Raymond Boudon: Renouveler la démocratie

Besprochenvon Michael Tillmann

Ende 2006 hat Raymond Boudon bei Odile Jacob unter dem programmatischen Titel Renouveler la démocratie : Eloge du sens commun eine Untersuchung zu den aktuellen Gefährdungen vor allem der französischen Demokratie veröffentlicht. Dabei handelt es sich um ein Plädoyer für eine Rückkehr zu den eigentlichen, d.h. liberalen Grundwerten der Demokratie, in dem Raymond Boudon – wie immer mit bestechender Klarheit – den Feldzug gegen postmodernen Relativismus und – wie der Untertitel verrät – für den sensus communis, den gesunden Menschenverstand, führt.

Eine Kurzfassung der Schrift mit den wesentlichen Gedanken kann auf dem Internetauftritt der rechtsliberalen Denkfabrik Fondation pour l’innovation politique heruntergeladen werden. Bei dieser Stiftung handelt es sich um einen von dem ehemaligen Berater des amtierenden französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, Jérôme Monod, gegründeten think tank, der ursprünglich von der bürgerlichen Partei UMP finanziert wurde, unterdessen aber institutionell unabhängig ist. Zu den Mitgliedern zählen u.a. so renommierte Wissenschaftler wie Yves Mény, François Ewald, Pascal Perrineau, Marcel Gauchet, Emmanuel Le Roy Ladurie (aus Deutschland sind in den verschiedenen Instanzen Karl Lamers und Arnulf Baring vertreten).

Hier finden Sie Auszüge aus dem einleitenden Kapitel der Kurzschrift in deutscher Sprache: © www.passerelle.de – März 2007.

Bestellen!

 

 

 

Die Ungleichheitsdebatte in Frankreich. Sammelrezension

BesprochenSammelrezension von Michael Tillmann

Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft nimmt das Wortgefecht um die Ungleichheit im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen heftig zu. Michael Tillmann fasst die Hauptansätze der Forschung in einer Sammelrezension zusammen.

 

Die Gerechtigkeitsdebatte in Frankreich ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen neu entbrannt. In welche Richtung sich die französische Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln wird, beschäftigt nicht nur die Politiker aller Couleur, sondern auch die Wissenschaft. Der Armutsforscher Serge Paugam hat gerade ein fast 1000-seitiges Werk zur Zukunft gesellschaftlicher Solidarität herausgegeben. Darin erhellen 50 Forscher den sozialwissenschaftlichen Beitrag zur Analyse solidarischer Vergesellschaftungsprozesse, die – einer weit verbreiteten Meinung nach – allzu oft unter dem verengenden Blick wirtschaftswissenschaftlich begründeter, rein ökonomischer Rentabilität betrachtet wird. Dass es dabei nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch um eine öffentliche Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsträger geht, legt nicht zuletzt die damit einhergehende Unterschriftenkampagne nahe, mit der das Thema soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Segregation in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden soll. Vielleicht wird also der pessimistische Schlusssatz aus Louis Chauvels Mittelschichtenstudie doch Lügen gestraft: „Seit langem schon sind Wahljahre leider Gottes selten der richtige Augenblick, um allzu ernsthafte Fragen zu stellen.“

In dieselbe Richtung wie Paugams Solidaritätsappell geht eine andere Publikation, ebenfalls in der Reihe Le lien social, bei den Presses universitaires de France erschienen, die unter dem Titel L’épreuve des inégalités mehrere Beiträge von Sozialwissenschaftlern aus dem Umfeld des Observatoire sociologique du changement vereint. Darin wird den Ungleichheitsprozessen sowohl in einem nationalen als auch international vergleichenden Rahmen nachgegangen. Dass die aktuellen Ungleichheitsstatistiken, soweit sie vorwiegend die Einkommensverteilung im Blick haben, die ganze Dimension der Ungleichheitsproblematik nur bruchstückhaft wiedergeben und etwa generationenspezifische oder sozialräumliche Ungleichheiten und die – aufgrund des Sprengelprinzips – auch schulisch bedingten unterschiedlichen Bildungs- und damit letztlich auch Lebenschancen statistisch nur unzureichend erfassen, ist kein Novum. Schwieriger fällt allerdings schon die Antwort auf die Frage, wie man die intuitiven Ungleichheitswahrnehmung statistisch untermauern kann (vgl. dazu etwa den Internetauftritt des Centre national de l’information statistique und speziell das PDF-Dokument mit dem Titel Niveau de vie et inégalités sociales).

Dass Handlungsbedarf besteht, scheint aber unter Soziologen weitgehend unbestritten. Selten jedoch wird dies so selbstbewusst formuliert wie von dem Wirtschaftsprofessor Jean Gadrey in seinem letzten Buch En finir aves les inégalités sociales. Jean Gadrey, der 2005 für eine Ablehnung des europäischen Verfassungsprojekts geworben hatte, stützt sich dabei vor allem auf den gebündelten Inegalitätsindikator des BIP40, d.h. des Baromètre des inégalités et de la pauvreté aus dem links-alternativen Gewerkschaftsmilieu, der seit den 80er Jahren eine zunehmende soziale Schieflage konstatiert. Aus dem kämpferischen Engagement des Wirtschaftsprofessors spricht aber auch die Überzeugung, dass Ungleichheiten, sofern man sie bekämpfen möchte, keine Fatalität darstellen.

Nicht minder konkrete Lösungsvorschläge – allerdings mit einer eher sozialdemokratischen Stoßrichtung – legt das deutsch-österreichische Gespann Peter Auer und Bernard Gazier in L’introuvable sécurité de l’emploi vor. Bernard Gazier hatte schon in einer jüngeren Schrift für das Konzept der flexicurity und eine systematische Erprobung der so genannten Übergangsarbeitsmärkte geworben. Auch in seinem neuen Buch plädiert er zusammen mit dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Peter Auer für einen modernisierten Sozialstaat, der – wie vor allem Dänemark – zeigt, immer noch einen wertvollen Beitrag zu gesellschaftlichem Frieden und Wohlstand zu leisten vermag.

Damit knüpft dieses Buch an eine Diskussion an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft an, die seit einiger Zeit intensiv geführt wird. Alain Lefebvre und Dominique Méda hatten in Faut-il brûler le modèle social français? Anfang letzten Jahres die Übertragbarkeit des reformierten nordeuropäischen Sozialstaatsmodells auf französische Verhältnisse untersucht.

Eine angenehm konzise Darstellung der wesentlichen Charakteristika der dänischen flexicurity findet sich in einem fünfzigseitigen Büchlein von Robert Boyer, La flexicurité danoise. Quels enseignements pour la France?, das im Rahmen der publizistischen Tätigkeit des CEPREMAP, Centre pour la recherche économique et ses applications, unter der Leitung des auch hierzulande bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Daniel Cohen veröffentlicht wurde.

 

© passerelle.de, Januar 2007

 

 

Touraine, Alain: Ségolène Royal am Scheideweg, 30.11.2006

Der Sieg Ségolène Royals bei der sozialistischen Kandidatenkür für die Präsidentschaftswahlen 2007 hat die politische Ausgangslage der Parti socialiste (PS) grundlegend verändert. Die linke Neinsagerkoalition wird sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen. Eine heilige Kuh ist geschlachtet. Gleichwohl können sich aus diesem Sieg prinzipiell zwei unterschiedliche Weichenstellungen ergeben.

Einerseits könnte es das Ende bedeuten für eine realitätsferne Linksradikalenrhetorik. Lange schon, zumal seit 1981, pflegt die Linke einen denkbar radikalen und antikapitalistischen Diskurs. Der Sieg der Gegner der europäischen Verfassung ging – auch in den Reihen der Sozialisten – mit kraftstrotzenden Kommentaren einher, denen zufolge Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit unvereinbar seien und mithin der Einfluss des Staates und des öffentlichen Sektors auf die Wirtschaft ausgebaut werden müsse.

Eine solche Position mag schon verwundern auf einem Kontinent, der trotz marktwirtschaftlicher Strukturen geprägt ist von einem hohen Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt und der damit gerade auch ein breit ausgebautes Sozialversicherungssystem finanziert. Vor dem Hintergrund dieser radikalen Tendenz suchen die Sozialisten in allen Formationen links von der Linken, manchmal sogar am linksextremen Spektrum nach Bündnispartnern. Diese Grundausrichtung – oder zumindest scheinbare Grundausrichtung – hat letztlich die Schwächung der Sozialistischen Partei zu verantworten. Nicht nur deshalb, weil die Abkehr von der Marktwirtschaft konkret ein völlig sinnloses Unterfangen darstellt, sondern auch weil die PS keine Proletarierpartei ist, sondern eine Partei, in der die Mitglieder in leitender Stellung stärker vertreten sind als die einfachen Angestellten. Die einzige Erklärung dieser widersprüchlichen Situation besteht darin, dass gerade die Angestellten im öffentlichen Sektor, insbesondere ab einer gewissen Führungsebene, jene Ideologie ersonnen haben, die nun einen Sieg der Linken immer unwahrscheinlicher werden lässt.

Wenn man diese Analyse als gegeben annimmt, lautet die Frage, die sich den alten und neuen Mitgliedern der Sozialistischen Partei stellt: Welcher Weg führt aus dieser Sackgasse? Welcher Weg führt zurück zu einer realistischen Politik? Dominique Strauss-Kahn hat hier offen ausgesprochen, was viele insgeheim denken: Die Partei muss – wie alle anderen sozialistischen Formationen in Europa – sozialdemokratisch werden. Trotz dieser Zielsetzung fehlt aber auch ihm eine Antwort auf die etwas konkretere Frage, wie dies denn zu bewerkstelligen sei, d.h. wie die Wahlen gewonnen werden können, ohne sich von einem linksextremen Wählerspektrum, das noch vor kurzem durch den Sieg über die EU-Verfassung seine Stärke unter Beweis gestellt hat, vom Wege abbringen zu lassen.

Die französische Linke wäre gut beraten, wenn sie ihr Selbstverständnis nicht länger aus einem ideologischen Erbe ableiten würde, sondern aus der Wirklichkeit und wenn sie die Probleme einer Gesellschaft verstehen würde, in der kulturelle Vielfalt zunimmt und die ewige Beschwörung der Republik die Ungleichheiten letztlich nur verschärft.

Aus den ersten Äußerungen Ségolène Royals zu diesem Thema spricht eine wohltuende Gedanken- und Entscheidungsfreiheit. Die Niederlage Dominique Strauss-Kahns jedoch kann zu der zweiten Annahme führen: Die Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal schwimmt auf der Woge einer tiefen Unzufriedenheit der Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht ist sie eine Antiparteienkandidaten, die folglich in allen, auch in den linksextremistischen Milieus, Rückhalt und Unterstützung suchen muss. Zudem muss sie sich so deutlich wie möglich von dem Morast der politischen Mitte abgrenzen, aus dem sich die Linke noch nie siegreich herausgekämpft hat.

So gesehen, ist das Phänomen Ségolène eine neue Version des Phänomens Mitterrand. Diese zweite Hypothese scheint – gerade aufgrund ihrer Einfachheit – leichter den Weg zu einem Sieg zu ebnen. Die erste Annahme dagegen stolpert notgedrungen über die heikle Frage, wodurch denn die linksextremistischen Stimmen ersetzt werden sollen? Wird es Ségolène Royal gelingen, sowohl einen beträchtlichen Teil der linksextremistischen Wähler als auch Stimmen aus der gesamten Bandbreite der Wählerschaft an sich zu binden?

Diese Entscheidung zwischen zwei politischen Weichenstellungen ist gerade deshalb so schwierig, weil die Voraussetzungen für den leichten Sieg Ségolène Royals bei den sozialistischen Stichwahlen ihr angesichts der von Nicolas Sarkozy befehligten römischen Heerscharen den Weg zu einem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verstellen könnten.

Aus diesem Vergleich zwischen den beiden Richtungen, die Ségolène Royal nach ihrem Sieg einschlagen kann, ergibt sich zwangsläufig die Schlussfolgerung, dass sie beide Wege miteinander kreuzen muss, um bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg davonzutragen. Auch in Zukunft sollte sie als eine direkte Vertreterin des Volkes auftreten, durch die die partizipative Demokratie in ein politisches System Einzug hält, dessen Repräsentativität deutlich geschwunden ist. Darüber hinaus muss sie sich für eine Politik entscheiden, die wirtschaftliche Öffnung und soziale Reformen miteinander kombiniert.

Wenn ihr das Miteinander dieser veränderten Form des politischen Auftretens mit veränderten Inhalten gelingt, wird sie Sarkozy schlagen können. Tatsächlich fühlt sich ganz Frankreich von der „politischen Klasse“ abgespalten. Sollte sich Ségolène Royal jedoch in ihrem Wunsch, von allen Seiten Unterstützung zu erhalten, dazu verleiten lassen, die politische Doktrin und das Vokabular der äußersten Linken neu aufleben zu lassen, ist ihre Niederlage vorprogrammiert. Allerdings ist wohl davon auszugehen, dass die Erfolgschancen größer sind. Viele Länder hoffen, dass es Ségolène Royal gelingen wird, im Falle eines Sieges ein von Stagnation, Vorurteilen und mangelndem Selbstbewusstsein gelähmtes Frankreich wieder aufzurichten.

 

Abstiegsangst der Mittelschicht. Über ‚Abstiegsangst der Mittelschicht‘ von Louis Cauvel

Besprochenvon Michael Tillmann

Deutschland hat seine Unterschichtendebatte. Frankreich diskutiert über die Zukunft seiner Mittelschicht. Dass eine solche öffentliche Auseinandersetzung zwangsläufig ihre Unschärfen hat, liegt nicht zuletzt an der Schwammigkeit des Begriffs selber. Allein schon der Umstand, dass der französische Terminus gewöhnlich im Plural gebraucht wird, deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Bevölkerungskategorie nicht um einen einheitlichen, monolithischen Block handelt. Dabei rechnen sich einer neueren Umfrage zufolge spontan immerhin 75% aller Franzosen der bzw. den Mittelschichten zu. Zur näheren Bestimmung dieses mittleren Gliedes im gesellschaftlichen Schichtungsgefüge stützt sich Louis Chauvel[1] in diesem neuen Band der République des Idées auf eine aus drei Kriterien bestehende Definition. Demnach gehören all jene zur Mittelschicht, die über ein durchschnittliches Einkommen verfügen, die zu den Berufsgruppen mit mittlerem Qualifikations- bzw. Kompetenzniveau zählen (d.h. im Großen und Ganzen die von dem französischen Statistikamt als professions intermédiaires eingestuften Berufe) und die sich gleichzeitig in dem für diese Schichten spezifischen Fortschrittsglauben wieder erkennen und ihr Schicksal bzw. das ihrer Kinder mit dieser Klasse identifizieren.

Gerade in diesem letzten Punkt unterscheiden sich Louis Chauvel zufolge die französischen Mittelschichten von ähnlichen Klassen in anderen entwickelten Ländern. Letztlich ist die französische Mittelschicht eine im definitorischen Detail sicherlich bestreitbare Realität. Vor allem aber ist sie ein Gesellschaftsprojekt, insofern sie sich selbst gewissermaßen als Inkarnation des Fortschrittsgedankens und der Modernität schlechthin versteht. Die Epoche des rasanten Wirtschaftswachstums in den drei Nachkriegsjahrzehnten jedenfalls vermochte die gesellschaftlichen Kräfte in einer Art und Weise zu binden, dass manche – ähnlich wie in Deutschland – den Traum von einer moyennisation, einer dauerhaften „Vermittelschichtung“ der Gesellschaft nähren konnten. Diese nivellierte Mittelstandsgesellschaft französischen Zuschnitts steht nun allerdings vor dem Dilemma, dass nach den „glorreichen“ Wachstumsjahren der Trente glorieuses, die ihre innere Einheit zementierten, die „kargen“ Wachstumsjahre der Trente piteuses – wie es nur halb spaßhaft heißt – den Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl der Mittelschichten auf eine schwere Belastungsprobe stellen. Die nachwachsenden Generationen haben im Vergleich mit der Wirtschaftswundergeneration durchschnittlich zwar ein höheres Ausbildungsniveau und könnten so zu tatkräftigen Mitstreitern der Mittelschicht heranwachsen. In Wahrheit jedoch erleben sie einen schmerzhaften Prozess der generationenspezifischen Deklassierung – und das in einer Gesellschaft, die lange Zeit felsenfest dem Glauben eines stetigen Fortschritts anhing. Dieser Fluch der späten Geburt nährt soziale Abstiegsängste, die auch politischen Sprengstoff in sich bergen. Während die Mittelschicht mit ihrem „humanistischen Individualismus“ als Erbe der 68er Bewegung für darunter liegende Schichten eine ideologische Leitfunktion haben konnte, solange die wirtschaftliche Entwicklung einen stetigen Wohlstandsgewinn verhieß, geht als Folge der weit verbreiteten Deklassierungsängste innerhalb der Mittelschicht, begleitet von sozialräumlichen Abschottungstendenzen wie sie etwa Éric Maurin beschrieben hat, auch deren ideologische Attraktivität verloren – und damit ein den demokratischen Prozess in Frankreich stabilisierendes Element.

© www.passerelle.de, Dezember 2006

Bestellen!

 

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Louis Chauvel hat sich vor allem mit seiner erstmals 1998 erschienenen Studie zur generationenspezifischen Entwicklungsdynamik, Le destin des générations. Structure sociale et cohortes en France au XXe siècle, in Frankreich einen Namen gemacht, in der er das Geburtsjahr als weithin unterschätzten Ungleichheitsfaktor ausmacht und anhand umfangreicher Zahlenreihen anschaulich darstellt. Inzwischen hat sich das Augenmerk der Öffentlichkeit, nicht zuletzt infolge der Ausschreitungen in den französischen Banlieues Ende 2005 und den Studentenprotesten gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes für Jungarbeitnehmer einige Wochen später, zu einem Allgemeinplatz der öffentlichen Debatte entwickelt. Einige seiner kleineren Schriften sind frei zugänglich (vgl. dazu den Internetauftritt von Louis Chauvel).

Neue Beschäftigungspolitiken auf dem Prüfstand. Über ’Les nouvelles politiques de l’emploi’ Von Yannick L’Horty

Besprochenvon Michael Tillmann

In den letzten Jahren zeichnet sich eine Abkehr von älteren Arbeitsmarktpolitiken ab, die im Wesentlichen auf einer Förderung eines arbeitsplatzintensiven Wachstums und – ganz allgemein – einer Unterstützung der Arbeitsnachfrage beruhten. Parallel dazu wurde auf Seiten des Arbeitsangebots, d.h. der Erwerbstätigen selbst, oftmals eine Politik betrieben, bei der ältere Arbeitnehmer beispielsweise Anreize zur Frühverrentung erhielten oder über gezielte familienpolitische Maßnahmen Frauen vom Arbeitsmarkt ferngehalten wurden. Angesichts einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit werden in den letzten Jahren allerdings verstärkt Beschäftigungspolitiken erprobt, die auf eine stärkere Aktivierung der Erwerbspersonen hinwirken. Diese Trendwende hin zu einer stärker angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik, bei der finanzielle Anreizstrukturen zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie zur Suche und Annahme einer neuen Beschäftigung geschaffen bzw. verstärkt werden, verfolgen das Ziel der Arbeitskostenreduzierung für die Arbeitgeber und des finanziellen Zugewinns für die Arbeitnehmer. Das Buch von Yannick L’Horty bietet einen ausgezeichneten und detaillierten Überblick über die neuen Maßnahmen sowie eine empirisch fundierte Bewertung ihrer Wirkungen.

© passerelle.de, Oktober 2006

Bestellen!

Vergangenheit und Zukunft des französischen Wirtschaftsmodells. Über ’Le modèle français depuis 1945’ von Pascal Gauchon

Besprochenvon Michael Tillmann

„Die Vorstellung, dass der Staat Träger des Allgemeinwohls sei, ist ein typisch französischer Gedanke, mit dem die Amerikaner nicht viel anfangen können.“ So jedenfalls urteilt der amerikanische Frankreich-Spezialist Ezra Suleiman. Und in der Tat könnte diese besondere Rolle des französischen Staates zumal bei der Wirtschaftsentwicklung als Leitgedanke zur Definition des französischen Wirtschaftsmodells dienen, dem Pascal Gauchon in seiner so knappen wie kenntnisreichen Studie nachspürt. Dabei widmet sich der Wirtschaftshistoriker auf den 127 Seiten dieses schmalen Bandes aus der Reihe Que sais-je? im Wesentlichen den Entwicklungen seit 1945, als Frankreich die Modernisierung seiner Wirtschaft nicht zuletzt auf dem Weg der Verstaatlichung und Konzentration zahlreicher Unternehmen betreibt und die für das Land in der Tat so typische Mischung aus marktwirtschaftlichen und planwirtschaftlichen Elementen begründet. Nach der starken Wachstumsphase im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, den so genannten Trente Glorieuses, d.h. den dreißig glorreichen Jahren des Wirtschaftswunders, zeigt das Modell allerdings im Zuge der Studentenbewegung erste Risse: „In der zeitlichen Rückschau erscheint die Protestbewegung von Mai 1968 in Wirklichkeit als eine ‚liberal-libertäre‘ Bewegung, die nicht so sehr gegen die Konsumgesellschaft aufbegehrte, sondern vielmehr gegen die Pflichten und Zwänge, die mit ihr verbunden waren und die der Slogan métro-boulot-dodo, d.h. das entsagungsreiche Hin und Her zwischen heimischem Herd und Arbeitsplatz, treffend zum Ausdruck bringt. Dieser Bewegung ging es weniger um ein Streben nach Gleichheit und Brüderlichkeit als um eine Überhöhung der individuellen Freiheit.“

Kurz: Dem Modell kamen seine Wirtschaftssubjekte abhanden. Eine zumindest tendenzielle Abkehr lässt sich zudem unter dem Staatspräsidenten Georges Pompidou erkennen, dessen Politik sowohl eine stärkere Öffnung der französischen Wirtschaft nach außen einleitete als auch eine weitergehende Liberalisierung der Wirtschaft anstrebte. Diese liberaleren Ansätze, die unter dem Pompidou-Nachfolger und Schmidt-Vertrauten Valéry Giscard d’Estaing beschleunigt wurden, kamen dann allerdings mit dem Wahlsieg der Mitterrandschen Allianz aus Sozialisten und Kommunisten 1981 unter die Räder: „In den Augen der führenden sozialistischen Politiker hat sich das im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg definierte Gleichgewicht zwischen staatlicher Verwaltung, Arbeitnehmern und Kapitalisten allmählich zugunsten der Arbeitgeberschaft verschoben. Daher sollte der Staat wieder seine leitende Funktion übernehmen und die Arbeiter an ihn gebunden werden. Kurz: Es sollte wieder an die Logik des französischen Modells angeknüpft und die unvollendeten Modernisierungsbemühungen fortgesetzt werden.“ Andererseits war die Trendumkehr, mit der die sozialistisch dominierte Linksregierung letztlich durch die Stärkung der staatlichen Komponente wieder an die Ursprünge des französischen Wirtschaftsmodells anknüpfte, nicht von Dauer.

Angesichts der enttäuschenden Ergebnisse – stagnierendes Wirtschaftswachstum (1982: 2,4%), anhaltend hohe Arbeitslosigkeit (rund zwei Millionen Erwerbslose), Außenhandelsdefizit von 92 Milliarden Francs (1982), Abwertung des Franc 1981, 1982 und 1983 – steht Frankreich schließlich vor der Wahl, sich entweder von dem europäischen Währungssystem zu verabschieden, den Abwertungstrend der französischen Währung ungerührt hinzunehmen und dadurch an Kompetitivität zu gewinnen oder aber die Wirtschafts- und Finanzpolitik radikal umzugestalten und an die anderen großen Nationen anzupassen. Endet mit dieser gemeinhin als Wende bezeichneten Änderung des wirtschaftspolitischen Kurses die Sonderstellung Frankreichs, die – zumindest für ausländische Beobachter – bis zum Überdruss beanspruchte exception française? Sind die Sozialisten und an vorderster Front ihr bedeutendster Vertreter in Gestalt des Staatspräsidenten François Mitterrand letztlich die (unfreiwilligen) Totengräber des französischen Wirtschaftsmodells? In der Tat deutet vieles darauf hin, dass die spezifische Staat-Markt-Mischung Frankreichs Mitte der 80er Jahre, als auch die Globalisierungsprozesse ungeahnte Ausmaße erreichen, zu Ende geht. Aber schon seit Ende der 60er Jahre erweist sich ganz offensichtlich die Allianz zwischen staatlichen und marktwirtschaftlichen Kräften als brüchig. Die zunehmende Abkehr von der tayloristisch organisierten Arbeitswelt zu einer netzförmigen, kurzfristig angelegten Funktionsweise legt zumindest die Vermutung nahe, dass damit gleichzeitig Konfliktlinien aufbrechen, die sich nicht ohne weiteres kitten lassen. Dass die Globalisierung und die Öffnung gegenüber den Weltmärkten letztlich zu territorialen Verschiebungen in der Wahrnehmung der wirtschaftlichen und staatlichen Akteure führen, erscheint insofern als unausweichlich. Nationalstaatliches Denken und Profitstreben in weltweitem Maßstab sind nur schwer unter einen Hut zu bringen. Je näher die Argumentation des Buches an das aktuelle Zeitgeschehen heranrückt, desto weniger leicht lässt sich ein roter Faden durch die einzelnen und bisweilen widersprüchlichen Regierungsmaßnahmen erkennen. Eine Stärke Pascal Gauchons ist es jedoch, dieser Schwierigkeit nicht aus dem Weg zu gehen und zumindest jene Versuche kurz zur Sprache zu bringen, die in der letzten Zeit unter der Bezeichnung Wirtschaftspatriotismus nach Wegen suchen, die eventuell zu einer modernisierten Variante des Modells zurückführen könnten.

passerelle.de

Bestellen!

Armut im 19. Jahrhundert. Über ’Mémoires sur le paupérisme’ Von Alexis de Tocqueville

Besprochenvon Michael Tillmann

  • TOCQUEVILLE, Alexis de: Mémoire sur le paupérisme. Éditions Allia, Paris 1999 [dt. Das Elend der Armut. über den Pauperismus, Berlin, Avinus Verlag, 2007, übers. von Michael Tillmann, ISBN 978-3-930064-75-5].
Ein in Deutschland weithin unbekannter Klassiker der Armutsforschung ist Alexis de Tocquevilles Pauperismus-Studie. In den beiden Gedenkschriften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht Tocqueville als einer der Begründer des vergleichenden soziologischen Denkens wie gewohnt von einer erklärungsbedürftigen Beobachtung aus: Wie kommt es, dass es in den rückständigsten Ländern und Gebieten so wenig Arme gibt, während die Armut in den reichsten Gegenden so unübersehbar präsent ist? Damit begründet er, wie nicht zuletzt Serge Paugam (2005) betont, die moderne Armutsforschung, der ein vergleichender Ansatz zugrunde liegt und die Armut folglich nur relational zu definieren vermag. Darüber hinaus entwickelt Tocqueville hier einen Rahmen zur Analyse des Armutsphänomens, der mit scharfem Gespür für soziologische und psychologische Zusammenhänge alle gesellschaftlich relevanten Implikationen präzise beschreibt, die sich aus der Armut und den verschiedenen Möglichkeiten ihrer Bekämpfung ableiten lassen. Dabei deckt Tocqueville schonungslos die Fehlanreize auf, die von einer „staatlichen Armenhilfe“ ausgehen, verweist aber auch auf die stigmatisierende Wirkung einer staatlichen Leistungsbewilligung, wenn es etwa heißt: „Den Menschen werden die gewöhnlichen Rechte aufgrund einer persönlichen Leistung eingeräumt, die sie gegenüber ihren Mitmenschen auszeichnet. Besagtes Recht auf Unterstützung dagegen wird aufgrund einer anerkannten Minderwertigkeit gewährt […] und schreibt diese gesetzlich fest.“ Diese und andere Stellen beweisen, dass Tocquevilles analytische Schärfe auch zwei Jahrhunderte später nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil: Der Umbau des Sozialstaates, der in allen entwickelten Ländern auf der politischen Agenda steht, bedarf gerade einer langfristigen Perspektive, die bei Tocqueville bedenkenswerte Überlegungen findet.

©passerelle.de, Sommer 2005

 

Wesen und Werden der Soziologie in einem kompakten Überblick. Über ‚La construction de la sociologie‘ von Jean-Michel Berthelot

Besprochenvon Michael Tillmann

  • BERTHELOT, Jean-Michel: La construction de la sociologie. PUF, Paris 2005. ISBN 978-2130551201.

Jean-Michel Berthelot hat mit seiner erstmals 1991 und nun Ende 2005 in überarbeiteter Fassung erschienenen Konstruktion der Soziologie eine kompakte Einführung in die Geschichte des Faches vorgelegt. Dieser Einführungsband zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass hier vor allem das Einigende einer in vielerlei unterschiedliche Forschungsrichtungen zerfallenden Soziologie in den Mittelpunkt gestellt wird. Dabei geht es dem Anfang des Jahres verstorbenen Wissenschaftssoziologen weniger um einen ideengeschichtlichen Abriss. Vielmehr versucht der Autor, das Forschungsprogramm der wichtigsten Autoren in seinen wesentlichen Charakteristika zu skizzieren und dessen Genese mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Bezug zu setzen.

In Kapitel I lässt Berthelot die Vorläufer soziologischen Denkens im 19. Jahrhundert (etwa Le Play, Tocqueville, Marx, Spencer, Comte) Revue passieren, kommt hier allerdings zu dem Schluss, dass trotz einer beeindruckenden Ansammlung an Daten, neu entstandener Erhebungsmethoden oder auch erkenntnisreicher Sozialstudien die epistemologischen Grundlagen einer wirklichen Disziplin noch allzu schwach entwickelt sind. Erst mit Émile Durkheim und Max Weber entsteht ein reflexives soziologisches Denken im eigentlichen Sinne, das im Unterschied zu den Entwicklungen im angelsächsischen Raum theoretischen und epistemologischen Fragestellungen nachgeht. Bei allen – zum Teil nicht unerheblichen – Unterschieden zwischen den Forschungsprogrammen der beiden Autoren zeichnen sich diese durch ihre reflexive Auseinandersetzung mit ihrem Untersuchungsobjekt aus (Kapitel II). Nach dieser Grundsteinlegung folgt eine Phase der Reife, die dem Autor zufolge von der Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis zu den 50er Jahren reicht. In dieser Zeit entwickelt sich vor allem die empirische Soziologie, und das Zentrum soziologischen Arbeitens verlagert sich von Europa in die Vereinigten Staaten (Kapitel III). In Kapitel IV schließlich werden die „großen Programme der modernen Soziologie“, d.h. Kausalismus, Funktionalismus, Strukturalismus einerseits, phänomenologische Soziologie, symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie andererseits anhand einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einem „objektivistischen“ und einem „subjektivistischen“ Foschungspol (vgl. begriffliche Erklärung im Glossar) eingeteilt und in ihren zentralen Besonderheiten vorgestellt. Das letzte Kapitel schließlich weitet den Horizont auf zeitgenössische Entwicklungen von Bourdieu über Habermas und Luhmann bis hin zu der pragmatischen Soziologie um Boltanski und Thévenot. Interessante Leser finden hier sowohl eine Quelle an präzisen Informationen als auch einen gedrängten Überblick über Wesen und Werden eines Faches.

Eine ausführlichere Rezension in französischer Sprache finden Sie auf www.liens-socio.org

© passerelle.de, April 2006

Bestellen!

Der vernetzte Kapitalismus. Über ‚Le nouvel esprit du capitalisme‘ von Luc Boltanski und Eve Chiapello

Besprochenvon Michael Tillmann

Die Transformationen, die der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten durchlebt hat, sind zumeist als eine Folge der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und – zumal in den 80er und frühen 90er Jahren – als eine Konsequenz der Liberalisierung der ihnen zugrunde liegenden Wirtschaftsideologie beschrieben worden. Eine stärkere Involvierung der Mitarbeiter in die Unternehmensgeschäfte, leistungsbezogene Gehälter, eine Individualisierung und Personalisierung der Arbeitsaufgaben, projektbezogenes Arbeiten, netzförmige Organisationsformen usw. ergeben sich aus dieser Perspektive aus dem Siegeszug nahezu frühkapitalistischer Zustände. Demgegenüber – und ohne diese Einflüsse leugnen zu wollen – entwickeln der französische Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Eve Chiapello eine Argumentation, die letztlich auf einem dialektischen Wechselverhältnis zwischen „dem“ Kapitalismus und seiner Kritik gründet und die Transformationen aus einem Rechtfertigungsimperativ ableitet. Bereits in früheren Schriften hat Luc Boltanski (vor allem 1990) die Kritik als zentrales Element gesellschaftlichen Handelns erkannt und zusammen mit Laurent Thévenot (1991) konzeptuell zu dem Modell der cité ausgearbeitet. Hier nun unterscheiden die beiden Autoren zwischen zwei Formen der Kritik, denen sich der Kapitalismus, d.h. seine gehobenen Repräsentanten in Gestalt von Topmanagern, Unternehmensleitern, Vorstandsvorsitzenden, unternehmensnahen think tanks usw. stellen müssen. Neben einer Sozialkritik (z.B. als Forderung nach Lohnerhöhung oder Arbeitsplatzsicherheit) muss der Kapitalismus auch auf eine so genannte Künstlerkritik reagieren. Dabei geht es weniger um eine Kritik an der materiellen Ausbeutung der Arbeiter und Angestellten als um eine Kritik an fehlenden Freiräumen und einem Mangel an Selbstverwirklichung. Diese Form der Kritik ist also ihrem Wesen nach emanzipatorisch. Die Pariser Mai-Unruhen 1968 sind ein Kristallisationspunkt, in dem sich beide Kritikformen trotz aller Gegensätze und Unterschiede zu einer explosiven Mischung verbinden. Auf diese nicht nur das politische System, sondern auch den kapitalistischen Prozess in seinen Grundfesten bedrohenden (verbal-argumentativen, aber auch physischen) Angriffe müssen die entscheidenden Instanzen reagieren, wollen sie nicht die Unterstützung und das Engagement der Arbeiter- und Angestelltenschaft verlieren. In der Tat gehen die beiden Autoren davon aus, dass der Kapitalismus nicht zukunftsfähig ist, wenn es ihm nicht gelingt, die Wirtschaftsakteure (als Erwerbstätige und als Konsumenten) dauerhaft an die Unternehmen zu binden. Dazu genügt es jedoch nicht, dass der Kapitalismus ihnen ein mehr oder weniger gesichertes Auskommen gewährleistet. Vielmehr bedarf es auch einer gewissen inhaltlichen, ideologischen oder programmatischen Übereinstimmung mit den Zielen des Kapitalismus. Während die Arbeitgeber die Kapitalismuskritik zuallererst als eine Sozialkritik deuten, müssen sie bald erkennen, dass die getroffenen Maßnahmen einerseits nicht die gewünschte Wirkung zeigen und dass sie andererseits große finanzielle Belastungen für die Unternehmer mit sich brachten. So verlagerten sich alsbald die Fronten. Anstatt der Sozialkritik zu genügen, setzten die Arbeitgeber zunehmend auf die Künstlerkritik, der sie durch arbeitsorganisatorische Innovationen entgegenkamen. Diese unterschieden sich deutlich von der standardisierten Massenproduktion des zweiten kapitalistischen Geistes und ließen dem Individuum größere Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten. So entstand den beiden Autoren zufolge ein neuer Geist des Kapitalismus, der auf den Konzepten des Netzes und des Projektes aufbaut. Darüber hinaus ist diese großangelegte Studie über die Entwicklungen des kapitalistischen Geistes jedoch weit mehr als eine zeitkritische Analyse oder gar politische Parteinahme, als die sie in Frankreich oft und in Deutschland ausschließlich verstanden wurde. Sie ist gleichzeitig eine Weiterführung der Theorie der Polisformen, die Luc Boltanski – wie bereits erwähnt – zusammen mit Laurent Thévenot in „De la justification“ entwickelt hat. Einer der Kritikpunkte, der diesem Modell zur Analyse der Rechtfertigungslogiken menschlichen Handelns wiederholt vorgeworfen wurde, zielte auf die vermeintliche Statik dieses Modells, mit dem Veränderungen nur schwer zu erklären seien. Insofern kommt den Ergebnissen der Wandlungsprozesse des kapitalistischen Geistes, der nun in ein drittes Stadium eingetreten ist, eine sozialtheoretische Bedeutung hinzu. Nach dem familienweltlich-paternalistischen Kapitalismus und der industrieweltlichen Massenproduktion – und ihren jeweiligen archetypischen Symbolgestalten des Bourgeois und des Firmendirektors – ist nun der vernetzte, projektbezogene Kapitalismus dominant. Dass dieser Veränderungsprozess wohl nicht nur auf den Kapitalismus beschränkt sein dürfte, sondern eine viel allgemeinere Tragweite besitzt und – nicht zuletzt durch die Leitfunktion des Wirtschaftssystems und dessen weitreichende Verästelungen in andere Lebenssphären hinein – eine neuartige Rechtfertigungslogik und gesellschaftliche Wertigkeitsordnung (oder, wenn man so will, Gerechtigkeitsordnung) begründet oder doch begründen könnte, ist keine sehr spekulative Interpretation. Mobilität als zentraler Begriff dieser projektbasierten Rechtfertigungsordnung ist ein allgemeiner gesellschaftlicher Wert geworden, der weit über das rein ökonomische hinausweist. Vgl. zur Soziologie Boltanskis auch das Nachwort des Übersetzers.© passerelle.de , Winter 2002

Bestellen!

Individualismus vs. Holismus. Die Abneigung der Intellektuellen gegenüber dem philosophischen Liberalismus. Über ‚Pourquoi les intellectuels n’aiment pas le libéralisme‘ von Raymond Boudon

Besprochenvon Michael Tillmann

  • BOUDON, Raymond: Pourquoi les intellectuels n’aiment pas le libéralisme. Odile Jacob, Paris 2004. ISBN: 978-2738113986.

Raymond Boudon ist vielleicht der angelsächsischste der französischen Soziologen. Als brillanter Vertreter des methodologischen Individualismus, der gewöhnlich – zu Unrecht, wie der Autor mit zahlreichen Verweisen auf das methodische Vorgehen Tocquevilles, Durkheims und Webers belegt – einer angelsächsischen Wissenschaftskultur zugeschrieben wird, ficht er in Frankreich oder zumindest in der französischen Öffentlichkeit in der Tat einen einsamen Kampf gegen das – wie er es nennt – holistische Denken eines Bourdieu, Foucault, Girard, gegen die methodologischen Fragwürdigkeiten des Kulturalismus und Relativismus.[1] Gerade seine letzten Publikationen – ein Interviewband zu seinem intellektuellen Werdegang, seinem Werk und der Lage der Soziologie (2003) und eine soziologische Analyse des oft beklagten Werteverfalls (2002) – zeugen von einem pointierten Gespür für die Formulierung und soziologische Analyse gesellschaftlich relevanter Problematiken.

Dasselbe gilt für seine Untersuchung Warum die Intellektuellen den Liberalismus nicht mögen. Auch hier mobilisiert Raymond Boudon das gesamte methodische Arsenal seiner Forschungsrichtung, um der rätselhaften Abneigung weiter Teile der Geisteselite in Frankreich und anderen Ländern gegen den Liberalismus auf den Grund zu gehen. Dabei geht es im Wesentlichen um einen „philosophischen Liberalismus“, d.h. um das Bekenntnis zur Autonomie des Individuums und einer „rationalen“ Psychologie. Von einem derart definierten Liberalismus lässt sich das illiberale Denken dadurch abgrenzen, dass eine Alltagspsychologie abgelehnt und das Individuum als heteronom betrachtet wird. Diese Fremdbestimmung kann verschiedene Formen annehmen. Anstatt von einem rational handelnden Akteur auszugehen, der im Sinne der verstehenden Soziologie nachvollziehbare Entscheidungen trifft, ist hier das Individuum sozialen, kulturellen oder tiefenpsychologischen Determinismen unterworfen. Ins Visier geraten hier mit Marx und Freud natürlich die beiden Ahnherren der „Philosophien des Verdachts“ sowie Nietzsche als exponierter Vertreter der Boudon zufolge in der französischen Soziologie stark ausgeprägten Verschwörungstheorie.[2] Dass zumal marxistisch inspirierte Theorien nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich unter den Intellektuellen starke Verbreitung fanden, hat aber natürlich auch etwas mit der spezifischen historischen Situation zu tun, da sich die bürgerlichen Parteien während der Zeit der deutschen Besatzung in den Augen der französischen Intelligenz weit gehend diskreditiert hatten. Aber selbst nachdem die gesellschaftliche Basis des illiberalen Denkens zunehmend ihre Legitimität verlor und sich niemand mehr als marxistischer Denker ausgeben würde, sind Boudon zufolge die dazu gehörigen Deutungsmuster auch heute noch weit verbreitet. In diesem Sinne werden Psychoanalyse, Strukturalismus, Positivismus im Allgemeinen, die Globalisierungskritiker und Relativisten aller Couleur sowie Denker wie Bourdieu, Foucault, Girard – um nur die bekanntesten zu nennen – diesen antiliberalen Strömungen zugeordnet. Ihr Erfolg ist zwar zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass sie in der Tat auf wunde Punkte der liberalen Ordnung aufmerksam machen: Fakt ist etwa, dass die Chancengleichheit in der Schule nur sehr bedingt gegeben ist.[3] Andererseits sind, wie Boudon betont, die vorgelegten Erklärungen allzu simpel (Determination durch soziales Milieu), da sie das Individuum als zentralen Akteur im Grunde völlig ausblenden. Außerdem genügen sie kaum wissenschaftlichen Ansprüchen, da sie weniger der libido sciendi folgen als gesinnungsethischen Grundsätzen: „Mir scheint, dass der grundlegende Prozess, mit dem sich die Abneigung zahlreicher Intellektueller gegenüber dem Liberalismus erklären lässt, folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Seinen Ausgang nimmt dieser Prozess in einer spezifischen Lage, einem soziohistorischen Kontext, der bestimmte, von der Gemeinschaft als auffällig empfundene Sachverhalte erkennbar macht. Daraus ergibt sich sodann eine Nachfrage, der die gesinnungsethischen und insbesondere die organischen Intellektuellen nachzukommen sich bemühen. Wenn diese auffälligen Sachverhalte scheinbar auf Fehlentwicklungen der liberalen Gesellschaften verweisen, sind diese Intellektuellen dazu geneigt, ihre Diagnose auf Erklärungsmuster zu gründen, die von den illiberalen Denktraditionen auf den Markt geworfen wurden. Sobald die Kritik an diesen Fehlentwicklungen einer ‚wohlmeinenden Absicht‘ entspringt und die vorgelegte Erklärung einfach erscheint, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie von den Medien aufgegriffen und nicht kritisch hinterfragt wird“ (81-82).

Im Kern lautet die These: Der Erfolg methodologisch fragwürdiger, politisch motivierter Theorien sage nichts über ihren Wahrheitsgehalt, sondern lediglich etwas über ihren gesellschaftlichen Nutzen.[4]

Auf der Nachfrageseite führt Raymond Boudon diesen Erfolg im Wesentlichen auf die Vermassung des Bildungssystems zurück. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Abitur und schließlich die Universität für Bevölkerungsschichten geöffnet, die bisher keinen Zugang zu einem höheren Bildungsabschluss hatten. Damit musste jedoch zwangsläufig auch das Anforderungsniveau gesenkt werden, so dass – folgt man Boudon in seiner Argumentation – hier ein Publikum intellektuell ausgebildet wurde, das keine hinreichende Kenntnisse besaß, um anspruchsvolle soziologische Theorien verstehen zu können, dafür aber ein offenes Ohr für krude Vereinfachungen hatte. Gleichzeitig entwickelten sich ein wissenschaftlicher Werterelativismus des „Anything goes“ (Feyerabend) und ein Moralismus des politisch Korrekten, der die derart entstandene Lücke ausfüllte.

© passerelle.de, Februar 2005

Bestellen!

 

 

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Es sei allerdings angemerkt, dass man kein Verfechter des methodologischen Individualismus zu sein braucht, um bestimmte Fehlentwicklungen – wie einen um sich greifenden Relativismus und eine fadenscheinige Demokratisierung der Wissenschaftslandschaft – kritisch zu bewerten (vgl. etwa Lahire 2005, insbesondere den Aufsatz zur Doktorarbeit von Elisabeth Tessier: Lahire 2005: 351-387).
  2. Gemeint ist hier vor allem Pierre Bourdieu und die von ihm begründete Forschungsrichtung. Vgl. auch Boudon (2003: 141): Pierre Bourdieu „führte einen politischen Kampf von seinem Katheder aus. Er war fest davon überzeugt, in einer Gesellschaft zu leben, in der es sich nicht atmen lässt. Die ‚Verschwörungstheorie‘ ist an sich nichts Neues […]. Bourdieu hat sie allerdings zur Perfektion gebracht, wie der norwegische Soziologe Jon Elster launig bemerkt: Er analysiert die sozialen Prozesse als Effekt einer ‚Verschwörung ohne Verschwörer‘.“ Im Übrigen lassen sich die in der Tat völlig unterschiedlichen Ansätze und Ergebnisse der beiden Soziologen anhand ihrer jeweiligen Arbeiten zur schulischen Ungleichheit (Bourdieu/ Passeron 1970; Boudon 1973) miteinander vergleichen. Vgl. zu einer ähnlichen Kritik Boltanski/ Chiapello (1999), speziell Fußnote 40 im allgemeinen Einführungskapitel (dt. Übersetzung: S. 611).
  3. Vgl. hierzu zuletzt Dubet (2004).
  4. Boudon unterscheidet zwischen wahren und nützlichen Theorien im Sinne Paretos. Dabei haben wahre und nützliche Theorien dieselbe Wahrscheinlichkeit, auf gesellschaftliche Resonanz zu stoßen, wie falsche, aber nützliche Theorien. Wahre Theorien, deren gesellschaftlicher Nutzen jedoch nicht erkannt wird, bleiben demgegenüber – zumindest vorübergehend – im Abseits