Welt eben nicht zurechtgefunden hatten. Diese Erklärungsversuche der Mannigfaltigkeit des Erscheinenden waren gedankenlos. Und diesem Mißstand hat in der Tat Parmenides abgeholfen, wenn er das Prinzip der Erklärung des Seienden im Sein, also in der Verallgemeinerung des Gedankens als solchem ausfindig machte. Daß ihm darüber die per Differenzierung zu bestimmenden Besonderheiten der Dinge oder das Unterscheiden abhanden gekommen sind, ist allerdings der sein abstraktes Denken charakterisierende Mangel, worauf dann Platon und Aristoteles in ihrer Kritik aufmerksam gemacht haben.

Denn daß es nachfolgend um die Konkretisierung dieser Abstraktion gegangen ist, also darum, jeweils bestimmte Gedanken zu denken, und damit die vermittelte Unmittelbarkeit des ersten, notwendig abstrakten Gedankens hinter sich zu lassen, ist den Bemühungen um bestimmte (ethische) Verallgemeinerungen eines Sokrates, Platon oder vor allem des Aristoteles zu entnehmen. Sie ruhten sich weder auf diesem gedankenleeren Abstraktionsniveau eines in seinem Anfang bereits zu seinem Ende gekommenen Nichts noch auf der wahrnehmungsgestützten und folglich nichts erklärenden Verdoppelung der Welt mit ihren vier vermeintlichen Elementen aus, sondern machten beide Einseitigkeiten – die des puren, gedankenarmen Empirismus und die des nichts denkenden, weil identitätslogisch ausgehöhlten Idealismus – zum Ausgangspunkt ihrer geistigen Arbeit, in der es um die Bestimmung der wirklichen Eigenarten irgendwelcher Gegenstände ging. Und in diesem Anliegen sind ihnen dann, ca. 2000 Jahre später, die Begründer der empirisch untermauerten mathematischen Naturwissenschaften in Gestalt Galileis, Keplers und Newtons etwa gefolgt. Damit ist auch noch einmal klargestellt, daß das Sein erstens nicht ein Unmittelbares, sondern ein Vermitteltes ist, und daß es zweitens nur insofern als ein Unmittelbares apostrophiert werden kann, als mit ihm die intellektuelle Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit der zunächst als fremd und feindlich erfahrenen Welt anhob.

Daß Parmenides dabei ein gedanklicher Fehler unterlaufen ist, soll hier noch extra vermerkt werden. Er ist nämlich folgendem Irrtum aufgesessen: Weil die unverstandene Mannigfaltigkeit immer mehr angewachsen war, hielt er es für notwendig, diesem schier unendlichen Material mit Hilfe eines Prinzips einen Erklärungsgrund für Alles unterzuschieben, und verkannte dabei, dass ein Erklärungsgrund, der alles erklären soll, eben darum nichts erklärt. Das Alles ist genau so viel oder so wenig wie das Nichts. Aber weil ihm genau dieser alles erklären sollende Grund vorschwebte, verfiel er auf das Sein, das, als die General-Abstraktion, nichts mehr erklärt, und exakt deswegen das gesuchte allgemeine Prinzip ist. Nur: Es ist als Unmittelbares ein ganz und gar Vermitteltes, was Heidegger nie hat wahrhaben wollen, und es leistet genau das nicht, was es leisten sollte: Alles zu erklären. Erklärungswert haben ausnahmslos bestimmte Gedanken, die an der Bestimmtheit das Kriterium ihrer Überprüfbarkeit besitzen. Umgekehrt folgt daraus: Wo es kein Kriterium gibt, ist der argumentativen Überprüfbarkeit der Boden entzogen worden.

Und darin kommen Parmenides und Heidegger dann doch wieder überein, daß ihr Prinzip nichts erklären kann, auch wenn der eine mit ihm, als purer Abstraktion, alles erklärt haben wollte, der andere es vor aller Erklärung als das Voraussetzungslos-Ursprüngliche inthronisiert hatte, dem man sich nur, wie dem Göttlichen, in der ahnenden und begeisterten Schau des eingeweihten Sehers in Form gestammelter Archaismen und Neologismen nähern kann, indem man es auf gar keinen Fall soll rational benennen dürfen. Anders gesagt, der eine kreiert aus dem Bedürfnis einer dem Wandel nicht mehr unterworfenen Erklärung eine oberste Abstraktion, die, weil sie von allem bestimmten Seienden absieht, nichts anderes mehr ist als der reine Gedanke des Seins oder pures Denken. Und der andere operiert zwar mit derselben Abstraktion und will nur nicht zugeben, daß sie eine solche ist, weil sie dadurch ihrer unterstellten und gesollten Ursprünglichkeit verlustig ginge und als ein Vermittlungsprodukt des Denkens in Erscheinung träte, womit der Anspruch auf das Ursprüngliche und nicht durch den Intellekt zerredete blamiert wäre.

Und in dieser Aporie, einerseits das Unsagbare nicht sagen zu können, dies aber bei Strafe der Sprachlosigkeit doch immer wieder tun zu müssen, indem im Zweifelsfall nur Tautologien oder Metaphern im geistfeindlichen Angebot sind, besteht das Spezifikum der Heideggerschen Philosophie für Eingeweihte, die sich auf ihren Ausstieg in die Gedankenlosigkeit oder den Abstieg in die geistige Armut auch noch wer weiß wie viel zugute halten. Denn, um es noch einmal zu sagen, weil das Sein weder das Seiende noch eine, und sei es auch gedankenlose, gedankliche Bestimmung und Abstraktion sein soll, ausgedrückt in der Copula oder dem Satzteilverbinder jeglichen logischen Urteils, bleibt lediglich das Konstrukt eines Seins übrig, von dem es buchstäblich nichts mehr zu sagen gibt, als daß es es selbst sei. Denn, wie sagt der Meister in der Schrift „Brief über den ‚Humanismus‘“? „Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst.“ Eine explizite Nicht-Aussage als Aussage … So etwas, eine contradictio in adjecto, muß man – voluntaristisch – einleuchtend finden wollen. Wer dem nicht folgen kann, wird der Seinsvergessenheit geziehen, was auch nicht weiter schlimm ist, da es ja, der Tautologie sei Dank, nichts zu begreifen gibt.

Dieses Denken jedenfalls steht der traditionellen Bestimmung des Geredes gar nicht so fern, als es Begriffe verwendet, die sich der denkenden Erfüllung verweigern, indem die einzige Bestimmtheit, die es zu bieten vermag, das Unbestimmte des gänzlich Abstrakten und Leeren ist. Das absolut Unausdrückbare, weil allen Prädikaten Entrückte wird bei Heidegger als Sein zum ens realissimum. Und hierin behält Hegel recht, wenn er von dieser Abstraktion zu Beginn seiner Logik demonstriert, daß es nicht mehr oder weniger als das Nichts ist. Umgekehrt aber bezichtigt es gerade dasjenige Denken der Niedrigkeit und der Alltäglichkeit, das es sich zur Aufgabe macht, daß sein Reden tatsächlich bestimmten Gedanken zum Ausdruck verhilft. Und weil dies die Stoßrichtung des Meßkircher Philosophen ist, ist sein Denken ein ganz und gar unwissenschaftliches, wenn es die unbedingte Nihilität als Positivum zu Gehör bringt. Denn um es ein letztes Mal zu sagen: Sein Nicht-Denken-Können des Seins resultiert daraus, daß es in der Unbestimmtheit, die es verlangt, sich gar nicht denken läßt. Und dies ist der deutlichste Hinweis auf den Antiintellektualismus dieser Nichtwissenschaft, was, dies die Ironie der Geschichte, Heidegger der letzte wäre zu bestreiten.