Frankreich im Wandel. Über ‚L’égalité des possibles. La nouvelle société française‘ von Eric Maurin

Besprochenvon Michael Tillmann

  • MAURIN, Eric: L’égalité des possibles. La nouvelle société française. République des Idées, Paris 2002. ISBN 978-2020545082.

In den letzten Jahren ist in Frankreich die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der Öffentlichen Auseinandersetzung gerückt, wobei die Begriffe der précarité und der précarisation, d.h. der zunehmend unsicher werdenden Beschäftigungsverhältnisse, und die Gleichheitsproblematik neben einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit die Debatte bestimmen. Von diesem Topos der politischen Auseinandersetzung ausgehend, unterzieht der Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler Eric Maurin die französische Gesellschaft einer genaueren Betrachtung, um die Natur und tatsächliche Tragweite der Wandlungsprozesse zu ergründen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die zunehmende Instabilität der Berufswelt nicht allein spezifische Berufsgruppen belastet. Selbst wenn höher Qualifizierte natürlich weniger gefährdet sind als gering Qualifizierte und ältere Erwerbstätige seltener arbeitslos werden als Jungarbeitnehmer, hat die berufliche Unsicherheit für alle Beschäftigungskategorien in vergleichbarem Maße zugenommen. Diese Entwicklung führt der Autor in letzter Konsequenz weniger auf institutionelle Rahmenbedingungen (Stichwort: Liberalisierung des Arbeitsmarktes) zurück als auf technologische Innovationen, d.h. auf die Möglichkeit, Arbeits- und Erfahrungswissen, das zuvor allein ältere Arbeitnehmer im Laufe ihrer Berufskarriere haben ansammeln können, durch neuartige Produktionsmethoden zu ersetzen (Kapitel I: La fragilisation des relations d’emplois).

Parallel dazu beobachtet Eric Maurin, dass die Kategorien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur statistischen und damit auch ideologischen Erfassung der Berufswelt entwickelt wurden, an Prägnanz verlieren. Auch wenn entgegen weithin zu vernehmender Unkenrufe das Konzept der Arbeiterklasse nichts von seiner heuristischen Kraft verloren hat, hat sich doch die Identität dieser Kategorie verändert. Das hat damit zu tun, dass die Kategorie der Arbeiter, die sich immer schon aus heterogenen Elementen zusammensetzte, gerade bei den angelernten Hilfsarbeiten (ouvriers spécialisés) im Zuge des Zusammenbruchs traditioneller Industriebastionen hat Verluste verzeichnen müssen. Parallel dazu konnten die dienstleistungsnahen Arbeiterkategorien und die Angestelltenkategorie zulegen. Letztere weist allerdings dieselben Wandlungsprozesse auf wie die Kategorie der Arbeiter, weil auch hier die klassische Figur des Angestellten im Verwaltungsbereich eines Großbetriebes zugunsten der Angestellten im direkten Kundenkontakt (Haushaltshilfe, Betreuungs- und Pflegepersonal usw.) an Gewicht verloren hat.

Der gemeinsame Nenner all dieser Verschiebungsprozesse besteht dem Autor zufolge darin, dass der Arbeitsalltag dieser im Wachsen befindlichen Kategorien stärker die Persönlichkeit der jeweiligen Arbeitnehmer anspricht und mobilisiert. Damit empfinden diese jedoch weniger das Gemeinsame einer ähnlichen Berufslage, so dass auch die Ausbildung einer gemeinsamen Klassen- bzw. kategorialen Identität schwerer fällt. Ganz im Gegenteil: Gerade das „Scheitern“ in der Arbeitswelt wird als eigene Unzulänglichkeit und persönlicher Kompetenzmangel empfunden. Das unter solchen Bedingungen ein Klassenbewusstsein bzw. das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität nur schwer zu wachsen vermag, ist nicht weiter verwunderlich (Kapitel II: La nouvelle condition salariale).

Als dritten Aspekt der Entwicklung der französischen Gesellschaft und Wirtschaft neben allgemeiner Prekarisierung und unschärfer werdenden Kategorien verweist Eric Maurin auf weiter bestehende soziale Ungleichheiten. Diese Ungleichheiten macht er zum Beispiel daran fest, dass die Armutswahrscheinlichkeit für sozial schwache Familien immer noch deutlich höher ist als für andere, dass die gesellschaftlichen Beharrungskräfte gegen soziale Mobilität nach wie vor eine große Wirkungskraft haben und das Haushaltseinkommen den schulischen Erfolg der Kinder stark vorprägt (Kapitel III: Inégalités de fait et inégalités des possibles).

Daran anschließend – und das ist das eigentliche Ziel dieses kurzen Überblicks über markante Aspekte der französischen Gesellschaftsentwicklung – zeigt der Autor im Schlusswort (Redéfinir les priorités des politiques sociales: pour une égalité des possibles) Wege auf, wie auf diese neue Ausgangsbasis politisch reagiert werden könnte. Dabei stechen vor allem zwei Vorschläge ins Auge: Die Vorschläge, die gerade am linken Spektrum Frankreichs oftmals einer stärkeren Reglementierung der Arbeitsverhältnisse das Wort reden, lehnt Maurin angesichts der Tatsache ab, dass der Prekarisierungsprozess offensichtlich unabhängig von institutionellen Rahmungen erfolgt. Demgegenüber favorisiert er einen Umbau des betrieblichen Fortbildungssystems, das nicht nur jenen Mitarbeitern offen stehen dürfe, die ohnehin bereits die besten Beschäftigungsfähigkeiten besitzen.

Darüber hinaus wäre es seiner Ansicht nach verfehlt, wollte man das Schulsystem, das ja stets als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Mobilität betrachtet wurde, ein weiteres Mal von innen heraus reformieren. Vielmehr gehe es darum, die bestehenden sozialen Ungleichheit über eine Umverteilungspolitik insofern auszugleichen, als dadurch die schulischen Erfolgsaussichten von Kindern aus schwachen Einkommensschichten verbessert würden.

 

© passerelle.de, Frühjahr 2003

 

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Armut in Europa. Über ‘Les formes élémentaires de la pauvreté’ Von Serge Paugam

Besprochenvon Michael Tillmann

Während in Deutschland in der Politik und auch in weiten Teilen der Bevölkerung lange Zeit der Eindruck vorherrschte, das Armenproblem sei endgültig gelöst, haben die letzten Jahre und Jahrzehnte gezeigt, wie verwundbar auch der deutsche Wohlfahrtsstaat ist. Wenn man die Typologie zugrunde legt, die der französische Soziologe Serge Paugam in einer theoretisch fundierten und empirisch überprüften internationalen Vergleichsstudie des Armutsphänomens entwickelt, so lässt sich demgegenüber die Vermutung äußern, dass Deutschland gerade am Scheideweg zweier Modelle der gesellschaftlichen Verarbeitung von Armut steht. Dem Autor zufolge können drei Idealtypen unterschieden werden, die er als integrierte, marginale bzw. disqualifizierende Armut bezeichnet. Die integrierte Armut betrifft in erster Linie wirtschaftlich schwach entwickelte Länder bzw. Regionen, in denen ganze Bevölkerungsschichten – oft über mehrere Generationen hinweg – mit sozialer Not konfrontiert sind, das Sozialversicherungssystem nur rudimentär ausgebildet ist und die Betroffenen sich mit familiärer Unterstützung und Einkünften aus der Schattenwirtschaft durchschlagen. Das idealtypische Modell der marginalen Armut betrachtet die soziale Notlage bestimmter Bevölkerungsgruppen als residual, da der ausgebaute Sozialstaat die Einkommensarmut stark reduziert und die Zahl der Betroffenen derart klein ist, dass das Problem zugunsten einer öffentlichen Debatte um die Verteilung erwirtschafteter Gewinne in den Hintergrund tritt. Diesem Modell wurde lange Zeit auch Deutschland zugerechnet, das sich damit in guter Gesellschaft befand, da hier vor allem die traditionell als Vorbild gehandelten skandinavischen Länder beheimatet sind. Daneben entwickelte sich im Zuge einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit aber auch das Modell der disqualifizierenden Armut, in dessen Richtung sich derzeit auch Deutschland bewegen könnte. Dabei handelt es sich um eine Prekarisierung von Beschäftigungs- und Lebenslagen, die bis hinein in die Mittelschicht reicht und damit in weiten Teilen der Bevölkerung die Sorge vor sozialen Exklusionsprozessen weckt.

passerelle.de, 2006

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