Michel Wieviorka im Gespräch. Über ‚Sociologue sous tension. Entretien avec Michel Wieviorka’ von Julien Ténédos

Besprochenvon Michael Tillmann

Der Touraine-Schüler Michel Wieviorka, Forschungsdirektor an der EHESS und Leiter des dort ansässigen Forschungslabors CADIS, ist auch in Deutschland kein Unbekannter. Neuere Arbeiten zu Antisemitismus, Rassismus, kultureller Differenz und Gewalt sind in den letzten Jahren auf Deutsch bei der Hamburger Edition erschienen. Touraine, Wieviorka und Dubet haben einen durchaus eigenständigen soziologischen Ansatz – die so genannte intervention sociologique – entwickelt, der das Subjekt als handelnden Akteur in den Mittelpunkt des soziologischen Interesses rückt. In zwei kleinen Bänden hat nun der Genfer Verlag Aux lieux d’être Gespräche mit dem französischen Soziologen vorgelegt, die um die verschiedenen Etappen in Leben und Werk Michel Wieviorkas kreisen. Das Interesse dieser Publikation liegt dabei darin, dass der Autor hier selbst eine kritische Bilanz seines Schaffens und soziologischen Werdens zieht. Allein schon die methodische Ausrichtung seines Arbeitens bedingt allerdings auch ein gewisses zeitkritisches Engagement, über das sich Michel Wieviorka vor allem im zweiten Band auslässt. Hier erklärt er u.a. die Gründe für seine öffentliche Parteinahme und skeptische Bewertung der Streikbewegung im Jahre 1995, seine scharfe Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu, der darin den Beginn einer großen, europäischen Sozialbewegung sehen wollte, und seine Nähe zur Parti socialiste und der sozialreformerischen Gewerkschaft CFDT. Auch das Kapitel zur „Soziologie und ihrer Methode“, in dem Michel Wieviorka sich ganz unmissverständlich von dem methodologischen Individualismus und seinem französischen Hauptvertreter Raymond Boudon abgrenzt, bieten dem deutschen Leser wertvolle Einblicke in die französische Methodendiskussion. So entsteht über die einzelnen Forschungstätigkeiten des Soziologen hinaus ein facettenreiches Bild der intellektuellen Landschaft der französischen Soziologie zwischen Wissenschaft und politischem Engagement.
© passerelle.de , Juni 2006

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