Individualismus vs. Holismus. Die Abneigung der Intellektuellen gegenüber dem philosophischen Liberalismus. Über ‚Pourquoi les intellectuels n’aiment pas le libéralisme‘ von Raymond Boudon

Besprochenvon Michael Tillmann

  • BOUDON, Raymond: Pourquoi les intellectuels n’aiment pas le libéralisme. Odile Jacob, Paris 2004. ISBN: 978-2738113986.

Raymond Boudon ist vielleicht der angelsächsischste der französischen Soziologen. Als brillanter Vertreter des methodologischen Individualismus, der gewöhnlich – zu Unrecht, wie der Autor mit zahlreichen Verweisen auf das methodische Vorgehen Tocquevilles, Durkheims und Webers belegt – einer angelsächsischen Wissenschaftskultur zugeschrieben wird, ficht er in Frankreich oder zumindest in der französischen Öffentlichkeit in der Tat einen einsamen Kampf gegen das – wie er es nennt – holistische Denken eines Bourdieu, Foucault, Girard, gegen die methodologischen Fragwürdigkeiten des Kulturalismus und Relativismus.[1] Gerade seine letzten Publikationen – ein Interviewband zu seinem intellektuellen Werdegang, seinem Werk und der Lage der Soziologie (2003) und eine soziologische Analyse des oft beklagten Werteverfalls (2002) – zeugen von einem pointierten Gespür für die Formulierung und soziologische Analyse gesellschaftlich relevanter Problematiken.

Dasselbe gilt für seine Untersuchung Warum die Intellektuellen den Liberalismus nicht mögen. Auch hier mobilisiert Raymond Boudon das gesamte methodische Arsenal seiner Forschungsrichtung, um der rätselhaften Abneigung weiter Teile der Geisteselite in Frankreich und anderen Ländern gegen den Liberalismus auf den Grund zu gehen. Dabei geht es im Wesentlichen um einen „philosophischen Liberalismus“, d.h. um das Bekenntnis zur Autonomie des Individuums und einer „rationalen“ Psychologie. Von einem derart definierten Liberalismus lässt sich das illiberale Denken dadurch abgrenzen, dass eine Alltagspsychologie abgelehnt und das Individuum als heteronom betrachtet wird. Diese Fremdbestimmung kann verschiedene Formen annehmen. Anstatt von einem rational handelnden Akteur auszugehen, der im Sinne der verstehenden Soziologie nachvollziehbare Entscheidungen trifft, ist hier das Individuum sozialen, kulturellen oder tiefenpsychologischen Determinismen unterworfen. Ins Visier geraten hier mit Marx und Freud natürlich die beiden Ahnherren der „Philosophien des Verdachts“ sowie Nietzsche als exponierter Vertreter der Boudon zufolge in der französischen Soziologie stark ausgeprägten Verschwörungstheorie.[2] Dass zumal marxistisch inspirierte Theorien nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich unter den Intellektuellen starke Verbreitung fanden, hat aber natürlich auch etwas mit der spezifischen historischen Situation zu tun, da sich die bürgerlichen Parteien während der Zeit der deutschen Besatzung in den Augen der französischen Intelligenz weit gehend diskreditiert hatten. Aber selbst nachdem die gesellschaftliche Basis des illiberalen Denkens zunehmend ihre Legitimität verlor und sich niemand mehr als marxistischer Denker ausgeben würde, sind Boudon zufolge die dazu gehörigen Deutungsmuster auch heute noch weit verbreitet. In diesem Sinne werden Psychoanalyse, Strukturalismus, Positivismus im Allgemeinen, die Globalisierungskritiker und Relativisten aller Couleur sowie Denker wie Bourdieu, Foucault, Girard – um nur die bekanntesten zu nennen – diesen antiliberalen Strömungen zugeordnet. Ihr Erfolg ist zwar zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass sie in der Tat auf wunde Punkte der liberalen Ordnung aufmerksam machen: Fakt ist etwa, dass die Chancengleichheit in der Schule nur sehr bedingt gegeben ist.[3] Andererseits sind, wie Boudon betont, die vorgelegten Erklärungen allzu simpel (Determination durch soziales Milieu), da sie das Individuum als zentralen Akteur im Grunde völlig ausblenden. Außerdem genügen sie kaum wissenschaftlichen Ansprüchen, da sie weniger der libido sciendi folgen als gesinnungsethischen Grundsätzen: „Mir scheint, dass der grundlegende Prozess, mit dem sich die Abneigung zahlreicher Intellektueller gegenüber dem Liberalismus erklären lässt, folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Seinen Ausgang nimmt dieser Prozess in einer spezifischen Lage, einem soziohistorischen Kontext, der bestimmte, von der Gemeinschaft als auffällig empfundene Sachverhalte erkennbar macht. Daraus ergibt sich sodann eine Nachfrage, der die gesinnungsethischen und insbesondere die organischen Intellektuellen nachzukommen sich bemühen. Wenn diese auffälligen Sachverhalte scheinbar auf Fehlentwicklungen der liberalen Gesellschaften verweisen, sind diese Intellektuellen dazu geneigt, ihre Diagnose auf Erklärungsmuster zu gründen, die von den illiberalen Denktraditionen auf den Markt geworfen wurden. Sobald die Kritik an diesen Fehlentwicklungen einer ‚wohlmeinenden Absicht‘ entspringt und die vorgelegte Erklärung einfach erscheint, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie von den Medien aufgegriffen und nicht kritisch hinterfragt wird“ (81-82).

Im Kern lautet die These: Der Erfolg methodologisch fragwürdiger, politisch motivierter Theorien sage nichts über ihren Wahrheitsgehalt, sondern lediglich etwas über ihren gesellschaftlichen Nutzen.[4]

Auf der Nachfrageseite führt Raymond Boudon diesen Erfolg im Wesentlichen auf die Vermassung des Bildungssystems zurück. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Abitur und schließlich die Universität für Bevölkerungsschichten geöffnet, die bisher keinen Zugang zu einem höheren Bildungsabschluss hatten. Damit musste jedoch zwangsläufig auch das Anforderungsniveau gesenkt werden, so dass – folgt man Boudon in seiner Argumentation – hier ein Publikum intellektuell ausgebildet wurde, das keine hinreichende Kenntnisse besaß, um anspruchsvolle soziologische Theorien verstehen zu können, dafür aber ein offenes Ohr für krude Vereinfachungen hatte. Gleichzeitig entwickelten sich ein wissenschaftlicher Werterelativismus des „Anything goes“ (Feyerabend) und ein Moralismus des politisch Korrekten, der die derart entstandene Lücke ausfüllte.

© passerelle.de, Februar 2005

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  1. Es sei allerdings angemerkt, dass man kein Verfechter des methodologischen Individualismus zu sein braucht, um bestimmte Fehlentwicklungen – wie einen um sich greifenden Relativismus und eine fadenscheinige Demokratisierung der Wissenschaftslandschaft – kritisch zu bewerten (vgl. etwa Lahire 2005, insbesondere den Aufsatz zur Doktorarbeit von Elisabeth Tessier: Lahire 2005: 351-387).
  2. Gemeint ist hier vor allem Pierre Bourdieu und die von ihm begründete Forschungsrichtung. Vgl. auch Boudon (2003: 141): Pierre Bourdieu „führte einen politischen Kampf von seinem Katheder aus. Er war fest davon überzeugt, in einer Gesellschaft zu leben, in der es sich nicht atmen lässt. Die ‚Verschwörungstheorie‘ ist an sich nichts Neues […]. Bourdieu hat sie allerdings zur Perfektion gebracht, wie der norwegische Soziologe Jon Elster launig bemerkt: Er analysiert die sozialen Prozesse als Effekt einer ‚Verschwörung ohne Verschwörer‘.“ Im Übrigen lassen sich die in der Tat völlig unterschiedlichen Ansätze und Ergebnisse der beiden Soziologen anhand ihrer jeweiligen Arbeiten zur schulischen Ungleichheit (Bourdieu/ Passeron 1970; Boudon 1973) miteinander vergleichen. Vgl. zu einer ähnlichen Kritik Boltanski/ Chiapello (1999), speziell Fußnote 40 im allgemeinen Einführungskapitel (dt. Übersetzung: S. 611).
  3. Vgl. hierzu zuletzt Dubet (2004).
  4. Boudon unterscheidet zwischen wahren und nützlichen Theorien im Sinne Paretos. Dabei haben wahre und nützliche Theorien dieselbe Wahrscheinlichkeit, auf gesellschaftliche Resonanz zu stoßen, wie falsche, aber nützliche Theorien. Wahre Theorien, deren gesellschaftlicher Nutzen jedoch nicht erkannt wird, bleiben demgegenüber – zumindest vorübergehend – im Abseits

Paradiesisches. Über ‚Que reste-t-il du paradis?‘ von Jean Delumeau

Besprochenvon Michael Tillmann

In der Frage Jean Delumeaus, was vom Paradies noch übrig bleibe, lässt sich eine gewisse Resignation erkennen, die der Leser dieser mit großer Akribie dokumentierten Geschichte der schriftlichen und ikonographischen Paradiesdarstellungen am Ende seiner Lektüre mit Nachdruck beipflichten möchte. Im fortgeschrittenen Stadium der Säkularisierung unserer westlichen Gesellschaften ist nicht allein der Glaube an jenseitige Heilsvorstellungen verloren gegangen. Selbst dort, wo diese noch mit einiger Glaubwürdigkeit gepflegt werden, ist – aus einem sehr einfachen Grunde – der Bildervorrat zur Darstellung des Unsagbaren abhanden gekommen: das Jenseits entzieht sich der Präzision bildlicher Darstellbarkeit. Eine Folge dieser Entwicklung besteht nun gerade darin, dass uns der Symbolgehalt der Paradies-Darstellungen zumeist verschlossen bleibt und wir die himmlischen Gefilde in all ihrer Pracht alles in allem mit einiger Verständnislosigkeit betrachten. Es ist nicht eben das geringste Verdienst Jean Delumeaus, uns wieder mit den Wurzeln der gemeineuropäischen Tradition des Christentums und seiner Bildersprache vertraut zu machen und uns somit die Möglichkeit zu eröffnen, Denkmäler des christlichen Abendlandes mit Gewinn erschließen zu können. Ihren Ausgang nimmt die Untersuchung Jean Delumeaus bei dem Genter Altar (1432) von Jan van Eyck, der dem Autor über die verschiedenen Kapitel hinweg als Referenz dient, erkennt er doch darin ein formvollendetes Werk, das sich mit unnachahmlicher Meisterschaft aus dem Vorrat der paradiesischen Bilderwelt bedient, um das friedliche Himmelsgefilde nach dem Jüngsten Gericht in all seinem Glanz erstrahlen zu lassen. Dabei entgeht dem Verfasser auch keineswegs, dass die Einbettung in einen religiösen Zusammenhang diesem Kunstwerk einen ganz anderen Status im Alltag der gläubigen Christen zuwies als der Blick des nachgeborenen Betrachters zu verstehen im Stande ist. In einem steten Hin und Her zwischen grundlegenden schriftlichen Quellen – von der Genesis über die Apokalypse bis hin zu Dantes „Paradiso“ – und einer ikonographischen Beschreibung bildlicher Darstellungen entdeckt der Leser nach und nach den Fundus an für diese Thematik grundsätzlichen Bildelemente und deren Symbolgehalt. So führt uns der Autor beispielsweise in die Geschichte der Farbsymbolik ein, die alles andere als statisch verläuft. Die Farbe Blau hat so zum Beispiel erst im Laufe der Jahrhunderte an Geltung gewonnen, bis sie schließlich in das Reich der edlen Farben aufgenommen wurde. Seitdem erscheint die Jungfrau Maria in samtenes Blau gehüllt. Nach zwei Kapiteln („Éblouissement“, „Bonheurs“), die im wesentlichen der Rekonstruktion dieser typischen Bildelemente der Paradies-Darstellungen gewidmet sind, wird auf den folgenden Seiten der Eindruck des Statisch-Unveränderlichen, der sich aus den vorangegangen Beschreibungen hätte ergeben können, korrigiert, und diese Geschichte des Paradieses erlangt so ihre eigentlich historische Dimension. In den „Transformations“ beschreibt der Autor die Veränderungen, die diese Bilderwelt prägen und die ihren Anstoß teils aus der weltgeschichtlichen Entwicklung, teils aus den Fortschritten und Entdeckungen in Wissenschaft und Kunst beziehen. Perspektivisches Malen und die Trompe-l’oeil-Technik geben den Künstlern nämlich ungeahnte Mittel an die Hand, die Gläubigen in andächtiges Erstaunen zu versetzen. Diese Entwicklung erfährt eine radikale Richtungsänderung, als im Laufe der Jahrhunderte das irdische Königtum an Macht gegenüber der kirchlichen Autorität gewinnt und die ikonographischen Elemente gleichsam in beiden Sphären zur Verklärung irdischer und himmlischer Macht in Konkurrenz zueinander treten. Darüber hinaus brechen heidnisch-mythologische Bilderwelten in die christlichen Paradiesvorstellungen ein, die schließlich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr Schritt zu halten vermögen: „Das Jenseits wird nicht länger im Himmel verortet. Es ist kein eigentlicher Ort mehr. Es verliert seine Farben und Formen. Bedeutet das aber auch, dass es selbst verschwindet? Jesus hat nicht das Paradies beschrieben, sondern von der Wirklichkeit einer ewig andauernden Zukunft des Friedens und des Glücks gesprochen“. Somit scheint spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts der Kampf zwischen zwei, dem Christentum eingeschriebenen, widersprüchlichen Tendenzen entschieden: Die Bilderpracht ist der Vorstellung gewichen, dass Unverstellbares auch undarstellbar zu bleiben habe.

© passerelle.de, Sommer 2001

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Kochen als Beruf. Über Alain Drouards ‚Histoire des cuisiniers‘

Besprochenvon Michael Tillmann

Schon 2004 ist diese hoch interessante Geschichte des Kochgewerbes in Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert herausgekommen.

Alain Drouard verfolgt darin die Entwicklungen einer Zunft, deren renommierteste Vertreter heute eine derartige nationale und zum Teil auch internationale Berühmtheit erlangt haben, dass Arbeitsbedingungen und Status der breiten Masse all jener Köche, die in Großküchen und in den herkömmlichen Restaurantbetrieben arbeiten, aus dem Blickfeld geraten. Dabei erlebt dieses Gewerbe seit geraumer Zeit einen Wandel, der nicht zuletzt durch die neuen Angebote der Lebensmittelindustrie ausgelöst wurde. Paradoxerweise wächst damit die Kluft zwischen einer haute cuisine, die für den Großteil der Bevölkerung immer unerschwinglicher wird, und den Essgewohnheiten der meisten Franzosen in der kommerziellen Gastronomie (Schnellrestauration oder auch traditionelle Brasserien). Allen Realitäten zum Trotz gehört jedoch die gastronomische Ausnahmestellung Frankreichs zu den unablässig beschworenen Stereotypen der nationalen Kultur.

© passerelle.de, März 2006

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Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz. ‚Injustices. L’expérience des inégalites‘ von François Dubet (zs. mit V. Caillet, R. Cortéséro, D. Mélo, F. Rault)

Besprochenvon Michael Tillmann

Ein Mann und eine Frau. Ein Anfang, der ein Ende…

In einer groß angelegten empirischen Studie unter der Leitung des Touraine-Schülers François Dubet[1] wurden in den Jahren 2003 bis 2005 unterschiedliche Berufskategorien (Landwirte, Krankenhauspersonal, leitende Angestellte, Dozenten, Taxifahrer usw.) nach ihrem subjektiven Empfinden von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz befragt. Die Ergebnisse dieser Interviews und Fragebögen bilden den Großteil der Studie, deren einleitendes Kapitel einen theoretischen Rahmen zur analytischen Auswertung der Ergebnisse liefert. Dabei greifen François Dubet und seine Mitarbeiter auf die konzeptuellen Vorarbeiten der „Wertigkeitsordnungen“ zurück, die Luc Boltanski und Laurent Thévenot in De la justification ausgearbeitet haben.[2] So geht beispielsweise auch François Dubet von einer Pluralität an Gerechtigkeitsvorstellungen aus, die sich im sozialen Raum (hier: am Arbeitsplatz) überschneiden, miteinander in Konflikt treten können oder zumindest eine wechselseitige Kritisierbarkeit bedingen, andererseits aber auch zu punktuellen und/ oder lokalen Kompromissformen Anlass geben können. Ähnlichkeiten zu Boltanski/Thévenot lassen sich darüber hinaus in dem Bemühen erkennen, die Akteure in ihren subjektiven Äußerungen ernst zu nehmen und zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der „gewöhnlichen“ gesellschaftlichen Akteure und der Philosophen lediglich einen graduellen Unterschied zu sehen, der letztlich vor allem in einem mehr oder weniger hohen Abstraktionsgrad besteht. Im Unterschied zu den beiden Vertretern der pragmatischen Soziologie, die von sechs Rechtfertigungsordnungen ausgehen, konstruiert Dubet die Gerechtigkeitsproblematik jedoch um die drei Begriffe Gleichheit (égalité), Leistung (mérite) und Autonomie (autonomie). Die Arbeit wird hier zum Prüfstein konkurrierender Gerechtigkeitsprinzipien, insofern sie im Idealfall eine Zugehörigkeit zu einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft garantiert, besondere Fähigkeiten und Kompetenzen besonders entlohnt und darüber hinaus eine Selbstverwirklichung ermöglicht. Die eigentliche Stärke dieser umfangreichen Studie besteht jedoch vor allem in den auswertenden Passagen, den Stimmwechseln zwischen dem Resümee des Soziologen und den Äußerungen der befragten Arbeitnehmer. Hier kondensiert sich das Gerechtigkeits- und vor allem auch Ungerechtigkeitsempfinden zu einem bisweilen beklemmenden Gefühl des menschlichen Leidens. Zuletzt war es Pierre Bourdieu und seiner Misère du monde (1993) sowie Younes Amrani/Stéphane Beaud mit Pays de malheur (2004) gelungen, den Unterdrückten und Geschundenen durch den Abdruck langer Interviewpassagen eine Stimme zu verleihen und beim Leser ein ähnliches Gefühl der hilflosen Beklemmung zu wecken angesichts eines universellen Leidens an und mit der Unerbittlichkeit der sozialen Welt (vgl. hierzu auch Robert Castels schönen Aufsatz zu Leben und Werk Pierre Bourdieus).

© passerelle.de, April 2006

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  1. An dem Gemeinschaftsprojekt wirkten neben François Dubet ferner mit: Valérie Caillet, Régis Cortéséro, David Mélo, Françoise Rault. Im Weiteren wird als Autor einfachheitshalber nur François Dubet genannt.
  2. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Arbeit von Luc Boltanski und Laurent Thévenot zuallererst die Konflikte und Konfliktschlichtung der Menschen im Alltagshandeln und die damit einhergehenden Rechtfertigungsbemühungen betrifft. Erst im Anschluss daran treten die diesen Rechtfertigungsbemühungen zugrunde liegenden „philosophischen“ Ordnungen, die eben auch präzise Gerechtigkeitsvorstellungen beinhalten, in den Blickpunkt des Interesses. Die Tatsache, dass konzeptuelle Entwicklungen der pragmatischen Soziologie jedoch von anderen Sozialwissenschaftlern aufgegriffen werden, die weder biographisch noch institutionell Schnittmengen aufweisen, zeigt, wie wichtig dieser Forschungszweig in Frankreich inzwischen geworden ist.

Die notwendige Fiktion der Leistungsgesellschaft. Über ‚L’école des chances‘ von François Dubet

Besprochenvon Michael Tillmann

Das Thema Schule gehört in Frankreich ganz ohne Zweifel zu den politisch hochbrisanten Problemfeldern.

Das zeigt allein schon die Liste all jener hochkarätigen Minister von Lionel Jospin, Jack Lang, Claude Allègre oder auch in neuerer Zeit Luc Ferry, deren Reformbemühungen immer wieder an den korporatistischen Reflexen der Lehrergewerkschaften gescheitert sind. Dabei haben die ideologischen Fronten, die sich in der tagespolitischen Debatte immer wieder aufs Neue bilden, vor allem auch damit zu tun, dass die Frage des Schulsystems an das Selbstverständnis der französischen Republik selbst rührt. Während der III. Republik (1871-1940) wurden auf Betreiben Jules Ferrys bildungspolitische Weichenstellungen getroffen, die heute zu den Gründungsmythen Frankreichs gehören. Von Anfang an war die Frage der Schule und ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft ein Thema, das eng mit der sich ausbildenden Soziologie verbunden war. Émile Durkheim, der Ahnherr der französischen Soziologie, bekleidete einen Lehrstuhl für Sozialwissenschaften und Erziehung und sah in der Schule eine der zentralen Sozialisierungsinstanzen. Aber auch bei Pierre Bourdieu oder Raymond Boudon ist die Schule und die soziologische Bildungsanalyse mit allgemeinen methodologischen Problemen der Soziologie verbunden, so dass die Behauptung nicht unsinnig ist, „dass die Geschichte der Bildungssoziologie bis in unsere Zeit hinein im Grunde mit der Geschichte der Soziologie schlechthin zusammenfällt“ (Derouet 2003: 199).

 

François Dubet hat nun mit L’école des chances in der Reihe der République des Idées einen Essay vorgelegt, in dem er Wege aus der aktuellen Krise aufzeigt. In der Tat lässt sich feststellen, dass das meritokratische Prinzip und das damit einhergehende Postulat der Chancengleichheit nur bedingt der Realität entspricht. Zahlreiche Studien haben nicht erst seit Bourdieu darauf hingewiesen, dass die Schule Ungleichheiten reproduziert. Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien schneiden in ihren schulischen Leistungen statistisch schlechter ab, erreichen einen niedrigeren Bildungsabschluss und haben damit auch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Kinder aus wohl situierten, bürgerlichen und vor allem bildungsnahen Milieus. Das heißt: Soziale Ungleichheiten sorgen im Laufe des schulischen Selektionsprozesses für eine sozial vorgeprägte ungleiche Bildungsverteilung. Das ändert zwar nichts daran, dass Leistungsprinzip und Chancengleichheit eine, wie es bei Dubet heißt, „notwendige Fiktion“ darstellen, die eine Voraussetzung ist für eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft. Allerdings sollten sie durch konkurrierende oder ergänzende Gerechtigkeitsprinzipien ausgeglichen werden. Wenn man nämlich von den ungleichen Startbedingungen einmal absieht, ist selbst innerhalb des Schulsystems die Chancengleichheit nur bedingt gegeben. Auf der Angebotsseite lässt sich beispielsweise beobachten, dass die Mittelvergabe zwischen Universitäten und den Elitehochschulen sowie den an die Gymnasien angeschlossenen Vorbereitungsklassen ein großes Gefälle zugunsten der prestigeträchtigen Ausbildungswege aufweist. Aber auch in der Sekundarstufe sind die Karten sehr ungleich verteilt. Selbst die stärkere finanzielle Förderung von Schulen in sozialen Brennpunktvierteln (ZEP) hat daran nichts Grundlegendes geändert. Die Einstufung einer Schule als ZEP hat jedoch stigmatisierende Folgen, die zu einer noch homogeneren Klassenzusammensetzung führen können, während bekanntlich kompetenzheterogene Lernumwelten vor allem auf schwache Schüler einen positiven Leistungseffekt haben.[1] Deswegen ließen sich angebotsbedingte Ungleichheiten durch eine Veränderung oder flexiblere Handhabung der Zuweisung zur nächstgelegenen Schule, die allein geographische Kriterien heranzieht, vielleicht sogar kostengünstiger ausräumen oder doch zumindest abschwächen. Darüber hinaus plädiert François Dubet für einen gemeinsamen Wissenssockel, der allen Schülern vermittelt werden sollte. Dazu müsste jedoch das Schulprogramm der Sekundarstufe nicht mehr auf das Abiturwissen hin ausgerichtet sein, sondern als eigenständige zu beherrschende Wissensnorm gelten, so dass diejenigen, die ihren Bildungsweg vor dem Abitur abbrechen, trotz allem einen anerkannten Leistungsnachweis besitzen. Abschließend weist Dubet noch auf soziale Ungleichheiten hin, die sich aus den schulischen Leistungsunterschieden ergeben. Diese bestimmen nicht nur zu großen Teilen die individuellen Arbeitsmarktperspektiven, sondern auch das Selbstwertgefühl der Schüler. Das meritokratische Prinzip der Chancengleichheit hat nämlich zur Folge, dass jeder einzelne Schüler sich als Person für seine Leistung verantwortlich fühlt. Insofern besteht naturgemäß die Gefahr, dass die Leistungsbewertung als Persönlichkeitsbewertung empfunden wird und dass dauerhafte schulische Misserfolge zu Selbstwertverlusten führen.

Auch deswegen gilt es, die Leistungsgerechtigkeit im Sinne einer meritokratischen Chancengleichheit nicht zum Allheilmittel zu erklären. Vielmehr sollte sie von einer distributiven (gezielte Umverteilung des schulischen Angebots), sozialen (Berücksichtigung und Respekt der Schwächsten) und individuellen (Bildungsniveau nicht als alleiniger Bestimmungsfaktor gesellschaftlicher Hierarchien) Gerechtigkeit umrahmt und ausgeglichen werden.

© passerelle.de, Januar 2005

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  1. Vgl. hierzu u.a. auch die Rezension zu Éric Maurin (2004).

Müde Manager. Über ‚La fatigue des élites‘ von François Dupuy

Besprochenvon Michael Tillmann

Seit einigen Jahren schon ist das Schlagwort der précarité in Frankreich in aller Munde. In zahlreichen Publikationen wurde der Befund einer wachsenden beruflichen Unsicherheit, die sich allein schon an den Arbeitslosenzahlen ablesen lässt, immer wieder aufs Neue bekräftigt.

Diese Unsicherheit betrifft natürlich – ähnlich wie in Deutschland – vor allem gering Qualifizierte, die der internationalen Lohnkonkurrenz in besonderem Maße ausgesetzt sind. Höher Qualifizierte dagegen scheinen gegen die Gefahren einer Deklassierung unter verschärften internationalen Konkurrenzbedingungen deutlich besser gewappnet zu sein.

Dieses im Kern sicherlich zutreffende Urteil muss gleichwohl in gewissen Punkten nuanciert werden, sobald man den Begriff der Prekarität eben nicht ausschließlich auf die (fehlende) Sicherheit des Arbeitsverhältnisses bezieht, sondern auch auf die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation. Éric Maurin (2002) hatte bereits darauf hingewiesen, dass die berufliche Unsicherheit nicht nur gering qualifizierte Arbeitnehmer trifft und im Grunde – natürlich mit mehr oder weniger schwer wiegenden Folgen – quer zu den verschiedenen Berufsgruppen verläuft. Der französische Organisationssoziologe François Dupuy nun ist eben dieser Frage vertiefend nachgegangen. Sein Interesse gilt vor allem den cadres supérieurs, d.h. der französischen Wirtschaftselite, die sich von den eigentlichen Führungs- und Entscheidungsgremien innerhalb der Unternehmen im Stich gelassen fühlt. Insofern lässt sich Robert Castels (2003) Einsicht, wonach manche Gruppen, deren Arbeitsbedingungen sich kollektiv verschlechtern, mit einer Situation des sozialen Abstiegs konfrontiert sind und einen Nährboden bilden, auf dem ein Gefühl der Unsicherheit wächst, auch auf die Berufsgruppe der leitenden Angestellten übertragen.
Während die Managerklasse in Frankreich lange einen Sonderstatus genoss, weil sie eben eine Mittlerfunktion im hierarchisch organisierten Unternehmensgefüge einnahm, sich gleichzeitig aber in die Entscheidungsfindungsstrukturen mit eingebunden fühlte, hat sich die Situation in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Das ausschlaggebende Moment für diesen langsamen Entfremdungsprozess zwischen betrieblichen Führungsinstanzen und mittlerer bis gehobener Managementebene verortet François Dupuy in der Revolution der Organisationsformen als Folge einer Umkehrung wirtschaftlicher Knappheitsverhältnisse. Zugespitzt lautet die These: „Bis zum Ende des Wirtschaftswunders herrschte in Bezug auf die täglichen Arbeitsprozesse das stillschweigende Übereinkommen, dass die Unternehmen in erster Linie für ihre Angestellten da seien. Kunden bzw. Aktionäre waren im Grunde zweitrangig. Diese Selbstbezogenheit hatte mit einem spezifischen wirtschaftlichen Umfeld zu tun, das letztlich den Produktions- bzw. Vertriebseinheiten anstatt den Konsumenten die Macht in die Hände legte“ (Dupuy 2005: 11). Diese für die Managerebene in den Unternehmen komfortable Situation hat sich nun in ihr Gegenteil verkehrt. Im Zuge der Globalisierung und der Liberalisierung der (internationalen) Handelsbeziehungen sind nicht mehr so sehr die Produkte knapp als die Kunden, denen man sie verkaufen könnte. Dadurch aber gaben die Kunden (und darüber hinaus auch die Aktionäre) zunehmend den Ton an. Die Unternehmen mussten sich diesem Kundendiktat beugen und die sequenziell organisierten Unternehmensstrukturen (Planung, industrielle Organisation, Produktion und innerhalb der Produktion, beispielsweise in der Automobilindustrie, zwischen Maschinen- und Karosseriebau, zwischen Karosserieherstellung und -montage usw.) aufbrechen. Aus organisationstheoretischer Sichtweise hatten diese sequenziellen Unternehmensstrukturen jedoch auch eine Schutzfunktion, weil dadurch eine gewisse Arbeitsautonomie jedes einzelnen dieser Bereiche gegenüber allen anderen gewahrt wurde. Das war vor allem für die betroffene Leitungsebene eine recht bequeme Situation, zumal sie dadurch innerhalb ihrer Organisation gewissermaßen eine Monopolstellung innehatte und die Arbeitsprozesse auf die unternehmensinternen Bedürfnisse abstimmen konnte. Unterdessen haben jedoch die Kunden die Macht an sich gerissen. Sie sind nicht länger bereit, die Kosten für schwerfällige Organisationen zu tragen. Angesichts dieser Situation wurden Reformen notwendig, die diese monopolartigen Strukturen aufbrechen und für eine stärkere horizontale Kooperation und Verflechtung sorgen (Beispiel: Anschlussflüge ohne längere Wartezeiten). Kooperation bedeutet aber eben immer auch Konflikt, so dass die seit einiger Zeit in Gang befindliche Revolution der unternehmensinternen Organisationsformen letztlich dazu führt, dass auch die leitenden Angestellten einem wachsenden Druck ausgesetzt sind. Da die strategischen, unternehmensrelevanten Entscheidungen in höheren Sphären getroffen wurden, zu denen sie im Regelfall keinen Zugang haben, die Arbeitsbelastung bei rückläufiger Gehaltsentwicklung jedoch gleich bleibend hoch ist, lassen sich Rückzugsstrategien erkennen, die zeigen, dass das Arbeitsengagement und die Identifikation mit dem Unternehmen nachzulassen drohen. Die cadres, die sich bisher trotz ihres Angestelltenstatus stets stärker der Unternehmensdirektion verbunden fühlten als den anderen Arbeitnehmern des Betriebs, scheinen sich – wie sich einigen Umfragen speziell zu der Frage der 35-Stunden-Woche in Frankreich entnehmen lässt – tendenziell den „gewöhnlichen“ Angestellten anzunähern: Auch die Führungskräfte zählen nun ihre Arbeitsstunden, und wie alle anderen Arbeitnehmer wünschen auch sie keine Lockerung der 35-Stunden-Woche, die unter der sozialistischen Koalition verabschiedet worden war und vor kurzem von der bürgerlichen Regierung neuerlich in Frage gestellt wurde. Der Kapitalismus allerdings – das haben Boltanski/ Chiapello (1999) eindrucksvoll gezeigt – braucht einen Geist. Er braucht das Engagement seiner Führungskräfte und damit überzeugende und glaubwürdige Werte, die diese langfristig binden und motivieren.[1]

 

Wie es in der Reihe der République des Idées üblich ist, begnügt sich der Verfasser jedoch nicht mit einem negativen Befund. In einem abschließenden Kapitel werden drei sich kreuzende Wege aus der Krise aufgezeigt. Zum einen sollte an die Stelle des Spezialistentums eine horizontale Integration verschiedener Unternehmensbereiche in der Person des Managers treten, die auch auf das mittlere Leitungsniveau auszudehnen wäre. Darüber hinaus sollte auch das Laufbahnmanagement umgestaltet werden, so dass nicht mehr allein ein Aufstieg in der Unternehmenshierarchie mit einer Gehaltserhöhung verbunden ist, sondern eventuell auch horizontal verlaufende Karrieren möglich werden. Dabei geht es jedoch im Kern darum, dass der Karriereverlauf den Führungskräften nicht einfach aufgezwungen, sondern vielmehr ausgehandelt wird. Drittens schließlich muss dieses horizontale Karrieremanagement die Möglichkeit bieten, neue Kenntnisse zu erwerben, so dass die leitenden Angestellten ihre employability weiter ausbauen können.

© passerelle.de, Juni 2005

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  1. Es sei darauf hingewiesen, dass François Dupuy, ohne die Autoren namentlich zu erwähnen, von Boltanskis und Chiapellos Versuch nicht viel hält, die Veränderungen des kapitalistischen Geistes und letztlich auch der kapitalistischen Organisationsformen (Stichwort: Vernetzung, Projekt usw.) als Reaktion auf die Herausforderungen der 68er Bewegung zu interpretieren (Dupuy 2005: 58). In seinen Augen sind die Veränderungen der unternehmerischen Organisationsformen ausschließlich der Globalisierung und der Öffnung der Märkte zuzuschreiben.

Kultursoziologische Mischprofile. Zur Theorie kultureller Legitimität. Über ‚La culture des individus‘ von Bernard Lahire

Besprochenvon Michael Tillmann

  • LAHIRE, Bernard: La culture des individus. Dissonances culturelles et distinction de soi. La Découverte, Paris 2004. ISBN 978-2707142221.

In einem voluminösen, an theoretischen Ausführungen und empirischen Datensätzen qualitativer und quantitativer Natur reichen Werk setzt sich der Lyoner Soziologe Bernard Lahire mit dem kultursoziologischen Mainstream in Frankreich auseinander, d.h. mit der Theorie kultureller Legitimität, die kulturelle Produkte hierarchisiert, kulturelle Praktiken mit gesellschaftlichen Klassen- und letztlich Macht- und Herrschaftslagen in Bezug setzt. Der Titel seines fast 800seitigen Buches La culture des individus ist dabei bereits Programm, weil hier das Kulturelle, das doch zumeist als kollektives Phänomen verstanden wird, zu einer Eigenschaft der Individuen wird. Die Individuen sind hier allerdings keine Träger eines inkorporierten Klassen-Habitus. Wenn hier von den kulturellen Präferenzen und Verhaltensmustern der Individuen die Rede ist, dann nicht insofern sie sozialstrukturell definierte Dispositionen abspulen, sondern weil – wie der Untertitel es verrät – Dissonanzen ihre kulturellen Praktiken prägen. Dabei werden die Erkenntnisse Bourdieus und anderer nicht einfach über Bord geworfen.[1]

Vielmehr geht es um eine – allerdings – signifikante Akzentverschiebung: „Eine Theorie inter- und intrainidividueller Variationen kultureller Verhaltensmuster […] analysiert – anstatt sich auf die Analyse der Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen zu beschränken – vielmehr das Wechselspiel und die kulturellen Distinktionseffekte, durch die sich die Individuen untereinander unterscheiden und die die Individuen selbst durchziehen“ (739). Die individuellen kultursoziologischen Profile, die Lahire im Mittelteil seiner groß angelegten Studie entwirft, veranschaulichen in der Tat, wie heterogen und dissonant kulturelle Praktiken und Präferenzen sein können. Folgt man der statistischen Auswertung der Datensätze, so zeigt sich, dass die dissonanten Kulturprofile, bei denen die Individuen sowohl Güter aus der Hochkultur als auch alltagskulturelle Produkte konsumieren, auf knapp 60 % der Befragten zutrifft. Geschlossene, in sich kohärente Profile, bei denen entweder nur illegitime oder eben nur legitime Kulturgüter (etwa: ausschließlich Opernbesuche, Autorenkino, Lektüre der Klassiker der Weltliteratur, Kultursendungen im Fernsehen usw.) konsumiert werden, sind diesen Zahlen zufolge die Ausnahme.

Gestützt werden diese quantitativen Befunde durch qualitative Interviews, die die Dissonanz anhand von Einzelfällen belegen. Koppelt man diese Ergebnisse mit sozialstrukturellen Datensätzen (sozioprofessionnelle Kategorie der Befragten), so zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, in seinem Kulturverhalten Merkmale dissonanter Profile aufzuweisen, in allen Berufsgruppen am höchsten ist. Kohärente Profile im Sinne einer hohen, aber auch im Sinne einer niedrigen Legitimität sind demgegenüber in allen Berufsgruppen deutlich geringer vertreten. Diese Dissonanz kultureller Profile führt der Autor letztlich auf die – seit der Begründung der Soziologie vielfach konstatierte – Differenziertheit der modernen Gesellschaften zurück. Die Menschen sind gleichzeitig bzw. nacheinander in mehreren, zum Teil konkurrierenden Sozialisierungsmilieus zu Hause (Familie, Peer groups, Schule, Arbeitsumfeld usw.), so dass im Bereich kultureller Werte unterschiedliche Referenzen vermittelt werden und die Akteure in situative Handlungsmuster eingebunden sind (z.B. Kinobesuch mit Freundesgruppe oder Ähnliches), die die Konsumption kulturell kohärenter Güter verhindert. Diese „Plurisozialisierung“ – wie es bei Lahire heißt – ist letztlich der Grund für unterschiedliche, bisweilen sogar gegensätzliche Dispositionen und kulturelle Praktiken.[2]

 

Vgl. auch die Übersetzung des Schlusskapitels, in dem die Hauptthesen Lahires kurz zusammengefasst werden.

 

 

© passerelle.de, Februar 2005

 

 

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  1. Wobei Lahire Bourdieu den Vorwurf nicht erspart, in den „Feinen Unterschieden“ die Datensätze aus Gründen der empirischen Untermauerung seiner Theorie, „überinterpretiert“ zu haben. Lahire zufolge sind die dissonanten Profile, die er als Dominante für unsere heutige Gesellschaft ausmacht, auch in den Datensätzen Bourdieus zu erahnen, so dass die Vermutung, die unterschiedlichen Ergebnisse seien eine Folge gesellschaftlicher Veränderungen (etwa: Konkurrenz der Schule als Vermittler kultureller Legitimität durch das Fernsehen), wohl unbegründet sein dürfte: „Wenn man die Unterschiede zwischen den Gruppen betrachtet, die sich aus den Umfragen der 60er und 70er Jahre ergeben, dann stützt jedenfalls nichts die Behauptung, dass der kulturelle Gegensatz zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder die kulturellen Grenzen eine individuelle Abstufung kultureller Praktiken und Präferenzen unmöglich machen. Wenn damals also ein Soziologe nach intraindividuellen Variationen geforscht hätte, so hätte er sicherlich einen hohen Anteil von Befragten aus allen sozialen Klassen zutage gefördert, die in Bezug auf den Grad der Legitimität ihrer kulturellen Praktiken und Präferenzen dissonante kulturelle Profile aufweisen. Die legitimistische Sichtweise Pierre Bourdieus in den „Feinen Unterschiede[n]“, objektiviert auch heute noch wesentliche Strukturaspekte unserer sozialen Welt. Paradoxerweise scheint sie allerdings viel mehr auf die französische Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts zugeschnitten zu sein, d.h. auf eine Gesellschaft mit einer lediglich rudimentären industriellen Massenkultur vor dem Medienzeitalter, in der klare symbolische Unterscheidungen zwischen ‚Kultur‘ und ‚Volkskultur‘, zwischen ‚hohen‘ und ’niedrigen Künsten‘ vorherrschten“ (172).
  2. Ein kritisches Dossier zu dem Buch mit Artikeln u.a. von Louis Pinto findet sich in der Revue EspacesTemps.

Korruptionsforschung. Über ‚Corruptions‘ Pierre Lascoumes.

Besprochenvon Michael Tillmann

  • LASCOUMES, Pierre: Corruptions. Presses de Sciences Po, Paris 1999. ISBN 2-7246-0773-2.

Das Phänomen der Korruption, der Käuflichkeit von Politik und Verwaltung, der unlauteren Vorteilsnahme bzw. -gewährung, der illegalen Parteienfinanzierung kehrt mit steter Regelmäßigkeit ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zurück. Es scheint sich hierbei um ein rekurrentes Phänomen zu handeln, das sich weder zeitlich noch geographisch noch kulturell festmachen ließe. Es scheint nicht einmal an einen bestimmten Regimetypus gebunden zu sein. Die Demokratie jedenfalls ist davon genauso betroffen wie andere Regierungsformen. Korruptem bzw. korrumpierendem Verhalten liegt ein Interessenkonflikt zugrunde zwischen einer an dem Allgemeinwohl ausgerichteten Handlungslogik von Politik und Verwaltung auf der einen und auf der anderen Seite einer Wirtschaftslogik, die auf Gewinnmaximierung beruht und dazu auch vor Mitteln der Wettbewerbsverzerrung nicht zurückschreckt. Vor diesem Hintergrund analysiert Pierre Lascoumes mehrere Korruptionsfälle in Frankreich und anderswo. Anhand eines Vergleiches zwischen zwei Bestechungsaffären in Belgien (Dassault) und Frankreich (Luchaire) veranschaulicht er, wie sehr die Bewertung eines Korruptionsfalls durch Öffentlichkeit und Justiz von der politisch-gesellschaftlichen Konstellation des jeweiligen Moments abhängig ist. Während der Fall Dassault als Skandal empfunden wurde und für die Beteiligten schwere Strafen nach sich zog, endete das Verfahren im Fall Luchaire mit einem Freispruch und einer Verharmlosung der Affäre, obgleich die Ausgangslage in beiden Fällen durchaus vergleichbar war. Das zeigt, wie stark trotz eines gesellschaftlichen Veränderungsprozesses, in dessen Verlauf gesellschaftliche Interessen die (besonders in Frankreich ausgeprägte) Staatsräson als Rechtfertigungsstrategie allmählich in ihre Schranken weisen, Korruption definitionsabhängig und damit definitionsbedürftig ist. Sie bewegt sich stets in der Grauzone des Tolerierten bzw. Noch-gerade-Tolerierbaren: vom Wählerauftrag über den Klientelismus bis zur Korruption ist es nur ein kurzer Weg und die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Formen politischer Responsivität verschwimmen. Pierre Lascoumes Analyse ist so klar geschrieben wie inhaltlich überzeugend. Dass dieses Thema auch für ein deutsches Publikum interessant sein könnte, liegt auf der Hand. Darüber hinaus handelt es sich aber um eine konzise, vergleichend arbeitende Einführung in einen von den Gesellschaftswissenschaften bisweilen vernachlässigten Problembereich, der nichtsdestotrotz an das Wesen der Demokratie rührt. Auch wenn die beiden zentralen Fallbeispiele aus dem frankophonen Bereich stammen (Belgien und Frankreich), sind die Resultate hinreichend verallgemeinernd und verallgemeinert, um auch für Korruptionsfälle in anderen Ländern als Analyseraster zu dienen. Darüber hinaus werden diese Fallanalysen von einer theoretischen Einführung und einem internationalen Vergleich (Amerika-Frankreich) umrahmt, deren Beispiele aus allen wichtigen westlichen Demokratien stammen.

 

© passerelle.de, Sommer 2000

 

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Frankreich im Wandel. Über ‚L’égalité des possibles. La nouvelle société française‘ von Eric Maurin

Besprochenvon Michael Tillmann

  • MAURIN, Eric: L’égalité des possibles. La nouvelle société française. République des Idées, Paris 2002. ISBN 978-2020545082.

In den letzten Jahren ist in Frankreich die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der Öffentlichen Auseinandersetzung gerückt, wobei die Begriffe der précarité und der précarisation, d.h. der zunehmend unsicher werdenden Beschäftigungsverhältnisse, und die Gleichheitsproblematik neben einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit die Debatte bestimmen. Von diesem Topos der politischen Auseinandersetzung ausgehend, unterzieht der Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler Eric Maurin die französische Gesellschaft einer genaueren Betrachtung, um die Natur und tatsächliche Tragweite der Wandlungsprozesse zu ergründen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die zunehmende Instabilität der Berufswelt nicht allein spezifische Berufsgruppen belastet. Selbst wenn höher Qualifizierte natürlich weniger gefährdet sind als gering Qualifizierte und ältere Erwerbstätige seltener arbeitslos werden als Jungarbeitnehmer, hat die berufliche Unsicherheit für alle Beschäftigungskategorien in vergleichbarem Maße zugenommen. Diese Entwicklung führt der Autor in letzter Konsequenz weniger auf institutionelle Rahmenbedingungen (Stichwort: Liberalisierung des Arbeitsmarktes) zurück als auf technologische Innovationen, d.h. auf die Möglichkeit, Arbeits- und Erfahrungswissen, das zuvor allein ältere Arbeitnehmer im Laufe ihrer Berufskarriere haben ansammeln können, durch neuartige Produktionsmethoden zu ersetzen (Kapitel I: La fragilisation des relations d’emplois).

Parallel dazu beobachtet Eric Maurin, dass die Kategorien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur statistischen und damit auch ideologischen Erfassung der Berufswelt entwickelt wurden, an Prägnanz verlieren. Auch wenn entgegen weithin zu vernehmender Unkenrufe das Konzept der Arbeiterklasse nichts von seiner heuristischen Kraft verloren hat, hat sich doch die Identität dieser Kategorie verändert. Das hat damit zu tun, dass die Kategorie der Arbeiter, die sich immer schon aus heterogenen Elementen zusammensetzte, gerade bei den angelernten Hilfsarbeiten (ouvriers spécialisés) im Zuge des Zusammenbruchs traditioneller Industriebastionen hat Verluste verzeichnen müssen. Parallel dazu konnten die dienstleistungsnahen Arbeiterkategorien und die Angestelltenkategorie zulegen. Letztere weist allerdings dieselben Wandlungsprozesse auf wie die Kategorie der Arbeiter, weil auch hier die klassische Figur des Angestellten im Verwaltungsbereich eines Großbetriebes zugunsten der Angestellten im direkten Kundenkontakt (Haushaltshilfe, Betreuungs- und Pflegepersonal usw.) an Gewicht verloren hat.

Der gemeinsame Nenner all dieser Verschiebungsprozesse besteht dem Autor zufolge darin, dass der Arbeitsalltag dieser im Wachsen befindlichen Kategorien stärker die Persönlichkeit der jeweiligen Arbeitnehmer anspricht und mobilisiert. Damit empfinden diese jedoch weniger das Gemeinsame einer ähnlichen Berufslage, so dass auch die Ausbildung einer gemeinsamen Klassen- bzw. kategorialen Identität schwerer fällt. Ganz im Gegenteil: Gerade das „Scheitern“ in der Arbeitswelt wird als eigene Unzulänglichkeit und persönlicher Kompetenzmangel empfunden. Das unter solchen Bedingungen ein Klassenbewusstsein bzw. das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität nur schwer zu wachsen vermag, ist nicht weiter verwunderlich (Kapitel II: La nouvelle condition salariale).

Als dritten Aspekt der Entwicklung der französischen Gesellschaft und Wirtschaft neben allgemeiner Prekarisierung und unschärfer werdenden Kategorien verweist Eric Maurin auf weiter bestehende soziale Ungleichheiten. Diese Ungleichheiten macht er zum Beispiel daran fest, dass die Armutswahrscheinlichkeit für sozial schwache Familien immer noch deutlich höher ist als für andere, dass die gesellschaftlichen Beharrungskräfte gegen soziale Mobilität nach wie vor eine große Wirkungskraft haben und das Haushaltseinkommen den schulischen Erfolg der Kinder stark vorprägt (Kapitel III: Inégalités de fait et inégalités des possibles).

Daran anschließend – und das ist das eigentliche Ziel dieses kurzen Überblicks über markante Aspekte der französischen Gesellschaftsentwicklung – zeigt der Autor im Schlusswort (Redéfinir les priorités des politiques sociales: pour une égalité des possibles) Wege auf, wie auf diese neue Ausgangsbasis politisch reagiert werden könnte. Dabei stechen vor allem zwei Vorschläge ins Auge: Die Vorschläge, die gerade am linken Spektrum Frankreichs oftmals einer stärkeren Reglementierung der Arbeitsverhältnisse das Wort reden, lehnt Maurin angesichts der Tatsache ab, dass der Prekarisierungsprozess offensichtlich unabhängig von institutionellen Rahmungen erfolgt. Demgegenüber favorisiert er einen Umbau des betrieblichen Fortbildungssystems, das nicht nur jenen Mitarbeitern offen stehen dürfe, die ohnehin bereits die besten Beschäftigungsfähigkeiten besitzen.

Darüber hinaus wäre es seiner Ansicht nach verfehlt, wollte man das Schulsystem, das ja stets als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Mobilität betrachtet wurde, ein weiteres Mal von innen heraus reformieren. Vielmehr gehe es darum, die bestehenden sozialen Ungleichheit über eine Umverteilungspolitik insofern auszugleichen, als dadurch die schulischen Erfolgsaussichten von Kindern aus schwachen Einkommensschichten verbessert würden.

 

© passerelle.de, Frühjahr 2003

 

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Michel Wieviorka im Gespräch. Über ‚Sociologue sous tension. Entretien avec Michel Wieviorka’ von Julien Ténédos

Besprochenvon Michael Tillmann

Der Touraine-Schüler Michel Wieviorka, Forschungsdirektor an der EHESS und Leiter des dort ansässigen Forschungslabors CADIS, ist auch in Deutschland kein Unbekannter. Neuere Arbeiten zu Antisemitismus, Rassismus, kultureller Differenz und Gewalt sind in den letzten Jahren auf Deutsch bei der Hamburger Edition erschienen. Touraine, Wieviorka und Dubet haben einen durchaus eigenständigen soziologischen Ansatz – die so genannte intervention sociologique – entwickelt, der das Subjekt als handelnden Akteur in den Mittelpunkt des soziologischen Interesses rückt. In zwei kleinen Bänden hat nun der Genfer Verlag Aux lieux d’être Gespräche mit dem französischen Soziologen vorgelegt, die um die verschiedenen Etappen in Leben und Werk Michel Wieviorkas kreisen. Das Interesse dieser Publikation liegt dabei darin, dass der Autor hier selbst eine kritische Bilanz seines Schaffens und soziologischen Werdens zieht. Allein schon die methodische Ausrichtung seines Arbeitens bedingt allerdings auch ein gewisses zeitkritisches Engagement, über das sich Michel Wieviorka vor allem im zweiten Band auslässt. Hier erklärt er u.a. die Gründe für seine öffentliche Parteinahme und skeptische Bewertung der Streikbewegung im Jahre 1995, seine scharfe Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu, der darin den Beginn einer großen, europäischen Sozialbewegung sehen wollte, und seine Nähe zur Parti socialiste und der sozialreformerischen Gewerkschaft CFDT. Auch das Kapitel zur „Soziologie und ihrer Methode“, in dem Michel Wieviorka sich ganz unmissverständlich von dem methodologischen Individualismus und seinem französischen Hauptvertreter Raymond Boudon abgrenzt, bieten dem deutschen Leser wertvolle Einblicke in die französische Methodendiskussion. So entsteht über die einzelnen Forschungstätigkeiten des Soziologen hinaus ein facettenreiches Bild der intellektuellen Landschaft der französischen Soziologie zwischen Wissenschaft und politischem Engagement.
© passerelle.de , Juni 2006

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