Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz. ‚Injustices. L’expérience des inégalites‘ von François Dubet (zs. mit V. Caillet, R. Cortéséro, D. Mélo, F. Rault)

Besprochenvon Michael Tillmann

Ein Mann und eine Frau. Ein Anfang, der ein Ende…

In einer groß angelegten empirischen Studie unter der Leitung des Touraine-Schülers François Dubet[1] wurden in den Jahren 2003 bis 2005 unterschiedliche Berufskategorien (Landwirte, Krankenhauspersonal, leitende Angestellte, Dozenten, Taxifahrer usw.) nach ihrem subjektiven Empfinden von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz befragt. Die Ergebnisse dieser Interviews und Fragebögen bilden den Großteil der Studie, deren einleitendes Kapitel einen theoretischen Rahmen zur analytischen Auswertung der Ergebnisse liefert. Dabei greifen François Dubet und seine Mitarbeiter auf die konzeptuellen Vorarbeiten der „Wertigkeitsordnungen“ zurück, die Luc Boltanski und Laurent Thévenot in De la justification ausgearbeitet haben.[2] So geht beispielsweise auch François Dubet von einer Pluralität an Gerechtigkeitsvorstellungen aus, die sich im sozialen Raum (hier: am Arbeitsplatz) überschneiden, miteinander in Konflikt treten können oder zumindest eine wechselseitige Kritisierbarkeit bedingen, andererseits aber auch zu punktuellen und/ oder lokalen Kompromissformen Anlass geben können. Ähnlichkeiten zu Boltanski/Thévenot lassen sich darüber hinaus in dem Bemühen erkennen, die Akteure in ihren subjektiven Äußerungen ernst zu nehmen und zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der „gewöhnlichen“ gesellschaftlichen Akteure und der Philosophen lediglich einen graduellen Unterschied zu sehen, der letztlich vor allem in einem mehr oder weniger hohen Abstraktionsgrad besteht. Im Unterschied zu den beiden Vertretern der pragmatischen Soziologie, die von sechs Rechtfertigungsordnungen ausgehen, konstruiert Dubet die Gerechtigkeitsproblematik jedoch um die drei Begriffe Gleichheit (égalité), Leistung (mérite) und Autonomie (autonomie). Die Arbeit wird hier zum Prüfstein konkurrierender Gerechtigkeitsprinzipien, insofern sie im Idealfall eine Zugehörigkeit zu einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft garantiert, besondere Fähigkeiten und Kompetenzen besonders entlohnt und darüber hinaus eine Selbstverwirklichung ermöglicht. Die eigentliche Stärke dieser umfangreichen Studie besteht jedoch vor allem in den auswertenden Passagen, den Stimmwechseln zwischen dem Resümee des Soziologen und den Äußerungen der befragten Arbeitnehmer. Hier kondensiert sich das Gerechtigkeits- und vor allem auch Ungerechtigkeitsempfinden zu einem bisweilen beklemmenden Gefühl des menschlichen Leidens. Zuletzt war es Pierre Bourdieu und seiner Misère du monde (1993) sowie Younes Amrani/Stéphane Beaud mit Pays de malheur (2004) gelungen, den Unterdrückten und Geschundenen durch den Abdruck langer Interviewpassagen eine Stimme zu verleihen und beim Leser ein ähnliches Gefühl der hilflosen Beklemmung zu wecken angesichts eines universellen Leidens an und mit der Unerbittlichkeit der sozialen Welt (vgl. hierzu auch Robert Castels schönen Aufsatz zu Leben und Werk Pierre Bourdieus).

© passerelle.de, April 2006

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. An dem Gemeinschaftsprojekt wirkten neben François Dubet ferner mit: Valérie Caillet, Régis Cortéséro, David Mélo, Françoise Rault. Im Weiteren wird als Autor einfachheitshalber nur François Dubet genannt.
  2. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Arbeit von Luc Boltanski und Laurent Thévenot zuallererst die Konflikte und Konfliktschlichtung der Menschen im Alltagshandeln und die damit einhergehenden Rechtfertigungsbemühungen betrifft. Erst im Anschluss daran treten die diesen Rechtfertigungsbemühungen zugrunde liegenden „philosophischen“ Ordnungen, die eben auch präzise Gerechtigkeitsvorstellungen beinhalten, in den Blickpunkt des Interesses. Die Tatsache, dass konzeptuelle Entwicklungen der pragmatischen Soziologie jedoch von anderen Sozialwissenschaftlern aufgegriffen werden, die weder biographisch noch institutionell Schnittmengen aufweisen, zeigt, wie wichtig dieser Forschungszweig in Frankreich inzwischen geworden ist.