Müde Manager. Über ‚La fatigue des élites‘ von François Dupuy

Besprochenvon Michael Tillmann

Seit einigen Jahren schon ist das Schlagwort der précarité in Frankreich in aller Munde. In zahlreichen Publikationen wurde der Befund einer wachsenden beruflichen Unsicherheit, die sich allein schon an den Arbeitslosenzahlen ablesen lässt, immer wieder aufs Neue bekräftigt.

Diese Unsicherheit betrifft natürlich – ähnlich wie in Deutschland – vor allem gering Qualifizierte, die der internationalen Lohnkonkurrenz in besonderem Maße ausgesetzt sind. Höher Qualifizierte dagegen scheinen gegen die Gefahren einer Deklassierung unter verschärften internationalen Konkurrenzbedingungen deutlich besser gewappnet zu sein.

Dieses im Kern sicherlich zutreffende Urteil muss gleichwohl in gewissen Punkten nuanciert werden, sobald man den Begriff der Prekarität eben nicht ausschließlich auf die (fehlende) Sicherheit des Arbeitsverhältnisses bezieht, sondern auch auf die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation. Éric Maurin (2002) hatte bereits darauf hingewiesen, dass die berufliche Unsicherheit nicht nur gering qualifizierte Arbeitnehmer trifft und im Grunde – natürlich mit mehr oder weniger schwer wiegenden Folgen – quer zu den verschiedenen Berufsgruppen verläuft. Der französische Organisationssoziologe François Dupuy nun ist eben dieser Frage vertiefend nachgegangen. Sein Interesse gilt vor allem den cadres supérieurs, d.h. der französischen Wirtschaftselite, die sich von den eigentlichen Führungs- und Entscheidungsgremien innerhalb der Unternehmen im Stich gelassen fühlt. Insofern lässt sich Robert Castels (2003) Einsicht, wonach manche Gruppen, deren Arbeitsbedingungen sich kollektiv verschlechtern, mit einer Situation des sozialen Abstiegs konfrontiert sind und einen Nährboden bilden, auf dem ein Gefühl der Unsicherheit wächst, auch auf die Berufsgruppe der leitenden Angestellten übertragen.
Während die Managerklasse in Frankreich lange einen Sonderstatus genoss, weil sie eben eine Mittlerfunktion im hierarchisch organisierten Unternehmensgefüge einnahm, sich gleichzeitig aber in die Entscheidungsfindungsstrukturen mit eingebunden fühlte, hat sich die Situation in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Das ausschlaggebende Moment für diesen langsamen Entfremdungsprozess zwischen betrieblichen Führungsinstanzen und mittlerer bis gehobener Managementebene verortet François Dupuy in der Revolution der Organisationsformen als Folge einer Umkehrung wirtschaftlicher Knappheitsverhältnisse. Zugespitzt lautet die These: „Bis zum Ende des Wirtschaftswunders herrschte in Bezug auf die täglichen Arbeitsprozesse das stillschweigende Übereinkommen, dass die Unternehmen in erster Linie für ihre Angestellten da seien. Kunden bzw. Aktionäre waren im Grunde zweitrangig. Diese Selbstbezogenheit hatte mit einem spezifischen wirtschaftlichen Umfeld zu tun, das letztlich den Produktions- bzw. Vertriebseinheiten anstatt den Konsumenten die Macht in die Hände legte“ (Dupuy 2005: 11). Diese für die Managerebene in den Unternehmen komfortable Situation hat sich nun in ihr Gegenteil verkehrt. Im Zuge der Globalisierung und der Liberalisierung der (internationalen) Handelsbeziehungen sind nicht mehr so sehr die Produkte knapp als die Kunden, denen man sie verkaufen könnte. Dadurch aber gaben die Kunden (und darüber hinaus auch die Aktionäre) zunehmend den Ton an. Die Unternehmen mussten sich diesem Kundendiktat beugen und die sequenziell organisierten Unternehmensstrukturen (Planung, industrielle Organisation, Produktion und innerhalb der Produktion, beispielsweise in der Automobilindustrie, zwischen Maschinen- und Karosseriebau, zwischen Karosserieherstellung und -montage usw.) aufbrechen. Aus organisationstheoretischer Sichtweise hatten diese sequenziellen Unternehmensstrukturen jedoch auch eine Schutzfunktion, weil dadurch eine gewisse Arbeitsautonomie jedes einzelnen dieser Bereiche gegenüber allen anderen gewahrt wurde. Das war vor allem für die betroffene Leitungsebene eine recht bequeme Situation, zumal sie dadurch innerhalb ihrer Organisation gewissermaßen eine Monopolstellung innehatte und die Arbeitsprozesse auf die unternehmensinternen Bedürfnisse abstimmen konnte. Unterdessen haben jedoch die Kunden die Macht an sich gerissen. Sie sind nicht länger bereit, die Kosten für schwerfällige Organisationen zu tragen. Angesichts dieser Situation wurden Reformen notwendig, die diese monopolartigen Strukturen aufbrechen und für eine stärkere horizontale Kooperation und Verflechtung sorgen (Beispiel: Anschlussflüge ohne längere Wartezeiten). Kooperation bedeutet aber eben immer auch Konflikt, so dass die seit einiger Zeit in Gang befindliche Revolution der unternehmensinternen Organisationsformen letztlich dazu führt, dass auch die leitenden Angestellten einem wachsenden Druck ausgesetzt sind. Da die strategischen, unternehmensrelevanten Entscheidungen in höheren Sphären getroffen wurden, zu denen sie im Regelfall keinen Zugang haben, die Arbeitsbelastung bei rückläufiger Gehaltsentwicklung jedoch gleich bleibend hoch ist, lassen sich Rückzugsstrategien erkennen, die zeigen, dass das Arbeitsengagement und die Identifikation mit dem Unternehmen nachzulassen drohen. Die cadres, die sich bisher trotz ihres Angestelltenstatus stets stärker der Unternehmensdirektion verbunden fühlten als den anderen Arbeitnehmern des Betriebs, scheinen sich – wie sich einigen Umfragen speziell zu der Frage der 35-Stunden-Woche in Frankreich entnehmen lässt – tendenziell den „gewöhnlichen“ Angestellten anzunähern: Auch die Führungskräfte zählen nun ihre Arbeitsstunden, und wie alle anderen Arbeitnehmer wünschen auch sie keine Lockerung der 35-Stunden-Woche, die unter der sozialistischen Koalition verabschiedet worden war und vor kurzem von der bürgerlichen Regierung neuerlich in Frage gestellt wurde. Der Kapitalismus allerdings – das haben Boltanski/ Chiapello (1999) eindrucksvoll gezeigt – braucht einen Geist. Er braucht das Engagement seiner Führungskräfte und damit überzeugende und glaubwürdige Werte, die diese langfristig binden und motivieren.[1]

 

Wie es in der Reihe der République des Idées üblich ist, begnügt sich der Verfasser jedoch nicht mit einem negativen Befund. In einem abschließenden Kapitel werden drei sich kreuzende Wege aus der Krise aufgezeigt. Zum einen sollte an die Stelle des Spezialistentums eine horizontale Integration verschiedener Unternehmensbereiche in der Person des Managers treten, die auch auf das mittlere Leitungsniveau auszudehnen wäre. Darüber hinaus sollte auch das Laufbahnmanagement umgestaltet werden, so dass nicht mehr allein ein Aufstieg in der Unternehmenshierarchie mit einer Gehaltserhöhung verbunden ist, sondern eventuell auch horizontal verlaufende Karrieren möglich werden. Dabei geht es jedoch im Kern darum, dass der Karriereverlauf den Führungskräften nicht einfach aufgezwungen, sondern vielmehr ausgehandelt wird. Drittens schließlich muss dieses horizontale Karrieremanagement die Möglichkeit bieten, neue Kenntnisse zu erwerben, so dass die leitenden Angestellten ihre employability weiter ausbauen können.

© passerelle.de, Juni 2005

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Es sei darauf hingewiesen, dass François Dupuy, ohne die Autoren namentlich zu erwähnen, von Boltanskis und Chiapellos Versuch nicht viel hält, die Veränderungen des kapitalistischen Geistes und letztlich auch der kapitalistischen Organisationsformen (Stichwort: Vernetzung, Projekt usw.) als Reaktion auf die Herausforderungen der 68er Bewegung zu interpretieren (Dupuy 2005: 58). In seinen Augen sind die Veränderungen der unternehmerischen Organisationsformen ausschließlich der Globalisierung und der Öffnung der Märkte zuzuschreiben.