Die notwendige Fiktion der Leistungsgesellschaft. Über ‚L’école des chances‘ von François Dubet

Besprochenvon Michael Tillmann

Das Thema Schule gehört in Frankreich ganz ohne Zweifel zu den politisch hochbrisanten Problemfeldern.

Das zeigt allein schon die Liste all jener hochkarätigen Minister von Lionel Jospin, Jack Lang, Claude Allègre oder auch in neuerer Zeit Luc Ferry, deren Reformbemühungen immer wieder an den korporatistischen Reflexen der Lehrergewerkschaften gescheitert sind. Dabei haben die ideologischen Fronten, die sich in der tagespolitischen Debatte immer wieder aufs Neue bilden, vor allem auch damit zu tun, dass die Frage des Schulsystems an das Selbstverständnis der französischen Republik selbst rührt. Während der III. Republik (1871-1940) wurden auf Betreiben Jules Ferrys bildungspolitische Weichenstellungen getroffen, die heute zu den Gründungsmythen Frankreichs gehören. Von Anfang an war die Frage der Schule und ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft ein Thema, das eng mit der sich ausbildenden Soziologie verbunden war. Émile Durkheim, der Ahnherr der französischen Soziologie, bekleidete einen Lehrstuhl für Sozialwissenschaften und Erziehung und sah in der Schule eine der zentralen Sozialisierungsinstanzen. Aber auch bei Pierre Bourdieu oder Raymond Boudon ist die Schule und die soziologische Bildungsanalyse mit allgemeinen methodologischen Problemen der Soziologie verbunden, so dass die Behauptung nicht unsinnig ist, „dass die Geschichte der Bildungssoziologie bis in unsere Zeit hinein im Grunde mit der Geschichte der Soziologie schlechthin zusammenfällt“ (Derouet 2003: 199).

 

François Dubet hat nun mit L’école des chances in der Reihe der République des Idées einen Essay vorgelegt, in dem er Wege aus der aktuellen Krise aufzeigt. In der Tat lässt sich feststellen, dass das meritokratische Prinzip und das damit einhergehende Postulat der Chancengleichheit nur bedingt der Realität entspricht. Zahlreiche Studien haben nicht erst seit Bourdieu darauf hingewiesen, dass die Schule Ungleichheiten reproduziert. Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien schneiden in ihren schulischen Leistungen statistisch schlechter ab, erreichen einen niedrigeren Bildungsabschluss und haben damit auch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Kinder aus wohl situierten, bürgerlichen und vor allem bildungsnahen Milieus. Das heißt: Soziale Ungleichheiten sorgen im Laufe des schulischen Selektionsprozesses für eine sozial vorgeprägte ungleiche Bildungsverteilung. Das ändert zwar nichts daran, dass Leistungsprinzip und Chancengleichheit eine, wie es bei Dubet heißt, „notwendige Fiktion“ darstellen, die eine Voraussetzung ist für eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft. Allerdings sollten sie durch konkurrierende oder ergänzende Gerechtigkeitsprinzipien ausgeglichen werden. Wenn man nämlich von den ungleichen Startbedingungen einmal absieht, ist selbst innerhalb des Schulsystems die Chancengleichheit nur bedingt gegeben. Auf der Angebotsseite lässt sich beispielsweise beobachten, dass die Mittelvergabe zwischen Universitäten und den Elitehochschulen sowie den an die Gymnasien angeschlossenen Vorbereitungsklassen ein großes Gefälle zugunsten der prestigeträchtigen Ausbildungswege aufweist. Aber auch in der Sekundarstufe sind die Karten sehr ungleich verteilt. Selbst die stärkere finanzielle Förderung von Schulen in sozialen Brennpunktvierteln (ZEP) hat daran nichts Grundlegendes geändert. Die Einstufung einer Schule als ZEP hat jedoch stigmatisierende Folgen, die zu einer noch homogeneren Klassenzusammensetzung führen können, während bekanntlich kompetenzheterogene Lernumwelten vor allem auf schwache Schüler einen positiven Leistungseffekt haben.[1] Deswegen ließen sich angebotsbedingte Ungleichheiten durch eine Veränderung oder flexiblere Handhabung der Zuweisung zur nächstgelegenen Schule, die allein geographische Kriterien heranzieht, vielleicht sogar kostengünstiger ausräumen oder doch zumindest abschwächen. Darüber hinaus plädiert François Dubet für einen gemeinsamen Wissenssockel, der allen Schülern vermittelt werden sollte. Dazu müsste jedoch das Schulprogramm der Sekundarstufe nicht mehr auf das Abiturwissen hin ausgerichtet sein, sondern als eigenständige zu beherrschende Wissensnorm gelten, so dass diejenigen, die ihren Bildungsweg vor dem Abitur abbrechen, trotz allem einen anerkannten Leistungsnachweis besitzen. Abschließend weist Dubet noch auf soziale Ungleichheiten hin, die sich aus den schulischen Leistungsunterschieden ergeben. Diese bestimmen nicht nur zu großen Teilen die individuellen Arbeitsmarktperspektiven, sondern auch das Selbstwertgefühl der Schüler. Das meritokratische Prinzip der Chancengleichheit hat nämlich zur Folge, dass jeder einzelne Schüler sich als Person für seine Leistung verantwortlich fühlt. Insofern besteht naturgemäß die Gefahr, dass die Leistungsbewertung als Persönlichkeitsbewertung empfunden wird und dass dauerhafte schulische Misserfolge zu Selbstwertverlusten führen.

Auch deswegen gilt es, die Leistungsgerechtigkeit im Sinne einer meritokratischen Chancengleichheit nicht zum Allheilmittel zu erklären. Vielmehr sollte sie von einer distributiven (gezielte Umverteilung des schulischen Angebots), sozialen (Berücksichtigung und Respekt der Schwächsten) und individuellen (Bildungsniveau nicht als alleiniger Bestimmungsfaktor gesellschaftlicher Hierarchien) Gerechtigkeit umrahmt und ausgeglichen werden.

© passerelle.de, Januar 2005

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  1. Vgl. hierzu u.a. auch die Rezension zu Éric Maurin (2004).